Die Wege der Wolkenraths - Elke Vesper - E-Book
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Die Wege der Wolkenraths E-Book

Elke Vesper

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Beschreibung

Hamburg in den Dreißigerjahren - und eine Familie zwischen Hass und Liebe Hamburg, im Mai 1933: Am Kaiser-Friedrich-Kanal brennen die Bücher. Die Familie Wolkenrath teilt sich in zwei Lager: Während die Männer der NSDAP beitreten, kämpfen die Frauen gegen das neue Regime. Lysbeth versucht, ihren jüdischen Mann Aaron zu schützen, ihre Schwester Stella bespitzelt für ihren englischen Liebhaber die Nazigrößen, mit denen ihr Gatte verkehrt. Und Stellas Tochter Angela arbeitet im Untergrund, unterstützt von der über 100jährigen Tante. Die Wolkenraths waren schon immer Meister im Bewahren von Familiengeheimnissen – wird ihnen das auch in diesen schwierigen Zeiten gelingen? Der dritte Band der großen deutschen Familiensaga

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Seitenzahl: 1017

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Elke Vesper

Die Wege der Wolkenraths

Roman

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FISCHER E-Books

Inhalt

MottoWidmung123456789101112131415161718NachwortDanksagungLeseprobe1

Alles hat seine Stunde.

Für jedes Geschehen unter dem Himmel

gibt es eine bestimmte Zeit:

eine Zeit zum Gebären und

eine Zeit zum Sterben;

eine Zeit zum Pflanzen und

eine Zeit zum Abernten der Pflanzen;

eine Zeit zum Töten

und eine Zeit zum Heilen;

eine Zeit zum Niederreißen und

eine Zeit zum Bauen;

eine Zeit zum Weinen, eine Zeit für die Klage

und eine Zeit für den Tanz;

eine Zeit zum Steinewerfen und

eine Zeit zum Steinesammeln;

eine Zeit zum Umarmen und

eine Zeit, die Umarmung zu lösen.

 

Kohelet 3, 1–5

Dieses Buch widme ich meinem Sohn Robin, der stürmische Jahre seiner Kindheit in dem Haus in der Kippingstraße verbrachte, über das ich hier schreibe. Einen solchen Sohn zu haben, ist ein wunderbares Geschenk. Ich danke ihm für sein großes Herz voller Gefühle und Visionen und auch für seine Herausforderungen, die einiges an Wachstum und Reifung von mir verlangten.

1

»Magie des Feuers, dachte sie. Gleichgültig, wer es entzündet hat oder was er verbrennt, Feuer besitzt eine geheimnisvolle Macht.

Hand in Hand mit ihrer Tochter sah Stella die Flammen rot und gelb und golden mit grünen und schwarzen Sprenkeln in den Nachthimmel lodern. Es war ein dramatisches Spiel aus kraftvollen Farben und wilder Bewegung, das sie unwillkürlich in seinen Bann zog.

Beim Aufwachen hatte sie noch gedacht, dass sie der dringlich ausgesprochenen Bitte ihrer Tochter, sie zu begleiten, doch nicht Folge leisten wollte, vielleicht einfach so tun, als wäre sie unpässlich geworden, ein Grund wäre ihr schon eingefallen, aber nun, da sie hier stand, wusste sie, dass es richtig war, nicht gekniffen zu haben.

Sie musste einfach hier sein und sich von der Gewalt dieses Scheiterhaufens erschüttern lassen. Feuer wandelt, dachte sie, als erinnerte sie sich an eine Gedichtzeile, Feuer transformiert, Feuer ist eine Metamorphose, was vorher etwas war, ist nachher etwas anderes. Feuer ist ein Lehrer.

 

Es war der 15. Mai 1933. Angela und Stella standen im Schutz des Dunkels. Und das war gut so. Die Männer, ungefähr tausend an der Zahl, sollten sie nicht sehen. Wahrscheinlich wäre den beiden Frauen nicht einmal etwas Schlimmes geschehen, wenn sie entdeckt worden wären, dort am Hamburger Kaiser-Friedrich-Ufer auf dem Weg neben dem Isebekkanal, wo sie sich an einen dicken Baumstamm lehnten, als wollten sie mit ihm verschmelzen. Die Männer, vorwiegend Studenten, krakeelten aus voller Kehle in die Nacht, dass sie alles Undeutsche dem Feuer in den Rachen würfen, und sangen inbrünstig Lieder von echtem deutschen Geist. Sie dachten nicht an Frauen, sondern waren vollauf mit dem Ritual der Metamorphose von Papier zu Asche beschäftigt. Zugleich schickten sie kampfwütiges Wollen in die Flammen, denn das Feuer sollte nicht nur Papier verbrennen, sondern eine ganze Welt, eine Welt des Geistes, eine Welt, die von Neuem träumt, sei es auf dem Theater wie Bertolt Brecht, im Roman wie Heinrich Mann, in der Zeitung wie Kurt Tucholsky oder an den Universitäten wie Ernst Cassirer. Nichts sollte in Deutschland einen Verstand durcheinanderrütteln, alten Glauben durch neue Erkenntnisse erschüttern können. Kein Einstein und Konsorten. Und dass der Mensch sich selbst auf eine Weise anschauen müsste, dass er beunruhigend Neues über sich erfahren könnte, wie Freud es gelehrt hatte, sollte weg aus der Welt, zumindest aus der deutschen. Dass Eigentum und Macht nicht mehr betrachtet würden als gottgegeben oder schicksalsbedingt, sondern veränderbar wie die Roten es lehrten, dass Homosexualität nicht mehr eine Erbsünde wäre wie bei manchen Theaterautoren oder dass die höhere Gesellschaft in ihren niederen Beweggründen analysiert würde wie bei Heinrich Mann, all das und mehr sollte den Flammen zum Opfer fallen.

Ein deutscher Geist denkt nicht gern, dachte Stella spöttisch. Lieber handelt eine deutsche Faust.

 

Angelas Hand krampfte sich um Stellas, die den Schmerz willkommen hieß und irgendwie beruhigend empfand. Was dort verbrannt wurde, während die uniformierten Männer immer wilder sangen, doch unbeirrbar wie mit einer Stimme, diszipliniert und mit Regel und Einsatz, das war sie selbst. Das waren ihre Lieder, ihre Revuen, ihre Gedichte, ihre Hoffnungen. Das war ihre Zukunft. Das war ihre Liebe.

Dort auf dem Scheiterhaufen verbrannte ihre Schwester Lysbeth, die seit zwei Monaten einen jüdischen Nachnamen hatte und nun keinen Pfennig mehr von der Familie ihres wegen Untreue schuldig geschiedenen Gatten Maximilian von Schnell erhielt. Dort verbrannte Lysbeths Mann, Dr.Aaron Bleibtreu. Dort verbrannte Anthony, der Mann, den Stella liebte und dessen Bücher nur deshalb nicht auf den Scheiterhaufen geworfen wurden, weil sie nicht ins Deutsche übersetzt waren. Dort verbrannte die Freiheit, im Haus der Familie Wolkenrath in der Kippingstraße sagen zu können, was man dachte.

Und wer aus den Flammen groß aufstieg wie der Geist aus der Flasche war Jonny Maukesch, ihr Mann. Nur er konnte fortan das nackte Leben retten. Das Leben von Stellas Familie. Nicht ihre Würde, nicht ihre Hoffnungen, nicht ihre Seelen, aber ihr Überleben. Stumm, gedemütigt, versteckt, aber nicht tot.

»Angela, du musst damit aufhören«, flüsterte sie.

Sie musste den Schrei mit aller Kraft unterdrücken, der aus ihrer Brust herausbrechen wollte. Selbst den Schluchzer stopfte sie in die Kehle zurück. Ihre Augen blieben trocken. Auch in ihr loderte Feuer und verbrannte zu Asche, was dort gehegt und gepflegt, gewachsen und geformt worden war, ebenso wie die Tausende von Büchern, an deren Umschlägen die Flammen leckten wie zärtliche Liebhaber, sie umschlangen und anknabberten, bis sie mit ihnen verschmolzen und sie auflösten und wandelten.

Angela lachte böse auf. Sie warf trotzig ihren Kopf herum und zischte: »Ich? Aufhören? Kuschen? Niemals!«

Nun war es an Stella, die Hand ihrer Tochter zu drücken, bis diese einen leisen Schmerzenslaut von sich gab. Angelas Worte hatten sie ernüchtert. Sie wusste, dass dies die Wahrheit war: Angela war nicht bereit, mit ihrem Leben zu bezahlen, um zu überleben. Angela war nicht bereit, mit ihrer Würde, ihren Hoffnungen, ihrer Persönlichkeit zu zahlen, nur um weiterzuleben. Eher würde sie sterben.

Stella schauderte. Die Kälte der Mainacht kroch durch ihren Sommermantel hindurch.

Die Männer dort am Feuer trugen Uniformen, und ihre von den Flammen angestrahlten Gesichter leuchteten fiebrig rot, erhitzt durch Machtrausch, Begeisterung und Feuer. Kalt vor Hass und Ekel betrachtete Stella einen nach dem andern. Die Gesichter, die Rücken, den Triumph, die Erregung, die feiste Freude um die singend aufgerissenen Münder, die breitbeinige Haltung, die vorgestreckten Nacken.

