Die Wahrheit über Marie - Jean-Philippe Toussaint - E-Book

Die Wahrheit über Marie E-Book

Jean-Philippe Toussaint

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Beschreibung

Marie und der Erzähler machen Liebe, zur gleichen Zeit, nur nicht miteinander. Sie sind in Paris, seit ihrer Trennung in Tokio ist der Erzähler ein paar Straßen weiter gezogen. Es ist eine glutheiße Sommernacht, und das eigentliche Drama steht noch bevor. Ein Mann wird sterben. Jener reiche Pferdebesitzer, den Marie in Tokio kennengelernt und mit dem sie fluchtartig Japan verlassen hat. Zahir, eines seiner Rennpferde, ist in einen Skandal verwickelt und muss aus dem Land geschleust werden, eine abenteuerliche Nacht-und-Nebel-Aktion, in der Zahir den gesamten Tokioter Flughafen lahmlegt.

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Jean-Philippe Toussaint

Die Wahrheit über Marie

Roman

Aus dem Französischen

von Joachim Unseld

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Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

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Frühling-Sommer

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I

Später, als ich an die dunklen Stunden dieser glutheißen Nacht zurückdachte, wurde mir bewusst, dass wir beide, Marie und ich, damals im gleichen Augenblick Liebe gemacht hatten, nur nicht miteinander. Zu einer bestimmten Zeit derselben Nacht – die erste Hitzewelle des Jahres war brutal über die Stadt hereingebrochen, drei Tage hintereinander herrschten in Paris Temperaturen von bis zu 38 Grad Celsius und nie unter 30 Grad – machten Marie und ich Liebe, in Appartements, die kaum einen Kilometer Luftlinie voneinander entfernt lagen. Zu Beginn des Abends konnte sich natürlich keiner von uns beiden vorstellen, auch nicht später, zu keinem Moment, es war schlicht unvorstellbar, dass wir in dieser Nacht aufeinandertreffen würden, dass wir noch vor dem Morgengrauen zusammen sein, wir uns in dem dunklen, förmlich auf den Kopf gestellten Flur unserer Wohnung sogar kurz umarmen würden. Aller Wahrscheinlichkeit nach, angesichts der Uhrzeit, zu der Marie in die Wohnung zurückgekehrt ist (in unsere Wohnung oder vielmehr in ihre Wohnung, man müsste jetzt sagen in ihre Wohnung, weil wir seit fast vier Monaten nicht mehr zusammenwohnten), und angesichts der fast identischen Uhrzeit, zu der ich in meine kleine Zweizimmerwohnung zurückkehrte, in die ich nach unserer Trennung gezogen war, nicht allein, ich war nicht allein – mit wem ich zusammen war, spielt keine Rolle, darum geht es hier nicht –, dürfte es zwanzig nach eins, höchstens halb zwei morgens gewesen sein, als Marie und ich in dieser Nacht in Paris Liebe machten, beide leicht betrunken, mit heißen Körpern im Halbdunkel bei weit geöffneten Fenstern, durch die doch kein Lufthauch ins Zimmer drang. Die Luft war stickig und drückend schwül, es herrschte eine fast fiebrige Temperatur, die die Atmosphäre nicht abkühlte, dafür aber die Körper stärkte, auf denen die Hitze selbstherrlich und schwer lag. Es war etwa zwei Uhr morgens – ich weiß es, denn ich habe auf die Uhr gesehen, als das Telefon klingelte. Aber ich will, was die genaue Abfolge der Ereignisse jener Nacht betrifft, lieber vorsichtig sein, denn immerhin geht es um das Schicksal eines Mannes, um seinen Tod, lange hatte man nicht gewusst, ob er überleben würde oder nicht.

Ich habe sogar seinen richtigen Namen nie wirklich gekannt, ein Name mit Bindestrich: Jean-Christophe de G. Marie war nach einem gemeinsamen Abendessen mit ihm ins Appartement in der Rue de La Vrillière gegangen, es war die erste Nacht, die die beiden zusammen in Paris verbrachten, sie hatten sich im Januar in Tokio auf der Vernissage von Maries Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa kennengelernt.

