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Achtsamkeit Selbstfürsorge, Entschleunigung und Stressmanagement sind mittlerweile bekannte Schlagworte - aber wie kann man sie, insbesondere als Mensch mit Belastung und chronischer Krankheit, praktisch umsetzen? Im vorliegenden Buch werden, aufbauend auf persönlichen Erlebnissen sowie Erfahrungen aus der jahrelangen Arbeit mit betroffenen Menschen, diesbezügliche Strategien vorgestellt. Auf leichte und unterhaltsame Art werden Ideen präsentiert, mit dem Ziel, die Lebensqualität zu verbessern und im Endeffekt mehr Lebensfreude zu gewinnen.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Danke an Alice Kuhar für die wunderbaren Märchen-Illustrationen und die Zeichnungen der „Übungsschnecken"
Danke an Dr. Alexandra Klement für die kompetente Überprüfung medizinischer Fakten
Danke an Antonia Cicero für die Unterstützung bei Lektorat & Layout
A
M
A
NFANG WAR DIE
S
CHNECKE
DIE WEISHEIT DER SCHNECKE
(AUF)WACHSEN MIT SCHMERZ UND LEID
2.1
S
TRESS UND
K
ÖRPER
2.2
D
ENKMUSTER UND
G
LAUBENSSÄTZE
2.3 D
IE
K
RANKHEIT
2.4 P
OSITIVES
M
ITNEHMEN
DER ERSTE SCHRITT: RESSOURCEN ALS QUELLEN DER KRAFT
WER KÄMPFT, KANN VERLIEREN, WER NICHT KÄMPFT, HAT SCHON VERLOREN ODER: NICHT AUFGEBEN, NICHT KAPITULIEREN
SELBSTACHTSAMKEIT, SELBSTFÜRSORGE, GRENZEN SETZEN
5.1 E
GOISTISCH?
5.2 S
ELBSTACHTSAMKEIT
5.3 S
ELBSTFÜRSORGE
5.4 G
RENZEN SETZEN
DER GRÖßTE ENERGIEFRESSER - VOM UMGANG MIT DEM STRESSMONSTER
6.1
S
TRESS DURCH ÄUßERE
F
AKTOREN
6.2
S
TRESS DURCH
K
RANKHEIT
6.3 S
TRESS DURCH INNERE
F
AKTOREN
IM SCHNECKENHAUS - DAS WOHLBEFINDEN IN DEN EIGENEN VIER WÄNDEN
FREUDE AM TUN, FREUDE AM SEIN
8.1 W
ER, WIE, WAS, WO
-
DAS
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8.2 S
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EISE BEGINNT MIT EINEM KLEINEN
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EDIZIN VERSÜBT, RUTSCHT SIE GLEICH NOCH MAL SO GUT"
8.5 S
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EXUALITÄT
STRECKE DEINE FÜHLER AUS
9.1 D
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M
ENSCHEN UND ICH
9.2 M
EIN GANZ PERSÖNLICHES SOZIALES
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9.3 „E
NERGIEVAMPIRE" UND ANDERE
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ÜHSELIGKEITEN
9.4 M
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DER WENIGER?
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DER IST WENIGER MEHR?
9.5 K
OMMUNIKATION,
K
OMMUNIKATION,
K
OMMUNIKATION
-
ODER: WIE BAUE ICH
B
EZIEHUNGEN AUF UND ERHALTE SIE DANN?
SELBST-WERT-GEFÜHL?
IM SCHNECKENTEMPO: NICHT IMMER, ABER IMMER ÖFTER
BUNT IST DAS LEBEN, UND GRANATENSTARK ODER: CONCLUSIO
Liebe Leserin, lieber Leser! Ja, ich weiß, kein sehr origineller Anfang, doch mir ist ehrlichen Herzens kein besserer Beginn eingefallen. Verehrtes Publikum? Sehr geehrte Leserschaft? Werte (Mit-)Betroffene? Nein, ich glaube, liebe Leserin, lieber Leser, dass ich mit dieser Begrüßung durchaus einfach und klar den Menschen anspreche, der hier gerade auf diese gedruckten Seiten schaut. Winke, Winke!