Ja, sie wusste es: Sie würde Angela nicht vor ihnen schützen können. Wenn diese Männer Stellas Tochter zwischen ihre Finger bekämen, würden sie sie ebenso verbrennen, wie sie es dort mit den Büchern taten. Die alten germanischen Riten, Sonnenwendfeiern und all der übrige Kram, erstanden auf, seit Hitler von Hindenburg als Reichskanzler eingesetzt worden war und erst recht, seit die Deutschen ihn in »freien« Wahlen zu ihrem Führer erkoren hatten. Ebenso wenig würde Stella ihre Schwester Lysbeth schützen können. Lysbeth war genauso unbeugsam wie Angela. Sie würde weiter ihre Patienten behandeln, und wenn die Nazis noch so sehr zum Boykott von jüdischen Ärzten aufriefen und die Patienten sogar daran hinderten, in Aarons Praxis zu gehen. Stella würde die Tante nicht schützen können, die weiterhin ihrem Abscheu gegen die braunen Barbaren lauthals Ausdruck verleihen würde. Und eben auch ihre Tochter Angela nicht, die vor ein paar Tagen in Hamburg aufgekreuzt war, eine vollkommen veränderte Frau, nicht mehr schwarzhaarig, sondern blond, die Haare über den Ohren zu Schnecken gerollt und bieder gekleidet. »Ich bin Jennifer Hudson«, hatte sie zur Begrüßung gesagt und Stella in der Tür förmlich die Hand entgegengestreckt. Sie sprach mit englischem Akzent, immer, selbst wenn sie mit Stella allein war.

»Lass uns gehen«, sagte Stella und umschlang die Schulter ihrer Tochter, die sich widerstrebend vom Baum löste und fortführen ließ. Bis zur Hoheluftchaussee schob Stella ihre Tochter. Dort umarmte Angela die Mutter und raunte in ihr Ohr: »Du musst mitmachen. Du musst einfach.«

Jetzt erst löste sich etwas in Stella, und sie begann zu weinen. Sie hielt sich an Angela fest und schluchzte: »Aber wie denn? Ich muss doch auf dich aufpassen.«

 

Zwei Wochen später, Ende Mai, es war ein schöner milder Tag, saßen vier Frauen aus drei Generationen der Familie Wolkenrath in Lysbeths und Aarons Zimmer im Erdgeschoss der Villa in der Kippingstraße, von wo sie in den Garten blicken konnten, in dem der Flieder gerade ausgeblüht hatte und der Rhododendron dicke Knospen trug. Auf dem Rasen tollten die beiden jüngsten Windhunde herum. Sie waren etwas mehr als ein Jahr alt, schmale Tiere auf hohen Beinen, denen aber jetzt schon anzusehen war, dass sie bald Preise in der Windhundschau erringen würden ebenso wie die vier übrigen Tiere derselben Rasse, die um die vier Frauen herumlagen und eine friedliche Atmosphäre verbreiteten. Die Tiere, die Eckhardt züchtete, seit sein früherer Liebhaber Askan von Modersen ihm dies als verbindende Tätigkeit vorgeschlagen hatte, waren besonders elegant im Wuchs. Die beiden Rüden waren für die Rasse ungewöhnlich kräftig, die Weibchen erinnerten an Rehe. Die Hunde gehörten zum Leben in der Wolkenrath-Villa hinzu wie die Menschen. Und sie ahnten Stimmungen und Gefühle stärker als jene. Sie waren ausgelassen, wenn die Menschen fröhlich waren, wenn es Streit gab, legten sie sich ruhig auf den Boden, als wollten sie ein gutes Beispiel geben, wenn einer weinte, sprangen sie an ihm hoch, um zu trösten.

Die vier Frauen hatten die Fenster verschlossen, ebenso die Türen. Keiner sollte hören, was sie sprachen.

Angela war mit ihren einundzwanzig Jahren die Jüngste. Ihre Mutter Stella wirkte mit ihren fünfunddreißig Jahren weitaus älter und reifer, und man nahm ihr die Mutterschaft über Angela ab, obwohl sie nur vierzehn Jahre älter war. Stella war in den letzten Monaten gealtert. Das Leben in der Falle passte nicht zu ihr. Stella wollte freiwillig handeln, lieben und den Mann verlassen, für den ihr Herz sich geschlossen hatte. In ihrem Ehegefängnis riss sie ständig gedanklich an ihren Ketten, das strengte sie an und machte sie alt. Auch Lysbeth, ihre ältere Schwester, die während der vergangenen Jahre nach ihrer Scheidung von Graf Maximilian von Schnell, seit ihrem heimlichen Medizinstudium und ihrer Liebe zu Aaron eine bemerkenswerte Wandlung von einer ältlichen gouvernantenhaften Bohnenstange zu einer weichen liebreizenden jungen Frau durchgemacht hatte, war seit dem Machtantritt der Nazis am 30. Januar 1933 um Jahre gealtert. Nur die Tante, über hundert Jahre alt, wirkte merkwürdig ungerührt und frisch.

»Kinder«, sagte sie energisch, während sie den nach herbstlicher Wehmut duftenden englischen Tee in die Tassen goss, »jetzt macht mal nicht solche miesepetrigen Mienen. Glaubt mir, der Hitler verschwindet ebenso wie Bismarck, wie der Kaiser, wie Ludendorff und das ganze andere Gesocks. Wer bleibt, sind wir.«

Sie lächelte Angela an. »Wenn eine von uns geht, gibt es schon die Nächste. Und wir werden immer besser, von Generation zu Generation.«

Angela lachte nervös. »Tantchen«, widersprach sie vehement, »wer könnte besser sein als du? Aber darum geht es gar nicht …«

»Papperlapapp«, schnaubte die Tante. »Ich weiß, wovon ich spreche. Stellas und Lysbeths Großmutter, deine Urgroßmutter also, die ihr ja leider alle nicht kennengelernt habt, die war genauso eine Ausnahmeschönheit wie du und wie Stella.«

Sie nickte liebevoll zu Lysbeth, und alle verstanden, dass sie Lysbeth nicht beleidigen wollte, aber ihr die Ehrlichkeit gebot, zwischen einer Schönheit wie Lysbeths, die mit den Jahren und vor allem mit dem Liebesglück gewachsen war, und dieser Schönheit, die sowohl Stella als auch Angela bereits in die Wiege gelegt bekommen hatten, zu unterscheiden. Wobei selbst Angela erkennen konnte, dass ihre Mutter wirklich eine Ausnahme war. Stella war einfach schön, egal, wie schlecht sie aussah, egal, wie erschöpft, traurig oder resigniert sie war.

»Deine Urgroßmutter, liebe Angela, war wie Stella und wie du. Aber sie konnte nicht zur Schule gehen, nicht studieren, nicht frei über ihr Leben verfügen. Oder nehmen wir mich und Lysbeth. Ich musste mich noch zwischen einem Leben als Frau und einem als Heilerin entscheiden. Lysbeth darf bereits beides.«

Die Tante lächelte. »Und wie gut ihr das bekommt.«

Stella hob die Teetasse und sagte: »Mama wird nicht ewig weg sein, lasst uns reden, solange Zeit ist.«

Lysbeth nickte zustimmend. Es war auf ihre Initiative zurückgegangen, dass dieses Treffen ohne ihre Mutter stattfand. Käthe hatte seit einiger Zeit ein schwaches Herz, und Lysbeth wollte sie auf keinen Fall noch mehr belasten. Käthe hatte schon genug Sorgen: Ihr jüngster Sohn Johann war ein fanatischer Nazi, Mitglied der NSDAP und der SA, der seine Frau Sophie am laufenden Band schwängerte – neuerdings mit dem Schlachtruf »für den Führer«. Ihr Sohn Dritter, der eigentlich wie sein Vater und sein Großvater Alexander hieß, aber als dritter Alexander zur besseren Unterscheidung kurzerhand Dritter genannt wurde, hatte sich seit kurzem der Swing-Jugend angeschlossen, die aber von den Nazis als undeutsch verfemt wurde. Ihr ältester Sohn Eckhardt hatte seit der Machtergreifung der Braunen eine ganz eigenartige Wandlung zum Oberaufpasser über die Einhaltung aller Regeln durchgemacht. Ihre Tochter Lysbeth hatte im Schnellverfahren einen Juden geehelicht und ihre Enkelin Angela, die sich in Jennifer Hudson verwandelt hatte, war mit Robert, einem Kommunisten, verlobt. All das belastete Käthe sehr. Dem wollte Lysbeth nicht noch mehr hinzufügen. Und dieses Gespräch würde Käthe sehr besorgen, so viel war sicher.

Angela blickte alle Frauen der Reihe nach flammend an, so flammend, dass die Tante ihr krächzendes Lachen ausstieß und Stella und Lysbeth unwillkürlich lächelten.