Es war kurz nach Mitternacht, als sie das Appartement in der Rue de La Vrillière erreichten. Marie hatte eine Flasche Grappa aus der Küche geholt, und sie setzten sich mit lässig ausgestreckten Beinen ins Schlafzimmer aufs Parkett am Fußende des Bettes, mitten in ein Durcheinander aus Polstern und Kissen. Es herrschte eine schwere, stockende Hitze in der Wohnung der Rue de La Vrillière, wo die Fensterläden seit dem Vorabend geschlossen waren, als Schutz vor der Hitze. Marie hatte das Fenster weit geöffnet und im Halbdunkel sitzend den Grappa eingeschenkt, sie beobachtete, wie die Flüssigkeit durch die versilberte Dosierungsvorrichtung der Flasche langsam in die Gläser floss, und spürte sofort, wie das Aroma des Grappas ihr zu Kopfe stieg, sie nahm in Gedanken den Geschmack vorweg, bevor die Zunge ihn erkundet hatte, diesen parfümierten, fast likörartigen Grappageschmack, eine Erinnerung, die sie seit mehreren Sommern in sich trug und unweigerlich mit Elba assoziierte, eine Erinnerung, die unvermittelt und unerwartet in ihr Bewusstsein stieg. Sie schloss die Augen und nahm einen Schluck, beugte sich hinüber zu Jean-Christophe de G. und küsste ihn mit feuchtwarmen Lippen, mit einer plötzlichen Empfindung von Frische und Grappa auf der Zunge.

Einige Monate zuvor hatte sich Marie auf ihrem Laptop eine Software installieren lassen, mit der sie völlig illegal Musikstücke aus dem Internet herunterladen konnte. Ausgerechnet Marie, die als Erste mit Erstaunen reagiert hätte, wäre sie auf den kriminellen Charakter dieser Praktiken aufmerksam gemacht worden, Marie, meine Piratin, die ansonsten ein Vermögen für einen Stab von Wirtschaftsanwälten und weltweit agierenden Juristen ausgab, um gegen die Fälschungen ihrer Marken in Asien vorzugehen, Marie erhob sich, schritt durch den Halbdämmer des Zimmers und lud auf ihren Laptop eine sanfte, langsame Tanzmusik herunter. Sie suchte sich einen alten Slow aus, der ihr für den Moment passend erschien, so einen kitschigen Schmachtfetzen (ich fürchte, wir hatten denselben Geschmack), und begann, im Schlafzimmer für sich allein zu tanzen, sie knöpfte sich die Bluse auf, kam zum Bett zurück, wobei sie mit den Armen schlangenartig arabisch anmutende Arabesken improvisierte. Sie setzte sich wieder neben Jean-Christophe de G., der mit seiner Hand zärtlich unter ihre Bluse fuhr, doch Marie bäumte sich plötzlich auf und stieß ihn mit einer ebenso verzweifelten wie uneindeutigen Gebärde von sich, was ein einfaches »Hände weg« bedeuten konnte, eine unmittelbare Reaktion, als sie seine lauwarme Hand auf ihrer nackten Haut spürte. Ihr war zu heiß, Marie war es zu heiß, sie starb vor Hitze, sie fühlte sich klebrig, sie schwitzte, ihre Haut war nass, die im Raum stehende stickige Luft zu atmen fiel ihr schwer. Sie sprang auf, stürmte aus dem Zimmer und kam aus dem Salon mit einem Ventilator zurück, den sie am Fußende des Bettes anschloss und sofort auf höchste Stufe stellte. Der Ventilator setzte sich langsam in Bewegung, die Rotoren gerieten schnell in ihren festen Rhythmus, lärmend und pulsierend bliesen sie Luftwirbel in den Raum, die in ihre Gesichter peitschten und ihre Haare vor den Augen tanzen ließen, er musste mit einer Haarsträhne kämpfen, die vor seiner Stirn flatterte, und sie hielt mit gesenktem Kopf ihre offenen Haare in den Luftstrom, was sie wie eine Irre oder eine Meduse aussehen ließ. Marie mit ihrem so strapaziösen Hang zu geöffneten Fenstern, geöffneten Schubladen, offenen Koffern, ihrem Hang zu Unordnung und Schlamperei, zu heillosem Durcheinander, Chaos, Wirbelwinden und stürmisch bewegter Luft.