Dieses Buch ist dezidiert keine Autobiographie und soll auch keine sein, aber es trägt, wie jedes Buch - von Sigmund Freunds Traumdeutung bis hin zu Joanne Rowlings Harry Potter - natürlich auch autobiographische Züge.
Ich verwende immer wieder auch Erlebnisse und Erfahrungen aus meiner eigenen (Lebens- und Kranken-)Geschichte. Und deswegen ist es, denke ich, nur legitim, an dieser Stelle einige wichtige persönliche Fakten über mich mitzuteilen, die den Inhalt dieses Buches stark beeinflusst haben:
Ich bin seit meiner Kindheit chronisch krank (mit einer im deutschsprachigen Raum kaum bekannten und unheilbaren Krankheit, dem so genannten Cyclic Vomiting Syndrome), die mit höchst unangenehmen Anfällen von Übelkeit und Folgeschäden (u. a. chronischem Schmerz) einhergeht, eine wirksame Behandlung, die zumindest die schlimmsten Symptome meist im Zaum hält, habe ich erst Mitte 20 erhalten. Ich habe einen großen Teil meiner ersten 20 Lebensjahre damit verbracht, vom Säugling an fast jede zweite Woche eine Woche lang in einem dunklen Zimmer zu liegen, mich nicht bewegen zu können, mit einer Übelkeit, die an die von Chemotherapiepatientinnen heranreicht und ständigem Erbrechen und wahnsinnigen Schmerzen. Und zwar heißt ständig hier „alle zehn Minuten", und das tagelang. Das einzige, was ich zu mir nehmen konnte in diesen Phasen war Wasser. Zwischen diesen „Anfällen" ging es mir gut, ich war meist putzmunter. Aber schon eine Woche oder zehn Tagen später war ich wieder krank. Die Medizin war ratlos, also bekam ich dort keine wirkliche Hilfe. Ich fehlte rund 50% meiner Schulzeit, und keiner wusste so recht, was mit mir los war. Ich auch nicht. Erst Ende 20 bekam ich eine passende Diagnose und Medikamente, die zumindest das Erbrechen in den Griff bekamen. Jetzt habe ich zwar Folgeschäden meiner Krankheit und Schmerzen und auch ab und zu noch Übelkeit, aber es geht mir wirklich sehr viel besser mit dieser Medikation. Meine Krankheit ist nicht heilbar, aber ich habe sie, glaub ich, ganz gut im Griff. Und ich habe viele Änderungen im Leben durchgeführt, damit dies so bleibt, auch das hat mir sehr geholfen. Viele davon sind Inhalte dieses Buches.
Ich weiß daher, wie es ist, immer wieder mit Schmerzen zu leben und täglich Medikamente nehmen zu müssen, um leben und arbeiten zu können. Und ich weiß daher ebenso aus eigener Erfahrung, dass man trotzdem ein - zumindest meistens - schönes und von Freude erfülltes Leben führen kann!
Und - dies ist der zweite wichtige Fakt über mich - ich weiß dies nicht nur aus eigener Erfahrung. Ich bin klinische und Gesundheitspsychologin und arbeite hauptberuflich wie auch ehrenamtlich seit mittlerweile mehr als 15 Jahren mit psychisch und/oder körperlich kranken Menschen. Schon zu Beginn meines Studiums habe ich mich mit Gleichgesinnten und ebenfalls Betroffenen in Selbsthilfegruppen engagiert, dieses Interesse und Profitieren am gegenseitigen Austausch ist für mich bis heute geblieben. Auch in meinem „Broterwerb" arbeite ich mit akut oder chronisch kranken Menschen. Und daher möchte ich nunmehr diese für mich und viele andere sehr hilfreiche Erfahrungen aus diesen beiden Teilen meines Lebens auf möglichst einfache, klare aber auch unterhaltsame und kreative Weise, und immer unterstützt von wissenschaftlichen Erkenntnissen, gerne weitergeben.
Ich möchte noch anmerken, dass ich mich nach langen Überlegungen und dem Austausch mit anderen für die Du-Anrede entschieden habe. Was ich hier teile, ist an manchen Stellen doch ziemlich persönlicher Natur, und was ich rate, würde ich nicht nur im professionellen Berufssetting, sondern auch im ganz privaten Freundeskreis raten und habe dies auch schon getan. Und dieses Werk soll ja auch kein oberlehrerlnnenhafter Vortrag im Sinne von Geboten und Verboten sein - jeder Mensch ist einzigartig und kennt sich selbst am besten - sondern eine Einladung an ein breites Publikum, Ideen und Vorschläge anzudenken und auszuprobieren und sich vielleicht dadurch etwas besser kennenzulernen und/oder das eine oder andere zu gewinnen.
