Die wandernde Erde - Cixin Liu - E-Book
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Die wandernde Erde E-Book

Cixin Liu

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Beschreibung

Als Wissenschaftler herausfinden, dass die Sonne schon bald erlöschen wird, schmiedet die Menschheit einen waghalsigen Plan. Mithilfe gewaltiger Raketentriebwerke soll die Erde aus ihrer Umlaufbahn herausgerissen werden, um in den Weiten des Alls nach einem neuen Heimatstern zu suchen. Und so begibt sich unser Planet auf eine lange, gefährliche Wanderschaft …

In »Die wandernde Erde« sind elf meisterhafte und preisgekrönte Erzählungen vom Autor des Sensationsromans »Die drei Sonnen« versammelt.

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EPUB

Seitenzahl: 724

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Das Buch

Eines Tages hört die Erde auf, sich zu drehen. Naturkatastrophen, Panik und Dunkelheit sind die Folge. Als man erkennt, dass die Ursache im Verlöschen der Sonne liegt, ist es bereits zu spät. Und so schmieden die Menschen einen waghalsigen Plan: Sie wollen die Erde mit gewaltigen Triebwerken aus der Umlaufbahn lösen, um einen neuen Heimatstern zu suchen …

In der titelgebenden Geschichte sowie in zehn weiteren packenden Stories beweist Cixin Liu, dass er der neue Meister der Zukunftsliteratur ist.

Der Autor

Cixin Liu ist einer der bekanntesten und produktivsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Er hat lange Zeit als Software-Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmete. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits mehrfach prämiert. Cixin Lius erfolgreichster Roman Die drei Sonnen wurde mit dem Galaxy Award, dem bedeutendsten Genre-Preis Chinas, und 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert.

Mehr über Cixin Liu und seine Werke auf:

Cixin Liu

DIE WANDERNDE

ERDE

Erzählungen

Aus dem Chinesischen von

Karin Betz, Johannes Fiederling

und Marc Hermann

Mit Anmerkungen zur Übersetzung

sowie einem Nachwort von Nicolas Cheetham

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Sammelband »Die wandernde Erde« wurde unter dem Titel (Liulang diqiu) 2008 bei Beijing Wenyi Chubanshe veröffentlicht. Weitere Informationen zu den einzelnen Originaltiteln, zur Erstveröffentlichung sowie zur Übersetzung finden Sie zu Beginn der jeweiligen Erzählung.
Das Nachwort wurde von Kristof Kurz übersetzt.
Redaktion: Christian Ebert Copyright © 1999–2010, 2018 by Cixin Liu German rights authorized by Beijing Qingse Media Co., Ltd. Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München Umschlagillustration: Stephan Martinière Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-22236-9 V002
diezukunft.de

Inhalt

Die wandernde Erde

Gipfelstürmer

Das Ende der Kreidezeit

Die Sonne Chinas

Um Götter muss man sich kümmern

Fluch 5.0

Das Mikrozeitalter

Weltenzerstörer

Die Versorgung der Menschheit

Durch die Erde zum Mond

Mit ihren Augen

Anmerkungen

Erläuterungen zu Schreibweise und Aussprache

Nicolas Cheetham: Die neue Reise in den Westen

DIE WANDERNDE ERDE

Diese Erzählung wurde von Cixin Liu im Juli 2000 in dem chinesischen Magazin Science Fiction World unter dem Titel (Liulang diqiu) veröffentlicht. Sie wird in »Das Mikrozeitalter« fortgesetzt. Noch im selben Jahr wurde sie mit dem Galaxy Award ausgezeichnet und erst kürzlich in China groß verfilmt. »Die wandernde Erde« wurde von Johannes Fiederling übersetzt.

Bremsjahre

Ich habe nie die Nacht gesehen und nie die Sterne, habe nie Frühling, Herbst oder Winter erlebt. Ich wurde gegen Ende der Bremsjahre geboren, als die Rotation der Erde zum Stillstand kam.

Es hatte zweiundvierzig Jahre gebraucht, um die Erdumdrehung abzubremsen, drei Jahre länger, als von der Einheitsregierung ursprünglich veranschlagt. Meine Mutter hat mir erzählt, wie die Familie gemeinsam dem letzten Sonnenuntergang zusah. Wie die Sonne ganz langsam versank und noch einmal innezuhalten schien, als sie den Horizont erreichte. Es dauerte drei Tage und Nächte, bis sie völlig verschwand, obwohl es zu dieser Zeit schon gar keine »Tage« und »Nächte« im herkömmlichen Sinne mehr gab. Anschließend war die östliche Hemisphäre noch lange Zeit – über zehn Jahre, glaube ich – in ewige Abenddämmerung getaucht, denn die Sonne sank nicht sehr tief unter den Horizont, sodass eine Hälfte des Himmels dauerhaft matt erleuchtet blieb. Während dieses langgezogenen Sonnenuntergangs wurde ich geboren.

Die Dämmerung war keinesfalls gleichbedeutend mit Dunkelheit, denn dank des Erdantriebs blieb die gesamte Nordhalbkugel taghell erleuchtet. Man hatte die Triebwerke auf der Eurasischen und der Nordamerikanischen Platte errichtet, da nur diese beiden großen Kontinentalplatten geschlossen und stabil genug waren, um den gewaltigen Schubkräften zu widerstehen, die die Antriebselemente gemeinsam erzeugten. Insgesamt zwölftausend von ihnen waren über die Ebenen Asiens und Nordamerikas verteilt.

Von dort, wo wir wohnten, konnte man Hunderte der leuchtenden Plasmasäulen sehen, die von den Antrieben ausgestoßen wurden. Stell dir einen gewaltigen Tempel vor, so groß wie die Akropolis in Athen, mit unzähligen, himmelhoch aufragenden Riesensäulen – nur dass die Säulen wie gigantische Leuchtstoffröhren aus grellem, bläulich weißem Licht bestehen. Inmitten dieser Säulenhalle bist du nur ein auf dem Boden herumkriechendes Bakterium. Jetzt hast du in etwa einen Eindruck davon, wie die Welt aussah, in der ich aufwuchs.

Dabei ist diese Beschreibung nicht ganz korrekt, denn die Eigenrotation der Erde konnte nur gestoppt werden, indem man ihr die Schubkraft des Erdantriebs tangential entgegensetzte. Die Düsen waren deshalb in einem speziellen Winkel ausgerichtet, wodurch die riesigen Lichtsäulen am Himmel leicht schräg standen. Der Tempel, in dem wir uns befanden, schien also auch noch kurz vor dem Einsturz zu stehen. Nicht wenige Leute von der Südhalbkugel wurden wahnsinnig, als sie in den Norden kamen und sich plötzlich in dieser Szenerie wiederfanden.

Noch schlimmer als der Anblick war jedoch die sengende Hitze, die von den Triebwerken ausging. Die Außentemperatur lag bei siebzig bis achtzig Grad Celsius, man konnte nicht mehr ohne Kühlanzug vor die Tür gehen. Außerdem brachten diese Temperaturen unablässige Gewitter mit sich. Die dunklen Sturmwolken, durchlöchert von den Plasmasäulen der Triebwerke, ergaben ein Bild wie aus einem Albtraum. Das bläulich weiße Licht streute in die Wolken und schuf wild wabernde, in unzähligen Farben glimmende Leuchtkränze, als wäre der gesamte Himmel mit weiß glühender Lava übergossen.

Irgendwann hielt mein Großvater es einfach nicht mehr aus. Die Hitze setzte ihm so zu, dass er im Delirium mit nacktem Oberkörper nach draußen in den Regen rannte, ehe wir ihn aufhalten konnten. Die vom Plasma brühend heißen Regentropfen brannten ihm die Haut vom Leib.

Für meine Generation dagegen war das alles völlig selbstverständlich – zumindest, wenn man auf der Nordhalbkugel geboren war –, so selbstverständlich, wie Sonne, Mond und Sterne für die Menschen vor den Bremsjahren gewesen waren. Wir nannten die gesamte Menschheitsgeschichte der Vergangenheit das »Alte Solarzeitalter«. Das muss eine herrliche, ja, eine goldene Zeit gewesen sein!

Als ich eingeschult wurde, machte die Lehrerin mit unserer dreißigköpfigen Schulklasse eine Bildungsreise einmal um den Globus. Damals war die Erdrotation bereits vollständig erstarrt. Der Erdantrieb hielt den Planeten jetzt nur noch auf seinem Kurs um die Sonne und nahm ab und an kleinere Positionskorrekturen vor. In den drei Jahren zwischen meinem dritten und sechsten Lebensjahr strahlten die Plasmasäulen daher mit niedrigerer Intensität, was der Reise sehr zugute kam, denn so konnten wir unsere Welt besser kennenlernen.

Zuerst sahen wir uns eines der Triebwerke aus der Nähe an. Es befand sich nahe bei Shijiazhuang am Fuße des Taihang-Gebirges, wo es sich wie ein Berg aus Metall vor uns auftürmte, der beinahe den halben Himmel einnahm. Verglichen mit ihm wirkten die Felszüge des Taihang im Westen wie ein paar mickrige Erdhügel. Das Triebwerk sei bestimmt mindestens so hoch wie der Mount Everest, staunte eines der anderen Kinder mit offenem Mund. Unsere Klassenlehrerin – eine hübsche junge Frau, die wir alle nur Stella riefen – verriet uns mit einem verständnisvollen Lächeln, dass dieses Antriebselement elftausend Meter hoch sei und den Mount Everest damit um mehr als zweitausend Meter überrage.

»Der Volksmund nennt diese Gebilde ›Gottes Schweißbrenner‹.«

Unter seinem mächtigen Schatten konnten wir die Vibrationen spüren, die er durch das Erdreich schickte.

