Paarschippern - Elke Vesper - E-Book

Paarschippern E-Book

Elke Vesper

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Beschreibung

Zwei Freundinnen in den besten Jahren begeben sich auf eine Reise in die Untiefen von Parship – ein berührender Roman über das Suchen und Finden der Liebe jenseits der 40 »Es war Mai. Sonntagabend. Mein Mann und ich taten, was Millionen Paare am Sonntagabend tun. Nein, nicht das eine! Das, worauf Männer richtig scharf sind: Fernsehen.« Felicitas, dunkelhaarig, verheiratet, schmal, und Julia, blond, ledig, üppig, sind von ihrem Liebesleben und untreuen Partnern frustriert und erstellen an einem feuchtfröhlichen Abend ein gemeinsames Profil bei Parship. Romantik, Sex, Einladungen zum Essen und zu kleinen Reisen können ihnen gut tun, denken sie. Hier stoßen sie auf die seltsamsten Typen – doch dann macht den beiden die Liebe einen Strich durch die Rechnung. Oder doch nicht?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Birgit Förster

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Textbeginn

Epilog

Für Rita

und Nana

und Stella

 

 

Dass ich mit dreiundfünfzig Jahren einen Ehebruch inszenieren würde, hätte bis dahin niemand von mir erwartet, ich selbst zuletzt.

Schuld hat …

Ich weiß: Gene Hackman.

Es war Mai. Sonntagabend. Mein Mann und ich taten, was Millionen Paare am Sonntagabend tun. Nein, nicht das eine! Das, worauf Männer richtig scharf sind: Fernsehen.

Es lief »Under Suspicion – Mörderisches Spiel«, ein angeblich hervorragender Film aus dem Jahr 2000, in dem Gene Hackman mitspielt. Sie wissen schon, dieser Schauspieler mit dem Gesicht eines abgewirtschafteten Grubenarbeiters nach der Pensionierung. Eben dieser Schauspieler hat in dem Film Monica Bellucci zur Frau, eine Schönheit, strahlend und frisch wie eine dunkelrosa Kirschblüte. Und dann kam der Augenblick, da er mit einem unerträglich arroganten Ausdruck in seinem Opagesicht von sich gibt: »Wenn Sie in eine Bar gehen, welche Frau sprechen Sie dann an? Sicher keine Fünfzigjährige … vielleicht die Fünfunddreißigjährige …«, und dabei dehnt er das »vielleicht« auf eine Weise, dass man weiß, es handelt sich keineswegs um Begeisterung, »aber eher noch die knackige Zwanzigjährige, die mit wackelndem Hintern und wippenden Titten an Ihnen vorbeistreift …«

Ich weiß nicht, ob ich den Text völlig korrekt wiedergebe. Fakt ist, dass sich Gene Hackman über die Frische der zarten Haut, die bedingungslose Lebenslust und das schwerelose Lachen in begeisterten Worten ausließ. »Und wie wäre es mit den Teenagern?«, fährt er sardonisch fort, sein Gegenüber mit einem anzüglich zynischen Blick bedenkend. »Die waren doch schon damals der Hit, warum sollten sie es heute nicht sein?« Sein Gegenüber wurde übrigens von Morgan Freeman gespielt, der im Film eine wirklich sympathische Rolle verkörpert, einen verbrauchten Mittsechziger.

Ich dachte an Julianne, meine Tochter, die als Teenie, wenn ihr am Strand Männer in dem methusalemischen Alter Gene Hackmans oder Morgan Freemans lüsterne Blicke zuwarfen, zu mir und Sebastian, ihrem Vater und meinem damaligen Mann, geeilt kam und schrie: »Iiiiiiiiii, wie eklig!«

Lächelnd sah ich zu Michael hinüber und erstarrte. (Michael Lonken, Paartherapeut, 55 Jahre alt, schlank, erhöhte Stirn durch Haarausfall, mein Ehemann.) Ein amüsiertes Grinsen im Gesicht, nickte er beifällig dem Fernseher zu. Als er meinen entsetzten Blick bemerkte, erstarb das arrogante Männergrinsen, und er schickte ein herzliches Lächeln in meine Richtung. Ich aber konnte nicht so schnell umschwenken und starrte ihn weiter an.

»Was ist?«, tat er harmlos.

»Nichts«, hauchte ich. »Was soll sein?« Schnell stopfte ich drei Kekse in mich hinein. Als ich mit einem kräftigen Schluck Weißwein nachspülte, verschluckte ich mich und erstickte fast an einem Hustenanfall. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Michael in diesem Augenblick von seinem blöden Großvatersessel gerutscht wäre und sich neben das Sofa, auf dem ich mir die Seele aus dem Leib hustete, gekauert hätte, um mit sanften, zärtlichen Klopfern auf meinen Rücken seine Solidarität zu bekunden. Er aber legte nur die linke Hand an die Ohrmuschel, griff mit der rechten nach der Fernbedienung, um den Ton lauter zu stellen, und sagte in einem unerträglichen Befehlston: »Trink doch mal einen Schluck Wasser, dann hört das auf!«

Düster dachte ich: Wenn ich eine knackige Zwanzigjährige wäre, deren pralle Titten bei jedem Huster wippen, würdest du auf dem Teppich vor meinem Sofa kauern und mich mit fiepsiger Stimme anflehen, Tigerbalsam auf meine Brust reiben zu dürfen.

*

Ich war zu dem Zeitpunkt 53 Jahre alt. In Worten: dreiundfünfzig. Also weder gehörte ich zum Kreis der Fünfzigjährigen, die in der berüchtigten Bar nicht angesprochen werden, noch zu den Fünfunddreißigjährigen, die manchmal das zweifelhafte Glück des Angesprochenwerdens ereilt, vorausgesetzt, es stehen gerade keine Zwanzigjährigen oder besser noch Teenager zur Verfügung. Ich war gewissermaßen für Männer, als deren Sprachrohr Gene Hackman fungierte …, ja, was war ich denn? Tot?

Gewissermaßen. Als Frau war ich offenbar gestorben. Nun gehörte ich einer anderen Spezies an.

Das mit der anderen Spezies entsprach sogar in ungefähr meiner eigenen Wahrnehmung. Vor zwei Jahren hatte ich die Wechseljahre hinter mir gelassen, na, das ist wohl übertrieben, die letzten Wellen dessen, was der hormonelle Wechsel mit mir gemacht hatte, ebbten gerade ab. Seit ein paar Wochen schlief ich wieder durch, ohne nachts um vier schweißgebadet aufzuwachen. Mein Gewicht pendelte langsam wieder nach unten, und ich kam mir vor, als hätte ich eine anstrengende Bergbesteigung hinter mir. Die bleierne Müdigkeit, die mich während der davorliegenden Jahre manchmal in ihren Klauen gehalten hatte, war dabei, sich aufzulösen, und ich spürte häufig sogar ganz von allein, ohne erkennbaren äußeren Anstoß, das, was Gene Hackman als unbeschwerte Lebenslust der Teenager bezeichnet hatte. Wobei es sich dabei nicht um Wiedererkennen handelte, da ich als Teenager alles andere als unbeschwert lebensfroh gewesen war. Mit meinen Pubertätsnöten verglichen ähnelten die Nöte meiner Wechseljahre nämlich eher leichten Kopfschmerzen im Vergleich zu Meningitis oder vielleicht sogar Gehirntumor oder Ähnlichem, was Verstand und Leben bedroht.

War ich vor diesem Film in einer Stimmung gewesen, die der zauberhaften Jahreszeit entsprach, also voll kribbelnder Lebensgeister, so musste ich mich danach gegen eine aufkeimende Niedergeschlagenheit wehren.

Michael und ich hatten eine Flasche Weißwein geleert und eine Tüte Müslikekse ebenfalls. Nun stand unser obligatorischer Abendspaziergang an. Sollten Sie in meinem Alter sein und verheiratet, kennen Sie das bestimmt: Paarrituale. Ehepaare brauchen Rituale, behauptet mein Mann, der als anerkannter Paartherapeut schließlich wissen muss, was Paare brauchen. Wir pflegen unsere Rituale: Die Feier unseres Kennenlernens am Ort des Geschehens (nämlich seiner Praxis, die ich damals mit Sebastian zwecks Kommunikationsverbesserung aufgesucht hatte), das Anstoßen mit Champagner im Bett an dem Tag, als wir zum ersten Mal miteinander Sex hatten, (was nicht sehr bald nach Sebastians und meiner ersten Sitzung stattfand, was mich wiederum zuweilen betreffs Michaels Umgang mit seinen weiblichen Klientinnen nachdenklich stimmt). Undsoweiter. Der abendliche Spaziergang war eher der Notwendigkeit gehorchend zum Ritual erklärt worden, da Stella, unsere Retrieverhündin, uns nachts weckt, wenn wir sie nicht vorher noch einmal ausführen.

*

Jener Spaziergang ist mir ebenso in Erinnerung geblieben wie der schöne Tag, der sicherlich gute Film und der scheußliche Hustenanfall. Bald keuchte ich nämlich schon wieder, diesmal nicht, weil ich mich verschluckt hatte, sondern weil Michael mir gedankenverloren drei Schritte vorauseilte, bis ich endlich an seiner Jacke zerrte und rief: »Hey, du bist nicht allein!«

Zerknirscht entschuldigte er sich und achtete fortan darauf, im gleichen Schritt mit mir den Weg fortzusetzen. Er nahm meine kühle Hand und steckte sie in seine Jackentasche. Stella lief zehn Meter vorweg, schnüffelte an blauen Abfalltüten, an Gräsern wie an Hecken, die die Vordergärten einzäunen. Manchmal hielt sie kurz inne, um zurückzuschauen, wo wir abblieben, dann lief sie in diesem den Golden Retrievern eigenen verspielten Schritt weiter.