Ich habe auch viel über den Schreibstil, den ich verwenden wollte, nachgedacht und mich dann für einen entschieden, der von einigen Leuten etwa als „salopp" bezeichnet wurde - es ist bewusst kein wissenschaftlicher Text, weil er erstens auch Leute ansprechen soll, die noch nicht unbedingt Tonnen von wissenschaftlicher Literatur gelesen haben und es zweitens, selbst wenn man, wie ich, diesen wissenschaftlichen Schreibstil zu genüge kennt, langweilig wird, wenn man sich da durch viele, viele Seiten lesen muss. Und da dieses Buch sich zu einem großen Teil um Freude dreht, ist es mir schlicht als passend erschienen, einen Text zu entwerfen, den man - aufgrund von Lockerheit, vielleicht sogar „Schnoddrigkeit" und besonders auch einer Prise Humor - auch gern und mit Freude lesen kann. Er soll für ein großes Publikum weder zu langweilig noch zu hochgestochen sein.
Auf die wissenschaftliche Richtigkeit der Inhalte habe ich allerdings streng geachtet! Wenn ich auch oft - aufgrund der großen Bekanntheit und des passenden Schreibstiles - so genannte populärwissenschaftliche Quellen wie Wikipedia verwendet habe, so wurde dennoch alles auf seine aktuelle Korrektheit geprüft (zumindest die psychologischen Inhalte - die Teile über die Schnecken habe ich zwar von einem mir bekannten Hobby-Biologen durchsehen lassen, ich selbst weiß auch einiges, aber nicht alles über mein liebes Wappentier, so habe ich hier einfach den Quellen „vertraut" - schließlich ist es ein psychologisches Buch und die Richtigkeit dieser Inhalte ist für mich von Bedeutung. Wenn das Publikum einen falschen Fakt über Weichtiere lernt, passiert hoffentlich nichts Dramatisches...).
Auch habe ich - aus zwei Gründen - mehr Internetquellen als Buchquellen verwendet. Denn: erstens ist das Internet das Medium, das hauptsächlich zum (schnellen) Nachschlagen verwendet wird und es enthält deswegen Inhalte, die den meisten Leserinnen vertraut sind, auch vom Stil; und zweitens sind sie, v. a. für beeinträchtigte Menschen - einfacher nachzuprüfen: einfach den Link eingeben und auf „Enter" drücken und schon kann jeder und jede, ohne weit gehen oder fahren zu müssen, überprüfen, ob die Frau Cicero da eh wirklich richtig recherchiert hat. Alles mit Quellen aus Büchern zu belegen, mag da auf den ersten Blick seriöser scheinen, doch müsste man dann am Ende Bücher bestellen, Bibliotheken abklappern etc. und dann erst könnte man, nach sehr viel Laufarbeit, die Quellen nachprüfen. Ich wollte diese Überprüfungsarbeit für das Publikum einfacher machen.
Zuletzt möchte ich noch sagen, dass ich den „saloppen" Erzählton auch deswegen gewählt habe, weil er meiner Persönlichkeit entspricht. In der Psychotherapie und psychologischen Beratung ist es wichtig, dass man „echt" und „authentisch" ist, sich also nicht „verstellt", und diese Echtheit und Authentizität wollte ich weder mir beim Schreiben noch dem Publikum beim Lesen vorenthalten.
Also: Herzlich willkommen in der Welt der Schnecke! Lass dich mitnehmen auf eine Reise in dich selbst, lass zu, dass deine Geschichte, deine Krankheit, deine Schmerzen - seien sie körperlicher oder seelischer Natur - dich nicht davon abhalten, Spaß und Freude zu erleben.