Die Triebwerke des Erdantriebs ließen sich in zwei Gruppen unterscheiden. Bei den größeren sprach man von »Bergen«, die etwas kleineren nannte man »Gipfel«. Wir waren auf dem Weg, Berg NC 794 zu besteigen – »NC« für Nordchina. »Gipfel« zu erklimmen ging schneller, da sie mit riesigen Aufzügen versehen waren, auf »Berge« kam man dagegen nur mit dem Auto hinauf, über lange, gewundene Steilstraßen. Unser Bus reihte sich in eine Kolonne von Fahrzeugen ein, die weder Anfang noch Ende zu haben schien und sich im Konvoi die metallisch glänzende Fahrbahn hinaufschob. Links von uns lag die bläulich schimmernde Metallflanke des Berges, rechts ein kilometertiefer Abgrund. Der Rest des Konvois bestand aus gewaltigen, autonom fahrenden Kipplastern, bis zum Rand beladen mit frisch geschlagenem Felsschutt aus dem Taihang-Gebirge.

Nach erstaunlich kurzer Zeit hatten wir bereits eine Höhe von fünftausend Metern erklommen. Der Erdboden war kaum noch auszumachen, jedes Detail von den Reflexionen des bläulichen Triebwerkslichts verwaschen.

Stella ließ uns unsere Atemmasken aufsetzen. Je näher wir dem Plasmaauslass kamen, umso heller und wärmer wurde es. Die Visiere unserer Helme färbten sich zusehends dunkler, die Minikompressoren unserer Kühlanzüge fuhren langsam ihre Leistung hoch. Auf sechstausend Metern passierten wir die Einfüllöffnung, in welche die fünfzigtonnigen Riesenlaster der Reihe nach ihre Ladung abkippten. Immer neue Fuhren an Geröll verschwanden geräuschlos in dem rötlich glimmenden, weit aufgesperrten Schlund.

Ich fragte Stella, wieso die Triebwerke in der Lage waren, Gestein als Treibstoff zu nutzen.

»Die Fusion schwerer Elemente ist ein sehr komplexes Wissensgebiet. Dafür seid ihr noch zu jung. Erst einmal braucht ihr euch nur eines zu merken: Der Erdantrieb ist die leistungsstärkste Maschinerie, welche die Menschheit je gebaut hat. Berg NC 794 zum Beispiel, auf dem wir uns gerade befinden, generiert bei Vollauslastung fünfzehn Gigatonnen Schubkraft, die auf die Erde einwirken.«

Endlich erreichte unser Bus den Gipfel. Obwohl die Auslassöffnung direkt vor uns lag, war der Durchmesser der Plasmasäule einfach zu enorm, als dass wir mehr gesehen hätten als eine riesige Wand aus bläulich strahlendem Licht, die sich nach oben hin ins Unendliche erstreckte. Ich musste an eine Rätselfrage denken, die unser verhärmter Philosophielehrer uns vor einiger Zeit gestellt hatte:

»Du läufst über eine Ebene, immer weiter, bis vor dir plötzlich eine Wand auftaucht. Die Wand ist unendlich hoch, unendlich tief und erstreckt sich zu beiden Seiten unendlich weit. Was ist diese Wand?«

Ich rang kurz mit mir, aber dann erzählte ich Stella das Rätsel doch. Sie dachte eine Weile nach, bis sie ratlos den Kopf schüttelte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihr die schreckliche Antwort ins Ohr:

»Der Tod.«

Sie blickte mich einige Sekunden lang an, ohne etwas zu sagen. Dann nahm sie mich plötzlich in ihre Arme und drückte mich ganz fest. Über ihre Schulter hinweg sah ich die dunstverhangene Ebene. So weit mein Auge reichte, wimmelte sie von hoch aufragenden Metallbergen, von denen jeder eine mächtige Lichtsäule ausspie. Wie ein windschräger, kosmischer Urwald durchlöcherten sie den wankenden Himmel, der jeden Moment auf uns herabzustürzen drohte.

Als Nächstes fuhren wir zur Küste, wo die Spitzen versunkener Hochhäuser aus den Fluten ragten. Wenn die Wellen sich zurückzogen, rann das Meerwasser in weißen Strömen aus Myriaden von Fensteröffnungen und schufen eine Unzahl künstlicher Wasserfälle.

Die Bremsjahre waren eben erst vorüber, doch ihre Auswirkungen auf die Erdkugel waren erschütternd gewesen: Die durch durch den Erdantrieb hervorgerufene Beschleunigung hatte eine Flutwelle ausgelöst, die zwei Drittel der Städte auf der Nordhalbkugel verschlungen hatte. Der von den Triebwerken verursachte Temperaturanstieg hatte die Polkappen zum Schmelzen gebracht und die Überschwemmungen dadurch noch verschlimmert, sodass auch die Südhalbkugel nicht verschont geblieben war. Mein Großvater hatte vor dreißig Jahren selbst mit angesehen, wie eine hundert Meter hohe Monsterwelle Shanghai unter sich begraben hatte. Seine Augen wurden heute noch glasig, wenn er davon erzählte. Tatsächlich war von der Welt von einst nicht mehr viel übrig, und niemand wagte sich auszumalen, welches Leid ihr auf der bevorstehenden Reise durch die Weiten des Weltalls noch bevorstehen mochte.

Wir bestiegen ein altertümliches Fortbewegungsmittel, das »Boot« genannt wurde, und fuhren darin aufs offene Meer hinaus. Die Plasmasäulen des Erdantriebs blieben immer weiter hinter uns zurück, bis sie nach einem Tag Fahrt schließlich ganz außer Sicht waren. Der Ozean lag zwischen einer doppelten Dämmerung: Im Westen schimmerte das blaue Leuchten des Erdantriebs, im Osten glühte der zartrosafarbene Glanz der hinter dem Horizont lauernden Sonne. Beide Lichtquellen spiegelten sich auf der Meeresoberfläche und teilten den Ozean in zwei glitzernde, unterschiedlich gefärbte Hälften, und genau auf der Trennlinie zwischen ihnen befand sich unser Boot. Es war ein wahrhaft faszinierender Anblick. Aber als die blaue Dämmerung langsam schwächer wurde und das Rosa an Intensität gewann, breitete sich auf dem Boot Unbehagen aus. Die Kinder zogen sich vom Deck in ihre Kabinen zurück, wo sie sich mit fest zugezogenen Vorhängen vor den Bullaugen versteckten.

Ein weiterer Tag verging. Schließlich war der Moment gekommen, vor dem wir uns alle gefürchtet hatten. Wir versammelten uns in der Schiffsmesse, die uns als Unterrichtsraum diente, wo uns Stella feierlich verkündete: »Kinder, heute werden wir uns den Sonnenaufgang ansehen.«

Niemand regte sich. Wir saßen da wie festgefroren, unsere Augen weit aufgerissen. Stella versuchte uns mehrmals Mut zu machen, doch niemand rührte sich von der Stelle.

»Ich hab’s doch immer gesagt: Wir sollten die Weltumrundung machen, bevor moderne Geschichte durchgenommen wird. Dann kämen die Schüler damit psychisch besser klar«, meinte einer von Stellas männlichen Kollegen.

»Wenn es so einfach wäre! Die Kinder wissen doch schon, was los ist, lange bevor sie moderne Geschichte lernen. Die Gesellschaft bringt es ihnen bei«, entgegnete sie. Dann wandte sie sich an die Klassenaufseher unter uns: »Ihr geht vor. Keine Angst, Kinder. Bei meinem ersten Sonnenaufgang war ich auch nervös, aber ihr werdet sehen: So schlimm ist es gar nicht.«

Schließlich stand ein Kind nach dem anderen auf und bewegte sich Richtung Tür. In diesem Moment spürte ich auf einmal eine kleine, feuchte Hand, die meine Finger fest umschloss. Als ich mich umwandte, sah ich Ling hinter mir.

»Ich habe Angst«, wimmerte sie.

»Wir haben die Sonne doch schon im Fernsehen gesehen. Ist bestimmt fast dasselbe«, versuchte ich sie zu beruhigen.

»Nein, eine Schlange im Fernsehen ist doch auch nicht dasselbe wie eine echte Schlange!«

»Egal, wir müssen jedenfalls nach oben. Sonst fallen wir durch!«

Ling und ich hielten uns fest an den Händen, während wir hinter den anderen her ängstlich in Richtung Deck gingen, um uns dem ersten Sonnenaufgang unseres Lebens zu stellen.

»Tatsächlich ist es erst seit drei- bis vierhundert Jahren so, dass die Menschheit die Sonne mit etwas Schrecklichem verbindet. Früher hatten die Menschen keine Angst vor ihr. Im Gegenteil, sie war in ihren Augen etwas Erhabenes, etwas Herrliches. Damals drehte sich die Erde noch, und die Menschen konnten die Sonne jeden Tag einmal über den Himmel wandern sehen. Morgens begrüßten sie freudig die ersten Sonnenstrahlen, und am Abend besangen sie verzückt die Schönheit ihrer Untergänge.« Stella stand vorne am Bug und hatte sich uns zugewandt. Der Seewind strich ihr durchs lange Haar, während hinter ihr Lichtstrahlen aus dem Ozean am Horizont emporstiegen wie der Atem eines unvorstellbar großen Seeungeheuers, das unter der Meeresoberfläche lauerte.