Sie hatten sich schließlich ausgezogen und im Halbdunkel umarmt. Marie, am Fußende des Bettes, rührte sich nicht mehr, sie war in den Armen von Jean-Christophe de G. eingeschlafen. Der Ventilator drehte sich wie in Zeitlupe und wälzte schwülwarme Luft durchs Zimmer, die sich mit der gewittrigen Luft der Nacht von draußen vermischte. Im Zimmer war es still, nur das bläuliche Licht der Kontrolllampe des Laptops brannte, der Bildschirm hatte sich ausgeschaltet. Jean-Christophe de G. befreite sich behutsam aus Maries Umarmung und stand, nackt, ruckartig auf; schwer stützte er sich mit den Händen ab und ging, ohne ein Geräusch zu verursachen, über das alte Parkett zum Fenster und schaute auf die Straße. Paris erstickte an der Hitze, es mussten noch mindestens 30 Grad sein, obwohl es schon fast ein Uhr morgens war. Aus einer den Blicken verborgenen Bar, die noch geöffnet war, drangen Stimmfetzen aus der Tiefe der Nacht. Autos fuhren im Lichthof ihrer Scheinwerfer vorüber, ein einsamer Fußgänger überquerte die Straße in Richtung der Place des Victoires. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig erhob sich stumm die massive Fassade der Banque de France. Das schwere Eingangsportal aus Bronze war verschlossen, nichts ringsherum bewegte sich, und plötzlich fühlte sich Jean-Christophe de G. von einer dunklen Vorahnung gepackt, in ihm wuchs die Überzeugung, dass in der Ruhe dieser gewittrigen Nacht noch etwas Dramatisches geschehen, dass er von einem Augenblick zum nächsten Zeuge einer plötzlichen Woge der Gewalt, des Entsetzens und des Todes werden würde, dass hinter den Mauerwänden der Banque de France Alarmsirenen aufheulen würden und die Straße unten Schauplatz von Verfolgungsjagden, von Schreien und Schlägen, von zuschlagenden Autotüren und von Schüssen sein würde, die Fahrbahn plötzlich voller Polizeifahrzeuge, deren Blaulichter die Hausfassaden mit ihren rotierenden Lichtern anstrahlen.

Jean-Christophe de G. stand nackt am Fenster des Appartements der Rue de La Vrillière und starrte mit einer unbestimmbaren Unruhe und einer wachsenden Beklemmung in der Brust in die Nacht hinaus, als er in der Ferne am Himmel ein Wetterleuchten wahrnahm. Ein scharfer Windstoß fuhr ihm über Gesicht und Oberkörper, und er bemerkte, dass sich der Himmel über dem Horizont tiefschwarz verfärbt hatte, nicht zu einem durchscheinend bläulichen Schwarz einer schönen Sommernacht, sondern zu einem dichten, bedrohlichen, opaken Schwarz. Gewaltige Gewitterwolken trieben auf das Viertel zu und türmten sich unerbittlich auf, verschluckten die letzten Reste des klaren Himmels, die noch über den Gebäuden der Banque de France zu sehen waren. Erneut sah er ein Wetterleuchten in der Ferne, über der Seine, aus der Richtung des Louvre, stumm, fremdartig, dunkel und hell gestreift, unheilverkündend, ohne Blitz und Donnergrollen, eine langgezogene, horizontale elektrische Entladung, die den Himmel auf einer Länge von Hunderten von Metern aufriss und den Horizont in Stößen von Weiß, lautlos, ergreifend, erhellte.