Die großen Themen sind kapitelweise geordnet, wobei sehr lange Kapitel zur Vereinfachung Unterkapitel haben können. Viele Bereiche, die ich behandle, überschneiden sich, da wie so oft im Leben eines mit dem anderen zusammenhängt oder auch ineinander übergreift. Verändere ich hier eine Kleinigkeit, kann das große Auswirkungen auch auf andere Bereiche haben und umgekehrt - dass es daher manchmal zu Wiederholungen kommt, bitte ich zu entschuldigen. Es schien mir wichtiger und richtiger, alles verständlich zu erklären, und damit das eine oder andere vielleicht auch öfter zu erwähnen, als mich kurz, aber unklar zu auszudrücken. Es war mir ein Anliegen, trotzdem nicht monoton und langweilig zu schreiben. Ich hoffe, es ist mir in deinen Augen auch gelungen!
Noch ein letztes (Vor)Wort. Dieses Buch möchte in keinster Weise in bestehende Therapien eingreifen und kann und soll auch fachliche Behandlungen und (Psycho)Therapien keinesfalls ersetzen! Ganz im Gegenteil - ich möchte auch stets darauf hinweisen, dass Ärztinnen, Psychotherapeutinnen, Psychologinnen u. a. sowie Selbsthilfegruppen als professionelle Unterstützung grandiose und manchmal unersetzliche Ressourcen sind - sie waren und sind mir und anderen, die ich kenne, eine wirklich unglaubliche Hilfe!
Möglicherweise ist eine der ersten Fragen, die sich die Leserinnen und Leser stellen, wenn sie das Buch in die Hand nehmen: Woher kommt der Titel? Was haben Krankheiten, Schmerzen und Lebensfreude bitteschön mit Schnecken zu tun? Zur Beantwortung dieser (tatsächlich guten!) Frage möchte ich an dieser Stelle eine kleine Geschichte vorstellen, welche in Märchenform einen kurzen Umriss der „Lehr"-Inhalte dieses Buch erzählt. Dass im Fall meiner Geschichte die beiden Hauptcharaktere weiblich sind, hat damit zu tun, dass es beide Hälften meines persönlichen Unbewussten sind, jede Person, jeder Leser, jede Leserin kann sich selbstverständlich die Helden und Heldinnen (und auch die Bösewichte!) vorstellen und besetzen, wie es für sie stimmig ist. Bestimmendes Element des Märchens sind die Prüfungen, die der Protagonistin auferlegt werden, und die Erfahrungen und Einsichten, die sie dadurch gewinnt.
Die Weisheit der Schnecke
Es war einmal, in einem mittelfortschrittlichen Königreich, dass sich die folgende Geschichte zutrug. Es gab in diesem Königreich - wie das so üblich ist in Monarchien - einen freundlichen, sehr lebenslustigen König, eine kluge und besonnene Königin und ein Königskind, eine Prinzessin, die von ihrem Vater die Freude und von ihrer Mutter die Klugheit geerbt hatte. Sie wohnten in einem schönen, nicht zu protzigen Schloss, mit Dienern und Dienerinnen, Pferdeställen, Hunden, einer großen Küche, vielen schönen Zimmern und Gemächern und einem Turm, in dem die weise, weiße Hofhexe residierte, die der Königsfamilie bei schwierigen Situationen mit Rat und Tat zur Seite stand. Die Tochter der Hofhexe, welche die Welt und die Wissenschaft liebte, war von Kindesbeinen an mit der Prinzessin befreundet, und da die weise, weiße Hexe sehr angesehen und auch sehr mächtig war - denn sie war die Anführerin des weißen magischen Zirkels des Königreiches - hatten der König und die Königin nichts gegen diese Freundschaft einzuwenden.
Doch leider hatte der König, in all seiner Lebenslust und Freude, ein Problem, dem er sich nicht stellen wollte: er liebte das Glückspiel zu sehr. Nichts machte ihm mehr Freude und bot ihm mehr Spannung, als auf Pferderennen zu wetten oder um Geld zu würfeln und mit anderen mächtigen Herrschern die Karten zu klopfen. Das Glücksspiel war zu jener Zeit ein beliebter Zeitvertreib, doch übertrieb der König es maßlos. Weder die Königin, noch die Prinzessin, der Schatzmeister und nicht einmal die Hofhexe konnten ihn davon abhalten. Er sah keinen Schaden darin: „Es ist doch meine Schatzkammer gut gefüllt mit Gold, Silber, Diamanten und anderen Edelsteinen, es macht doch nichts, wenn ich ein klein wenig davon ausgebe!"