Allmählich entspannte ich mich, atmete wieder bewusst Mailuft, sogar die Erde verströmte einen Geruch, als wollte sie vor Freude platzen. Meine Hand lag in Michaels. Er hat große freundliche Hände, die ebenso wie seine Füße nie kalt zu werden scheinen. Und im Gegensatz zu Sebastian geizt Michael nie mit seiner Wärme, selbst wenn ich gefrierschrankkalte Füße unter der Bettdecke an die seinen schmiege.

»Heute waren die Winklers da«, bemerkte er und blickte auf den Boden, als müsse er aufpassen, nicht in ein sich plötzlich vor ihm auftuendes Loch zu fallen.

»Hm.« Mit dem kurzen Laut wollte ich ihm signalisieren, dass ich ihn gehört hatte, dass es mich interessierte und dass er weitersprechen sollte.

Unser abendlicher Spaziergang diente Michael oft dazu, mir von seiner Arbeit als Psychotherapeut zu erzählen. Manchmal nannte er mich schon scherzhaft seine heimliche Supervisorin. Heimlich musste es auch sein, da er der Schweigepflicht unterliegt und ich eigentlich nichts wissen darf von all den Verwicklungen, die ihm vertrauensvoll zugetragen werden. Da ich aber so etwas wie seine Sekretariatsarbeiten übernommen hatte, was über die Buchhaltung und das Erstellen der Rechnungen hinausging, hatte ich die Gutachten für die Krankenkassen geschrieben und war den meisten Paaren in der Praxis bereits persönlich begegnet.

Winklers waren mir recht gut bekannt, weil sie sich seit zwei Jahren mithilfe meines Mannes vergeblich damit abquälten, aus ihrer Beziehung noch irgendetwas herauszuholen, was den Fortbestand rechtfertigen könnte.

Oliver Winkler war ein hochgewachsener schlaksiger Mann mit einer markanten Nase, auf der eine unvorteilhafte, eckige Hornbrille saß. Er war Professor der Physik, der neben der ihm sehr unangenehmen Aufgabe, Studenten Physik zu lehren, vor allem mit der Organisation weltweiter Konferenzen beschäftigt war. Worum es auf diesen Konferenzen genau ging, hatte ich bislang nicht begriffen, und, da ich ja alles von Michael erfuhr, unterstellte ich ihm einfach, dass er es auch nicht begriffen hatte und deshalb blumige Umschreibungen wählte oder auswich, wenn ich ihn genauer befragte. Es hing mit Zukunft zusammen, so viel war sicher, und mit der Entwicklung von Szenarios, worunter man keine Theaterstücke zu verstehen hatte, so viel war auch sicher, da Oliver Winkler ganz eindeutig kein Künstler war. Nun, mir konnte es egal sein und Michael letztlich auch, aber Herrn Winklers Frau, die pikanterweise den Namen Olivia trug, war es nicht egal, denn sie verspürte ein starkes Bedürfnis nach Gespräch und Austausch und warf ihrem Mann vor, er würde sie nicht ernst nehmen und ihre Intelligenz neben der seinen nicht als gleichwertig respektieren.

Ich fand Olivia Winkler sehr bemerkenswert, aber ich hätte nicht als Erstes das Adjektiv intelligent gewählt, um sie zu beschreiben. Und um ehrlich zu sein, bezweifelte ich, dass es Herrn Winkler trotz seiner offenkundigen Realitätsferne gelang, die Intelligenz seiner Frau als gleichwertig neben sich zu akzeptieren. Frau Winkler war eine eindrucksvolle Verkörperung einer widerwillig erwachsen gewordenen Barbie. Sie war mindestens fünfzehn Jahre jünger als der wohl fünfzigjährige Winkler. Wenn man die beiden zusammen sah, hätte man auf die Frage, was diesen Mann zu dieser Frau hingezogen hat, hundertprozentig hundert weitere Versuche gestartet, bevor man auf die Antwort gekommen wäre: Seine Sehnsucht danach, mit ihr Gespräche über Szenarios die Zukunft betreffend zu führen.

»Ich habe ihnen vorgeschlagen fremdzugehen«, platzten Michaels Worte in meine Gedanken hinein.

»Waaaas?« Ich wusste wohl, dass es unhöflich war, so nachzufragen, hatte meiner Tochter auch die höfliche Version »Wie bitte?« erfolgreich beigebracht, aber an gute Manieren dachte ich in diesem Augenblick nicht. Meine Stimme hatte wohl leicht hysterisch geklungen, zumindest warf Michael mir einen besorgten Blick zu und umfasste meine Hand fester.

»Na ja, Felix«, sagte er nachsichtig wie zu einem netten, aber leicht begriffsstutzigen Kind, »es ist eine alte Weisheit, dass erkaltete Paare davon profitieren, wenn jemand in das Feuer bläst.«

»Ich dachte, das sei dein Job.«

Um seine jeansfarbenen Augen kräuselten sich die Lachfalten, zwei ausgewaschene blaue Steine inmitten zweier Spinnennetze. Er neigte seinen Kopf zu mir herab. Ich roch das Rosmarinshampoo, mit dem er den Restbestand seiner grauen, wie in einer Tonsur um den kahlen Schädel liegenden Haare wusch. Er drückte mir einen Kuss auf meinen dicken Lockenschopf, und ich hörte seiner Stimme an, dass er das Lachen nur mühsam zurückhielt. »Meine Puste ist professionell, die beiden brauchen Leidenschaft.« Er schwieg, und ich hätte darauf wetten können, dass er an das Gleiche dachte wie ich, nämlich an die Blusen, die Olivia Winkler neuerdings erstaunlich tief aufgeknöpft trug, wenn sie zur Therapie kam.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, Felix, wie manche Paare leben. Sie sprechen nur noch über die notwendigsten Alltagsangelegenheiten und vielleicht noch über Jobprobleme, und sie haben kaum noch Sex miteinander … furchtbar!« Das letzte Wort stieß er mit Inbrunst hervor.

Jetzt war ich es, die das Pflaster des Bürgersteigs musterte, als könnte sich darunter eine Fallgrube verbergen. »Ja, wahrscheinlich …« Ich hoffte, dass er meiner Stimme nicht anhörte, was ich dachte. Auch wir sprachen nur über den Alltag, über den Job, genauer über seinen Job, und auch wir hatten so gut wie keinen Sex mehr miteinander.

»Diese Frau verkümmert neben dem eingetrockneten Professor«, ereiferte sich Michael. »Ich stelle mit erschreckender Deutlichkeit immer wieder fest, dass Männer Beziehungsanalphabeten sind.« Wieder schritt er schneller aus.

»Und Frau Winkler hat das ABC gelernt?«, keuchte ich. Meine Hand rutschte aus seiner Tasche. Das hinderte ihn nicht, noch schneller zu werden. Ich gab auf und fiel hinter ihn zurück. Erst als er bei Stella angelangt war, die stur stehen blieb, als er an ihr vorbeirannte – anders konnte man es nicht mehr bezeichnen – und mich mit einem geduldigen Blick erwartete, bemerkte er, dass etwas neben ihm fehlte. Er blickte sich zu mir um.

Langsam schlenderte ich auf ihn zu, Stella an meiner Seite.

»Ist was?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich bin müde, lass uns nach Hause gehen«, sagte ich betont neutral.

Wir schlugen die nächste Straße rechts ein und waren im Nu daheim, wo ich mich in Windeseile fertig machte und ins Bett legte.

*

Ich hatte mir im Badezimmer etwas Chanel No. 5 in die Kuhlen oberhalb der Schlüsselbeine getupft und ebenfalls in die rechte und die linke Leiste. Ich war zwar müde, aber ich hatte Lust, etwas auszuprobieren. Es war weniger Lust auf Sex, mehr das Bedürfnis nach einem Experiment.

Während ich auf Michael wartete, ließ ich meine Handteller leicht über meine Brüste kreisen. In der Tiefe meines Bauches begann es sich zu regen, zuerst ein zartes Ziehen, das sehnsüchtiger wurde und in alle Bereiche meines Beckens ausstrahlte. Ich lächelte vor mich hin. Ja, ich würde Michael gleich verführen, das hatte ich schon lange nicht mehr getan.

Meine Hände zogen größere Kreise über meine Brüste, die sich seidenweich anfühlten. Prüfend stellte ich mir vor, ein Mann zu sein. Was fühlte er? Nun, das Gleiche wie ich. Seidige Haut, anschmiegsame Brüste, die zwar voll, aber nicht fest waren. Was meinten männliche Schriftsteller, wenn sie von Marmorbrüsten schrieben? Gab es Frauen, deren Brustgewebe so fest und hart war, dass es nicht zur Seite fiel, wenn sie sich hinlegten? War es das, was die Attraktivität von Teenagern für Männer ausmachte?

Ich schlug mir gedanklich auf die Finger. Gib diese dummen Gedanken auf, Felicitas!, befahl ich mir spöttisch. Du zumindest hast keinen Grund, dich nach der Pubertät und diesen Jahren zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig zurückzusehnen. Weiß der Geier, das hast du nicht!