»Ihr müsst mitmachen«, stieß sie hervor. »Als Hitler von Hindenburg eingesetzt wurde, hat die KPD angeboten, zum Generalstreik aufzurufen. Das haben SPD und Gewerkschaftsbund abgelehnt. Seitdem sind in Berlin und Hamburg, überall, Genossen wie Schwerverbrecher in die Gefängnisse geworfen worden, und wenn sie zurückkommen, erkennt man sie kaum wieder. Unsere Zellen sind entsetzlich dezimiert. Wir müssen den Nazis das Handwerk legen!«

Die Tante schüttelte ihren Kopf, plötzlich sah sie aus wie eine senile Greisin, aber dann blickte sie Stellas Tochter an, so klar, dass der Verstand in ihrem alten Schädel unübersehbar war: »Mein Kind, du wirst Hitler und seinen Jüngern nicht das Handwerk legen. Du nicht, und wir auch nicht. Irgendwann wird er selbst es tun. Wer zu hoch hinaus will, fällt irgendwann tief. Hitler belügt sich selbst, und er belügt alle andern. Komischerweise glauben sie ihm, diesem Schmierenkomödiant, das ist wirklich eigenartig, aber deine Zellen, wie du das nennst, die sind machtlos, so viel steht fest.«

Angela schnaubte empört. Stella nickte. Lysbeth erhob Einspruch: »Aber wir können doch nicht einfach zusehen, wie alles zerstört wird, was uns wertvoll ist. Wir müssen etwas tun!«

»Wir tun etwas!«, rief Angela. »Zum 1. Mai haben wir ein Flugblatt verfasst, dass die Arbeiter sich nicht an der Nazi-Feier beteiligen sollen.«

»Und?«, fragte die Tante schnippisch. »Hat es etwas genützt?«

Angela holte tief Luft, wollte gerade zu einem Redeschwall ansetzen, da schnitt Lysbeth ihr das Wort ab. Interessiert fragte sie: »Wie macht ihr das mit den Flugblättern? Das ist doch entsetzlich gefährlich.«

Angela schluckte. »Es gibt überall welche, die helfen«, sagte sie leise. »Bei uns um die Ecke ist ein Blumenhändler, der hat uns angeboten, die Flugblätter bei ihm im Keller abzuziehen.«

»Aber woher bekommt ihr die Wachsmatrizen?«, fragte Lysbeth sachlich weiter.

Angela wurde unruhig, ihr Blick huschte von Lysbeth zu Stella. Die Tante lachte ihr altes krächzendes Krähenlachen. Die Köpfe der jungen Frauen flogen zu ihr herum. »Angela denkt, du wärst vielleicht ein Spitzel«, sagte sie trocken zu Lysbeth. »Ich sehe förmlich, wie es in ihrem Kopf rattert. Gleich denkt sie, wir drei sind Spitzel, und erwartet, dass die Tür aufgeht und die Gestapo erscheint.«

Lysbeth blickte ungläubig auf die junge Frau, die sie liebte wie eine eigene Tochter. Angela war während der Worte der Tante errötet. Stella beugte sich vor und betrachtete ihre Tochter forschend. »Das glaubst du nicht wirklich?«, fragte sie hart.

In Angelas Augen traten Tränen. »Ihr wisst nicht, was los ist«, stieß sie hervor. Die Genossen haben sich schon eine Weile auf die Illegalität vorbereitet. Robert ist sofort am Tag nach Hitlers Ernennung in den Untergrund gegangen. Mich haben sie ein paar Tage später geholt und verhört …« Sie spuckte das Wort den drei Frauen geradezu ins Gesicht. Alle drei hielten den Atem an. Jede von ihnen wusste aus unterschiedlichen Quellen, wie diese »Verhöre« vonstatten gingen. Lysbeth hatte Männer medizinisch versorgt, die danach freigelassen worden waren. Sie hatte Schreckliches von anderen gehört, weil unter den Arbeiterfamilien in Eimsbüttel die Nachrichten unter der Hand weitergegeben wurden, wenn einer etwas erfuhr. Anfangs hatte sie es nicht glauben wollen, aber seit Februar brachen die Verhaftungen, Verhöre und Todesfälle zuerst von Kommunisten, dann auch von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern nicht mehr ab. Jetzt im Mai, nach all den Verboten, den Einschüchterungen, den Einkerkerungen wusste jeder, dass es lebensgefährlich war, irgendetwas mit Kommunisten zu tun zu haben.

Stella kannte die andere Seite. Die Worte, die auf den vornehmen Gesellschaften und Festen bei Edith von Warnecke, ihrer Schwiegermutter, fielen. Die Worte, die Jonny von sich gab. Die Härte und Entschiedenheit, mit der alles fortgeschafft werden sollte, das die Republik symbolisierte. Allen voran die Roten.

Die Tante verstand etwas von Menschen, von Macht, von Gewalt und von Angst. Von Intelligenz und von Dummheit. Und sie wusste, dass der Spruch: »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg«, in viel weiterem Sinne galt, als die Kommunisten ihn gemeint hatten. Hitler führte bereits Krieg. Und Goebbels und Göring und seine übrigen Schergen ebenfalls. Zu diesem Krieg gehörte die Dämonisierung des Feindes. Die scheibchenweise Beseitigung all derer, die sich möglicherweise gegen Hitler stellen konnten, und das Abschließen von Bündnissen mit denjenigen, die erst später ausgeschaltet werden sollten. Hitler und seine Leute waren schlaue kriegführende Strategen. Sie wussten sehr wohl, dass diejenigen, die ihre Ziele nicht teilten, in der Übermacht waren. Aber Gegner, die einander bekriegen, stellen keine Übermacht mehr dar. Die Kommunisten waren diejenigen, die die Gefahr des Nationalsozialismus als Erste erkannt und benannt hatten. Sie waren diejenigen, die kämpfen wollten. Niemand sonst. Sie mussten als Erste fortgeschafft, am besten getötet werden. Die Tante hatte alle Dokumente, die sie über Hitler und die Seinen in die Finger bekommen konnte, seit Jahren ebenso aufmerksam verfolgt wie Lysbeth. Sie wusste, dass Hitler Deutschland auch von Juden »säubern« wollte, aber sie wusste ebenso, dass die Juden jetzt noch nicht dran waren. Noch gehörten sie zu sehr zum allgemeinen Leben dazu. Noch hatten sie zu viel Einfluss, nicht nur in Deutschland, auch in der Welt. Zuerst einmal mussten sie isoliert werden. Davor jedoch mussten alle anderen beseitigt werden, die in der Lage waren, sich Hitler mit der Waffe in der Hand entgegenzustellen. Die Tante war sich auch bewusst, dass Hitler es eilig damit hatte, jedes freie kritische Denken zu unterbinden, weil seine Versprechen sich bald als hohle Phrasen entpuppen würden. Und wenn dann ein einziger kritischer Geist riefe: »Der Kaiser trägt gar keine Kleider«, würde Hitler schnell als der entlarvt werden, der er war: ein ungebildeter, unreifer, politisch unerfahrener, menschlich unsicherer Gernegroß, dessen Griff nach der Macht ebenso krank war wie seine Angst vor Vernichtung.

Zudem kannte die Tante die Verbohrtheit all derjenigen, die von Hitler das Heil erhofften. Sie glaubten, nun würde wieder hart durchgegriffen und die Wirren der Weimarer Republik hätten endlich ein Ende. Die Schmach, die Verlierer des Krieges zu sein, die wirtschaftliche Not, die irritierende Freiheit und die Wirren der Republik, all das könnte durch den Heiland Hitler ein Ende finden. Endlich wieder eine Obrigkeit! Und diese Obrigkeit hatte sich so stilisiert, dass die Verehrung religiöse Züge trug. Nicht nur, dass Hitler seine Reden mit »Amen« oder sonstigen religiösen Phrasen beendete, die Menschen huldigten ihm wie einem Übermenschen. Ja, so hatte Luise Solmitz, die Nachbarin in der Kippingstraße, gerade vor ein paar Wochen gesagt: »Hitler ist ein Übermensch.«

Die Tante wusste, dass in diesem neuen deutschen Staat im Grunde Kriegsrecht herrschte. Im Krieg erschoss man seine Feinde bestenfalls, schlimmstenfalls ließ man den ganzen Hass, die Wut und all die verquälten Herrschaftsphantasien des bislang Geduckten an ihnen aus. Johann gehörte seit ihrer Gründung zur SA, die neuerdings der Polizei angeschlossen war. Endlich hatte er wieder Arbeit und Brot. Die Tante konnte sich vorstellen, was er mit Kommunisten anstellte, die er im Morgengrauen aus ihren Wohnungen trieb. Ihr Blick tastete Angelas Gestalt ab. Hatte sie irgendeinen bleibenden Schaden davongetragen? Angela trug die blonden Haare in der Mitte gescheitelt, zu Zöpfen geflochten und über den Ohren zu einer Schnecke gerollt, so wie es der »Führer« gerne hatte. Aber wie sahen ihre Ohren darunter aus? Angelas Hände lagen jung und unversehrt in ihrem Schoß.

Der Blick der Tante kreuzte sich mit dem von Lysbeth. Beide dachten in diesem Augenblick das Gleiche. Was haben sie ihr angetan?

»Ich hatte unverschämtes Glück«, bemerkte Angela da trocken. »Am Tag vorher habe ich einen falschen Ausweis bekommen. Ich soll Kontakt mit englischen Genossen halten, sie haben mir einen englischen Ausweis besorgt. Seitdem bin ich Jennifer Hudson. Der Polizist, der mich auf der Wache in Empfang nahm, war durch die ›Verwechslung‹ der gesuchten Verlobten von Robert mit Jennifer Hudson vollkommen durcheinandergebracht. Ich habe auf Englisch geschimpft, dass man mich bei einer Bekannten meiner Eltern, Gabriele Schwarz, aus dem Bett geholt hat – Gabriele und ich wohnen wirklich zusammen, seit Robert im Untergrund verschwunden ist –, und ich habe protestiert, Robert und diese Angela seien mir noch nie begegnet. Da hat er mich wirklich und wahrhaftig laufen lassen.«

»Ja, die Engländer sind unsere großen Freunde«, sagte Lysbeth bitter. Stella wies sie zurecht: »Willst du dich jetzt gefälligst freuen. Das ist doch prima gelaufen.«

»Seitdem lebe ich unter falscher Identität. Robert und ich wissen nichts voneinander. Alle Kontakte zwischen mir und den Genossen gehen über einen geheimen Briefkasten.«

»Welche Nachrichten?«, fragte die Tante.