Doch die Jahre vergingen, und im Laufe dieser Jahre wurde aus dem Wenigen über die Jahre sehr viel, schließlich eines Tages dann war die Schatzkammer fast leer. Das machte dem König dann schon ein wenig Sorgen und gab ihm zu denken, doch leider kamen ihm - eingeflüstert von dem machthungrigen und geldgierigen Zauberer aus dem Norden des Landes, mit dem er immer wieder gern ein Kartenspielchen wagte - der Zauberer konnte ja so lustig und unterhaltsam sein - eher dumme Gedanken für die Lösung seines Problems.
Der Zauberer bot ihm nämlich beim letzten Kartenspiel, gerade an dem Tag, als der König hatte erfahren müssen, dass seine Schätze nun endgültig aufgebraucht waren - einen gar grausamen Handel an und sprach: „Edler König, wollt ihr nicht noch einmal auf euer Glück vertrauen? Ich biete euch folgenden Handel an: Gewinnt Ihr, so gebe ich Euch Reichtümer, so viele wie die Euren einst waren, doch gewinne ich, so gebt Ihr mir Eure Tochter als meine Dienerin!"
Dem König kam das eigentlich nicht sehr geheuer vor, doch er war sich ganz sicher - wie es Spielern halt oft ergeht -, dass sich sein Blatt genau jetzt bestimmt und endlich wenden würde, auch hatte er Angst, was die Königin und die Prinzessin sagen würden, wenn er ihnen gestehen müsste, dass alle Schätze, alles Gold und Geld fort seien. Eine kleine Stimme der Vernunft ließ ihn dennoch noch sagen: „Ich kann doch nicht meine Tochter aufs Spiel setzen, das ist nun doch zu gewagt."
Der Zauberer aber versuchte den König zu beruhigen: „Vielleicht kommt genau jetzt Eure Glückssträhne? Doch um Euch zu beruhigen will ich Euch entgegenkommen: Wenn ich gewinne und Eure Tochter mir dienen muss, so gelobe ich, dass jemand sie befreien kann, wenn dies nur ein Mensch ist, der anders ist als alle anderen Retter!" Der König ließ sich von den süßen Worten des Zauberers einlullen und schüttelte ihm, als Zeichen, dass der Handel galt, die Hand - eine Geste, die bei jedem magischen Vertrag bindend war.
Und so spielten sie ihr Spiel, und der König verlor, und so verlor er die Freiheit seiner Tochter. Diese wurde im selben Moment von magischen Ketten gefesselt, von magischen Winden in die Lüfte erhoben und sogleich in den Turm des Zauberers getragen, wo sie ihm fortan als Dienerin zur Verfügung stehen und kochen, backen, putzen, waschen, nähen und spinnen musste. Der Zauberer war ein sehr bequemer Mann und ließ sich von hinten und vorne bedienen und rührte selbst keinen Finger. Die arme Prinzessin kam kaum zum Schlafen, so viel Arbeit hatte sie Tag für Tag.
Der König nun aber kam verzweifeit und niedergeschlagen nach Hause und schwor sich, nie wieder um Geld und Besitz zu spielen, und bat reumütig um die Hilfe der Hofhexe. Diese ließ ihn zuerst einen magisch-bindenden Vertrag unterzeichnen, der künftig alle Finanz- und Regierungsgeschäfte seiner Frau und später seiner Tochter übertrug, so dass er, selbst wenn er es wollte und rückfällig werden würde, nicht viel mehr als einen Hosenknopf verspielen würde können. Dann beratschlagte sie sich mit ihren magischen Helfern, dem Fuchs, der Wölfin, der Katze und dem Raben, und gab dann dem König und der verzweifelten Königin folgenden Rat: „Lasst Plakate anschlagen im ganzen Reich mit folgenden Text:
Rettung sei für die Prinzessin gesucht,
sie wurde vom Norden-Zaub'rer verflucht!
Um sie aus dessen dunklen Turm zu befreien
muss jemand wie kein anderer sein.
Wer sodann die Maid zu den Eltern rückführt,
dem ihre Hand und das Nordreich gebührt!