Während meine linke Hand meine rechte Brust sanft massierte, strich die rechte langsam und zärtlich zwischen meinen Brüsten hinab, umkreiste einige Male mein Sonnengeflecht, als wollte ich mich beruhigen, glitt zu meinem Bauch und streichelte den. Aufmerksam spürte ich den Empfindungen nach, die meine Hand auslöste: Als würde zwei Zentimeter tiefer durch die Berührung eine Art Strömen in Gang gesetzt, warmes Strömen in einem tiefen Ton, der heller, sirrender wurde, wenn ich hinunter zu meinem Hügel strich. Ich legte die Hand auf den haarigen Hügel zwischen meinen Beinen. Wie ein Seehundbaby, dachte ich liebevoll. Wo habe ich gelesen, dass es sich anfühlt wie ein reifer aufgeplatzter Pfirsich? Es hatte mir gefallen, das zu lesen, aber auf mich zumindest traf das nicht zu. So haarige Pfirsiche kannte ich nicht.

Unter meiner Hand regte sich Leben, als wache dieser Teil meines Körpers auf. Das Seehundbaby erwacht … Ich lächelte wieder. Ja, ich mochte meinen Körper. Er fühlte sich gut an, meine Haut war überall seidig und schmiegsam. Gut in der Hand zu haben. Und ich mochte auch die Lebendigkeit unter der Haut, all diese inneren Reaktionen, die auf die äußere Berührung folgten. Es war schön, in meinem Körper zu stecken.

Für mich waren diese Gedanken neu. Früher hatte ich meinen Körper gehasst, weil er nicht so war, wie ich es von ihm erwartete. Als Teenager war ich ziemlich mollig gewesen, und seitdem, obwohl spätestens nach der Geburt meiner Tochter Julianne sehr schlank, mochte ich meine Rundungen nicht, quälte mich ab, die kleine Wölbung am Sonnengeflecht und meinen kleinen Bauch fortzuschaffen.

Neuerdings aber gefiel ich mir. Vielleicht gehörte das zu dieser Spezies, der Frau nach den Wechseljahren. Es war sogar mehr als gefallen: Ich spürte meinen Körper als Ort meiner Lebendigkeit. Schwer auszudrücken, ohne dass es affig klingt. Die Buddhisten nennen den Körper Gefäß der Seele. Ich spürte seit ein paar Jahren, dass mein Körper alles ist, was ich habe. Das ist ein platter Satz, wenn ich ihn schreibe, aber wenn ich ihn fühle, ist er mit Respekt verbunden. Und mit Dankbarkeit. Und mit Zärtlichkeit. Dieser mein Körper lässt mich schon seit geraumer Zeit lebendig sein, er lässt mich laufen und springen und tanzen und lesen und … na ja, das wissen Sie alles. Aber es ist meiner, unverwechselbar, einmalig, und er ermöglicht mir ein ganzes Universum an Gefühlen.

Während ich, eine Hand auf der Brust, die andere auf meinem Geschlecht, allmählich in einen leichten Schlaf glitt, plumpste Michael auf seine Bettkante, löschte das Licht der Salzkristalllampe, die ich angelassen hatte, rutschte unter seine Bettdecke und streckte sich seufzend aus.

»Wo warst du so lange?«, murmelte ich, unter der Decke nach ihm suchend.

»Auf Klo«, entgegnete er.

»Auf Klo?« Ich richtete mich halb auf meinen Ellbogen und versuchte, ihn durch die Dunkelheit zu erkennen.

»Felix, jetzt schlaf!«, murmelte er und schob meine Hand von seinem Körper fort, um sie neben sich zu legen. »Ich hab einen interessanten Artikel im Spiegel gelesen … hat mich etwas aufgehalten.«

Nein, dachte ich, das kommt nicht in die Tüte. Ich habe mir vorgenommen, dich zu verführen, und das wird jetzt auch getan.

Ich entwand meine Hand der seinen und begab mich zielstrebig daran, unter seine Decke zu kriechen. Er knurrte leise, nahm mich dann aber in den Arm, damit ich mich bei ihm anschmiegen konnte. Doch ich, nun wieder hellwach, war nicht im Geringsten bereit, mich damit zufriedenzugeben. Meine Hand stahl sich unter seinen Schlafanzug und streichelte unnachgiebig seinen Bauch. Michael hat einen schönen Körper, er ist weder dick noch dünn, seine Brustmuskeln sind ausgeprägt, weil er regelmäßig mit Hanteln trainiert, seine Beinmuskeln sind straff, weil er regelmäßig joggt. Am meisten aber liebe ich seinen Bauchnabel. Er liegt rund in einer kleinen Mulde und ist umgeben von einem Flaum blonder Härchen, die sich abwärts in einer Linie zu dem blonden Wäldchen ziehen, das seinen Penis umgibt, den ich in unserem gemeinsamen Leben bestimmt schon mit ungefähr zwanzig Kosenamen versehen habe, denn ich schätze diesen Körperteil meines Mannes in der Tat sehr.

Halbgar, so hatte Michael ihn in diesem Zustand oft genannt, in dem er sich nun befand, da meine Hand ihn sanft umschloss. »Wie weich deine Haut da ist«, murmelte ich, während ich ihn behutsam liebkoste. Michael atmete tief ein, was meinen Kopf, der in seiner Armbeuge lag, in die Höhe hob. Ansonsten rührte er sich nicht. Er behielt die Augen geschlossen, gab keinen Ton von sich. Man hätte meinen können, er wäre eingeschlafen. Aber das Tolle an Männern ist ja, dass dieser ihr besonderer Teil oft expressiver ist als sie selbst. Und Michaels Alter Ego sprach gerade klare Worte. Ich schmiegte mich noch enger an ihn und glitt mit meiner Hand zu seinen Hoden.

Michael seufzte. Ich setzte mich halb auf und küsste seinen Bauchnabel, während ich mit meinen Händen zu der empfindlichen Haut auf der Innenseite seiner Schenkel wanderte. Michael legte seine eine Hand auf meinen Rücken, die andere schob er unter seinen Nacken. Ein Signal, dass nicht nur sein kleiner Freund nicht abgeneigt war, sondern auch sein Kopf sich allmählich mit dem Gedanken vertraut machte, das Einschlafen ein wenig zu verschieben.

Ich folgte mit meinen Lippen der flaumigen Linie über seinen Bauch. Als meine Hände und mein Mund sich trafen, erinnerte ich mich an unsere letzte sexuelle Begegnung. Sie lag zwar schon eine Weile zurück, aber sie endete ziemlich abrupt. Auch da hatte ich die Initiative ergriffen, und Michael hatte mir hinterher gesagt, ich hätte ihn zu heiß gemacht.

Heiß war er auch jetzt. Also hielt ich inne, entledigte mich meines Nachthemds und half Michael dabei, dass auch er aus seiner Pyjamahose rutschte. Nackt legte ich mich auf ihn, spürte ihn zwischen meinen Beinen. Michaels Hände lagen auf meinem Rücken, bewegten sich langsam auf und ab.

Ihn zu verführen hatte auch mich erregt, meine Haut glühte auf seiner, mein Becken vollführte leise kreisende Bewegungen. Doch dann spürte ich, wie die Spannung nachließ. Seine Hände bewegten sich kaum noch, sein Atem ging wieder ruhiger. Schlief er etwa ein?

Das wollte ich nicht. Ich richtete mich auf, rutschte etwas tiefer und bewegte mein Becken sanft in alle Richtungen, während ich auf ihm saß. Ich spürte, wie sein leicht erschlafftes Glied unter mir wieder fest wurde. So erregte ich ihn und mich zugleich. In der Beantwortung meiner Bewegungen geriet auch Michaels Unterleib in sanftes Schieben. Es fühlte sich gut an. In meinem Becken breitete sich Hitze aus, ich sehnte mich danach, ihn in mir zu spüren.

Als ich mich erneut auf ihm niederließ und er langsam in mich glitt, seufzte ich schwer auf. Michael nahm meine Hüften in seine Hände und bewegte mich auf und ab. Es fühlte sich wunderbar an. Alles in mir flackerte vor Lust. Doch plötzlich hielt er mich fest und flüsterte: »Halt! Vorsicht!« Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Doch da war es schon um ihn geschehen. In mir zuckte es, und kurz danach rutschte er aus mir heraus.

Mit aller Kraft versuchte ich, meine guten Gefühle für ihn zu bewahren.

Er war müde gewesen.

Wir hatten lange keinen Sex mehr gehabt.

Es war doch schön gewesen bis dahin. Es war doch alles gut!

Aber, verdammt, es war ganz und gar nicht gut!

Michael lag reglos auf dem Rücken. Wie ein gefällter Baum. Ich war zornig auf mich. Wieso war ich so fürchterlich erregt, dass ich mich jetzt nicht kontrollieren konnte? Mein Körper schrie danach, berührt, erkundet, ertastet, geliebt zu werden. Ich war reif. Ich wollte gepflückt werden.

Eine Träne quetschte sich unter meinem geschlossenen Lid hindurch und rollte in mein Ohr. Es kitzelte mich. Gut so!, dachte ich grimmig. Soll es mich da kitzeln!

»Es tut mir so leid«, sagte Michael mitleiderregend bedrückt. Ich konnte nichts antworten. Hätte ich den Mund aufgemacht, hätte ich womöglich wüste Beschimpfungen ausgestoßen. Das wollte ich nicht. »Es war so lange her«, fügte er erklärend hinzu. »Ich war so geil, du hast mich so geil gemacht.«

»Aber ich muss dich jetzt nicht trösten, oder?«, fragte ich scharf und biss mir sofort auf die Zunge. Genau das wollte ich doch nicht.