Dann endlich sahen wir die Angst einflößende Fackel. Erst war sie nur ein leuchtender Punkt, dort, wo Himmel und Wasser sich berührten. Doch schnell gewann sie an Größe und nahm eine Sichelform an. Ich spürte, wie die Angst mir die Kehle zuschnürte. Ich bekam kaum noch Luft, und das Deck unter meinen Füßen schien plötzlich wegzubrechen. Ich fiel, und mit mir fiel Ling, die sich zitternd an mich klammerte. Ihr winziger Körper war so weich wie wehende Spinnweben. Die anderen Kinder stürzten ebenfalls, alle Menschen stürzten, die ganze Welt, alles befand sich im freien Fall. Das Rätsel kam mir wieder in den Sinn. Ich hatte den Philosophielehrer gefragt, welche Farbe die Wand hatte, die der Tod war. Wahrscheinlich schwarz, hatte er gemeint. Mir wollte das nicht einleuchten. Ich fand, sie müsse schneeweiß sein – nur deshalb hatte mich die Plasmawand daran erinnert. In unserer Welt war der Tod nicht mehr schwarz. Er hatte die Farbe eines Blitzes. Wenn dieser allerletzte Blitz über den Himmel zuckte, würde die Erde sich innerhalb von Sekundenbruchteilen in Dampf verwandeln.

Vor dreihundert Jahren hatten Astrophysiker festgestellt, dass sich die Umwandlung von Wasserstoff zu Helium im Inneren der Sonne beschleunigt hatte. Daraufhin wurden Tausende von Sonden ausgeschickt, die sie durchquerten und vermaßen, bis schließlich ein präzises mathematisches Modell des Sterns erstellt werden konnte. Nachdem ein Supercomputer das Modell errechnet und analysiert hatte, kam er zum Ergebnis, dass die Sonne kurz davor war, in ein neues Entwicklungsstadium einzutreten, weg von ihrer Rolle als stabiler Fixstern. Die Fusion der Heliumelemente würde sich innerhalb sehr kurzer Zeit bis ins Herz der Sonne hinein fortsetzen und einen »Heliumblitz«, eine gewaltige Explosion, auslösen. Danach würde sie sich in einen »Roten Riesen« verwandeln, einen gigantischen Stern mit nur schwacher Leuchtkraft, und sich so weit aufblähen, dass die Erdumlaufbahn in ihrem Inneren liegen würde. Natürlich nur theoretisch, denn zu diesem Zeitpunkt gäbe es unsere Erde schon nicht mehr – der Heliumblitz hätte sie längst verdampft.

All dies sollte sich in einem Zeitraum von vierhundert Jahren abspielen, von denen dreihundertachtzig mittlerweile verstrichen waren. Die Sonnenkatastrophe würde alle erdähnlichen, bewohnbaren Planeten des Sonnensystems zerstören. Selbst Form und Orbit der jupiterähnlichen Riesenplaneten würden nicht wiederzuerkennen sein. Nach jenem ersten Blitz verdichteten sich im Zentrum der Sonne wieder und wieder schwere Elemente, was eine kurze Phase häufiger Sonnenblitze zur Folge hätte – »kurz« natürlich nur bezogen auf die Evolution eines Fixsterns. Die gesamte Menschheitsgeschichte hätte in diesem Zeitraum gut tausendmal Platz.

Das Sonnensystem war im Begriff, für uns Menschen unbewohnbar zu werden. Der einzige Ausweg war daher die interstellare Migration zu einem anderen Stern. Unter Berücksichtigung der vorhandenen technischen Möglichkeiten kam dafür nur Proxima Centauri in Betracht, der uns am nächsten gelegene Stern, vier Komma zwei Lichtjahre entfernt. So weit war man sich einig. Strittig war allein, wie die Migration stattfinden sollte.

Um den Lerneffekt zu verstärken, kreuzte unser Boot noch zwei Mal und erzeugte für uns zwei weitere Sonnenaufgänge. Am Ende waren wir bereits daran gewöhnt und konnten uns vorstellen, dass die Kinder auf der Südhalbkugel, wo jeden Tag die Sonne schien, tatsächlich nicht alle sterben mussten. Wir fuhren noch einige Tage unter dem immer höher am Himmel stehenden Hauptgestirn dahin. Die angenehme Kühle der letzten Tage wich erneut quälender Hitze.

Ich döste gerade benommen in meiner Kabine, als draußen ein Tumult losbrach. Ling steckte ihren Kopf durch die Tür: »He, das Raumschiff-Lager und die Erdfraktion prügeln sich schon wieder!«

Eigentlich war mir die Prügelei herzlich egal, schließlich dauerte die ganze Debatte schon seit bald vierhundert Jahren an. Trotzdem ging ich nach draußen und warf einen Blick auf die Streithähne. Im Knäuel der aufeinander einschlagenden Jungs war unschwer Adong auszumachen. Die anderen mussten ihn provoziert haben. Adongs Vater war ein eingefleischter Anhänger des Raumschiff-Lagers, der wegen seiner Beteiligung an einem gewalttätigen Aufstand gegen die Einheitsregierung im Knast saß. Wie der Vater, so eben auch der Sohn.

Stella eilte mit ein paar kräftigen Matrosen herbei, denen es schließlich gelang, die Kontrahenten zu trennen.

»Ins Meer mit der Erdfraktion!«, brüllte Adong, der sich eine blutige Nase geholt hatte.

»Ich bin auch Teil der Erdfraktion. Willst du mich ebenfalls ins Meer werfen?«, fragte Stella.

»Ins Meer mit der Erdfraktion!« Adong ließ sich nicht beirren. Die Emotionen der Anhänger des Raumschiff-Lagers schlugen in letzter Zeit wieder hoch, und dementsprechend wild führten sie sich auf.

»Warum hasst ihr uns so?«, wollte Stella wissen.

»Wir wollen nicht zusammen mit euch Erd-Idioten hier krepieren!«, riefen ein paar weitere Jungs um Adong. »Wir brauchen ein Raumschiff! Raumschiff! Raumschiff! …«

Stella tippte auf das tragbare Projektionsgerät an ihrem Handgelenk. Vor uns erschien ein Hologramm in der Luft, das augenblicklich alle Aufmerksamkeit auf sich zog und dadurch zeitweilig für Ruhe sorgte. Zu sehen war eine glatt glänzende, luftdicht verschlossene Glaskugel von etwa zehn Zentimetern Durchmesser, zu zwei Dritteln mit Wasser gefüllt, in dem sich ein Stück Koralle und ein paar Algen befanden sowie eine kleine Garnele, die fröhlich umherschwamm.

»Was ihr hier seht, ist Adongs Projektarbeit aus dem Naturkundeunterricht«, erläuterte Stella. »Neben den sichtbaren Elementen enthält die Kugel auch einige unsichtbare Mikroorganismen. Alles in ihr ist voneinander abhängig und aufeinander eingestellt. Die Garnele frisst die Algen und zieht Sauerstoff aus dem Wasser, wofür sie organische Materie und Kohlendioxyd ausscheidet, aus denen die Mikroorganismen anorganische Materie als auch Kohlendioxid herstellen, was wiederum – dank künstlicher Beleuchtung – den Algen bei der Fotosynthese als Nährstoff dient und so für Wachstum und Vermehrung sorgt, während sie gleichzeitig den Sauerstoff freisetzen, den die Garnele zum Atmen bracht. Ein biologischer Kreislauf wie dieser sollte, solange von außen ausreichend Licht in die Kugel gegeben wird, beliebig lange fortlaufen. Es ist die beste Projektarbeit, die mir jemals untergekommen ist. Ich weiß, dass sie Adongs Traum und den aller Kinder des Raumschiff-Lagers verkörpert. Sie ist eine Miniatur eures Traums von einem idealen Raumschiff. Adong berichtete mir, dass er alles anhand eines exakten Computermodells vorausberechnet und die Organismen in der Kugel genetisch so modifiziert hatte, dass ihre Stoffwechsel ein perfektes Gleichgewicht bilden. Die Lebenswelt in der Kugel würde für eine lange Zeit stabil bleiben, davon war er felsenfest überzeugt – so lange, bis die Garnele ihr Lebensende erreichte. Das Lehrerkollegium war sehr angetan von dieser Arbeit. Wir stellten sie unter eine Lampe mit der vorgegebenen Lichtstärke. Niemand von uns zweifelte an Adongs Berechnungen. Insgeheim hofften wir, dass diese kleine Welt, die er geschaffen hatte, Bestand haben würde. Aber jetzt, kaum ein Dutzend Tage später …«

Aus einem Kästchen, das sie bei sich trug, holte sie vorsichtig die Glaskugel hervor. Die Garnele trieb tot auf dem Wasser, das zu einer schmutzig trüben Brühe geworden war und in dem die Algen vor sich hin gammelten. Sie hatten ihre grüne Farbe verloren und bedeckten als haarige, leblose Schicht die Korallen.

»Diese kleine Welt ist gestorben. Kinder, wer von euch kann mir sagen, warum?« Stella hielt die tote Kugelwelt auf Augenhöhe vor uns.

»Sie war zu klein!«, riefen mehrere Schüler gleichzeitig.

»Richtig! Zu klein. Ein zu kleines Biosystem, auch wenn es noch so fein eingestellt ist, vermag dem Zahn der Zeit nicht zu trotzdem. Dasselbe gilt für das Konstrukt, das dem Raumschiff-Lager vorschwebt.«

»Wir würden ein Raumschiff bauen, das so groß ist wie Shanghai oder New York!«, entgegnete Adong, bereits wesentlich kleinlauter als noch zuvor.