Angela sah sie kühl an. »Die Nachrichten, die ich von England mitbringe, und diejenigen, die ich dorthin bringen soll. Zum Beispiel die über die Aufrüstung, die hier läuft.«

»Aufrüstung?« Stella riss die Augen auf.

»Was denkst du denn?«, fragte Angela wütend zurück. »Dass Hitler sich Tag und Nacht damit beschäftigt, wie er Deutschland den Frieden bringen kann?«

»Aber wenn er Krieg führen will«, sagte Lysbeth nachdenklich, »warum ist er dann so gut Freund mit England? Und warum kümmern sich seine Leute dann so inbrünstig darum, Juden zu quälen? Diese Juden sind doch oft Soldaten gewesen.«

Sie erinnerte die anderen daran, wie sich der Geschäftsinhaber vom Kaufhaus Bucky am 1. April, dem Boykotttag gegen die Juden, mit seinem Eisernen Kreuz, Auszeichnung 1. Güte, vor die Tür seines Kaufhauses gestellt hatte.

»Ja«, stimmte Stella trotz des bedrückenden Gesprächs in plötzlicher Fröhlichkeit zu, »und erinnert ihr euch noch, wie Max Haack am Neuen Steinwall jedem Kunden zehn Prozent Rabatt und einen Luftballon gegeben hat, und alle kamen und kauften? Zu der Zeit gab es noch mehr Kommunisten und Sozis, es wimmelte von Kunden bei ihm, und der beschissene Boykott verwandelte sich vor seinem Laden fast in ein Volksfest. Und mein guter Jonny, wie schrecklich fand er es, dass die Hafenarbeiter auf der ganzen Welt, vor allem in Nordafrika, sich weigerten, deutsche Schiffe zu entladen.«

»Sie haben die jüdische Gemeinde gezwungen, nach Casablanca zu telegraphieren, in Deutschland würde kein Jude verfolgt«, lächelte nun auch Lysbeth.

»Ja, sie haben Angst vor der Reaktion in der Welt. Auf den Judenboykott könnte ein Deutschlandboykott folgen, das wäre schlecht für Hitlers Pläne«, äußerte die Tante.

»Ich verstehe das sowieso nicht«, bemerkte Lysbeth bedrückt. »Hitler hat gesagt, er will die Arbeitslosigkeit beseitigen, er will für wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland sorgen, aber der Außenhandel, der Export ist doch eine wichtige wirtschaftliche Größe. Überall auf der Welt gibt es jüdische Geschäftsleute. Hitler glaubt doch nicht, dass er die Juden hier verfolgen und mit denen in der Welt Handel treiben kann.«

Stella und die Tante blickten sie mitleidig an. Natürlich, Lysbeth litt. Und sie war diejenige von ihnen, die wirklich Grund zum Leiden hatte. Was ihr wertvoll war, die gemeinsame Arbeit mit Aaron, und überhaupt Aaron, ihr Allerliebster, das war so gefährdet, dass die Frage bestand, ob sie Deutschland vielleicht lieber verlassen sollten. Sie alle hatten die Boxheimer Dokumente gelesen und auch Mein Kampf, sie wussten, worauf sie sich bei den Nazis einzustellen hatten, Hitler hatte in seinen Schriften kein Blatt vor den Mund genommen. Er wollte die Juden ausrotten, das hatte er angekündigt. Aaron war Jude.

»Meine Güte, Kinder«, sagte die Tante etwas ungeduldig, »wir sind uns doch einig, oder? Hitler gehört vom Tisch. Aber wir sind auch nicht dumm, oder? Wir haben es mit der ganzen Garde zu tun, nicht nur mit solch armen Würstchen wie Johann, der einfach nicht verkraftet, dass er dem Weltkrieg nicht die entscheidende Wendung zum Sieg verpassen konnte.« Stella und Lysbeth blickten betreten vor sich hin. Johann war immerhin ihr Bruder, und es war nicht angenehm, einen solchen Bruder zu haben. Es war noch nie angenehm gewesen, denn Johann verfügte schlichtweg über gar nichts, was einen Menschen angenehm machen konnte. Er besaß keinen Charme wie Dritter, dem man alles verzieh, wenn er einen mit seinem Schwerenöterblick anschaute, wenn er den Arm um einen legte und sagte: »Schwesterchen, lass uns tanzen.« Er besaß auch nicht die geheimnisvolle Tragik von Eckhardt, der einmal, und das war lange her, weil er damals sehr jung gewesen war, anrührende Worte in schönen Sätzen von sich geben konnte, und der selbst heute noch weitaus geschickter sprechen und schneller denken konnte als sein jüngerer Bruder Johann, obwohl ihm im Krieg ein Kopfschuss und die Nacht, die er halbtot im Schützengraben gelegen hatte, den Verstand fast geraubt hatte. Johann war nicht schön wie Stella, und er war auch kein Künstler wie sie. Er war nicht mutig wie Lysbeth, und er verfügte über keine besonderen Gaben wie sie. Er war nicht eigenwillig wie seine Mutter Käthe. Und auch nicht leichtsinnig wie sein Vater Alexander. Er war einfach nur klein und unscheinbar und mittelmäßig und erfolglos. Aber er war gierig. Er war über die Maßen gierig nach all dem, was er nicht hatte, seinen Geschwistern aber neidete. Er wollte mächtig und mutig und bedrohlich und stark und erfolgreich und etwas ganz besonders Glanzvolles sein. Denn das war er auf gar keinen Fall: Er besaß keinen Glanz, im Gegenteil, es war, als verschlucke er Glanz, als würden Menschen, die vorher geglänzt hatten, in seiner Gegenwart grau und geradezu durchsichtig.

Johann also war ein Bruder, für den sich Stella und Lysbeth schämten, und irgendwie warfen sie sich auch im Stillen jede für sich vor, dass sie vielleicht Schuld trügen an der ganzen Entwicklung, weil sie diesen Bruder noch nie gemocht hatten. Er hatte Lysbeth bei der Mutter verpetzt, wenn sie mit ihrer überbordenden traumgenährten Phantasie Theaterstücke mit den Geschwistern inszeniert hatte, die verstörend unkindlich gewesen waren. Er hatte Stella schon sehr früh eine undeutsche Nutte geschimpft und von ihr verlangt, sich wie eine anständige deutsche Frau zu kleiden und zu verhalten.

Zudem wussten beide Schwestern, dass sie sich seiner Frau Sophie gegenüber nicht besonders loyal verhielten, nun, sie verhielten sich gar nicht, sie taten einfach so, als gäbe es Sophie nicht. Und Sophie mied die Kippingstraße, als könnte sie sich dort mit der Pest infizieren. Sie hatte inzwischen sechs Kinder geboren, und Stella und Lysbeth hatten noch nicht ein einziges davon gesehen. Allein Käthe besuchte Sophie regelmäßig in der kleinen Wohnung in Altona und kam jedes Mal mit einem so stillen traurigen Ausdruck im Gesicht zurück, dass Stella zornig zu Lysbeth sagte: »Es bricht ihr das Herz, kann man nichts dagegen tun?« Und Lysbeth antwortete stets mit dem gleichen Satz: »Mutters Herz ist schon gebrochen, wir müssen nur aufpassen, dass sie nicht daran stirbt.«

Lysbeth war die Wächterin des Herzens ihrer Mutter geworden. Sie gab ihr regelmäßig homöopathische Mittel, sie führte sie zum Spaziergehen aus, wenn es ihr zeitlich nur irgend möglich war. Sie hatte ihr den Kaffee verboten, aber daran hielt Käthe sich nicht. Und sie hatte von ihr verlangt, dass sie unbedingt ihr Herz von einem Internisten oder aber auch von Aaron untersuchen lassen sollte. Zu einem Internisten war Käthe nicht gegangen, von Aaron hatte sie Blutdruck und Herztöne überprüfen lassen, die sich als vollkommen in Ordnung erwiesen hatten. Aaron hatte ihr Blut abgenommen und es in einem Labor untersuchen lassen. Die Ergebnisse gaben keinen Anlass zur Sorge. Lysbeth wusste trotzdem, dass Käthes Herz nicht in Ordnung war. Und Stella wusste es auch. Von der Tante ganz zu schweigen, die aber kein Wort darüber verlor, sondern Käthe nur regelmäßig von ihrem Herzwein zu trinken gab. Bereits nach einem Gläschen dieses Weines wurde Käthe heiter, und ihr stilles Gesicht begann wieder zu sprechen.

 

Also schonten sie Käthe, so gut sie konnten.

Lysbeth und Stella fühlten sich schuldig, wenn von Johann die Rede war, Angela aber hasste ihn. Sie kannte ihn nicht einmal, die ganze Familie Wolkenrath tat ihr Bestes, um eine Begegnung von Angela und Johann zu verhindern, und so waren sie einander auch noch nie über den Weg gelaufen. Aber Angela wusste, dass er Mitglied der SA war, ein Nazi der ersten Stunde und von einer fanatischen Hörigkeit für seinen »Führer«.