»Nein, natürlich nicht.« Michael lachte beschämt auf. Er legte eine Hand auf meinen Hügel. »Soll ich dich noch ein bisschen streicheln?«

In mir tobte ein Kampf los. Streicheln? Er mich? Damit ich auch einen Orgasmus bekommen sollte? Ich wusste, wie es sich anfühlen würde in dieser Situation. Falsch. Verkrampft. Unangenehm. Und ich würde seine Hand wegschieben und sagen: »Lass mal!« Und auf die eine Enttäuschung hätte sich die nächste gesetzt.

Andererseits war es doch genau das, was ich mir wünschte. Ja, aber nicht so, wie es sein würde. Ich hatte es einfach während der vergangenen Monate zu häufig erlebt. Also richtete ich mich auf, gab ihm einen Kuss auf den Mund und sagte betont locker: »Mach dir keine Sorgen, es war doch total schön. Morgen probieren wir weiter. Wir brauchen einfach wieder Übung.«

Er öffnete ein Auge leicht und lächelte mich dankbar an. »Genau, mein Schatz.«

Ich weiß nicht, wie er es fertigbrachte. Aber ungelogen fünf Atemzüge nach diesen Worten kündete sein Schnarchen davon, dass er fest eingeschlafen war.

Ich wand mich aus seinem Arm und legte mich auf meine Bettseite. Die Hände unter dem Kopf verschränkt starrte ich zu dem hellen Fleck, den das Mondlicht durch die Vorhänge hindurch auf die Decke zauberte.

*

Die Erregung hatte einem tauben Gefühl Platz gemacht. Als hätte ich zu lange in der heißen Badewanne gelegen und könnte mich in meinen körperlichen Grenzen nicht mehr spüren. Aufgelöst und abgestorben. Und dann machte sich ganz tief in mir Panik bemerkbar. Nicht so eine Panik, die zu kopflosem Schreien und Umsichschlagen oder sonstigem verrückten Tun animiert, sondern eine Stimme, die zuerst leise wie von weit entfernt, aber dann immer lauter, immer eindringlicher gellte: »Alarm!« Nein, es schrie nicht dieses Wort in mir, aber würde ich den wortlosen Schrei übersetzen, so wäre es mit »Alarm!« am ehesten getroffen. Es war nicht nur Beunruhigung, was ich empfand. Es war Panik.

Ein Gefühl, an alleräußerster Grenze zu stehen. Ich musste an das Brot aus dem Märchen »Frau Holle« denken, das dem Mädchen zuruft: »Hol mich raus, hol mich raus!« Ich war das Brot. Ich war an der alleräußersten Grenze angelangt. Eine Minute später, und ich würde verkohlt sein. Ich war der Apfel, der gleich verfault sein würde. Ich war die Frau, die sich vielleicht nie wieder einem Mann hingeben würde. In jener Nacht ahnte ich, was der Ausdruck »vertrocknete Pflaume« bedeutet.

Es waren nicht die Wechseljahre, die mich vertrocknen ließen. Ich hatte zwar Falten, aber ich war immer noch eine saftige Frau, mit einer feuchten prallen Pflaume in der Lust. Wie lange noch?

Nicht ohne Grund hatte ich mich frauenbewegt für freie und »scham«lose Sexualität der Frau eingesetzt. Trotz meiner Erziehung, die in den Siebzigerjahren so prüde war, als hätte es die Achtundsechziger nicht gegeben, war ich immer sinnlich gewesen, schon als Mädchen. Und ich hatte früh die verpönte Lust zwischen meinen Beinen entdeckt und später die an meinen Nippeln und dann noch später die an einem Mann und die von Haut an Haut und die Lust an seinem Geruch, seinem Geschmack.

All das hatte ich nicht gleich bei meinen ersten verklemmten sexuellen Begegnungen erfahren, sondern ganz allmählich, und dann war es mit Michael gewachsen. Das Zulassen dieser erschütternden, die Erde bewegenden wilden Lust war mir erst im Alter von vierzig Jahren mit Michael begegnet. Meine Ehe mit Sebastian war nicht einmal schlecht gewesen, aber ich hatte immer gewusst, dass ich nicht bei ihm bleiben könnte, wenn wir uns nicht tiefer berühren, tiefer verstehen würden. Wir hatten unser Kind gemeinsam erzogen und all die übrige Aufbauarbeit geleistet, die in der Phase zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig ansteht. Als ich Michael kennenlernte, weil Sebastian und ich zu ihm in Paartherapie gingen, hatte ich fast vom ersten Termin an sexuelle Träume, in denen er vorkam.

Und nun?

Wann hatte es angefangen, fragte ich mich, um sofort weiterzufragen: Was denn?

Wann hatte es aufgehört?, war die richtigere Frage.

Und die konnte ich nicht beantworten. War es vielleicht schon immer so gewesen, und ich hatte es nur nicht gemerkt? Michael war nie sexuell besonders fordernd gewesen. Vielleicht hatte er mir gerade so den Raum gegeben, mich zu entfalten. Aber seit mindestens zwei Jahren war er nicht nur nicht fordernd, nicht einmal nur passiv, sondern fast schon sexuell apathisch, und wenn wir miteinander schliefen, ich zwang mich, diesen Satz zumindest in meinem Kopf deutlich auszuformulieren: »Wenn wir miteinander schlafen, was nur auf meinen Impuls hin geschieht, dann hat er eine Ejaculatio präcox.«

Da war es raus.

Als hätte ich dieses Wort lauthals in den Raum geworfen, wendete ich Michael erschrocken mein Gesicht zu. Doch er, immer noch auf dem Rücken liegend, röchelte mit geöffnetem Mund vor sich hin. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich konnte sein Profil recht gut erkennen. Da ich mich ihm nun schon einmal zugewandt hatte, blieb ich dabei, ihn zu betrachten.

Ejaculatio präcox? Das zu denken war ebenso peinlich, irgendwie unanständig, wie einen Menschen zu betrachten, der mit heruntergefallener Kinnlade und hochgerecktem Kinn hässlich vor sich hin schnarcht. Es gehört zu den respektlosen Dingen, die man in einer Ehe tunlichst unterlässt, wenn einem an der Ehe liegt. Aber nun war es einmal gedacht, nun konnte ich auch hinschauen: Michael Lonken, renommierter Paar- und Sexualtherapeut, der das Tao der Liebe predigte und dabei so sexy aussah, dass ich mich sofort in ihn verliebt hatte, Michael Lonken, der sogar ein Buch über versiegende Leidenschaft in der Ehe geschrieben hatte, das den launigen Arbeitstitel trug: »Was tun, wenn der sexuelle Impuls biologisch nicht mehr nötig ist?« (Der Verlag hatte daraus den Titel »69 heiße Tipps« gemacht, Michaels Text um ein Drittel gekürzt und Horoskope für Liebende hinzugefügt. Michael hatte dem Verlag daraufhin einen Prozess angedroht, was dazu führte, dass die Herausgabe seines Buches um ein Jahr verschoben wurde. Und was vor allem dazu führte, dass Michael nie wieder ein Buch schreiben wollte.)

Als ich ihn so anschaute und an das damalige Desaster dachte – was immerhin fünftausend Euro eingebracht hatte, wovon wir eine Reise nach Korsika machten –, wich mein Gefühl von Panik einer plötzlichen Anwandlung von Albernheit. »Ejaculatio präcox, darüber solltest du ein Buch schreiben«, sprach ich im Stillen zu ihm. »Und über andere Probleme von Männern in den Wechseljahren.« Ich dachte an Gene Hackman, und das boshafte feindselige Grinsen, das sich auf mein Gesicht schlich, erschreckte mich zutiefst.

Das brachte mich wieder aufs Wesentliche. Wir hatten ein Problem. Und wenn wir dieses Problem nicht lösten, lief ich Gefahr, nie wieder diesen Zustand zu erleben, für den mein Körper in den Momenten des Schmelzens und Ausdehnens wie geschaffen zu sein schien. Dieses Gefühl war wie ein Sprengen meiner alltäglichen Grenzen gewesen. Ich war ganz und gar ich selbst, gleichzeitig eins mit Michael und darüber hinaus noch eins mit allem gewesen. Für dieses Erleben werde ich meinem Körper – und Michael – ewig dankbar sein.

Doch ich erlebte es schon seit mehr als zwei Jahren nicht mehr. Ich hatte mich damit getröstet, dass ich es immerhin genossen hatte und dass es nicht zu erzwingen war – wie man sich eben so tröstet. Aber in jener gnadenlosen Nacht wusste ich: Wenn ich jetzt nichts ändere, werde ich Tag für Tag aus einer lebendigen sinnlichen Frau zu Trockenobst. Und ich werde sterben, ohne mich noch einmal einem Mann hingegeben zu haben.

Ich muss mit ihm sprechen, dachte ich. Morgen. Unbedingt. Es kann nicht sein, dass wir nichts tun können.

Doch ich sprach nicht mit ihm. Ich weiß, dafür gibt es keine Entschuldigung. Überhaupt keine.

Dass ich nicht den richtigen Augenblick fand, dass am nächsten Morgen alles nicht mehr so schlimm aussah, dass Michael vom Aufwachen an so tat, als wäre nichts gewesen, all das sind Ausreden.

Auch nicht, dass etwas dazwischenkam, nämlich der vermeintliche Herzinfarkt meiner besten, liebsten, teuersten Freundin Julia.