»Ja, mit den technischen Mitteln, die der Menschheit zur Verfügung stehen, ginge es auch nicht größer. Doch im Vergleich mit der Erde wäre ein solches Biosystem dennoch sehr klein. Zu klein.«

»Wir werden einen neuen Planeten finden!«

»Das glaubt ihr ja nicht einmal selbst. Im Sternbild des Zentauren gibt es keine geeigneten Planeten. Der nächstgelegene Stern, der über einen echten Erdkandidaten verfügt, ist achthundertfünfzig Lichtjahre weit von uns entfernt. Das schnellste Raumschiff, das die Menschheit aktuell bauen könnte, wäre mit lediglich null Komma fünf Prozent der Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Die Reise dorthin würde somit einhundertsiebzigtausend Jahre in Anspruch nehmen. Das Biosystem des Raumschiffs würde nicht einmal ein Zehntel dieser Zeitspanne überdauern. Nur ein Biosystem von der Größe der Erde, Kinder, nur ein gewaltiger natürlicher Kreislauf wie dieser kann auch noch tausenden zukünftigen Generationen Leben spenden! Sich im Weltall von der Erde zu trennen wäre, als verließe ein Säugling in der Wüste seine Mutter!«

»Aber … aber uns bleibt nicht mehr genug Zeit, Stella! Der Erde bleibt nicht mehr genug Zeit! Sie beschleunigt zu langsam! Wir werden nicht weit genug entfernt sein, wenn die Sonne explodiert!«

»Die Zeit reicht aus. Ihr müsst der Einheitsregierung vertrauen. Und ich sage es noch einmal: Wenn ihr kein Vertrauen in die Regierung habt, dann versucht, die Situation mit etwas Abstand zu betrachten: Falls die Menschheit doch sterben muss, dann kann sie es erhobenen Hauptes tun – weil wir gemeinsam alles gegeben haben!«

Die Flucht der Erde ließ sich in fünf Phasen einteilen: Im ersten Schritt wurde mittels des Erdantriebs die Eigenrotation des Planeten gestoppt, um die Antriebsdüsen stationär entgegengesetzt zur Flugrichtung zu positionieren. Im zweiten Schritt sollte der Antrieb auf volle Leistung hochgefahren und die Erde auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt werden, bis sie aus dem Sonnensystem austrat. Dritter Schritt: im interstellaren Raum weiter beschleunigen und auf Proxima Centauri zufliegen. Vierter Schritt: die Erde wieder drehen, die Position der Antriebsdüsen umkehren und mit dem Abbremsen beginnen. Fünfter Schritt: die Erde auf eine Umlaufbahn um Proxima Centauri manövrieren und sie zu seinem Satelliten machen.

Die Menschen nannten diese fünf Stufen »Bremsjahre«, »Flucht«, »Wanderzeit I: Beschleunigung« und »Wanderzeit II: Entschleunigung«: Am Ende stünde das »Neue Solarzeitalter«. Der gesamte Migrationsprozess würde zweitausendfünfhundert Jahre in Anspruch nehmen – einhundert Generationen.

Unser Boot setzte seine Fahrt fort, weit hinein in den nächtlichen Teil der Erde, wohin weder Sonnenstrahlen noch das Licht der Plasmasäulen reichten. Umweht vom kühlen Meereswind sahen wir Kinder zum ersten Mal den Sternenhimmel. Es war ein Anblick von so gewaltiger Schönheit, dass mir das Herz schier zerspringen wollte. Stella legte den Arm um uns und deutete hinauf. »Dort, Kinder, dort oben ist der Zentaur, unser Nachbarstern, unser neues Zuhause!« Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, während sie es sagte. Auch wir fingen an zu weinen. Selbst der Kapitän und seine aus hartgesottenen Seebären bestehende Mannschaft bekamen feuchte Augen. Alle Blicke waren auf die Stelle am Himmel gerichtet, auf die Stellas Hand zeigte. Meine Tränen ließen die Sterne flackern und tanzen, nur jener eine Stern schien unbeweglich und fest, wie ein Leuchtturm in stürmischer Nacht, der zum rettenden Ufer weist, ein glimmendes Feuer in eisstarrer Wildnis, das den einsamen Wanderer vor dem Erfrieren bewahrt. Der Stern in unseren Herzen, der einzige Hoffnungsfunke der Menschheit durch die hundert Generationen dauernde Durststrecke, die uns erwartete …

Auf der Heimfahrt sahen wir das erste Anzeichen dafür, dass die Erde ihre Reise begann. Ein riesiger Komet erschien am Nachthimmel: der Mond. Die Menschheit konnte ihn nicht mitnehmen, deshalb hatte man ihn mit planetaren Triebwerken versehen und aus seinem Erdorbit hinausmanövriert, um beim Beschleunigen eine Kollision zu vermeiden. Der gewaltige Schweif, den er dank der Plasmatriebwerke hinter sich herzog, bedeckte das Meer bis zum Horizont mit einem blauen Glanz, wodurch allerdings die Sterne nicht länger zu sehen waren. Die von der Gravitationsverlagerung ausgelöste Flut ließ das Meer haushohe Wellen schlagen, und wir setzten die Reise zurück auf die Nordhalbkugel im Flugzeug fort.

Die Zeit des Aufbruchs war endlich da!

Beim Ausstieg aus dem Flugzeug blendeten uns die Lichtsäulen des Erdantriebs. Das Plasma strahlte um ein Vielfaches heller als zuvor, die ehemals schräg stehenden Säulen stiegen jetzt kerzengerade nach oben, und die Triebwerke liefen mit vollem Schub. Die bis zu hundert Meter hohen Flutwellen, welche die Beschleunigung ausgelöst hatte, wälzten sich tosend über das Land. Brühend heiße Wirbelstürme peitschten die schäumende Gischt empor, jagten heulend durch den dichten Wald aus Plasmastrahlen und sorgten dafür, dass weltweit kein Baum stehen blieb. Von außen betrachtet war die Erde selbst zu einem gigantischen Kometen geworden, dessen bläulicher Schweif ins tiefe Schwarz des Weltalls schnitt.

Die Erde nahm Fahrt auf. Die Menschheit hatte ihre Reise angetreten.

Als die Erde ihre Fahrt begann, verließ uns Großvater. Seine Verbrennungen hatten sich entzündet. Auf der Schwelle zum Tod wiederholte er immer wieder denselben Satz:

»Ach, meine Erde, meine arme, wandernde Erde …«

Flucht

Unsere Schule wurde unter die Erde verlegt, was uns zu den ersten Bewohnern der unterirdischen Stadt machte. Der Schulbus fuhr in einen mächtigen Tunnel, der sich mit relativ geringem Gefälle in den Untergrund erstreckte. Nach ungefähr einer halben Stunde Fahrt wurde uns mitgeteilt, wir hätten die Stadt erreicht, doch was wir durch die Busfenster sahen, hatte kaum Ähnlichkeit mit einer menschlichen Siedlung. Stattdessen passierten wir eine Anzahl verzweigter Seitentunnel und Unmengen von Sicherheitstüren in den Wänden, während die an der Tunneldecke angebrachten Flutlichtstrahler alles in ein monotones, metallisch anmutendes Blau tauchten. Beim Gedanken, dass wir den Großteil unseres restlichen Lebens hier verbringen sollten, überkam uns im Stillen eine große Bedrückung.

»So wie die Urmenschen in Höhlen gehaust haben, werden nun auch wir wieder zu einer Höhlenkultur«, flüsterte Ling, aber Stella hörte es trotzdem.

»Es bleibt uns keine andere Wahl, Kinder. Schon bald werden auf der Erdoberfläche fürchterliche Bedingungen herrschen. Wenn es kalt wird, braucht ihr bloß zu spucken, und eure Spucke wird zu Eis, bevor sie den Boden berührt. Und wenn es heiß wird, verdampft sie, sobald sie euren Mund verlässt.«

»Das mit der Kälte, das verstehe ich. Das ist, weil die Erde sich immer weiter von der Sonne entfernt«, sagte einer von den Knirpsen aus den unteren Klassen, die mit uns im Bus saßen. »Aber warum wird es so heiß?«

»Du hast wohl noch nie was vom Beschleunigungsorbit gehört, was?«, fragte ich grimmig.

»Nein.«

Ling machte sich bereitwillig ans Erklären, wahrscheinlich nicht zuletzt, um ihren Anflug von Melancholie zu zerstreuen. »Der Erdantrieb hat nicht so viel Kraft, wie du vielleicht meinst. Er kann die Erde zwar langsam beschleunigen, aber er kann sie nicht auf einen Schlag aus ihrem Sonnenorbit lösen. Bevor wir sie verlassen können, müssen wir die Sonne noch fünfzehn Mal umkreisen. Während dieser fünfzehn Umrundungen, mit denen wir gerade begonnen haben, nimmt die Erde immer mehr Geschwindigkeit auf. Im Moment bewegen wir uns noch auf einer fast kreisförmigen Umlaufbahn um die Sonne, aber je schneller die Erde wird, desto flacher wird die Ellipse – immer schneller, immer flacher –, und gleichzeitig rückt die Sonne immer stärker an ihren Rand, sodass sich die Erde immer weiter von ihr entfernt, wenn sie hier drüben ist. Natürlich wird es da ganz schön kalt …«

»Moment! Ich verstehe das immer noch nicht ganz. Am sonnenfernsten Punkt wird es kälter, klar. Aber laut den Gesetzen der Orbitaldynamik müsste die Entfernung zur Sonne am sonnennächsten Punkt doch konstant bleiben. Wieso wird es dann wärmer?«

Der Junge war ein kleines Genie. Doch seit die Gentechnologie die Vererbung von Erinnerungen möglich gemacht hatte, waren solche Wunderkinder die Norm. Zum Glück, denn ohne sie hätte sich die Menschheit technologische Wunderwerke wie den Erdantrieb selbst im Traum nicht auszudenken vermocht – und sie erst recht nicht innerhalb von vier Jahrhunderten Realität werden lassen.

»Da sind doch noch die Antriebsdüsen, du Depp. Zwölftausend Schweißbrenner, die bei maximaler Leistung laufen. Die Erdoberfläche wird zum Hitzeschild eines Raketentriebwerks! Und jetzt hör gefälligst auf zu nerven!«

So begann unser subterranes Leben. Städte wie die unsere, fünfhundert Meter unter der Erdoberfläche und mit einer Bevölkerung von rund einer Million, gab es in großer Zahl und über alle Kontinente verteilt.