Sie hasste ihn, wie sie alles Nationalsozialistische hasste. Zu Anfang hatte eine politische Einsicht gestanden. Sie hatte begonnen, politisch zu denken, weil Robert, ihr Liebster, sie zu kommunistischen Versammlungen mitgenommen hatte, auf denen Sachen gesagt wurden, die ihr einleuchteten. Dass es die Arbeiter waren, die den Wert schufen, und die Kapitalisten, die davon profitierten. Dass, wer arbeitet, auch den Gewinn davon haben sollte. Dass die Kapitalisten die Arbeiter ausbeuteten.

Ja, damit konnte sie einverstanden sein. Und dass die Arbeiter international zusammenhalten sollten und sich nicht durch irgendwelche dummen Kriegsparolen auseinanderdividieren und in Kriege schicken lassen sollten, wo sie auf der einen wie auf der anderen Seite wie die Fliegen starben, während die Rüstungsbonzen das Geld einsteckten, das konnte sie verstehen. Dem konnte sie sich anschließen. Aber ihr Herz war anfangs nur insofern beteiligt gewesen, als sie Robert liebte.

Seit sie allerdings auf Demonstrationen in Berlin erlebt hatte, wie die damals sozialdemokratisch regierte Polizei gegen Kommunisten vorging, und es ihr selbst wehgetan hatte, körperlich, und seit sie nach dem Machtantritt der Nazis erlebt hatte, wie diese Männer, die Angela als sympathische kluge Genossen kannte, sich in fünf Tagen Untersuchungshaft in schlotternde verklumpte Bündel Angst verwandelt hatten, hasste Angela.

Sie hasste die Männer, die ihren Robert vielleicht zusammenschlagen, vielleicht töten würden. Die all das, was ihr klug vorgekommen war, verboten hatten. Zudem hasste sie die Sozialdemokraten, die ihrer Meinung nach den Nazis überhaupt erst geholfen hatten, an die Macht zu kommen.

Angela brannte vor Wut, vor Hass und vor Begeisterung. Ja, vor Begeisterung. Sie war nämlich überhaupt nicht der Auffassung, dass nichts zu machen war. Ganz im Gegenteil, sie war der Meinung, dass jetzt die Kommunisten und die Juden und die Zigeuner und diejenigen unter den Sozialdemokraten, die keine Duckmäuser waren, und die Gewerkschafter, die nicht korrumpiert waren, sich verbünden und die Nazis gemeinsam zum Teufel schicken sollten. »Verdammt«, sagte sie, »Kommunisten und Sozialdemokraten haben zusammen mehr Stimmen als Hitler bekommen. Verdammt, es gibt so viele Juden in diesem Land, die sind reich, die haben Einfluss, das sind Ärzte, Anwälte, Professoren, die haben Geld und Ansehen, wenn die mit den Arbeitern gemeinsam gehen und mit all denen, die gegen die Nazis sind, haben wir die an einem Tag weggewischt.«

Angela war alles andere als bitter und resigniert. Sie hasste und sie liebte. Beides mit Leidenschaft. Aber es musste gehandelt werden. Das duldete keinen Aufschub. Davon war sie überzeugt.

Die Tante allerdings sah das alles anders. Sie gab zu bedenken, dass hinter Hitler Leute wie Jonny standen. Und Jonny stand für diejenigen, die die Wirtschaft in der Hand hatten.

»Unter dem Kaiser bestimmten die Adligen und dann diejenigen, die aus dem Handwerk Fabriken machten, wo es langging«, erklärte sie bedächtig, »und dann waren es mehr und mehr diejenigen, die den Überblick behalten konnten. Der Arbeiter schafft zwar den Wert, keine Frage, aber hat er auch das große Ganze im Blick? Ohne den Matrosen kommt das Schiff nicht voran, das weiß jeder, aber kann er deshalb gleich Kapitän werden? Nein, meine kleine Angela, ich glaube, ihr lasst vieles außer Acht.«

Trotzdem war sie gegen die Nazis. Und sie war auch gegen alle, die der Meinung waren, dass der Krieg nicht wirklich verloren, sondern nur durch einen Dolchstoß der Roten – und der Juden – in den Rücken Deutschlands schmählich beendet worden war.

Die Tante führte das Gespräch zu einem Ausgang, der alle drei verblüffte. »Gut«, sagte sie, »fassen wir zusammen: Wir wollen die Herrschaft der Nazis untergraben. Stella muss die ehrenwerte Frau des Kapitäns Jonny Maukesch bleiben, um uns alle …«, sie blickte bedeutungsvoll in die Runde, vor allem aber zu Angela, »jawohl, uns alle schützen zu können, vor allem aber Aaron und damit Lysbeth. Wenn Stella gleichzeitig insgeheim Sachen macht, die uns alle …«, sie blickte wieder von Angela zu Lysbeth und zog fragend die Augenbrauen hoch, »… gefährden können, hilft das keinem, nein, es macht uns alle unruhig und unsicher.«

Angela verzog ihr Gesicht, als wollte sie sagen: Kann die Alte nicht mal die Klappe halten? Wer bringt sie jetzt endlich zum Schweigen?

Lysbeth hingegen sah auf den Boden. Sie schämte sich. Die Tante hatte recht. Nur durch Jonny, nur durch Stellas Ehe mit Jonny und durch seinen guten Willen konnte Aaron geschützt werden. Sie hatte genug gelesen, sie wusste, es würde nicht bei einem Tag des Judenboykotts bleiben. Sie wusste, dass Hitler vorhatte, die Juden auszurotten, er hatte es oft genug und laut genug in aller Öffentlichkeit formuliert. Er hatte den Plan entwickelt, sie verhungern zu lassen. Das würde Lysbeth zwar mit Leichtigkeit verhindern können, dennoch wusste sie, Aaron drohte Lebensgefahr, seit die Nazis an der Macht waren. Und Jonny besaß so viele Kontakte und Einfluss, dass er seine schützende Hand über Aaron halten konnte. Vorausgesetzt, er hatte Interesse daran. Und das hatte er nur, wenn Stella seine Frau blieb und ihm irgendwie nützlich war. Lysbeth wusste, dass Jonny mit seiner Geliebten Greta eine Tochter hatte. Dass diese Tochter irgendwie anders war als andere kleine Mädchen. Und dass Jonny das ganz unangenehm fand. Außerdem wusste Lysbeth, dass Greta eine einfache Frau war, die von Jonnys Mutter, Edith von Warnecke, nur mit Verachtung betrachtet werden würde, sollte Jonny sich je zu ihr bekennen. Und Lysbeth wusste auch, dass Jonny, selbst jetzt mit dreiundvierzig Jahren, immer noch ein übergroßes Interesse daran hatte, seiner Mutter zu imponieren. Auch wenn Edith nicht gerade in Begeisterung für Stella entbrannt war, so empfand sie doch Respekt für ihre Schwiegertochter, die ihr selbst in manchem verblüffend ähnelte: Sie hatte Schneid, sie ritt wie ein Mann, sie beherrschte die Aufmerksamkeit und das Verlangen von nicht wenigen Männern, sie war eine Königin und keine Dienstmagd. Greta hingegen war eine Dienstmagd. Jonny würde nie wagen, seiner Mutter die einfache Greta als neue Frau und das Mädchen, das er gezeugt hatte, als seine Tochter vorzustellen. Die Kleine wirkte ein bisschen debil.

Aber Lysbeth wusste gleichzeitig, dass Stella ihren Mann nicht liebte, ja, dass Stella das Gefühl hatte, von Jonny in eine Falle gelockt worden zu sein. Stella hatte sich damals in ein Bild von einem Mann verliebt, das mit Jonny schon nach kürzester Zeit keine Ähnlichkeit mehr aufwies. Dieser Mann war aufregend gewesen, ein richtiger Kerl, und gleichzeitig voller Gefühl, das hatte Stellas Leidenschaft geweckt. Ja, Jonny hatte gewirkt, als gäbe es Leidenschaft in seinen Adern, Glut, Wollen. Später allerdings hatte Stella am eigenen Leib erfahren müssen, dass Jonnys Wollen vor allem darauf gerichtet war, ein Sieger zu sein. Er wollte befehlen, und er wollte, dass geschah, was er verlangte. Sich mit seiner eigenen Frau zu beschäftigen, gar mit ihren Wünschen ans Leben auseinanderzusetzen, das widersprach vollkommen seiner Auffassung davon, wie die Welt sich zu drehen hatte.

Aber Jonny konnte seine schützende Hand über die Familie Wolkenrath einschließlich dem angeheirateten Aaron Bleibtreu und vielleicht sogar noch Angela halten. Jonny wusste nicht, dass Angela Stellas Tochter war, die sie mit vierzehn Jahren zur Welt gebracht und dann zur Adoption freigegeben hatte. Für ihn war sie eine junge Frau, die aus der Gegend der Tante stammte und irgendwie zur Familie gehörte. Dass Angela, wenn man es recht besah, seine Stieftochter war, fiel ihm nicht im Traum ein. Aber ihm fiel im Traum sowieso wenig ein. Er schlief und träumte, und am Morgen vergaß er die meisten Träume. Manche, diejenigen, aus denen er mit Angst oder Bedrückung oder besonderer Leichtigkeit erwachte, erzählte er Stella. Aber selbst dann verlangte er von ihr, kein Wort darüber zu Lysbeth zu verlieren. Denn die könnte sich unterstehen, seine Träume zu deuten. »Träume sind Schäume«, sagte er lachend, wenn er gut gelaunt war. »Lass deinen abergläubischen dummen Schwesternhumbug«, sagte er, wenn er nichts davon hören wollte, was Stella dazu sagte oder was Lysbeth dazu sagen könnte. Dann bedauerte er eigentlich schon, seinen Traum überhaupt erzählt zu haben. Es kam aber auch nur sehr selten vor, dass er sich Stella überhaupt anders als mit sachlichen Themen näherte.