*

Ihre Tochter Lisa rief mich an und sagte, dass ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Lisa war auf dem Sprung nach London, wo sie eine Kunstschule besuchte. Ihr Flugzeug sollte zwei Stunden später starten, und sie zögerte, ob sie überhaupt fliegen sollte. Julia selbst hatte ihr gesagt, sie solle bloß kein Drama veranstalten. Sie solle mich informieren und dann verschwinden.

Ich raste von Eimsbüttel nach Volksdorf ins Krankenhaus, wo Julia auf der Intensivstation lag, angeschlossen an alle möglichen Geräte. Julia ist ein Ausbund an Frische und Energie, sie da so bleich niedergestreckt zu sehen, bläulich die vollen Lippen, die langen goldblonden Haare strähnig auf den Kissen zerwühlt, die Hände, die sonst immer mit irgendwas beschäftigt sind und sei es, einer dezidierten Meinung durch eine energische Bewegung Nachdruck zu verleihen, regungslos.

In meiner Brust krampfte es sich zusammen. Ich wagte nicht, sie zu berühren, aus Angst, irgendeinen Schlauch zu bewegen und ihr womöglich wehzutun. Da öffnete sie die Augen, blinzelte mich an und wisperte in ihrem leicht holländisch-rheinischen Dialekt: »Mach dir keine Sorgen, Felinchen, ich hab nichts Schlimmes.« Und schloss wieder die Augen.

Ich biss die Zähne aufeinander und atmete flach. Das hilft gegen zu starke Gefühlsaufwallungen.

Am nächsten Tag rief Lisa mich an und sagte, sie sei nicht nach London geflogen und gehe heute ins Krankenhaus. Ob ich Julia morgen wieder besuchen könne?

Mittwoch fuhr ich also nach Volksdorf und marschierte direkt zur Intensivstation. Eine Schwester verwehrte mir den Einlass. Frau Month liege nicht mehr hier.

Ein Blitz aus Entsetzen und Angst fuhr durch mich hindurch. »Wo ist sie hingekommen?«, fragte ich mit zittriger Stimme.

In der Tasche der Schwester piepste es. Sie zog ihr Handy heraus, und während sie noch horchte, geriet sie schon in Bewegung, als würde ein Wirbelwind sie forttragen.

»Wo ist sie?«, rief ich hinter ihr her, als sie durch die Flügeltür entschwand. Sie warf nicht mal einen Blick zurück. Die Tür schwang hinter ihr zu, und nur noch ein leichter Lufthauch erinnerte daran, dass hier außer mir ein Mensch gewesen war.

Verlassen stand ich im Flur, wo es aseptisch roch, aseptisch aussah und eine aseptische Stille herrschte. Nur meine Person störte. Ich roch nach Angst, mein Herzschlag hallte laut von den Wänden zurück, selbst meine pinkfarbene Bluse kam mir ungebührlich farbig vor. Ich versetzte meiner Handtasche einen Stoß und drehte mich mit einem entschlossenen Schwung um. Entschlossen klackten meine Hacken über den Boden, der es vor allem gewohnt war, von huschenden Gummisohlen der hier arbeitenden Menschen gestreift zu werden. Doch ich hatte mich jetzt mit der Rolle des Trampels abgefunden, sie verlieh mir sogar die notwendige Stärke, die ich meinte zu benötigen, um Julia aufzuspüren, tot oder lebendig.

Bereit, in harten Kämpfen mit der Krankenhausbürokratie jedes Hindernis niederzuwalzen, knurrte ich den Einarmigen an der Rezeption an: »Frau Month, wo?«

Erstaunt hob er den Blick von dem Foto des halb nackten Mädchens in der vor ihm liegenden Zeitung, sein Mund wurde kurz zu einem strengen Strich, und ich straffte schon meine Schultern, weil ich eine Auseinandersetzung erwartete. Die kam mir gerade recht!

Da entspannte er sich und fragte langsam: »Mont, wie du buchstabieren?«

Er hielt mich für eine Ausländerin. Das passierte mir manchmal, wohl wegen meiner dunkelbraunen dicken Locken. Ich atmete langsam aus und sagte dann M-o-n-t-h. Ich machte runde naive Augen und sah ihn bittend an. Nach einem kurzen Blick auf seinen Computerbildschirm sagte er langsam und deutlich, während er die Hände zu Hilfe nahm, um mir die Zahlen zu verdeutlichen: »Stock drei.« Er hob die vorhandene Hand in die Höhe und zeigte drei Finger. »Zimmer fünfzehn.« Dreimal hintereinander schlug er mir seine geöffnete Hand entgegen, dann nickte er resigniert und malte in die Luft eine Eins und eine Fünf.

Ich eilte davon.

*

Vorsichtig klopfte ich an die Zimmertür. Ein kräftiges »Herein!« antwortete mir. Ich öffnete sacht die Tür und traute meinen Augen nicht. An der linken Wand standen die Kopfenden zweier Betten, von denen eines leer und das andere mit einer aufrecht im Bett sitzenden Julia belegt war. Ihre Haare lagen malerisch wie die der Loreley, wahrscheinlich besser frisiert, um Gesicht und Schultern, sie hatte sogar die Lippen leicht geschminkt. Nur die Augen nicht, wie ich mit einem schnellen Blick kontrollierte. Julia schminkt sich fast immer, wenn sie das Haus verlässt, und verwandelt sich dann auf verblüffende Weise von einer handfesten praktischen Frau in einen Vamp.

»Felinchen!«, rief sie mit ihrer volltönenden Sopranstimme. »Felinchen, wie schön, dich zu sehen.«

Ich stürzte ihr entgegen, stoppte alsbald, unsicher, wie herzhaft ich sie schon drücken durfte. »Komm ruhig näher, ich bin nicht ansteckend«, grinste sie. »Und ich will dir was sagen: Ich bin überhaupt nicht krank. Die wollen mir das hier bloß nicht glauben.«

Vorsichtig umarmte ich sie und zog mir einen Stuhl neben das Bett.

»Du und nicht krank, Julia, um Himmels willen, mach keinen Unsinn!«

»Nein, nein!« Wie so oft überraschte sie mich mit dem abrupten Wechsel ihrer Tonlage. Eben noch jubelnder Sopran, sprach sie jetzt in einem gemütlichen und irgendwie beruhigenden Alt. »Ich mach alles, was die hier sagen, keine Sorge, aber ich weiß genau, dass ich nichts habe.«

»Ganz ohne Grund nehmen die einen im Krankenhaus heutzutage nicht mehr auf, meine Liebe. Eigentlich musst du schon fast am Abkratzen sein, bevor die Kasse deinen Aufenthalt bezahlt – und dann noch Intensivstation. Wenn du nichts hast, kriegen die Ärzte bei der Abrechnung gewaltigen Ärger.«

»Na ja«, räumte sie trocken ein, »die dachten, ich hätte einen Herzinfarkt, und das mussten sie selbstverständlich überprüfen, aber in Wirklichkeit hab ich nichts weiter als einen Mann, der es sich auf meinen Schultern bequem gemacht hat.« Durchs Fenster funkelte Sonnenlicht und ließ goldene Pünktchen auf ihren Haaren aufblinken. Georg, Julias Partner, war unser Gesprächsthema während der vergangenen Monate gewesen, darauf wollte ich mich jetzt nicht einlassen.

»Bitte klär mich auf«, sagte ich, »welcher Irrtum dich ins Krankenhaus geführt hat.«

»Das war schon okay«, entgegnete sie betont ernsthaft. »Ich hatte, warte mal, heute haben wir Mittwoch, richtig?« Ich nickte. »Also … am Sonntag ging es mir schlecht, ich war furchtbar müde und schlapp, und dann bekam ich so Schmerzen im linken Arm, und übel war mir auch noch. Ich bin zur Nachbarin gegangen, um zu fragen, ob sie eine Schmerztablette hätte. Ich sah wohl ziemlich scheußlich aus. Da hat sie den Notarztwagen gerufen wegen Verdacht auf Herzinfarkt.« Als Julia meinen erstaunten Blick sah, fügte sie etwas verlegen hinzu: »Dazu muss man wohl wissen, dass ich einen aus ärztlicher Sicht kriminell hohen Cholesterinwert habe …«

Ich wollte gerade anheben, sie daran zu erinnern, dass ich sie mit ständigen vergeblichen Predigten ermahnt hatte, ihren Fleisch- und Fettkonsum zu reduzieren, da sagte sie mit pfiffigem Augenaufschlag: »Zu hohes Cholesterin, das sind übrigens neue Erkenntnisse, kommt nur in geringem Maße vom Essen!«

Ihre traumhaften Zähne blitzten in ihrem breit lächelnden Mund. Ein Mund, der nicht nur breit lächelte, sondern auch groß und breit und üppig war, eben genau so wie Julia: verschwenderisch ohne jeden Geiz.

»Wovon denn dann?«, fragte ich pikiert und presste meine sowieso etwas schmalen Lippen aufeinander.

»Von Stress!«, antwortete sie und schlug ihren Handteller auf die Bettdecke. »Und davon habe ich genug, und seit Georg sich einfach weigert auszuziehen …«

»… und du immer wieder klein beigibst …«, flocht ich zickig ein.

»Ganz genau!«, bekräftigte sie. »Und ich wie ein dummes Schaf immer wieder klein beigebe, steigt mein Cholesterinspiegel, bis ich beinahe einen Herzinfarkt bekomme. Aber damit ist jetzt Schluss!«

Sie warf mir einen triumphierenden Blick aus olivgrünen Augen zu und zog aus der Schublade des Nachttisches einen Block. »Ich habe ihm einen Brief geschrieben, dass er nicht mehr zu mir kommen soll. Endgültig.«

Ich starrte Julia ehrfürchtig an. Nicht nur dass sie strahlend schön dasaß, drei Tage nach einem vermeintlichen Herzinfarkt, sie hatte auch bereits am ersten Tag, als sie die Intensivstation verlassen hatte, ihr Leben neu geregelt.