In der unterirdischen Stadt schloss ich die Grundschule ab und wechselte auf die Mittelschule, wo der Großteil des Unterrichts ingenieurwissenschaftliche Themen behandelte – Fächer wie Kunst und Philosophie waren auf ein Minimum reduziert worden, nachdem die Menschheit einfach nicht mehr die Muße dafür hatte. Wir lebten in einer so geschäftigen Zeit, wie sie die gesamte Menschheitsgeschichte noch nicht gesehen hatte. Die Arbeit war schier unendlich. Interessanterweise waren weltweit auch alle Religionen spurlos von der Bildfläche verschwunden. Die Menschen hatten endlich begriffen, dass selbst, wenn es wirklich einen Gott geben sollte, er ein ziemliches Arschloch sein musste. Nur Geschichtsunterricht gab es noch, aber die Schilderung des Lebens im Alten Solarzeitalter erschien uns wie der Mythos vom Garten Eden.

Mein Vater war Niedrigorbitpilot bei der Luftwaffe und nur selten zu Hause. Ich erinnere mich noch, wie die ganze Familie im fünften Jahr nach Beginn der Beschleunigung zur Aphel-Feier ans Meer fuhr. Der Tag, an dem die Erde auf ihrer Bahn den am weitesten von der Sonne entfernten Punkt erreichte, war zu einem Fest ähnlich Sylvester oder Weihnachten geworden, an dem sich die Menschheit der kurzlebigen Illusion von Sicherheit hingab. Wie früher, wenn wir auf der Erdoberfläche unterwegs waren, mussten wir mit Nuklearbatterien ausgestattete Schutzanzüge tragen – diesmal jedoch, um nicht zu erfrieren.

Als wir nach draußen traten, war nichts zu sehen außer dem Säulenwald des Erdantriebs, dessen grelles Licht alles unter sich begrub, wodurch wir kaum eine Veränderung wahrnahmen. Wir mussten lange mit dem Flugauto fahren, bis wir einen Ort am Meer erreichten, der außerhalb der Plasmabeleuchtung lag, sodass wir die Sonne sehen konnten. Sie hatte jetzt die Größe eines Baseballs und schwebte absolut still am Himmel, von einem feinen Leuchtkranz umgeben wie früher der Horizont vor Tagesanbruch. Abgesehen davon war der Himmel dunkelblau, und die Sterne darin leuchteten hell und klar.

Vom Meer dagegen war nichts geblieben als eine weiße Eiswüste. Eine johlende Menschenmenge stand auf dem zugefrorenen Ozean und schoss Feuerwerkskörper ins tiefe Blau des Himmels. Man feierte mit einer absonderlichen Selbstvergessenheit. Überall wälzten sich Betrunkene auf dem Eis umher oder grölten aus vollem Hals eine Kakofonie an Liedern, als wolle jeder mit seiner Stimme die anderen übertönen.

»Jeder lebt, wie es ihm gefällt – ohne jeden Kompromiss. Wer wollte es ihnen auch verübeln?«, murmelte mein Vater. Dann fiel ihm etwas ein: »Ach ja, was ich euch noch sagen wollte: Ich habe mich in Estella verliebt. Ich werde euch verlassen und zu ihr ziehen.«

»In wen?«, fragte meine Mutter ungerührt.

»In meine Grundschullehrerin«, antwortete ich stellvertretend. Ich ging bereits seit zwei Jahren auf die Mittelschule und hatte keine Ahnung, wie mein Vater und Stella sich wohl kennengelernt haben mochten. Vielleicht damals auf meiner Abschlussfeier.

»Tu, was du nicht lassen kannst«, meinte Mama.

»Wahrscheinlich dauert es sowieso nicht lange, bis die Luft raus ist. Dann komme ich zu euch zurück, okay?«

»Wie du meinst.« Ihre Stimme war so unbewegt wie das gefrorene Meer vor ihr, bis sie plötzlich entzückt aufschrie: »Wow! Habt ihr die gesehen? Da war bestimmt ein Holosprengkopf drin!« Sie deutete aufrichtig begeistert in Richtung einer eben explodierten Feuerwerksrakete.

Die Menschen meiner Zeit können den Filmen und Romanen des Alten Solarzeitalters von vor vierhundert Jahren kaum noch folgen, weil heute niemand mehr versteht, wie die Leute früher so viele Emotionen in Dinge stecken konnten, die nicht überlebensnotwendig waren. Die Verwirrung, die jedes Mal losbricht, wenn die Protagonisten in Liebeskummer verfallen und deswegen Tränen vergießen, lässt sich kaum beschreiben.

Der drohende Untergang und der Kampf ums Überleben der Menschheit ließen auch damals schon alles andere nebensächlich erscheinen. Vom aktuellen Zustand der Sonne und der Position der Erde abgesehen, konnte die Leute so gut wie nichts mehr wirklich fesseln oder erschüttern. Diese unbeirrbare Konzentration auf das Wesentliche hatte die Gefühls- und Gedankenwelt der Menschen nach und nach grundlegend verändert. Konzepte wie Liebe waren etwas, dem man nur beiläufige Aufmerksamkeit schenkte, so wie ein Spielsüchtiger am Roulettetisch sich hin und wieder ein paar Sekunden Zeit nimmt, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als Vater Stella zwei Monate später wieder verließ und zurückkam, nahm es meine Mutter ungerührt zur Kenntnis.

An mich gewandt erzählte er: »Estella erinnert sich noch gut an dich. Sie sagt, du wärst ein sehr kreativer Schüler gewesen.«

»Wer war das noch mal?«, fragte Mutter irritiert.

»Stella. Meine Grundschullehrerin. Papa war die letzten zwei Monate mit ihr zusammen!«

»Ach ja, richtig!« Mit einem verlegenen Lächeln schüttelte sie den Kopf: »Noch keine vierzig, aber ein Gedächtnis wie ein Sieb …« Sie blickte auf und sah in den holografischen Sternenhimmel an der Decke, dann warf sie einen Blick auf das holografische Wäldchen auf den Wänden ringsum und sagte: »Wo du gerade da bist – könntest du bitte die Hintergrundbilder wechseln? Wir haben sie langsam ziemlich satt, aber keiner von uns weiß, wie man dieses Teil bedient.«

Als die Erde erneut begann, auf die Sonne zuzustürzen, hatten wir die Episode bereits völlig vergessen.

Eines Tages wurde in den Nachrichten berichtet, das Meer sei gerade dabei aufzutauen, und so fuhren wir ein weiteres Mal an die Küste. Die Erde passierte gerade den Marsorbit. An der Sonneneinstrahlung gemessen hätten weiterhin Minustemperaturen herrschen müssen, doch der Erdantrieb sorgte dafür, dass es draußen regelrecht angenehm war. Man konnte sich ganz ohne Klimaanzüge bewegen – ein wirklich tolles Gefühl.

Der Himmel über uns war unverändert, schließlich befanden wir uns nach wie vor zwischen den Triebwerken der Nordhemisphäre. Doch als wir die andere Erdseite erreichten, spürten wir das Herannahen der Sonne: Den Himmel zierte ein lichtes, reines Blau, und die Sonne strahlte beinahe so hell wie damals, als die Erde ihre Reise angetreten hatte. Der Ozean war jedoch immer noch eine weite Einöde aus Schnee und Eis.

Enttäuscht stiegen wir aus dem Flugauto. Doch plötzlich drang ein markerschütterndes Grollen an unsere Ohren. Das Geräusch schien aus den tiefsten Tiefen des Planeten zu kommen, als würde die Erde unter unseren Füßen zerbersten.

»Es kommt vom Meer!«, rief mein Vater. »Die Temperatur ist zu schnell gestiegen – die Eisschicht wurde nicht überall gleichmäßig erwärmt. Das ist ja wie ein Erdbeben!«

Plötzlich mischte sich in das tiefe Grollen ein gewaltiges, scharfes Knacken wie krachender Donner. Andere Ausflügler hinter uns begannen zu jubeln. Vor uns tat sich ein Riss in der Meeresoberfläche auf, der sich wie ein schwarzer Blitz mit immenser Geschwindigkeit über das weiße Eisfeld ausbreitete. Ein Spalt nach dem nächsten erschien, begleitet von ununterbrochenem Donnerhall. Aus den Rissen im Eis zischte Meerwasser in die Höhe und bildete rasch anschwellende Stromschnellen.

Auf dem Rückweg sahen wir, wie die lange verödeten Landmassen aufbrachen und sich großflächig Wildgras an die Oberfläche schälte. Blumen blühten mit aller Macht, zarte Blattsprossen verliehen den verdorrten Wäldern ein flüchtiges grünes Gewand. Das Leben nutzte jede Chance, um seine aufgestauten Energien loszuwerden.

Je mehr die Distanz zur Sonne schrumpfte, desto bedrückter wurde die Stimmung. Immer weniger Menschen begaben sich an die Oberfläche, um den Frühling zu bewundern. Die meisten verkrochen sich so tief sie konnten in ihre unterirdischen Wohnstätten, nicht, um der nahenden Hitze, den Wolkenbrüchen und Wirbelstürmen zu entgehen, sondern wegen der Angst, die das Näherrücken der Sonne mit sich brachte.

Eines Tages, nachdem ich mich schlafen gelegt hatte, hörte ich Mama leise zu Vater sagen: »Vielleicht bleibt wirklich nicht mehr genug Zeit.«

»Es ist wie bei den letzten vier Perihel-Passagen. Solche Gerüchte kommen jedes Mal auf«, versuchte Vater sie zu beruhigen.