Unvermittelt drang mit einem heftigen Wirbel kühlere Luft ins Zimmer. Marie spürte mit einem leichten Schauder, wie der erfrischende Wind über ihren Rücken strich, und flüchtete sich unter die Bettdecke, umwickelte fest ihre Schultern. Sie zog ihre Strümpfe aus und warf sie ans Bettende, während Jean-Christophe de G. begann, sich im Zwielicht wieder anzuziehen, er zog sich an, und sie zog sich aus, es waren dieselben Bewegungen und doch so verschiedene Ziele. Er zog sich seine Hose wieder an und streifte sein Jackett über. Bevor er ging, setzte er sich noch einmal für einen Augenblick neben Marie an das Kopfende des Bettes. Er küsste sie im Halbdunkel auf die Stirn und berührte leicht ihre Lippen, aber die Küsse dauerten länger als die eines einfachen Abschieds, sie zogen sich in die Länge, wurden fiebriger, sie umarmten sich erneut, bis er schließlich zu ihr ins Bett unter die Decke kroch, mitsamt seinen Kleidern, seinem schwarzen Leinenjackett, seiner Leinenhose, er presste sich dicht an sie, ließ dann die Aktentasche, die er immer noch in der Hand hielt, los, um Marie zu umarmen. Sie lag nackt an ihn gedrückt, und er berührte sanft ihre Brüste, und als er ihr Seufzen hörte, streifte er ihren kleinen Slip über ihre Schenkel, Marie war ihm dabei behilflich, wand sich in ihrem Bett, Marie, die keuchend und mit geschlossenen Augen den Reißverschluss von Jean-Christophe de G.s Hose öffnete, hastig, aber entschlossen sein Glied herausholte, mit einer gewissen Dringlichkeit, mit einer festen und doch gleichzeitig zärtlichen Bewegung, so, als wüsste sie genau, worauf sie hinauswollte, doch dann, am Ziel angekommen, wusste sie plötzlich nicht weiter. Erstaunt öffnete sie die Augen, schlaftrunken, betäubt von Alkohol und Müdigkeit spürte sie, dass sie vor allen Dingen eines wollte, Schlaf, das Einzige, worauf sie im Moment wirklich Lust hatte, war zu schlafen, und sei es in den Armen von Jean-Christophe de G., aber nicht notwendigerweise mit seinem Schwanz in der Hand. Sie hielt inne, aber da sie irgendetwas mit dem Schwanz von Jean-Christophe de G., den sie immer noch in der Hand hielt, anfangen musste, schüttelte sie ihn, entgegenkommend, ein- oder zweimal, wie aus Neugierde, recht sanft, hielt ihn umschlossen und bewegte ihn und musterte neugierig und interessiert das Resultat. Was erwartete sie, dass er steif wurde? Marie hielt den Schwanz von Jean-Christophe de G. in der Hand und wusste nicht, was sie damit anfangen sollte.

Marie war schließlich eingeschlafen. Sie war für eine Weile eingenickt, oder war er es, der zuerst eingeschlafen war, sie bewegten sich kaum in der Dunkelheit, küssten sich weiter, mit Unterbrechungen, in einem von beiden geteilten Halbschlaf dämmerten sie in den Armen des anderen vor sich hin, tauschten flüchtig schlafwandlerische Liebkosungen aus (und das nennt man, sich die ganze Nacht lieben). Marie hatte die oberen Knöpfe von Jean-Christophe de G.s Hemd geöffnet und streichelte geistesabwesend seine Brust, er ließ sie gewähren, ihm war heiß, er schwitzte so völlig angezogen unter der Bettdecke, sein Glied, unmerklich steif, im Stich gelassen, ragte einsam aus der Hose, noch erregt von Maries spärlichen Zärtlichkeiten, während Marie ihre Hand unter sein verschwitztes und verknittertes Hemd schob, dessen offene Enden kraftlos an ihm herunterfielen. Sie küsste ihn sanft, auch sie schwitzte leicht, ihre Schläfen glühten, ohne sich vorzusehen, begann sie, seine Taschen zu durchsuchen, ließ ihre Hand in die Taschen seines Jacketts gleiten, voller Neugier, was dieser starre Gegenstand mit den harten Konturen sein konnte, der ihr bei seinen Umarmungen auf die Hüfte drückte. Eine Waffe? Konnte es wahr sein, dass in der Tasche seines Jacketts eine Waffe war?