Mehr konnte die Hexe im Moment nicht tun, da sie die Regeln des magischen Zirkels daran hinderten, bei einem gültigen magischen Vertrag selbst einzuschreiten.
Das Königspaar befolgte diesen Rat und ließ im ganzen Land Plakate mit der Aufschrift anschlagen, auf Häusern und Schlössern, auf Brücken und Kirchen, im dunklen Wald und am hellen See. Und viele tapfere junge Männer zogen aus, Ritter und Helden, auch mutige Bauernburschen, doch niemandem gelanges, in den undurchdringlichen Turm des finsteren Nordzauberers einzudringen und schon gar nicht, die Prinzessin von ihren magischen Ketten zu befreien.
Die Tochter der Hofhexe war zuerst sehr wütend auf den dummen, leichtfertigen König, der seine eigene Tochter- ihre liebste Freundin - zu Gefangenschaft und Sklaventum verdammt hatte. Dann war sie traurig, wenn sie an das Leid und die Gefangenschaft der armen Prinzessin dachte. Doch mit jedem Tag, als es wieder keinem mutigen Ritter oder strahlenden Helden gelang, ihre Freundin zu befreien, wurde sie auch ungeduldiger und nachdenklicher.
Nachdem sieben Wochen vergangen waren, und sich kein Lebenszeichen ihrer Freundin hören ließ, kein Prinz und kein Ritter und auch kein Müllersbursch mit ihr zurückkehrte, ging sie zu ihrer Mutter und sprach: „Du weißt, wie ich mich um die Prinzessin, meine liebste Freundin, sorge und mir scheint es, wenn man eine Arbeit gut getan haben will, so muss man sie selbst machen. Gib mir, liebe Mutter, die Erlaubnis, nach Norden zu ziehen. Und ich bitte dich um deinen weisen Rat, wie ich sie aus der Gefangenschaft des bösen Nord-Zauberers befreien kann!"
Die weise Hofhexe nickte und antwortete: „Es ist gut, meine Tochter, dass du diese Aufgabe angehen willst. So wisse, dass man bei Befreiungen aus magischer Gefangenschaft meist drei Prüfungen bestehen muss. Für diese brauchst du drei Eigenschaften, darum höre gut: du musst dir, um anders als all die Retter, die Prinzen und Helden zu sein und damit die Prinzessin zu befreien, diese drei Eigenschaften aneignen. Die erste sei die Achtsamkeit, dir selbst und anderen gegenüber, die zweite die Fürsorge, auch die für dich selbst und für andere. Und die dritte sei die Achtung von Grenzen, deinen eigenen und die aller anderen.
Um dir die erste Eigenschaft zu erwerben, geh auf die Wiese im Herzen des dunklen Waldes und achte auf das, was deine Augen dir zeigen und dein Herz dir sagt. Sodann wird dir die Lehrmeisterin der Achtsamkeit erscheinen und auf deinen weiteren Weg raten."
Die Tochter dankte ihrer Mutter, packte allerlei nützliche Dinge in ihre Satteltaschen, schwang sich auf ihr Pferd und ritt los.
Durch die Dörfer ritt sie, über Brücken und um Seen, durch den dunklen, dunklen Wald mitten in dessen Herz hinein. Dort fand sie sodann eine gar liebliche Blumenwiese mit bunten Blumen und ihr aus den Heiltränken der Mutter wohlbekannten Kräutern: Schafgarbe, Berberitze, Giersch und Frauenmantel. In der Mitte der Wiese lag ein kleiner Teich, klar und frisch, mit Seerosen, die ihre Blüten der Sonne entgegenreckten und Libellen, die durch die Luft glitten. Als sie nach oben blickte, sah sie gleichzeitig einen Himmel mit Wolken, Sternen und einem Regenbogen, an diesem Ort war es weder Tag noch Nacht. Dem Rat ihrer Mutter gemäß setzte sie sich auf einen Flecken weichen Grases in die Wiese und schaute und spürfe, nahm die Umgebung und sich selbst mit allen Sinnen wahr.