»Aber dieses Mal stimmen sie! Ich habe es direkt von der Frau von Professor Chandler, der Astronom und Mitglied im Navigationsrat ist. Den kennst du doch bestimmt. Er hat ihr selbst erzählt, dass man eine Geschwindigkeitszunahme der Helium-Verdichtung festgestellt hat!«

»Jetzt hör mir mal zu, Schatz. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, ganz unabhängig davon, ob tatsächlich noch Hoffnung besteht. Das verlangt ganz einfach unser Anspruch an uns selbst. Im Alten Solarzeitalter hat man Noblesse an Vermögen, Macht oder Talent festgemacht. Heutzutage zählt allein Hoffnung. Sie ist in diesen Zeiten das höchste Gut! Egal, wie lange wir haben: Ohne Hoffnung ist unser Leben wertlos! Und genau das wirst du morgen auch unserem Sohn sagen.«

Wie alle anderen wurde auch ich immer nervöser, je näher wir dem Perihel, dem sonnennächsten Punkt der Erdbahn kamen.

Eines Tages wanderte ich nach dem Unterricht, ohne wirklich darüber nachzudenken, bis zum Zentrumsplatz im Herzen der Stadt, in dessen Mitte sich ein runder Teich befand. Lange stand ich einfach nur davor, starrte mal ins blau schimmernde Nass, mal auf die traumartigen Leuchtmuster der Reflexionen des Wassers an der hohen, gewölbten Decke, die den Platz überspannte. Dabei entdeckte ich Ling, die mit einem dünnen Röhrchen und einer kleinen Flasche in den Händen umherlief und Seifenblasen blies. Hatte sie eine Salve Bläschen in die Luft geschickt, blickte sie ihnen so lange hinterher, bis auch die letzte verschwunden war, bevor sie die nächste Salve steigen ließ.

Ich schlenderte zu ihr hinüber. »Bist du nicht ein bisschen zu alt für so was?«

Ling war über die Maßen erfreut, mich zu sehen: »Du und ich, wir sollten zusammen verreisen!«

»Verreisen? Wohin denn?«

»An die Oberfläche natürlich!« Sie schwang ihrem Arm nach oben und ließ ihren Handgelenkcomputer ein Hologramm in die Luft werfen. Ein Meeresstrand im Schein der untergehenden Sonne leuchtete auf: Palmenblätter, die sich in einer milden Brise wiegten, sanft auslaufende Wellen und goldener Sand, auf dem vereinzelt Liebespaare standen, deren Umrisse sich wie schwarze Scherenschnitte vor einem mit glänzenden Goldstücken übersäten Ozean abhoben.

»Mona und Dagang haben das geschickt. Die beiden machen gerade eine Weltreise! An der Oberfläche ist es nicht zu heiß, sagen sie, viel besser als hier unten. Lass uns auch nach draußen gehen!«

»Man hat die beiden wegen unerlaubter Abwesenheit von der Schule suspendiert.«

»Pah, als ob es das wäre, was du fürchtest! Gib doch zu: Du hast Angst vor der Sonne!«

»Du etwa nicht? Warst du nicht deshalb sogar eine Zeit lang beim Psychologen?«

»Das war früher. Aber ich hatte eine Offenbarung! Hier, sieh nur!« Ling blies eine Salve Seifenblasen. »Sieh genau hin!« Sie zeigte auf eine der bunten schwebenden Bälle.

Ich studierte sie eingehend, sah dem Farbspiel auf ihrer Oberfläche zu, das mit einer solchen Komplexität und Feinheit wogte, dass menschliche Sinne es unmöglich vorherzusehen vermochten. Es war, als wisse die Seifenblase um die Kürze ihres Lebens, und weil sie es wusste, setzte sie alles daran, der Welt einen Einblick in ihren unendlichen Fundus an verschwommenen Erinnerungen, Träumen und Geschichten zu gewähren. Kurz darauf verschwand das wilde Spiel aus Licht und Farben in einer lautlosen Implosion. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich eine kaum wahrnehmbare Wolke aus feinsten Wassertröpfchen, die sogleich wieder verschwand. Die Blase war fort, als hätte sie nie existiert.

»Hast du’s gesehen? Die Erde ist nichts als eine Seifenblase im Weltall. Es macht ›Plopp‹, und alles ist vorbei. Was ist daran so schrecklich?«

»Das stimmt so nicht. Laut den Berechnungen dauert es nach dem Heliumblitz mindestens hundert Stunden, bis die Erde komplett verdampft ist.«

»Das ist ja das Schreckliche!«, schrie Ling. »Wir sitzen hier, fünfhundert Meter unter der Erde, wie die Füllung in einem Braten! Wir werden erst langsam gegart und anschließend verdampft!«

Ein kalter Schauer lief über meinen gesamten Körper.

»An der Oberfläche ist es anders, da wird man augenblicklich zu einer Dampfwolke. Die Menschen, die zu diesem Zeitpunkt oben sind, sind wie Seifenblasen. Es macht bloß einmal ›Plopp‹, und es ist aus. Wäre es deshalb nicht besser, beim Heliumblitz an der Oberfläche zu sein?«

Ich weiß nicht, warum ich nicht mitgegangen bin. Am Ende war es Adong, der sie begleitete. Ich habe die beiden nie wiedergesehen.

Der Heliumblitz blieb aus. Die Erde rauschte im hohen Tempo durchs Perihel, begann ihren sechsten Aufstieg in Richtung Aphel, und die Anspannung der Menschen ließ wieder ein wenig nach. Da die Erdrotation gestoppt war und die asiatischen Triebwerke auf diesem Abschnitt der Erdbahn entgegen der Flugrichtung standen, blieben sie, abgesehen von der ein oder anderen kleineren Positionskorrektur, über die Perihel-Passage hinweg abgeschaltet. Während sich über unserer Hälfte des Planeten eine lange, stille Nacht senkte, liefen die Triebwerke in Nordamerika auf Hochtouren und verwandelten nun diesen Kontinent in den Hitzeschild der Rakete. Weil die westliche Hemisphäre dabei auch noch der Sonne zugewandt war, herrschten dort horrende Temperaturen, bei denen alles Pflanzliche in Rauch aufging.

So verschob die Erde Jahr um Jahr ihren Orbit und gewann an Geschwindigkeit. Immer wenn sie ihren Aufstieg zum Aphel antrat, sorgte die wachsende Entfernung für Entspannung. Sobald aber der nächste Rücksturz zur Sonne begann, wurde die Beklemmung in den Herzen der Menschen wieder von Tag zu Tag größer. Jedes Jahr zur Perihelpassage regte sich aufs Neue das Gerücht, der Heliumblitz stünde unmittelbar bevor. Erst wenn die Erde wieder Richtung Aphel stieg und die Sonne am Himmel kleiner wurde, schrumpfte auch die Angst – wenngleich nur in Vorbereitung auf ihren nächsten Ausbruch. Die Psyche der Menschheit war auf einer kosmischen Schaukel gefangen, oder noch treffender: in einer kosmischen Partie russisches Roulette. Beim Aphel drehte sich die Revolvertrommel eine Patronenkammer weiter, und am Perihel wurde abgedrückt. Die Nervosität stieg mit jeder Betätigung des Abzugs.

In diesem Wechselspiel der Angst verbrachte ich meine Jugend. Wenn man es sich recht überlegte, war die Erde auch am Aphel noch lange nicht außerhalb des Zerstörungsradius eines Sonnenblitzes. Hätte sich der Ausbruch dort ereignet, wäre sie lediglich langsam geschmolzen, statt zu verdampfen. Dann doch lieber am Perihel, aus nächster Nähe.

Die Flucht war eine Zeit der Katastrophen. Die Beschleunigung und der veränderte Orbit brachten den Metallkern der Erde aus dem Gleichgewicht und versetzten ihn in Schwingungen, welche die Gutenberg-Diskontinuität durchbrachen, sich im Erdmantel fortsetzten und auf allen Kontinenten Hitzeaustritte verursachten. Weltweit wuchsen neue Vulkane aus der Erde, eine tödliche Bedrohung für die unterirdischen Städte. Vom sechsten Orbitalzyklus an kam es global zu immer neuen Magmaeinbrüchen mit katastrophalen Folgen.

Als an jenem Tag die Alarmsirenen losgingen, war ich gerade auf dem Heimweg von der Schule. Über die Lautsprecheranlage kam die Ansage des Senats: »Achtung! An alle Bewohner der Stadt F112! Die nördliche Schutzwand hat nachgegeben! Magma dringt ein! Ich wiederhole: Magma dringt ein! Block vier ist bereits eingeschlossen, der Ausgang zur Schnellstraße ist versperrt! Alle Bewohner sind aufgefordert, sich zum Sammelpunkt am Zentralplatz zu begeben. Die Evakuation per Aufzug wird eingeleitet! Achtung! Evakuation nach Paragraf fünf des Notstandsgesetzes! Ich wiederhole: Evakuation nach Paragraf fünf des Notstandsgesetzes!«

Ich blickte in die labyrinthartigen Gänge und Tunnel um mich herum – noch sah alles ganz normal aus. Doch ich wusste um die Gefahr: Von den zwei unterirdischen Schnellstraßen, die an die Oberfläche führten, hatte man die eine letztes Jahr zur Verstärkung der Hülle versiegeln müssen. War die andere nun ebenfalls versperrt, blieben als einzige Fluchtmöglichkeit die Aufzüge der vertikalen Schachtanlage über dem Zentralplatz, und die Kapazität dieser Aufzüge war begrenzt. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern, alle dreihundertsechzigtausend Bewohner der Stadt zu evakuieren. Dennoch würde es keine Kämpfe um einen Platz im Aufzug geben, denn das Notstandsgesetz der Einheitsregierung hatte alles genau geregelt.

In alten Zeiten bemühte man zur Illustration eines ethischen Dilemmas gerne folgendes Beispiel: Man stelle sich ein Hochwasser vor, in dem eine Person nur einen von zwei Ertrinkenden retten kann, einen Vater oder seinen Sohn. Für wen soll sie sich entscheiden? Die Menschen unserer Zeit konnten diese Fragestellung kaum mehr nachvollziehen.