Seit ich sie kenne, bewundere ich Julia. Und ich kenne sie schon lange. Wir hatten in Köln gemeinsam studiert und uns in der Anti-Atom-Bewegung gefunden. Unsere Töchter waren fast gleich alt. Julianne, die ich nach Julia genannt habe, war achtundzwanzig, Lisa zwei Jahre jünger. Julia und ich hatten zur gleichen Zeit das Referendariat in der Schule begonnen, und als Sebastian und ich vor zwanzig Jahren nach Hamburg gezogen waren, hatte Julia bald einen Versetzungsantrag gestellt, dem erstaunlich schnell nachgegeben worden war, wahrscheinlich weil sie nicht nur Deutsch und Geschichte unterrichtete, sondern auch Holländisch, da ihr Vater Holländer ist, und sie auch noch für Musik einspringen konnte, da sie ein paar Semester Musik studiert hat und es kaum ein Instrument gibt, das sie nicht spielt.

Ich fand und finde Julia schön, sexy, ungewöhnlich klug, eigenwillig in ihren Gedanken und dazu so mutig, wie ich noch nie gewesen war. Ganz davon zu schweigen, dass sie ein Herz wie ein Wal hat.

Dieses Herz wurde ihr leider immer wieder zum Verhängnis, denn es führte dazu, dass sie sich von verschiedenen Männern hat ausbeuten lassen, als Letztes von Georg. Georg ist Philosoph und Poet. Er leitet philosophische Gesprächsrunden, die sich »philosophisches Café« nennen, und arbeitet in eigener Praxis als philosophischer Berater. Am Beginn ihrer Romanze vor etwas mehr als sechs Jahren dachte ich: Das ist der Richtige für sie. Endlich. Ein außerordentlich kluger, attraktiver philosophischer Berater aus der Schweiz. Genauso alt wie Julia, die während der vergangenen Jahre immer nur wesentlich jüngere Männer gehabt hatte. Und er hatte drei Wochen lang um sie geworben, indem er jeden Nachmittag mit einer Flasche Sekt und einem Strauß Rosen bei ihr aufgekreuzt war. Das klang doch alles prima!

Nachdem sie ihn endlich erhört hatte und mir sagte, dass dies die Liebe ihres Lebens wäre, kam mir sein Umzug von Bern nach Hamburg allerdings übereilt vor. Na gut, dachte ich, wo die Liebe hinfällt. Als dann aber Julia ihm eine Praxis besorgte, diese auch noch einrichtete und unbedingt nach Bern fahren musste, um seinen Umzug zu begleiten, da machte sich schon ein mulmiges Gefühl in mir breit. Und lange bevor sie mich vorsichtig fragte, ob es mir normal vorkäme, dass er keinen Pfennig Miete zahle, hatte ich zu Michael gesagt, dass mir das Arrangement zwischen Julia und Georg ziemlich seltsam und alles andere als normal vorkomme. »Wenn sie damit glücklich ist«, hatte er damals gesagt. »Misch dich bloß nicht ein.« »I wo!«, hatte ich geantwortet, mir aber Sorgen um meine liebste Freundin gemacht, die an der Seite dieses Mannes zusehends zu schrumpfen schien.

Georg war laut seiner eigenen Überzeugung – und angeblich mit offiziellem Testergebnis – ein überdurchschnittlich intelligenter und dazu noch ungewöhnlich schöner und selbstredend ungewöhnlich liebenswerter Mann. Dass sich in seiner Praxis kaum Klienten einfanden, war einerseits lästig, andererseits bot es ihm aber auch den nötigen Freiraum, um seinen Lieblingsbeschäftigungen, dem Philosophieren und Dichten, zu frönen. Vielleicht wäre es ja noch angegangen, dass er von Julias Einkommen als Studienrätin lebte, dass er sich in ihrem Haus eingenistet hatte und ihr keinen Anteil an nichts zahlte, dass er sie arbeiten, die Einkäufe machen und auch noch kochen ließ. Was Julia ärgerte war, dass er jedes Gespräch über finanzielle Fragen verweigerte und ihr vorwarf, sie sei völlig reaktionär materiell eingestellt. Reaktionär wollte Julia nun wirklich nicht sein.

Was sie außerdem ärgerte, war seine Bemerkung, ihr Intelligenzquotient reiche nicht aus, um ihn verstehen zu können. Was sie aber am allermeisten ärgerte, das war Folgendes: Als sie im Sommer abgearbeitet von der Schule nach Hause kam, saß er Tag für Tag vor einem Tablett mit Kuchen auf der Terrasse hinter ihrem Haus und las. »Und er sah wahnsinnig zufrieden aus«, erzählte sie mir und fügte hinzu: »Das Schrecklichste an dem Ganzen war, Felicitas, dass ich neidisch auf ihn war. Ich habe es ihm nicht gegönnt.« Der Blick aus ihren Olivenaugen wirkte kindlich verwirrt, und ich war so wütend geworden, dass ich den Kerl hätte würgen können.

Danach hatte es noch Monate gedauert, bis sie ihn schließlich gebeten hatte auszuziehen. Und was antwortete er? »Ich kann nicht ausziehen. Ich kann mir einen eigenen Hausstand doch gar nicht leisten.«

Ein Mann von zweiundfünfzig Jahren! Ein intelligenter, angeblich überdurchschnittlich intelligenter, attraktiver, sehr umgänglicher und netter Mann von zweiundfünfzig Jahren!

Als Julia daraufhin bei mir anrief und sagte: »Er hat recht, Feli, er kann sich wirklich keinen eigenen Hausstand leisten. Meinst du, ich sollte ihm jetzt eine Wohnung suchen und sie ihm einrichten?«, da hätte ich auch sie würgen können.

»Klar«, hatte ich geantwortet, »und dann verabredest du einen täglichen Termin, wo du ihm den Arsch abwischst!«

»Werd nicht ordinär!«, hatte sie gegluckst. »Abgesehen davon, dass er mit all diesen Verrichtungen unterhalb der Gürtellinie wunderbar klarkommt.«

Das hatte mir einen Stich versetzt und meinen Spott gedämpft. Julia und Georg hatten Sex, seit sie ihn erhört hatte. Regelmäßig und befriedigend. Er war, wie sie sagte, nicht der Supersonderliebhaber, aber er war lüstern und liebevoll, und es machte ihr Spaß mit ihm. Sogar mit wachsender Bekanntschaft mehr Spaß.

»Wir sind mittlerweile richtig gut aufeinander eingespielt«, so beschrieb sie es.

Was sollte ich dem entgegenhalten? Und worauf kam es denn an? Auf einen Mann, der Geld verdiente und im Bett vor allem müde war, oder auf einen Mann, der sich tagsüber ausruhte und abends seinen Mann stand?

»Dann halte ihn dir!«, hatte ich am Ende solcher Diskussionen manchmal vorgeschlagen. »Es gibt genug Männer, die sich Frauen halten, warum solltest du das nicht mit Georg tun? Er ist zufrieden. Wenn du zufrieden bist, ist doch alles in Ordnung.«

Sie hatte es versucht und festgestellt, dass sie damit nicht zufrieden war. Sie war neidisch. Und sie fühlte sich ausgenutzt. Und sie war überarbeitet. Das wollte sie alles nicht sein. Also nutzte sie die Gelegenheit, als Georgs Vater starb und er, um seiner Mutter Beistand zu leisten, zu ihr nach Münster fuhr.

*

Julia hatte vor sechzehn Jahren, als sie nach Hamburg zog, ein kleines Haus in Meiendorf gekauft. Es war aus mehreren Gründen so erschwinglich gewesen, dass sie es sich mithilfe der Bank leisten konnte: Es lag in zweiter Linie auf einem tausend Quadratmeter großen und lang gezogenen Grundstück hinter einem anderen Einfamilienhaus, und im Grunde handelte es sich mehr um einen umgebauten großen Schuppen als um ein richtiges Haus. Aber es bot Lisa und ihr drei Zimmer und eine Küche, und im Laufe der Zeit und mit der Hilfe polnischer Handwerker baute sie den nach wie vor als Schuppen verbliebenen Raum zu einem großzügigen Wohnzimmer mit Kamin um.

Als Georg nun in Münster weilte, räumte sie ihr Haus leer, bestellte die ihr treu ergebenen Handwerker und ließ neue Fenster einsetzen, das Dach neu decken, eine neue Terrasse nach hinten hinaus herstellen. Als Georg zurückkehrte, waren seine Sachen in ein großes Zelt geschafft, das die Handwerker im Vorgarten von Julias Haus aufgestellt hatten, um ihr während der Renovierungsarbeiten einen regensicheren Unterschlupf bereitzustellen.

»Aber du hättest doch nur das Schloss auszuwechseln brauchen«, hatte ich damals bestürzt den ganzen Umstand kommentiert, was Julia zu der trockenen Bemerkung veranlasste: »Er kommt sowieso nie durch die Tür, sondern immer durch die Fenster, die sich ganz leicht aufdrücken lassen. Ließen!«, hatte sie mit dem Lächeln der Siegerin hinzugefügt. »Ließen!«

Während die Handwerker in ihrem Haus zugange gewesen waren, hatten sie noch festgestellt, dass die Wände nicht anständig verfugt gewesen waren und dass sich im Badezimmer Schimmel an den Wänden ausgebreitet hatte. Also hatten sie auch noch die Wände neu verputzt und das Badezimmer entschimmelt.