Zuerst achtete sie auf die Umgebung als Ganzes, auf das Bild, dass ihr die Wiese, der Himmel, der See boten. Dann achtete sie auf ihre Gefühle, was in ihrem Herzen und aber auch in ihrem Körper vorging und aß etwas Proviant, als sie hungrig war und trank vom kühlen Wasser des Teiches, als sie Durst verspürfe. Dann überlegte sie, wo und wie ihr wohl die Lehrmeisterin erscheinen würde? Sie beschloss, in der Zwischenzeit einfach ihre Achtsamkeit gegenüber den kleinen, einzelnen Dingen zu üben, es könne ja nicht schaden.
Sie betrachtete die vielen schönen Blumen, jede anders und einzigartig, die Sterne am Himmel, jeder anders und einmalig, und den Regenbogen, von dem man nicht sagen konnte, wo er begann und wo er endete. Und sie betrachtete die Tiere auf der Lichtung, die Libellen über dem See, einige Kröten und Frösche, Käfer, Spinnen, die ihre feinen Netze webten, an denen Tautropfen glitzerten, und Schmetterlinge in den buntesten Farben, als ob sie im Regenbogen gebadet hätten. Als sie schließlich Stunde um Stunde so saß und schaute und spürfe, fiel ihr schließlich etwas Seltsames auf: von allen Tieren gab es mehrere, wenn auch oft bunte und unterschiedliche, es gab viele Libellen, Käfer, Schmetterlinge, aber sie sah nur ein einziges Schneckenhaus auf der ganzen Wiese. Es war auf dem Blatt eines Löwenzahnes, welches sanft im Wind schaukelte. Und so viel die Hexentochter auch schaute und suchte, keine andere Schnecke, kein anderes Schneckenhaus war zu sehen. Sie überlegte und klopfte schließlich sanft und zart an die Schale des Schneckenhauses und sagte: „Die Tochter der weisen, weißen Hexe bin ich und möchte die Prinzessin aus der Gefangenschaft des Nordzauberers befreien. Seid Ihr meine Lehrmeisterin der Achtsamkeit?"
Ein leichtes Beben ging durch das Schneckenhaus und langsam, gaaaanz langsam, kam eine glitzernd-goldene Schnecke heraus, zuerst nur ein Stückchen vom Fuß, dann zwei Fühlerchen und am Schluss zwei lange Stielaugen, die die Heldin mit unergründlichen Augen in der Farbe des Teiches ansahen.
„Mein Kind, du hast die erste Prüfung der Achtsamkeit bestanden. Nimm dir, was du hier gesehen und gespürt hast, mit auf deinen weiteren Weg und denke daran: Manchmal liegt das Besondere, das Glück und die Schönheit in den kleinen Dingen, manchmal übersieht man Wichtiges vor lauter Eile und Hast. Und zu guter Letzt: vergiss nicht, dass das Spüren und Achten auch für dich gilt und du ohne dieses in Unruhe und Hast vergisst, auf die kleinen Dinge in und für dich zu achten."
Die Retterin antwortete: „Ich danke dir, weise Schnecke, für deinen wertvollen Rat und werde versuchen, ihn stets zu beherzigen. Weißt du vielleicht auch noch, edle Lehrmeisterin, wo ich die zweite Eigenschaft der Fürsorge erlernen kann?" „Gehe nach Westen, in die große Stadt und auf den dortigen Marktplatz, wende an, was du an Achtsamkeit gelernt hast, und der Lehrende der Fürsorge wird dir erscheinen."
Die Hexentochter bedankte sich noch einmal bei der Schnecke, füllte ihre Trinkflasche, pflückte ein paar Heilkräuter für sich und ihr Pferd und ritt los, in die große Stadt. Sie ritt und ritt über Brücken und durch Dörfer, bis sie endlich, als die Sonne gerade am Untergehen war, den Marktplatz der großen Stadt erreichte. Sie sah sich um in dem bunten Treiben auf dem Platz. In der Mitte des Platzes sah sie einen Brunnen. Um ihn herum tummelten sich viele Menschen, Kinder und Erwachsene, auf dem Platz, es gab Geschäfte und Marktstände mit Waren aller Art, Verkäufer und Marktfrauen und auch einen Gasthof.
Sie stieg von ihrem Pferd und spürte erst einmal, wie sie es bei der Schnecke gelernt hatte, in sich hinein. Dann führte sie ihr Pferd zum Brunnen und ließ es trinken, danach brachte sie es in einen Mietstall mit der Bitte, es gut zu versorgen. Sie verspürte Hunger und war müde, also kaufte sie sich Brot und Obst und mietete ein Zimmer im Gasthof, danach setzte sie sich an den Rand des Brunnens und speiste.