In diesem Moment schloss sich langsam das Fenster, schlug dann mit einem heftigen Schwung wieder auf, dass Glas und Rahmen erzitterten, mit einem Mal fielen schwere Regentropfen auf die Straße. Marie sah im Geviert des Fensters, wie der Regen in der Nacht in Strömen herunterprasselte, ein schwarzer Regenvorhang, der vom Wind stoßweise seitlich und in Wirbeln durch die Strahlenbündel der Straßenlaternen gepeitscht wurde. Gleichzeitig ertönte mehrere Male hintereinander ein Donnergrollen, und der Himmel wurde schlagartig erleuchtet durch ein baumartiges Netz mit vielfachen Verästelungen. Die Heftigkeit des Regens nahm zu, einzelne Tropfen begannen ins Zimmer zu fallen, prallten von den Fensterscheiben und vom Parkett. Marie fühlte sich sicher unter ihrer Decke, geschützt vor dem Unwetter, nackt, wie sie war, ihre Sinne waren durch die Dunkelheit geschärft, ihre Augen schimmerten im Licht der Blitze, sie gab sich mit Lust der erotischen Dimension des Vergnügens hin, ein solches Unwetter im Schutz eines Bettes genießen zu können, mit weit in die Nacht geöffnetem Fenster, wenn der Himmel aufreißt und die Elemente außer Rand und Band geraten. Manchmal ließen die Blitze sie hochfahren, steigerten durch ihr Erschrecken nur noch mehr ihr sinnliches Vergnügen, sich drinnen im warmen Bett zu wissen, während draußen der Sturm tobte. Doch anders als die heftigen Unwetter der Spätsommer auf Elba, die die Luft reinigen und sofortige Erfrischung bringen, hatte das Gewitter dieser Nacht etwas Tropisches und Ungesundes, so als hätte der Regen die Temperatur nicht senken können, und die Luft, noch immer feuchtigkeitsschwanger und mit einem Übermaß an atmosphärischer Elektrizität aufgeladen, bliebe drückend, schwül, nicht zu atmen, zum Ersticken. Jean-Christophe de G. hatte nicht einmal die Augen geöffnet, reglos lag er in seinen Kleidern neben ihr im Bett, Schweiß auf der Stirn. Bleiern schlief er auf dem Rücken liegend, unberührt vom Grollen des Donners, dessen Nachhall sich in vielfachen Echos brach, bevor er im anhaltenden Plätschern des auf die Erde klatschenden Wolkenbruchs erstickte. Marie achtete kaum auf ihn, als er plötzlich die Decke zurückschlug und im Anzug aus dem Bett auftauchte, fertig angekleidet wie zum Ausgehen. Sie sah zu, wie er stocksteif wie ein Schlafwandler das Zimmer verließ, in Socken, seinen Aktenkoffer in der Hand, vielleicht wollte er nach Hause gehen, Marie hatte keine Ahnung, wohin er ging, sie hörte, wie er sich im Flur entfernte, dann schlug eine Tür zu, vielleicht die Wohnungstür, und Marie suchte mit den Augen nach den Schuhen von Jean-Christophe de G., die noch am Fußende des Bettes standen, es war vielleicht doch die Toilettentür, die zugeschlagen war. Einige Minuten blieb Jean-Christophe de G. fort, dann kam er zurück, so wie er gegangen war, derselbe unsichere, stocksteife, mechanische Gang, doch jetzt war sein Gesicht kreideweiß, blass, aschfahl, in Socken und schwitzend tat er einen Schritt ins Zimmer und brach zusammen.

Marie begriff nicht sofort, was geschehen war, dachte zuerst, er sei wegen des Alkohols gestolpert, und zögerte zunächst einen Augenblick, bevor sie aus dem Bett sprang, um ihm zu Hilfe zu kommen. Was ihr aber auf einmal große Angst einjagte, war, dass er nicht das Bewusstsein verloren hatte, sie sah, wie er sich in der Dunkelheit auf dem Rücken hin und her wälzte, sich jämmerlich auf dem Parkett wand, sich mit beiden Händen an die Brust griff, als sei dort ein Schraubstock, aus dem er nicht freikam, und sie sah, wie sich sein Gesicht im Dunkeln vor Schmerz verzerrte, seine Kiefer verhärteten, seine Lippen schwer wurden, steif und wie betäubt, seine Atmung war nicht normal, er versuchte angestrengt, etwas zu sagen, doch seine Artikulation war teigig, kaum verständlich, er versuchte, ihr zu erklären, dass er seine linke Hand nicht mehr spüre, dass sie gelähmt sei. Marie, neben ihm auf dem Boden kniend und über ihn gebeugt, hatte seine Hand ergriffen. Er sagte, dass er sich schlecht fühle, man sofort einen Arzt rufen müsse.