Als ich den Zentralplatz erreichte, hatten die Leute bereits begonnen, sich dem Alter nach in langen Reihen anzustellen. Ganz vorn am Aufzug standen von Ammen-Androiden getragene Babys und Kleinkinder, danach kamen die Kindergartenkinder, dann die Grundschüler und so weiter … Mein Platz war im vorderen Mittelfeld.

Vater hatte Flugdienst, in der Stadt waren daher nur meine Mutter und ich. Ich konnte sie nirgends sehen, daher versuchte ich, entlang der sich kilometerweit ziehenden Menschenschlange nach hinten zu laufen, aber ich kam nicht weit, bevor Wachsoldaten mich aufhielten. Ich wusste, dass sie ganz hinten war, denn unsere Stadt war ein Bildungsstandort mit vielen Schulen, aber wenig Eltern. Sie gehörte bereits zu den ältesten Bewohnern.

Die Schlange bewegte sich mit einer Langsamkeit, die mich schier in den Wahnsinn trieb. Als ich drei Stunden später endlich an der Reihe war, in den Aufzug zu steigen, war ich kein bisschen erleichtert, denn ich wusste, dass zwischen meiner Mutter und ihrem Überleben noch über zwanzigtausend Hochschulstudenten standen. In der Luft lag bereits dicker Schwefelgeruch.

Zwei Stunden nachdem ich an die Oberfläche gelangt war, verschlang das Magma fünfhundert Meter unter mir die Stadt. Der Gedanke an die letzten Augenblicke meiner Mutter fühlte sich an, als drehte mir jemand ein Messer in der Brust: Zusammen mit den anderen achtzehntausend Menschen, die nicht mehr rechtzeitig evakuiert werden konnten, hatte sie zusehen müssen, wie das Magma auf den Zentralplatz strömte. Weil der Strom längst ausgefallen war, blieb der Stadt als einzige Lichtquelle der grausig rote Schein der glühenden Lava. Die hohe, weiße Kuppel über dem Platz war längst von Ruß geschwärzt. Noch bevor das flüssige Gestein die Eingeschlossenen erreichte, hatten die über tausend Grad heißen Temperaturen sie bereits aus dem Dasein gerissen.

Doch das Leben musste weitergehen. Selbst inmitten der harschen, bedrohlichen Realität vermochte die Liebe nach wie vor ihre betörenden Funken zu versprühen.

Um der allgemeinen Anspannung entgegenzuwirken, veranstaltete die Einheitsregierung während der zwölften Perihel-Passage zum ersten Mal seit gut zweihundert Jahren wieder Olympische Spiele. Ich nahm als Bobfahrer am Schlittenrennen teil, das unsere motorgetriebenen Eisschlitten von Shanghai aus quer über den zugefrorenen Pazifik und dann weiter bis nach New York bringen sollte.

Mit dem Ertönen des Startschusses setzte sich das Feld aus über hundert Teilnehmern in Bewegung und raste mit Geschwindigkeiten von fast zweihundert Kilometer pro Stunde hinaus auf den vereisten Ozean. Anfangs hatte ich noch andere Schlitten um mich, aber nach zwei Tagen waren sie alle entweder davongezogen oder zurückgefallen und am Horizont verschwunden. Ich befand mich im dunkelsten Teil der Erde, wo der Schein der Erdtriebwerke hinter mir bereits nicht mehr zu sehen war. Die Welt bestand aus nichts als dem weiten Sternenhimmel und der sich in alle Himmelsrichtungen endlos ausbreitenden Kältewüste, deren Eis sich bis zum Rand des Universums zu erstrecken schien. Vielleicht befand ich mich ja wirklich am Rand des Universums? Vielleicht gab es außer mir niemanden mehr zwischen den unendlichen Sternen und der endlosen Eisfläche? Eine Lawine aus Einsamkeit erdrückte mich, die mich am liebsten hätte weinen lassen. Verzweifelt gab ich Vollgas. Die Platzierung war mir egal, ich wollte einfach nur so schnell wie möglich raus aus dieser grausamen Einöde, bevor sie mich umbrachte. Was aber, wenn das rettende Ufer, an dessen Vorstellung ich mich klammerte, gar nicht existierte?

In diesem Moment erschien am Horizont die Silhouette eines Menschen. Als ich ihr näher kam, erkannte ich eine junge Frau, die neben ihrem Rennschlitten stand. Ihr langes Haar flatterte im eisigen Wind. Ihr könnt euch vorstellen, was unser Aufeinandertreffen zu dieser Zeit, an diesem Ort für uns bedeutete. Es sollte uns für den Rest unseres Lebens prägen.

Sie hieß Kayoko Koriyama und war Japanerin. Die Frauen waren zwölf Stunden vor uns gestartet, doch ihr Schlitten war in eine Eisspalte geraten, und eine der Kufen war hinüber. Während ich mich daranmachte, ihren Schlitten in Augenschein zu nehmen, erzählte ich ihr von dem Gefühl, das mich eben überkommen hatte.

»Ja, genauso ging es mir auch! Mir war, als wäre ich ganz allein im Universum. Weißt du, als ich dich gerade aus der Ferne näher kommen sah, war das, als würde die Sonne aufgehen!«

»Warum hast du eigentlich keinen Rettungsflieger angefordert?«

»Bei diesem Wettkampf geht es um die geistige Haltung der Menschheit! Die Erde kann auf ihrer Wanderung durchs Universum auch nicht einfach Hilfe anfordern!«, rief sie mit der den Japanern eigenen Verbissenheit und reckte ihre zierlichen Fäuste in die Luft.

»Eine andere Option haben wir nicht, fürchte ich. Ohne Ersatzkufe kriegen wir deinen Schlitten jedenfalls nicht wieder flott.«

»Wir könnten zusammen in deinem Schlitten fahren – wenn du auf eine gute Platzierung verzichten kannst.«

Natürlich konnte ich. Und so legten Kayoko und ich die verbleibende Strecke über den vereisten Pazifik gemeinsam zurück. Nachdem wir Hawaii passiert hatten, reckte sich am Horizont die Morgenröte. Inmitten der unendlichen Eiswüste, schwach beschienen von einer winzigen Sonne, reichten wir beim Zivilministerium der Einheitsregierung unseren Heiratsantrag ein.

Als wir schließlich in New York ankamen, hatten die Preisrichter längst die Zelte abgebrochen und waren nach Hause gegangen. Dafür wartete ein Beamter des Zivilministeriums auf uns, der uns zur Eheschließung beglückwünschte und sich gleich darauf an die Erfüllung seiner Pflichten machte: Er schüttelte sein Handgelenk und warf ein holografisches Raster aus Zehntausenden kleiner grauer Punkte in die Luft. Jeder Punkt repräsentierte ein frisch verheiratetes Pärchen, das in den letzten Tagen weltweit registriert worden war. Aufgrund der schwierigen Umweltsituation gewährte das Gesetz nur einem von drei Pärchen das Recht auf Fortpflanzung, die Entscheidung fiel per Losverfahren. Kayoko starrte lange auf das Raster in der Luft, dann tippte sie schließlich zögerlich auf einen Punkt in der Mitte. Als der Punkt sich grün färbte, vollführte sie einen kleinen Freudensprung. Ich hingegen wusste nicht recht, was ich empfinden sollte. War es wirklich ein Anlass zur Freude, dass mein Kind in diesen elenden Zeiten auf die Welt kommen sollte?

Der Beamte jedoch war in Hochstimmung. Ein »grünes« Pärchen sei für ihn immer ein Grund zum Feiern, sagte er und zückte eine Flasche Wodka. Also stießen wir, uns mit dem Trinken abwechselnd, auf das Fortbestehen der Menschheit an. Hinter uns überzogen die dünnen Strahlen der fernen Sonne die Freiheitsstatue mit einem feinem Goldglanz, während vor uns die längst verlassenen Hochhäuser Manhattans aufragten und im matten Tageslicht ihre langen Schatten auf das totenstille Eis des New Yorker Hafens warfen. Benommen vom Alkohol ließ ich meinen Tränen freien Lauf.

Ach Erde, meine arme, wandernde Erde!

Bevor wir auseinandergingen, drückte der Beamte uns noch einen Schlüsselbund in die Hand und erklärte mit einem leichten Lallen: »Hier, die sind von der Wohnung in Asien, die man euch zugeteilt hat. Oh, trautes Heim! Zu Hause ist es doch am schönsten, nicht wahr?«

»Was soll daran schön sein?«, entgegnete ich kühl. »Die Erdkruste in Asien steckt voller Gefahren. Aber was wisst ihr in der Westhalbkugel schon davon?«

»Wir werden es dafür bald mit einer Gefahr zu tun bekommen, die euch erspart bleibt. Die Erde durchquert demnächst wieder den Planetoidengürtel – und dieses Mal liegt die Westhalbkugel genau in der Flugrichtung.«

»Und? Wir sind doch schon die letzten paar Orbitzyklen durch sie hindurchgeflogen, ohne dass viel passiert ist.«

»Wir haben bisher nur den Rand des Planetoidengürtels gestreift. Die Asteroiden dort waren noch so klein, dass man ihnen mit Laserkanonen und Atombomben beikommen konnte und sich die Bahn relativ leicht gut halten ließ – die Raumflotte wurde damit natürlich leicht fertig. Aber diesmal … Habt ihr die Nachrichten nicht gesehen? Diesmal müssen wir mittendurch! Die Raumflotte wird sich nur um die größten Brocken kümmern können …«

»Sind diese Asteroiden wirklich so groß?«, fragte Kayoko besorgt auf dem Rückflug nach Asien.