Georg allerdings war es anschließend gelungen, den einzig undichten Einlass auszukundschaften, nämlich die Terrassentür zur Küche. Um die zu erneuern, hatte Julias Geld nicht mehr ausgereicht. Vielleicht hatte sie es aber auch einfach vergessen, manchmal ist sie etwas schusselig. Auf jeden Fall hatte Georg diesen Weg gewählt, um Julia während einer Nacht zu überraschen, als sie gerade von einem Kurztrip zu ihrer Mutter in Köln zurückgekehrt war.

»Ich war so müde«, hatte sie mir erzählt, »und schlief wie ein Stein, da saß ich mit einem Mal kerzengrade im Bett, und mein Herz raste wie verrückt. Ich war aus dem Schlaf hochgeschreckt, weil ich plötzlich geträumt hatte, dass jemand bei mir ins Haus einbrach. Solche Träume kommen nun einmal vor, versuchte ich mich zu beruhigen. Aber da vernahm ich Geräusche aus der Küche. Eindeutig tappte da jemand herum. Ich sprang aus dem Bett, riss die Tür zur Küche auf – und wer schreckte da zusammen, als wäre ich ein Einbrecher? Na?«

»Georg!«, hatte ich gestöhnt, während ich die Augen schloss vor den Bildern, die ich vor mir sah und nie hätte erleben mögen. »Ich wäre auf der Stelle tot umgefallen! Wie hast du das bloß überstanden?«

»Na, so schlimm war es nun auch wieder nicht«, hatte Julia trocken bemerkt. »Ich konnte danach nur nicht wieder einschlafen und musste ziemlich erschöpft in die Schule gehen.«

Auch damals hatte ich wieder gedacht: Sie ist einfach unglaublich. Wäre mir das passiert, ich hätte wahrscheinlich ein sehr schweres Küchengerät ergriffen und es über Georgs Kopf zertrümmert. Aber wahrscheinlicher noch wäre ich gar nicht erst in die Küche gestürmt, sondern hätte unter meiner Decke übers Handy die Polizei gerufen. Warum Julia das nicht getan hatte, wusste ich. Sie besaß zwar ein Smartphone, konnte das Ding aber unter der Bettdecke nicht lesen, weil sie ohne Brille blind wie ein Maulwurf ist, und da sie eitel wie ein Pfau ist, trägt sie keine Brille, sondern Kontaktlinsen, und die Brille liegt stets weit entfernt von ihrem Bett. Ja, sie ist etwas schusselig. Aber sie war in der Lage gewesen, innerhalb eines Monats ihr Haus komplett sanieren zu lassen und auch noch für einen charmant ausgehandelten Spottpreis, nur um sich eines Mannes zu entledigen.

Der inzwischen zu seiner Mutter gezogen war, allerdings noch einmal wöchentlich nach Hamburg kam, um einen Tag lang in seiner Praxis zu arbeiten. Klienten für einen Tag hatte er offenbar zusammengekratzt. An diesem einen Tag schlief er bei Julia. Sie hatte ihn nicht dazu eingeladen, hatte es aber auch nicht wirklich verhindert. Was ihr nicht gefiel, war, dass er, wenn sie nicht da war, über die Terrassentür ins Haus drang. Manches Mal war sie nachts nach Hause gekommen und hatte ihn in ihrem Bett liegend angetroffen.

»Ich erschrecke mich dann immer so!«, hatte sie zu mir am Telefon gesagt. »Er kann ja gern bei mir schlafen, aber er soll mich nicht so erschrecken!«

Das war schon die Zeit, wo ich nur aus Respekt vor Julia diesen Mann nicht mit Vehemenz zur Rede stellte. Es ist ihr Leben, hatte ich mir immer wieder vorgebetet. Du hast kein Recht einzugreifen!

Auch da erzählte sie immer noch von guten Nächten mit Georg, gutem Sex. Außerdem schrieb er ihr Gedichte und schenkte ihr Rosen und beschwor seine Liebe. Und als sie von Trennung sprach, warf er ihr vor: »Du begehst den Fehler deines Lebens! Du machst das nur, weil du hochneurotisch bist. Ich bin deine Chance, gesund zu werden.«

Ich hatte trocken gelacht, als sie mir das mit unsicherer Stimme erzählte. »Julia, das kann nicht wahr sein«, hatte ich am Telefon entsetzt gekreischt, »du glaubst ihm immer noch, wenn er diesen Scheiß von sich gibt. Du bist neurotisch, allerdings, dem kann ich nur zustimmen. Wer sich von so einem Typen ein X für ein U vormachen lässt, kann nur neurotisch sein. Aber eins weiß ich sicher: Heilen wird er dich nicht.«

»Wer denn?«, hatte sie traurig gefragt und hinzugefügt: »Ich habe ihn wirklich geliebt, Feli, und er ist auch liebenswert, ich kann mit ihm lachen, und er sagt wirklich kluge Dinge und … er ist so hübsch … und er riecht so gut.«

Da war mein Herz wieder von Mitgefühl übergeflossen, und ich hatte gesagt: »Mein Gott, Julia, wenn er so wichtig ist für dich, dann … du musst dich ja nicht trennen.«

»Doch«, hatte sie mit Tränen in der Stimme geantwortet. »Doch. Ich muss mich trennen. Er tut mir nicht gut. Er raubt mir so viel Kraft.«

Vor einem Jahr schon hatte sie einen Hörsturz erlitten und einen Tinnitus zurückbehalten. Von dem sie zwar sagte, sie käme schon damit zurecht, aber das konnte ich ihr nicht glauben.

Und nun hatte sie Georg einen Brief geschrieben, in dem sie ihn bat, ihr Haus nicht mehr zu betreten.

*

»Lisa hat ihn angerufen, weißt du, genau wie dich«, sagte Julia und zog ihre Augenbrauen hoch, bis sie aussah wie ein kleines Mädchen, das ungläubig auf etwas Scheußliches blickte. »Er ist am Montagabend sofort ins Krankenhaus geeilt. Ich war so gerührt. Ich habe ihn dann gebeten, mir warme Socken zu besorgen. Meine Füße froren immer so. Er hat sie mir zwei Stunden später gebracht. Als ich sie anzog, guckte er da so komisch hin und sagte dann: ›Ich könnte auch neue Socken gebrauchen.‹ Es war alles so durcheinander, weißt du, meine Alarmglocken hatten wohl grad Pause. Also habe ich gesagt, er kann sich welche von mir nehmen.«

Ich seufzte: »Du bist unverbesserlich!«

»Na ja«, sagte sie gereizt, »an sich ist das ja kein Problem. Wenn du jetzt sagen würdest, du hättest kalte Füße und bräuchtest Socken, würde ich dir auch welche geben, oder?«

Ich lächelte. »Julchen, du würdest mir nicht nur Socken schenken!«

»Klar!«, entgegnete sie und gab mir das Lächeln zurück.

Ich dachte, dass ich nun bald gehen müsste, sie sah doch sehr erschöpft aus.

»Und?«, fragte ich. »Was war jetzt mit Georg und den Socken? Lass mich raten! Er hat sich in deinem Haus eingenistet und ist in deinen Socken über deinen Boden gelaufen, hat seine kalten Füße vor deinem Kamin gewärmt …«

»Woher weißt du das?«, rief Julia amüsiert aus. »Genauso war es. Lisa hat es mir nicht erzählt, sondern Georg selbst. Sie hat mir ja nicht mal gesagt, dass sie nicht nach London geflogen ist, sie wollte mich schonen. Komisch, wie absurd diese Schonerei immer läuft, aber er kam gestern noch hierher, kaum dass ich von der Intensivstation umgelegt worden war, und hat sich über Lisa beschwert, weil die ihn gezwungen hat, die Socken wieder rauszurücken. Sie hat gesagt, die eine Hälfte der Socken seien ihre und die andere Hälfte würde ich brauchen, und er solle sich gefälligst selbst welche kaufen.« Sie kicherte. »Am meisten hat ihn geärgert, dass sie zu ihm gesagt hat: ›Und wenn du kein Geld hast, dir Socken zu kaufen, dann strick dir welche. Leute haben entweder keine Zeit oder kein Geld. Du hast kein Geld, aber Zeit. Also strick dir welche!‹«

Daraufhin hatte er sich in Schimpftiraden über Lisa ergangen – und das hatte den Ausschlag gegeben. Wenn Julia sich selbst auch nicht schützen konnte, so vermochte sie es wenigstens bei ihrer Tochter. Also hatte sie ihm einen Brief geschrieben, in dem sie ihn aufforderte, ihr Haus nicht mehr zu betreten, außer er wäre von ihr dazu eingeladen.

»Einen kleinen Notausgang muss ich mir ja noch lassen.« Ihre Augen funkelten. »Wer weiß, ob ich noch mal jemanden finde, der mir so gefällt.«

Ich fuhr mir nachdenklich durch die Haare. »Das ist wirklich die große Frage.«

Sie zog die Brauen zusammen und sagte bedächtig: »Aber wenn ich es nicht ausprobiere, werde ich es nicht erfahren.«

»Schlauer Gedanke«, nickte ich ihr zu. »Vielleicht solltest du dich zuallererst aber mal von all deinen Abenteuern erholen: Tochter nach London verabschiedet, Haus saniert, Liebhaber zum Teufel gejagt, Hörsturz, Herzinfarkt …«

»Verdacht auf Herzinfarkt!«, protestierte Julia. Sie zwinkerte mir zu: »Mein liebes Felinchen, nicht jeder kann so gemütlich vor sich hin dümpeln wie du, ich muss mich ein bisschen beeilen, wenn ich noch mein Glück machen will, bevor ich in Rente gehe.«

»Vor mich hin dümpeln?« Der Gedanke an mein Sexualleben förderte nicht gerade meine Gelassenheit. »Wie meinst du das?«, fragte ich schärfer als gewollt.