Stella lebte zwar mit ihm, hatte aber zur Bedingung gemacht, dass er gefälligst auf seiner Seite des Bettes schlafen und sie unbehelligt lassen sollte.

»Also, Kinder«, sagte die Tante, »es ist doch vollkommen klar: Stella darf nicht in Gefahr kommen, denn dann wackelt für uns alle der Boden. Und Lysbeth darf sich auch nicht in Gefahr bringen, weil sie schon in Gefahr ist. Die Einzige, die dir irgendwie bei deinen Tätigkeiten zur Hand gehen kann, bin ich. Und ich bin bestimmt auch die Richtige, denn wer unterstellt schon einer Greisin revolutionäre Machenschaften.« Die Tante kicherte. Angela begehrte auf. Die Tante war zu alt. Sie liebte die Tante. Der Tante sollte nun wirklich nichts geschehen.

»Und wenn sie mich schnappen und foltern, dann sterbe ich einfach. Es ist sowieso an der Zeit. In meinem Alter kann man gehen. Wenn es noch für einen guten Zweck ist, na, also, wohlan! Was soll ich tun?« Unternehmungslustig sah sie Angela an.

Stella hob die Hände und öffnete den Mund. Dann presste sie die Lippen zusammen und ließ die Hände sinken. Lysbeth legte den Kopf schief und blickte die Tante und Angela prüfend an. Angela hatte flammenden Protest in den Augen.

»Na?«, fragte die Alte. »Na?«

»Ich glaube, die Tante hat recht«, sagte Lysbeth langsam und widerwillig. »Ich kann nichts tun. Aaron hat schon seine Kassenzulassung verloren. Absurderweise ist die Praxis voller denn je. Wir werden weiter jüdische Patienten und Arbeiter versorgen. Wir werden auch weiter Abtreibungen machen, wenn sie notwendig sind. Alles, was uns zusätzlich auffliegen lassen könnte, wäre zu viel. Und Stella ist sowieso schon so auffällig.«

Stella fuhr auf. »Ich? Auffällig? Ich kann nicht nur singen, das wisst ihr, ich bin auch eine hervorragende Schauspielerin! Ich kann auch ganz anders als auffällig sein!«

Die drei lächelten. Ja, Stella konnte bestimmt auch ganz anders. Das glaubten sie. Aber dennoch war Stella nun mal Stella.

»Nein«, sagte Lysbeth mit mühsam unterdrückter innerer Spannung. »Wenn überhaupt eine von uns für deine Kommunisten arbeitet, dann ist wohl wirklich die Tante die Richtige.«

»Meine Kommunisten?«, fuhr Angela auf. »Was willst du damit sagen?«

»Dass wir keine Kommunisten sind«, antwortete Stella trocken.

»Aber dass wir manches, was ihr macht, richtig finden«, fügte Lysbeth hinzu.

»Also, was soll ich tun, und wann geht es los?«, fragte die Tante, und es klang nicht, als würde sie sich gerade in Lebensgefahr bringen, sondern als gelte es, eine spannende Unternehmung zu planen.

Angelas Miene war düster und enttäuscht. Stella und Lysbeth stellten beide einen Ausdruck freundlicher, doch leicht distanzierter Anteilnahme zur Schau. Sie befürworteten Angelas Tun, so viel stand fest, aber sie würden sich nicht beteiligen, so viel stand ebenfalls fest.

Angela ließ gedankenverloren ihren Blick auf der Tante ruhen.

»Es stimmt«, sagte sie langsam, »eine bessere Tarnung kann man sich kaum vorstellen. Na gut, viele Genossinnen verteilen die Flugblätter mit Kinderwagen. Aber sicher glaubt keiner, dass eine hundertjährige alte Frau Flugblätter verteilt, wenn sie sich in Hauseingängen verlaufen hat. Gut«, sagte sie langsam, »gut. Ich werde es mit den Genossen besprechen. Ich glaube, dass du uns nützen kannst.«

»Ich will nicht euch nützen, mein liebes Kind«, entgegnete die Tante ruhig. »Ich will etwas tun, das diesen Hitler zu Fall bringt. Ich will eins von vielen Sandkörnchen sein, die einen Damm gegen die braune Pest errichten.«

Angela runzelte die Stirn. Sie war sich nicht sicher, das war ihr anzusehen, ob die Tante gerade etwas gegen ihre Partei, gegen ihre Genossen gesagt hatte. Das würde sie auf keinen Fall zulassen.

Stella öffnete den Mund. Lysbeth legte schnell ihre Hand auf Stellas. Schweig still, sagte ihre Hand. Dies hier ist nicht deine Angelegenheit. Vertrau der Tante.

Und so fochten die alten blassen Augen der Tante mit Angelas grauen Augen, in denen in der Mitte ein Licht leuchtete, ein kleines Duell aus.

Die Tante erhob sich und verschwand in der Küche. Bald kam sie zurück. Vier Gläser, eine Flasche. Stella und Lysbeth seufzten genüsslich. Der Pflaumenschnaps, die Verzauberung in der Flasche. Angela sah immer noch skeptisch aus.

Die Tante füllte vier Gläser und überreichte feierlich jeder der Frauen eines davon. »Auf unser Wohl«, sagte sie ernst. Und zu Angela gewandt, fügte sie hinzu: »Mein Kind, ich bin an keiner Ideologie interessiert. Und ich lasse mir von niemandem ein Etikett auf die Stirn kleben und mich an irgendwelche Vereinsregeln binden. Mir geht es allein darum, dass ich glücklich und in Frieden leben kann. Ich und du und deine Mutter und deine Tante und deine Großmutter. Alle Menschen, die mir etwas bedeuten. Jetzt aber, seit einiger Zeit schon – im Grunde genommen seit recht langer Zeit schon – ist mein Glück eingeschränkt, um nicht zu sagen gefährdet. Das will ich nicht einfach erdulden. Und deshalb will ich mich dir anschließen, um Hitler und Konsorten zu bekämpfen. Was draus wird, wissen wir nicht, aber was täte der Damm, wenn jedes Körnchen verschwinden würde? Er ließe der Flut freien Lauf. Also, auf unsere Zusammenarbeit!«

Sie hob das Glas und sah Angela fragend an.

Die lächelte schief, hob ebenfalls ihr Glas und sagte forsch: »Auf unsere Zusammenarbeit.« Doch als alle getrunken hatten, fügte sie hinzu: »Ich bin sicher, dass du wirklich helfen kannst, aber eigentlich wollte ich etwas ganz anderes.«

Die drei Frauen, eben noch mit geröteten Wangen, vom Schnaps und vom vermeintlich glücklichen Abschluss des Gesprächs, wandten ihr erstaunte Gesichter zu.

»Ihr habt mich nicht richtig verstanden«, sagte Angela leise. »Ich habe eine spezielle Aufgabe. Ich bin Engländerin. Ich reise hin und her. Ich bringe Informationen von hier nach da.«

Sie richtete sich an die Tante. »Versteh mich recht, es ist wundervoll, wenn du Flugblätter verteilst oder Geld sammelst oder so, das ist wirklich nötig. Aber ich … ich brauche Informationen.«

»Informationen?«, fragte Lysbeth sachlich nach. In ihrem Gesicht spielte sich ein ganzer Film ab. Täglich bekam sie Informationen über die Gräuel, die in Deutschland seit Februar zum verborgenen Alltag gehörten. Informationen von verprügelten Judenkindern, von schikanierten Arbeitern, von verzweifelten Frauen verhafteter Männer, von den Männern, die von Verhören zurückkehrten.

»Ja, genau«, entgegnete Angela, »Informationen, die jemand erhält, der mit den Menschen spricht, die in Betrieben arbeiten, wo auf Rüstung umgestellt wird. Zum Beispiel. Oder Informationen über Judenschicksale. Die offizielle Verlautbarung der NSDAP und der Regierung und des Führers ist, dass in Deutschland Juden nicht verfolgt würden.«

»Gut«, sagte Lysbeth entschlossen, »ich will dir alle Informationen liefern, die ich bekomme. Du musst mir nur sagen, wie ich sieben soll, denn sonst würde ich ja jeden Tag einen Roman schreiben, und wie du es bekommen willst.«

»Lysbeth, das ist gefährlich«, sagte die Tante warnend. Stella fügte hinzu: »Das kann dich den Kopf kosten.«

»Wenn die Nazis nicht gestoppt werden, wird es uns alle den Kopf kosten«, sagte Angela trotzig. Sie blickte Stella ins Gesicht, gerade, und in diesem Augenblick verschwand der Altersabstand völlig. Sie waren zwei erwachsene Frauen, beide kannten Leid und beide kannten Liebe, beide kannten Kampf und beide kannten es zu siegen und auch zu verlieren.

Stellas Haut rötete sich ganz langsam vom Hals bis zur Stirn. Sie schlug die Augen nieder und blickte auf den Boden. Im Zimmer war es still wie in einem Leichenschauhaus. Da riss Stella die Augen wieder auf, starrte ihre Tochter an und fauchte: »Du willst, dass ich zur Spionin für deine englischen Kommunisten werde?«

Angela hielt ihrem Blick stand. »Du könntest es so nennen«, sagte sie ruhig. »Besser allerdings wäre, du würdest es anders nennen. Nämlich, dass du Informationen, die du über Jonny und seine Freunde bekommst, an Menschen weitergibst, die sie nutzen können, um den Nazis zu schaden … und Deutschland zu nützen.«

»Und welche Menschen sollten das sein?«, fragte Stella spitz.