Weil sich mein Vater bei der Raumflotte genau mit diesem Thema beschäftigte, hatte ich trotz der üblichen Nachrichtensperre, welche die Regierung verhängt hatte, um Panik zu vermeiden, zumindest einen Eindruck davon, was uns bevorstand. Ich erzählte Kayoko, dass es im Asteroidengürtel Gesteinsbrocken von der Größe ganzer Berge gab. Selbst mit einer Thermonuklearbombe der Fünfzig-Megatonnen-Klasse ließ sich höchstens ein kleines Loch hineinsprengen. »Deshalb werden sie die mächtigsten Waffen zum Einsatz bringen, die der Menschheit zur Verfügung stehen«, raunte ich geheimnisvoll.

»Du meinst Antimateriebomben?«

»Was denn sonst?«

»Wie weit ist denn der Aktionsradius der Raumflotte?«

»Nur noch etwa eins Komma fünf Millionen Kilometer. Sie sind inzwischen ziemlich geschwächt, sagt mein Vater.«

»Dann können wir zusehen!«

»Besser nicht.«

Kayoko sah trotzdem zu, und zwar ohne Schutzbrille. Der erste durch eine Antimateriebombe ausgelöste Blitz leuchtete kurz nach Beginn unseres Fluges auf, als Kayoko gerade dabei war, die Sterne am Himmel durch das Bordfenster zu bewundern. Anschließend war sie eine Stunde lang völlig blind und hatte noch einen Monat später rot angeschwollene, ständig tränende Augen.

Es war ein Moment, der einem das Herz aussetzen und das Blut in den Adern gefrieren ließ. In einem fort wurden Asteroiden Opfer der Antimateriewaffen. Ihre grell aufleuchtenden Auslöschungen zuckten durch das tiefe Schwarz des Weltalls, als sei die Erde umringt von einer titanischen Horde Paparazzi, die sie in wildes Blitzlichtgewitter tauchten.

Eine halbe Stunde konnte man die ersten Meteoriten sehen. Schön und fürchterlich zugleich zerschnitten ihre langen, feurigen Schweife den Himmel. Mit der Zeit nahm ihre Zahl zu, und die Schweife, welche sie hinter sich herzogen, wurden länger und länger. Ein plötzliches Krachen schüttelte die Maschine. Kayoko schrie auf und drückte sich eng an mich, im Glauben, ein Meteorit habe das Flugzeug getroffen. Die Stimme des Kapitäns schallte durch die Kabine:

»An alle Passagiere: Bitte bewahren Sie Ruhe. Was wir gerade gehört haben, war ein Meteorit beim Durchbrechen der Schallmauer. Bitte setzen Sie die Kopfhörer auf, um Langzeitschäden an Ihrem Gehör zu vermeiden. Da die Sicherheit unseres Fluges nicht garantiert werden kann, leiten wir umgehend eine Notlandung in Hawaii ein.«

Mein Blick folgte unterdessen einem Meteoriten, der wesentlich größer war als die vorhergegangenen. Er schien mir zu groß, als dass die Atmosphäre ihn vollständig verglühen könnte. Und tatsächlich stürzte der Feuerball, nachdem er in immer rasenderem Tempo den halben Himmel überquert hatte, schließlich ins Meer. Aus zehntausend Metern Höhe sah ich, wie dort, wo er die Eisfläche durchstoßen hatte, ein kleiner weißer Punkt entstand, der auf der Stelle zu einem weißen Kreis wurde und sich rasant ausbreitete.

»Ist das eine Welle?«, fragte Kayoko mit zitternder Stimme.

»Ja, eine Welle. Eine hundert Meter hohe Welle. Aber das Meer ist ja zugefroren, das Eis wird sie also sicher schnell abschwächen«, antwortete ich, auch um meine eigene Besorgnis zu beschwichtigen, und wandte meinen Blick ab.

Wenig später landeten wir in Honolulu, dessen Ortsregierung unseren Transport in eine der unterirdischen Städte veranlasst hatte. Der Wagen, der uns abholte, fuhr eine Küstenstraße entlang, und der Himmel über uns war mit roten Sternschnuppen übersät. Die rotbeschweiften Fabelwesen schienen alle zur selben Zeit und vom selben Punkt im All zu stammen. Einer der Boliden stürzte unweit der Küste in den Ozean, verursachte jedoch keine Wassersäule. Stattdessen stieg eine enorme Pilzwolke aus verdampftem Meerwasser auf. Die vom Aufprall verursachte Schockwelle erreichte die Küste unter dem Eis, hob die dicke Eisschicht krachend an und ließ sie zersplittern. Es sah aus, als stürme unter den wogenden Schollen eine Horde weichleibiger Monster in Kampfformation heran.

»Wie groß war der?«, fragte ich den Beamten, der uns abgeholt hatte.

»Kaum mehr als fünf Kilogramm, denke ich. Etwa so groß wie ein menschliches Gehirn. Aber eben gerade habe ich Meldung gekriegt, dass achthundert Kilometer nördlich von uns ein Zwanzigtonner runtergekommen ist.«

In diesem Augenblick begann das Kommunikationsgerät an seinem Handgelenk zu piepen. Er warf einen Blick darauf und sagte dann, an den Fahrer gewandt: »Wir schaffen es nicht mehr zu Tor zweihundertvier. Nimm einfach irgendeinen Eingang in der Nähe!«

Das Auto fuhr um eine Kurve und hielt vor einem Tunnel zur Stadt. Als wir ausgestiegen waren, sahen wir einige Wachen, die regungslos und mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Horizont starrten. In ihren Blicken stand die blanke Angst. Wir folgten der Richtung ihrer Blicke, wo sich in weiter Ferne eine dunkle Wand erhob. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine niedrige Wolkenschicht am Horizont, aber die Höhe dieser »Wolke« war allzu einheitlich, wie mit der Richtschnur an den Himmel gemauert. Sah man genauer hin, entdeckte man an ihrem oberen Rand eine weiß gesäumte Kante.

»Was ist das?«, fragte Kayoko verängstigt einen der Offiziere.

Unsere Nackenhaare stellten sich auf, als wir die Antwort hörten: »Ein Tsunami.«

Etwa zehn Minuten nachdem das mächtige Eisentor zur Untergrundstadt dröhnend zugefallen war, drang ein dumpfes Tosen zu uns herab, als wälze sich ein Riese über uns unruhig auf dem Boden. Stumm sahen wir einander an. Wir wussten, dass die hundert Meter hohe Monsterwelle soeben über die Inseln hinwegschwappte, so wie sie bald alle übrigen Kontinente überrollen würde.

Doch da war noch eine andere Sorte von Erschütterungen, die wie eine Riesenfaust aus dem All unablässig auf die Erde einprügelten. Hier, tief unter der Erde, spürte man sie zwar nur entfernt, aber jede von ihnen traf uns direkt in der Seele. Es waren Meteoriteneinschläge. Sie rissen nicht ab.

Das grausame Bombardement unseres Planeten hielt eine ganze Woche lang an.

Als wir wieder an die Oberfläche kamen, stieß Kayoko einen entsetzten Schrei aus: »Oh nein, was ist denn mit dem Himmel los?«

Der Staub, den die auf der Erde zerschellten Asteroiden aufgewirbelt hatten, war in die Atmosphäre gestiegen, hatte sich dort verdichtet und den Himmel grau gefärbt. Durch diese kosmische Nebelbank drangen weder Sonne noch Sterne.

Der Tsunami war auf der Erdoberfläche gefroren, noch ehe er sich wieder hatte zurückziehen können. An den wenigen noch stehenden Hochhausskeletten der Alten Solarzeit hingen zu Eis erstarrte Sturzbäche, und Meteoritenstaub überzog die Eisschicht ringsum, als wäre der Welt nur noch die Farbe Grau geblieben.

Kayoko und ich setzten unsere Heimreise nach Asien fort. Als wir die längst bedeutungslos gewordene Datumsgrenze passierten, erlebten wir die dunkelste aller dunklen Nächte, welche die Menschheit je gesehen hatte. Das Flugzeug schien durch einen Ozean aus schwarzer Tinte zu tauchen. So wie unsere Augen jeglichen äußeren Lichts beraubt waren, verdunkelten sich unweigerlich auch unsere Gemüter.

»Wann ist das bloß endlich vorbei?«, jammerte Kayoko kaum hörbar. Ich war mir nicht sicher, ob sie die Reise meinte oder dieses Leben voller Entbehrungen und Katastrophen. In diesem Moment fühlte es sich an, als wollte keines der beiden je ein Ende finden. Selbst wenn es die Erde aus dem Zerstörungsradius des Heliumblitzes herausschaffte – wenn wir mit dem Leben davonkamen –, was dann? Schließlich waren wir lediglich die erste Stufe einer hundert Generationen langen Treppe. Wenn unsere Nachkommen in ferner Zukunft den Absatz erklommen, an dem das Licht eines neuen Lebens auf sie wartete, wären unsere Knochen längst zu Staub zerfallen. Ich wagte nicht, an all das Leid und die Prüfungen zu denken, die uns noch bevorstanden, und erst recht nicht daran, dass ich eine Frau und ein Kind mit auf die beschwerliche Reise nahm, die vor uns lag.

Gerade als meine Trauer und Hoffnungslosigkeit mich vollends zu ersticken drohten, hallte ein Schrei durch die Kabine: »Nein! Schatz! Tu das nicht!«

Ich sah mich um. Eine Frau rang mit dem neben ihr sitzenden Mann und riss ihm eine Pistole aus der Hand, deren Mündung er sich offenbar eben noch an die Schläfe gedrückt hatte. Er sah hager und geschwächt aus, sein starrer, lebloser Blick war in die Ferne gerichtet. Die Frau legte ihren Kopf in seinen Schoß und begann zu schluchzen.

»Sei still«, befahl der Mann emotionslos.