Marie hatte die Nummer eines Notdienstes gewählt, die 15 oder die 18, und lief ungeduldig im Zimmer auf und ab, darauf wartend, dass jemand den Anruf entgegennahm, sie ging zum Fenster, warf einen abwesenden Blick auf die dunkle Straße, auf die immer noch der Regen fiel, kehrte zu Jean-Christophe de G.s auf dem Boden liegenden Körper zurück und kniete sich schließlich neben ihn. Nackt und auf Knien verharrte Marie reglos im Halbdunkel, hielt das Telefon in ihren zitternden Fingern, hörte das Freizeichen, ihr nackter Körper wurde immer wieder von brutalen Blitzen angestrahlt, die das ganze Zimmer in grellem Weiß erhellten, und als sich am anderen Ende der Leitung endlich jemand meldete, ließ sie ihrer ganzen angestauten Panik freien Lauf und gab einen Schwall konfuser und unpräziser Erklärungen von sich, Marie, aufgewühlt, verloren und ratlos, wie sie war, hörte nicht auf den Mann am Telefon, der sie zu beruhigen versuchte, ihr immer dieselben knappen zwei oder drei Fragen stellte, die einfache und klare Antworten erfordert hätten – Name, Adresse, Art der Krankheit –, Marie ertrug es nicht, dass man ihr Fragen stellte, Marie hatte es schon immer gehasst, dass man ihr Fragen stellte, Marie hörte nicht zu, gab keine Antworten, sagte nicht ihren Namen und nicht ihre Adresse, sie redete mit verstörter Stimme ins Leere hinein, erklärte umständlich, dass er sich schon im Restaurant unwohl gefühlt habe, ein Schmerz in der Schulter, aber das habe nur einen kurzen Moment gedauert und sei gleich vorbeigegangen, daran gebe es keinen Zweifel – der Telefonist musste sie unterbrechen, um sie erneut, diesmal schroffer, nach ihrer Adresse zu fragen, »Ihre Adresse, Madame, geben Sie mir Ihre Adresse, ohne Ihre Adresse können wir nichts unternehmen« –, und dann war er es, Jean-Christophe de G., der, mit erloschenen Augen und kraftlosen, weichen Lippen, kreideweiß und schweißbedeckt auf dem Rücken liegend, Marie voller Unruhe anblickte und zu erraten versuchte, was hier vor sich ging, und dann, als er ihr die Antwort auf seine Frage von den Augen abgelesen und die Situation verstanden hatte, ihr den Telefonhörer aus der Hand nahm und dem Telefonisten die Adresse durchgab: »2, Rue de La Vrillière«, er sagte es in einem Zug, als ginge es darum, ein Taxi für den Heimweg zu bestellen, reichte dann erschöpft von der Anstrengung Marie wieder das Telefon zurück und fiel benommen zur Seite. Der Mann am Telefon erklärte nun Marie, dass er sofort eine Ambulanz schicken werde, wies sie mit teilnahmsloser, monotoner Stimme an, im Falle eines Herzstillstands eine Herzmassage und eine Mund-zu-Mund-Beatmung vorzunehmen. Das Gewitter hatte nicht nachgelassen, helle Blitze ließen in regelmäßigen Abständen – blendend, grell erleuchtend – für kurze Momente die Umrisse des Zimmers in einem geisterhaften weißen Licht erstarren. Marie hatte sich rittlings auf den bekleideten Körper Jean-Christophe de G.s gesetzt und damit begonnen, mit übereinandergelegten Händen, ausgestreckten Armen und völlig zerzausten Haaren, unbeholfen und außer sich, mit aller Kraft auf sein Brustbein zu drücken, auf seinen Brustkorb zu schlagen, dann, als ihre Bemühungen keinen Erfolg zeigten, beugte sie sich über ihn, um ihn zu schütteln und zu umklammern, um ihn festzuhalten und zu umarmen, sie strich mit ihren Händen über sein Gesicht, versuchte, ihm etwas von ihrer Wärme zu geben, drückte ihre Lippen auf seine, bohrte ihre Zunge in seinen Mund, um ihm Luft einzuhauchen, als wollte sie das Versagen ihrer unbeholfenen Rettungsversuche durch diese ungestüme und wütende Behandlung wettmachen, die dem Unglücklichen mit Sicherheit weniger Sauerstoff zuführte, als dass sie ihm ein heftiges Gefühl von Energie und Leben vermittelte. Denn es war wie ein lebensspendender Atem, den Marie dem bewusstlosen Körper Jean-Christophe de G.s zu geben versuchte, während sie ihm irgendwie Luft in den Mund blies und ihn fest in ihre Arme schloss, dort auf dem Boden ihres Schlafzimmers in einer langen Umarmung, in der sie spürte, wie der Tod an ihrer nackten Haut Schritt für Schritt an Terrain gewann – die ergreifende Nacktheit des Körpers von Marie im Kampf mit dem Tod.