»Journalisten zum Beispiel«, gab Angela zur Antwort. »Oder andere Menschen, die mit dem, was sie schreiben, eine breite Masse von Menschen aufklären können.«

»Wenn das so ist, könnte ich ja gleich als Spionin für Anthony tätig werden«, sagte Stella wütend.

Angela lächelte. In ihrem Lächeln schwang ein geheimes Wissen mit.

Stella starrte sie an. »Das meinst du nicht im Ernst?«

Nun war es an Angela, zu erröten. »Es ist nicht wichtig, dass du von meinem Kontakt zu Anthony weißt«, sagte sie leise.

»Nicht wichtig?«, schrie Stella und schlug mit der flachen Hand auf ihren Schenkel, dass es klatschte. »Du spinnst ja wohl! Wie erdreistest du dich, mir zu erzählen, was nicht wichtig ist, wenn es Anthony betrifft!«

Sie stand auf und rauschte aus dem Zimmer. Bevor sie die Tür schloss, drehte sie sich um und sagte leise und kalt: »Deine Spionin werde ich nicht. Sag das deinen Genossen. Und sag Anthony: Wenn ihr miteinander schlaft, bringe ich ihn um!«

2

Vier Monate zuvor, am 30. Januar 1933, war Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden. Von diesem Tag an hatten Stella und Lysbeth große Angst um Angela gehabt. Sie wussten, dass Angela ebenso wie ihr Geliebter Robert, die gemeinsam in Berlin lebten, zu denjenigen gehörten, die gegen die Nazis kämpften. Sie waren in großer Gefahr. Aber Stella und Lysbeth wussten, dass sie nichts für die beiden tun konnten.

Am 6. Februar 1933 gab es einen Fackelzug der Nationalsozialisten und Stahlhelmer durch Hamburg. Stella und Käthe weigerten sich, sich der begeisterten Menge in der Bundesstraße anzuschließen. Lysbeth aber wollte es sehen. Gemeinsam mit ihrer Nachbarin Luise Solmitz, deren Mann Fred und Tochter Gisela stellte sie sich an den Rand der Bundesstraße und wartete. Es war trocken und windstill, eine sternenklare Nacht, wärmer als die Februarnächte zuvor. Gegen zehn Uhr sahen sie den Zug heranmarschieren.

Luise hatte rote Wangen vor Begeisterung. Ihre Augen glänzten, als wäre sie verliebt. Sie hatte schon die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler mit einem Hoffnungsschrei begrüßt: »Endlich!«, hatte sie ausgerufen, als Lysbeth sie auf der Straße getroffen hatte. »Endlich ein Kabinett, das Deutschland aus der Talsohle führen wird. Was für eine Hoffnung!«

Und jetzt stand sie dort am Straßenrand zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter und warf Lysbeth von Zeit zu Zeit einen strahlenden Blick und ein paar Brocken ihrer Gedanken und Gefühle zu. »Ist das nicht ein wunderbar erhebendes Erlebnis für uns alle?«, triumphierte sie zum Beispiel. Oder: »Göring sagt, der Tag der Ernennung Hitlers und des nationalen Kabinetts sei gewesen wie 1914, und etwas wie 1914 ist auch dies.«

Zwischendurch bemerkte sie leise: »Zwangsläufig werden sich jetzt ja Sozis und Rotfront finden. Am Sonntag haben die Roten gegen Hitler einen Protestumzug gemacht. Sie sind durch den Dreck des unerbittlichen Regenwetters gewatet. Aber ihr Zug war so klein, dass sie Frauen und Kinder dabeihatten, um ihn zu verlängern. Gisela hat sie gesehen.«

Sie glaubt ernsthaft, dass selbst das Wetter gegen die Roten und für die Nazis ist, dachte Lysbeth. Sie wunderte sich, dass die dreizehnjährige Gisela so lange aufbleiben durfte, denn der Fackelzug würde bestimmt bis Mitternacht dauern, und die Solmitz achteten normalerweise sehr darauf, dass ihre Tochter früh zu Bett ging. Da sagte Luise: »Gisela soll bis zum Schluss bleiben, die Kinder haben bisher überaus klägliche politische Eindrücke gehabt, Gisela soll wie einst wir auch einmal einen starken, nationalen Eindruck ganz auskosten und empfinden und als Erinnerung bewahren.«

Als die ersten Fackeln kamen, ging ein Ruck durch die Menge. Lysbeth dachte an Angela und meinte, vor Angst zu ersticken. Wie Wellen im Meer wogten Tausende von Braunhemden durch die Bundesstraße, deren Gesichter im Fackelschein begeistert leuchteten. »Unserm Führer, unserm Reichskanzler Adolf Hitler ein dreifaches Heil!«, riefen sie. Sie sangen »Die Republik ist Schiet« und von den Farben »schwarz-rot-senf« und »Der Rotmord hat ein blutiges Gesicht und wir vergessen den Mord an der Sternschanz nicht«.

Da beugte sich Luise zu Lysbeth und raunte: »Die Feldzeichen gleichen zu sehr den römischen, finden Sie nicht auch?« Lysbeth musste lächeln. Luise Solmitz und ihr Mann hielten sich viel auf ihre Bildung zugute. Sie waren Mitglied in der Fichte-Gesellschaft, die sich der Pflege der deutschen Sprache und Kultur verschrieben hatte. Luise hasste jedes Fremdwort und versuchte, es augenblicklich in ein gutes Deutsch zu übersetzen. »Mein Ideal war, ist, bleibt Deutschland; wo ich das vertreten sehe, dahin gehe ich«, so lautete der Wahlspruch von Luise Solmitz. Sie war zweiundvierzig Jahre alt. Und dementsprechend kleidete sie sich, weiße Bluse, blauer Rock, eine Hanseatin durch und durch. In ihrem Gesicht aber, besonders in ihren blauen Augen, lag so viel kindliches Ungestüm und Naivität, dass sie manchmal, ohne es zu beabsichtigen, ein unwillkürliches Lächeln aufs Gesicht ihres Gegenübers zauberte. Luise hatte nach dem Abitur das Lehrerinnenseminar besucht und abgeschlossen, sie war als Lehrerin schier verzweifelt an nicht vorhandenen Unterrichtsmaterialien und widerspenstigen Schülern, so dass sie nicht darunter gelitten hatte, als sie nach der Geburt ihrer Tochter Gisela den Schuldienst quittierte. Luise war eine leidenschaftlich Reisende, die während ihrer Jungmädchenzeit das Lycée in Frankreich und eine Schule in England besucht hatte. Sie korrespondierte mit guten Freunden in beiden Ländern, sie bekam Gäste von dort und fuhr ihre Freunde besuchen, auch wenn sie der Meinung war, dass Deutschland den Krieg gegen England hätte gewinnen müssen. Ihr Mann hatte im Krieg als Pilot gekämpft, er war sogar Major geworden, worauf Luise sehr stolz war. Ihre Tochter Gisela war ein aufgewecktes, gut erzogenes Mädchen, das die Emilie-Wüstenfeld-Schule besuchte und zu Luises Stolz besonders im Fach Deutsch gute Noten mit nach Hause brachte.

Zwischen den SA-Leuten und dem Stahlhelm marschierte eine Abordnung nationaler Studenten. Neben Luise stand die Gemüsefrau gemeinsam mit anderen Frauen, die einander alle gut zu kennen schienen. Die gesamte Weiblichkeit zeigte sich einig: »Nein, diese Studenten«, riefen sie. »Wie entzückend!«

Wider Willen war sogar Lysbeth beeindruckt von dem Anblick, Schneeweiß, Zinnoberrot, Moosgrün und Schwarz zogen an ihr vorüber, phantastische Baretts, Stiefel und Stulpen im zuckenden Licht der Fackeln.

»Da, die Stahlhelmer!«, rief Luise und klatschte in die Hände wie ein Mädchen. Ihr Mann und sie hatten die Republik gehasst. Sie hingen an der Monarchie, empfanden den verlorenen Krieg als Schmach und die Roten als eine Horde kulturloser Banausen. Fred war wie Jonny Mitglied im Kolonialverein. Ob er einer der deutschnationalen Parteien angehörte, wusste Lysbeth nicht genau, aber zumindest teilte er deren Gesinnung. Die Stahlhelmer waren genau die Männer, denen er zugehörte: Sie hatten den Kapp-Putsch getragen und setzten sich aus den alten Kämpfern zusammen.

Wie eine graue Masse schoben sie voran.

»Sie strahlen so viel Ruhe aus, sie wirken so durchgeistigt, nicht wahr?«, raunte Luise über ihre Tochter hinweg zu Lysbeth. Auf ihren Fahnen waren die alten Farben Schwarz-Weiß-Rot, die Farben des monarchistischen Deutschland vor dem verlorenen Krieg. Die Stahlhelmer hatten diese Fahnen mit einem Trauerflor versehen. Jedes Mal, wenn eine solche an ihnen vorüberzog, hob Fred den Hut als eine demonstrative Geste der Hochachtung. Auf der anderen Straßenseite standen vier junge Männer in SA-Uniform, sie grüßten jede Stahlhelmfahne durch Erheben der Hand. Luise hatte Tränen in den Augen, als sie laut zu Fred und Lysbeth sagte: »Wie schön und erhebend, dass der Bruderzwist zwischen NSDAP und Stahlhelm, der uns so betrübte, beigelegt ist. So wie heute Abend, so müsste es bleiben.«

Den Schluss des Zuges bildeten die SS-Leute. Die Menschen am Straßenrand waren wie berauscht vor Begeisterung, geblendet vom Licht der Fackeln gerade vor ihren Gesichtern und immer in ihrem Dunst wie in einer süßen Wolke von Weihrauch. Und vor ihnen Männer, Männer, Männer, braun, bunt, grau, braun, eine Flut von einer Stunde und zwanzig Minuten. Im zuckenden Licht der Fackeln meinte Lysbeth nur einige Typen zu sehen, die immer wiederkehrten, aber es waren über zwanzigtausend verschiedene Gesichter.