Julia fixierte mich prüfend. »Genauso, wie ich es gesagt habe. Während ich, etwas abgetakelt, aber Volldampf voraus, die sieben Weltmeere erkunde, haben Michael und du doch eher den Fährdienst übernommen, hin und zurück, hin und zurück.«

Ich wollte auffahren. Sie lachte amüsiert. »Ist doch in Ordnung! Immerhin lieg ich hier im Bett und koste meine Kasse täglich einen Tausender. Und du machst einen freundlichen Krankenbesuch, und danach gehst du nach Hause … und … ja, was kochst du denn?«

Sie quiekte wie ein abgestochenes Schwein, denn ich hatte sie in die Seite gekniffen. »Ich ruf den Arzt, ich bin todkrank!«, empörte sie sich.

»Sei ja still!«, drohte ich. »Sonst kitzle ich dich, bis du aus diesem hohen Bett fällst. Dann gibt es endlich einen Grund für Hotel mit Vollpension! Von wegen dümpeln«, knurrte ich nach einer kleinen Pause. »Ich wollte, Michael würde ein bisschen mit mir dümpeln …«

Und ich erzählte ihr von unserer letzten sexuellen Begegnung. Sie hörte mir regungslos zu, nur ihre Augen zeigten ihre Gefühle, mal kühl und distanziert, mal erstaunt, mal mitleidend. Als ich bei unserer beidseitigen Wortlosigkeit am Morgen danach angelangt war, strich sie mit ihren kräftigen Händen über die Bettdecke. »Hm«, sagte sie nachdenklich. »Hm.« Sie blickte hoch und musterte mich aufmerksam. Ihr Mund verzog sich zu einem amüsierten Grinsen. »Ich will ja nichts sagen«, bemerkte sie, während ihr Lächeln breiter wurde. »Aber ich bin der Auffassung, dass es dir wirklich sehr guttäte, mal wieder einen anständig potenten Mann im Bett zu haben.«

Ich schnappte nach Luft.

»Jaja, ehrbare Ehefrau!« Unverhohlen spöttisch sah sie mir in die Augen.

»Quatsch!«, widersprach ich. »Aber du kennst doch den Spruch, wie selten es ist, dass eine Frau über vierzig einen Mann kennenlernt.«

»Blödsinn!«, widersprach sie im Brustton der Überzeugung. »Das sind Sprüche, die sich Männer ausgedacht haben, damit ihre vierzigjährigen Frauen nicht weglaufen. Was sie im Übrigen trotzdem tun.«

»Aber wir sind über fünfzig!«, gab ich zu bedenken. Vor Aufregung nickte ich heftig mit dem Kopf, wobei mir einige Locken in den Mund gerieten. Ich blies sie fort. Bewundernd sah Julia mich an. »Unglaublich, deine Haare«, sagte sie versonnen. »Färbst du sie?«

»Tönen«, antwortete ich ungeduldig, denn ich hatte gar keine Lust, über Haare und all das zu sprechen, sondern mir brannte es auf den Nägeln, unser Gespräch über Männer fortzusetzen. »Färben ist noch nicht nötig. Du weißt ja, dass ich nicht gern zum Friseur geh. Tönen kann ich selbst.«

»Was habe ich dich immer wegen deiner Locken beneidet!« Sie hob lächelnd ihre Hand und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.

»Und ich dich wegen allem Übrigen! Aber du sollst mir jetzt sagen, wo ich einen anständig potenten Mann finde!«, platzte ich heraus.

Sie kicherte. »Okay, Felinchen, du brauchst einen, ich brauch einen. Wir müssen uns Gedanken machen. Uns fällt schon was ein!«

*

Michael nennt es Synchronizität. Dieser Ausdruck, geprägt von dem berühmten Psychologen Carl Gustav Jung, beschreibt ein merkwürdiges Phänomen, nämlich dass einem unerklärlich passende Ereignisse zustoßen. Zum Beispiel so etwas Profanes wie eine zufällig in der Bahn liegen gebliebene Visitenkarte eines Friseurs, der auf verblüffend echte Toupets spezialisiert ist, wenn man gerade seiner Haare auf dem Haupte verlustig geht. Oder eine schon etwas kompliziertere, wenn man auf einer Party jemanden kennenlernt, der sein Haus in genau der Gegend verkaufen will, wo man selbst zufällig eines sucht. Diese sich auf unerklärliche Weise im Leben plötzlich öffnenden Türen nennt Michael entsprechend Jungs Lehre Synchronizität.

So etwas soll angeblich besonders häufig passieren, wenn Leute in Therapie sind. Durch Synchronizitäten wird, wie Michael behauptet, »der Weg bestätigt«, die Leute würden durch seltsame Zufälle merken, dass sie sich mit Michaels Unterstützung in einem wunderbaren Entwicklungsprozess befinden, der auf eine unerklärliche Weise vom »Universum« begünstigt wird.

Da ich von Natur aus eine eher skeptische Person bin, habe ich dieses Phänomen bisher damit erklärt, dass wir Menschen gerne nach Zeichen suchen, die uns die Qual der eigenverantwortlichen Entscheidung abnehmen.

Außerdem haben wir eine geschärfte Wahrnehmung für Dinge, mit denen wir uns intensiv beschäftigen. Meine skeptische Vermutung also: Jeder andere würde die Visitenkarte unbeachtet liegen lassen, bis derjenige mit dem schütteren Haupthaar kommt. Undsoweiter.

Tatsächlich stießen mir aber in den folgenden Wochen jede Menge Synchronizitäten zu. Angefangen bei Michael. Noch nie hatte er so leidenschaftlich die Theorie des heilsamen Seitensprungs vertreten wie jetzt. Er überlegte sogar, am Beispiel der Winklers einen Artikel über dieses Thema für eine psychologische Fachzeitschrift zu verfassen.

Frau Winkler hatte eine neue Frisur. Jede Frau weiß, dass ein Haarschnitt niemals nur ein Haarschnitt ist. Bevor Michael mich vorwarnen konnte, begegnete ich ihr und war von den Socken. Die frühere Barbie-Blondine sah aus wie die Kapitänin eines Raumschiffs (der Wahrheit halber muss ich gestehen, dass ich noch keinen einzigen Science-Fiction-Film gesehen habe und auch sonst nichts über Raumschiffe weiß, aber vorausgesetzt, ich würde die Rolle der Kapitänin in einem Raumschiff besetzen, sähe sie garantiert genau so aus): energisch, klug, schön.

Ich hätte sie beinahe nicht wiedererkannt. Sogar ihre Stimme schien sich verändert zu haben. War sie vorher ein wenig piepsig gewesen, hatte sie sich zu einer Lage gesenkt, die klang, als sei dies ihre wirkliche Stimme.

Sie kennen das bestimmt: Es gibt Menschen, die sprechen mit einer Stimme, ob hoch oder tief ist eigentlich egal, dass man sich ein wenig unbehaglich fühlt, wenn man mit ihnen zu tun hat. Sie hören sich falsch an, irgendwie unecht. So war es vorher bei Frau Winkler gewesen. Sie hatte mit einer Stimme gesprochen, die falsch klang, zu hoch, zu freundlich, und nun sprach sie auf eine Weise, dass ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht hätte, wenn ich sie jetzt erst kennengelernt hätte.

Sogar ihre Kleidung hatte sich verändert. Vorher war immer irgendetwas an ihrer Kleidung zu viel gewesen, zu eng, zu bunt, zu weit ausgeschnitten, nun aber trug sie eine Jeans, die sofort meinen Neid weckte, weil sie einfach perfekt ihren perfekten Hintern betonte, dazu diese spitzen hochhackigen Schuhe, die meine Tochter Zickenschuhe nennt, und zwar champagnerfarben, und eine champagnerfarben und rosa gestreifte Bluse. Um ihre Schultern hatte sie einen rosa Pullunder drapiert. Sie sah einfach komplett klasse aus.

Ihr Gatte dagegen schlurfte in dieser leicht gebeugten Haltung, die große Menschen oft an sich haben, neben ihr her; an ihm konnte ich keine Veränderung entdecken. Das Einzige, was nun noch mehr ins Auge sprang, war der Altersunterschied zwischen beiden. Sie wirkte jung und frühlingsfrisch, er hingegen zerknautscht und zerfurcht von schweren Gedanken und lebenswichtigen Sorgen.

Sobald die beiden die Praxis verlassen hatten, stürmte ich zu Michaels Zimmer. Im Türrahmen aufgebaut stemmte ich die Fäuste in meine Hüften und fauchte: »Was hast du mit ihr angestellt? Mach das mit mir auch! Sofort!«

Zufrieden lächelnd rieb er sich die Hände. »Tja, genau kann ich dir das nicht sagen. Oberflächlich betrachtet war sie bei einer Typberatung, aber natürlich steckt mehr dahinter. Sie will wieder arbeiten gehen, hat sie gesagt. Die beiden Kinder sind alt genug, um sich nach der Schule selbst zu versorgen.«