Aus weiter Ferne vernahm Marie die Sirene eines Krankenwagens und stand auf, um ans Fenster zu eilen, patschte barfuß durch Wasserlachen, die sich durch den Regen auf dem Parkett vor dem offenen Fenster gebildet hatten. Marie stand nackt am Fenster, gleichgültig gegenüber Wind und Wetter, und wartete auf die Ankunft des Krankenwagens, der die Rue Croix-des-Petits-Champs hochfuhr, sie erkannte erste Schimmer des Blaulichts, das sich mit dem anschwellenden Geräusch der sich nähernden Sirene vermischte, und es war nicht eines, es waren zwei Rettungsfahrzeuge, die plötzlich mit kreisenden Blaulichtern an der Ecke der Rue de La Vrillière auftauchten und im prasselnden Regen blinkten, ein großer weißer Krankenwagen der SAMU und ein Notarztwagen, ein Kombi, der direkt vor dem Haus auf das Trottoir fuhr und dort hielt. Zwei Gestalten stiegen aus einem der Fahrzeuge, während die Rettungsleute der SAMU die Wagentüren zuschlugen und mit eingezogenen Köpfen im strömenden Regen hastig Arzttaschen packten und Rucksäcke schulterten. Die Gruppe eilte über den Gehweg zum Haus, sie fanden die Haustür jedoch verschlossen, wurden in ihrem Schwung gebremst, sie versuchten wiederholt, die Tür aufzudrücken, sie mit Gewalt zu öffnen. Bis schließlich einer von ihnen auf die Straße zurücklief und suchend den Kopf zum Gebäude hob. Mit vom Regen triefendem Gesicht entdeckte er endlich Marie und schrie ihr zu, dass die Haustür verschlossen sei. Marie rief ihm sofort den Türcode zu, irrte sich aber und nannte ihm den alten, sie war zu verwirrt, dann nannte sie ihm den neuen, schrie ihn mehrmals durch ihre wie einen Trichter vor den Mund gelegten Hände und rannte in den Flur zurück, um die Wohnungstür zu öffnen. Sie machte einen Schritt auf den Treppenabsatz hinaus und hörte, wie unten der Schließmechanismus der Haustür entriegelt wurde und auch schon Schritte im Treppenhaus widerhallten, sie hörte das laute Getrampel der Helfer, die die Treppe emporhasteten und fast im selben Moment auch schon vor ihr in der Dunkelheit auftauchten. Ohne ein Wort zu verlieren, betraten sie die Wohnung, in der kein einziges Licht brannte, nur die Kontrollleuchte des Computers schimmerte schwach im Schlafzimmer. Es waren fünf Sanitäter, vier Männer und eine Frau. Entschlossen durchquerten sie den Flur und betraten mit weit ausholenden Schritten und ohne nach dem Weg zu fragen sofort das Schlafzimmer, als hätten sie gewusst, wo es sich befand, als hätten sie immer gewusst, wo sich in dieser Wohnung das Schlafzimmer befand, und schalteten dort als Erstes, ohne auch nur einen Blick auf den am Boden Liegenden zu werfen, ohne ihn zuerst zu untersuchen oder ihm schnell Hilfe zu leisten, das Licht im Zimmer an, es gab kein Deckenlicht im Schlafzimmer, nur eine Vielzahl kleiner Tischlampen, die Marie über die Jahre gesammelt hatte, die Tizio von Richard Sapper, die Tolomeo mit Chromkopf von Artemide, die Titania von Alberto Meda & Paolo Rizzato, die Itty Bitty von Outlook Zelco, die Sanitäter verteilten sich in alle Ecken und schalteten alle Lampen an – und erst in diesem Moment, da sie umringt von den Helfern und im Lichte all ihrer Lampen mitten im Zimmer stand, wurde Marie bewusst, dass sie nackt war.