Neben Lysbeth stand ein Mann, auf dessen Schultern ein kleiner Junge saß, der nicht müde wurde, seine Hand zum Hitlergruß zu erheben und zu rufen: »Heil Hitler, Heil Hitlermann!«

Lysbeth hatte das Gefühl, dass sich in ihrem Magen ein dicker Klumpen aus Angst und unterdrückter Wut zusammenballte. »Juda, verrecke«, riefen die Männer im Zug wie die Menschen am Straßenrand. Und sie sangen vom Judenblut, das vom Messer spritzen solle.

Als der Zug sich auflöste, trafen sie die Gemüsefrau, die immer noch von den Studenten schwärmte. »Sie waren doch die schönsten, nech?« Ein Herr in Gehrock und Zylinder begab sich neben Fred und sagte laut: »Der Eimsbütteler Turnhalle gegenüber stand der Führer der Hamburger Nationalsozialisten und neben ihm, die Hand an der Mütze, der Führer des Hamburger Stahlhelm, Korvettenkapitän Lauenstein, der vor wenigen Monaten von SA-Leuten niedergestochen wurde. Nun grüßte er den Vorbeimarsch der SA und der SA-Führer grüßte den der Stahlhelmer. Was für ein Augenblick!«

Luise jubelte: »Dieser Moment war der schönste in meinem Leben!«

Als alles vorüber war, war es doch noch nicht vorüber, denn den letzten SS-Leuten schloss sich eine harmlos vergnügte Menschenmenge mit Fackelresten an und machte ihren eigenen Fackelzug. Als Lysbeth sich von den Solmitz verabschiedete, war es Mitternacht geworden. Gisela sah aus, als würde sie gleich im Stehen einschlafen.

Luise drehte sich nach der Verabschiedung noch einmal um und rief hinter Lysbeth her: »Einigkeit, endlich, endlich! Da wir doch einmal Deutsche sind.« Und nach ein paar weiteren Schritten hörte Lysbeth, wie Luise rief: »Was muss Hitler empfinden, wenn er die hunderttausend Menschen marschieren sieht, die er rief, denen er die nationale Seele einhauchte oder wieder aufrichtete, Menschen, die bereit sind, für ihn zu sterben. Nicht nur so dahergesagt, nein, im bittersten Ernst!«

»Gute Nacht, Frau Solmitz«, sagte Lysbeth laut und schloss die Haustür auf.

In der Küche saßen Stella und die Tante und warteten auf sie. »Na«, fragte die Tante neugierig, »wie war’s?« Lysbeth plumpste erschöpft auf einen Stuhl und berichtete in aller Ausführlichkeit. Es tat ihr gut, die Eindrücke zu teilen. Stella und die Tante hörten ruhig zu. Als sie geendet hatte, breitete sich ein lastendes Schweigen in der Küche aus. »Ein schöner Schlamassel«, sagte die Tante schließlich. »Am besten bereiten wir uns schon einmal darauf vor, das Kind bei uns zu verstecken.« Das Kind war Angela, das musste die Tante nicht erklären. Stella nickte. »Und vielleicht müssen wir noch mehr verstecken«, sagte sie langsam. »Wenn ich an alles denke, was ich bei meiner Schwiegermutter und bei uns hier im Haus und bei Jonnys Gesinnungsfreunden höre, und wenn ich dann eins und eins zusammenzähle, können wir froh sein, wenn wir Angela überhaupt jemals lebend wiedersehen.«

Sie wirkte nicht, als wolle sie weinen, sondern als bereite sie sich darauf vor, ein wildes Pferd zu reiten. Lysbeth aber, gewöhnt an Blut und Schmerzen und Eiter und Krankheiten, brach plötzlich in lautes Schluchzen aus. Die ganze Anspannung, die während des Fackelzugs ihren Körper gefangengenommen hatte, löste sich jetzt in einer Flut von Tränen. Stella umfing ihre Schwester und wiegte sie wie ein Kind. Die Tante holte den Zauberschnaps und schenkte für drei ein. »Kinder«, sagte sie, »wir müssen uns rüsten. Einige Menschen brauchen uns. Prost!« Lysbeth lachte zwischen den Schluchzern, und aus Stellas Augen kullerten ein paar Tränen, die sie schnell fortwischte. »Prost«, sagte sie energisch. »Ihr glaubt es vielleicht nicht, aber ich habe wirklich und wahrhaftig Muttergefühle entwickelt. Wie sagt man immer: … wie eine Löwin ihre Jungen, oder? Ich glaub es selbst kaum, aber wenn ich an Angela denke, kriecht in mir die Löwin hoch.«

 

Von nun an waren die Menschen vom Hitler-Fieber befallen. Täglich sprach man auf der Straße, beim Bäcker, bei der Gemüsehändlerin, beim Schlachter über die neuesten Nachrichten. »Haben Sie schon gehört, Frau Wolkenrath, der Hitler hat auf sein Reichskanzlergehalt verzichtet. Das hat noch keiner getan.«

Am Abend teilte Stella der Familie lachend mit, dass sie Frau Solmitz auf der Straße getroffen habe und diese in ihrem Oberlehrerinnenton gesagt hatte: »Ich habe Hitlers Aufruf gelesen. Die ganze Regierung hat ihn ja unterzeichnet, aber er enthält zu viele Fremdwörter, seine Sprache ist ungepflegt. Aber ich sage: Erst handeln und dann, später, wollen wir Hitler schon ein reines, gutes Deutsch beibringen.«

Am 10. Februar 1933 hielt Hitler im Sportpalast Berlin eine Rede und dazu fand eine riesige nationalsozialistische Feier statt. Zu diesem Anlass machten sich viele Hamburger auf, um gemeinsam mit Freunden oder Verwandten bei Bier, Limonade und kleinen Knabbereien dem Ereignis vor dem Radio beizuwohnen. Auch die Wolkenraths saßen gemeinsam um das Rundfunkgerät, das oben bei Stella und Jonny stand. »Welch ein Aufmarsch«, begeisterte sich Eckhardt. »Welche Begeisterung«, kommentierte spöttisch Dritter. Die Regierung war vertreten, das Diplomatische Korps, die Eltern getöteter SA-Leute saßen in der vierten Reihe. Der Nachrichtensprecher überschlug sich förmlich vor Begeisterung, um das Schauspiel vor den Augen der Hörer anschaulich zu machen. Und so sahen die Wolkenraths Standarten über Standarten, die aus der Unterwelt der Kellerräume gestiegen waren, sie vernahmen ein brausendes Gewirr von Abertausenden von Stimmen und Heilrufen. Zuerst sprach Goebbels, dann sprach der Reichskanzler, der sich selbst zum Führer ernannt hatte und so schon in ganz Deutschland genannt wurde. Man sagte nicht: »Adolf Hitler, der Österreicher, der neuerdings Reichskanzler ist«, man sagte: »Der Führer.« Der Führer schilderte die Not, den Abstieg, die Verworfenheit, den Schmutz der vierzehn Jahre der Republik.

»Er sprach aus, was wir empfunden haben«, sagte Luise Solmitz am darauffolgenden Tag zu Käthe in einem kleinen Nachbarschaftsklönschnack. »Ist er nicht wundervoll?«, fuhr sie fort. »Er versprach gar nicht, dass alles von morgen an besser werden könne, aber er versprach, dass von nun an der deutsche Geist wieder Deutschland leiten solle.«

»Hat er das gesagt?«, gab Käthe höflich zurück.

»Vielleicht nicht wörtlich, aber das war ja der Sinn«, beteuerte Luise energisch.

Käthe sagte nicht viel während dieses Gesprächs. Und das war auch nicht nötig, denn Luise Solmitz schwelgte geradezu in Lob über Hitler. Käthe dachte beklommen an die Rede zurück. Ihr war sie zu kriegerisch gewesen. Hitler hatte das Heer angesprochen und gesagt, er vermisse die Marine, die Übermenschliches geleistet habe.

»Ich war etwas erstaunt, dass er seine Rede wie ein Vaterunser mit ›Amen‹ ausklingen ließ«, sagte sie. Und Luise antwortete: »Ja, er übersteigerte sich etwas. Er ist ja auch kein Redner, sondern unser genialer Führer.«

 

So wie Käthe und Luise Solmitz auf der Straße über die Ereignisse sprachen, die Deutschland bewegten, wurde in diesen Tagen überall gesprochen. Einkäufe beim Fleischer in der Bundesstraße oder bei der Gemüsefrau oder der Bäckerin blieben nicht ohne einen Plausch über die aufregenden Ereignisse des Tages. Die Rückkehr des Kaisers war ein beliebtes Thema. Die Fleischerfrau erwartete sie täglich, ebenso wie viele ihrer Kunden. Nun, da die Republik endlich begraben war, konnte er doch zurückkehren.