In ihrem Blick lag das Haus eines Arztes, und sie sah, dass viele Menschen hineingingen, manche aber auch traurig und sogar weinend vor dem Haus standen, aber sich nicht hinein zu trauen schienen. Nachdem sie sich gestärkt und erfrischt fühlte, ging sie zu den Menschen vor dem Haus des Arztes und fragte: „Liebe Leute, warum seid ihr so traurig? Wenn ihr krank seid, warum geht ihr dann nicht zum Arzt hinein?"
Eine Mutter mit einem kleinen Kind sagte weinend zu ihr: „Das Geld für den Arzt habe ich nicht, doch leidet mein Kind unter solchen Schmerzen!" Auch die anderen sagten, ja, eigentlich würden sie den Arzt schon brauchen, doch sie könnten ihn nicht bezahlen. So ließ sie sich die Beschwerden der Leute schildern, da sie, wie sie sagte, von ihrer Mutter, der Hexe, einiges über Kräuterheilkunde gelernt hatte. Für die meisten wusste sie auch wirklich ein Mittel, welches sie in ihrem Gasthofzimmer aus den Kräutern der Waldlichtung zubereitete.
Bei zwei der Menschen, einem Kind und einem alten Mann, wusste sie jedoch auch keine Hilfe. So ging sie zum Arzt hinein und bat diesen, die beiden armen Menschen doch auch so zu behandeln. Dieser weigerte sich und verlangte eine bestimmte Summe an Geld, um die beiden Leutchen zu behandeln, und meinte, es könnte doch sie vielleicht für die beiden bezahlen. Die Hexentochter sprach:
„Lieber Herr Doktor, wenn ich euch solch eine hohe Summe gebe, habe ich nichts mehr, um auf der weiteren Reise für mich und mein Pferd zu sorgen, um essen zu kaufen und ein Nachtlager. Wollt ihr euch vielleicht mit der Hälfte begnügen, so gebe ich euch diese Summe, damit ihr die beiden heilen wollt?"
Der Arzt erklärte sich einverstanden und behandelte erst das kleine Kind und dann den alten Mann, welche sich danach glücklich bedankten. Als aber dann die Praxis leer war und die Hexentochter den Arzt bezahlte, verwandelte sich dieser in einen Magier, der ihr von Erzählungen der Mutter wohl bekannt war, denn er war ein großer Heilkundiger.
Er sah sie wohlwollend an und sprach: „Liebes Mädchen, du hast die zweite Prüfung der Fürsorge bestanden! Du hast dich, so gut es in deinen Kräften stand, um andere, die Hilfe brauchten, gekümmert, darüber aber dich und deine Bedürfnisse und auch die deines Pferdes nicht vergessen. So erinnere dich stets an diese Lektion: es ist gut, zu geben und zu helfen, doch muss man auch sich selbst etwas geben und sich bei Not selbst helfen. Möchte man die Gesundheit und Kraft erhalten, muss man sich selbst ebenso wertschätzen wie die anderen, daraus erwächst die Kraft, auch für andere da sein zu können!"
Das Mädchen bedankte sich sehr bei dem Heilmagier und sprach: „Ich danke dir für deine weisen Worte und werde sie in meinem Herzen wohl bewahren. Ich grüße dich, auch im Namen meiner Mutter. Eine Bitte habe ich noch: Weißt du, wohin meine Reise nun führen muss und wo ich das Respektieren von Grenzen lernen kann?"
Der Magier sprach: „Mache dich auf, zum Turm des dunklen Zauberer des Nordens, deine letzte Prüfung liegt in der Rettung selbst. Gehe hin und versuche, deine liebe Freundin zu befreien und bedenke dabei, was du in den letzten Tagen alles gelernt hast!"
Das Mädchen bedankte sich und ging ins Gasthaus, um eine Nacht lang gut zu schlafen, denn wie sie ja heute gelernt hatte, musste man, um etwas leisten zu können, auf die Bedürfnisse von sich selbst auch achten, und sie dachte sich (ganz richtig übrigens), ein ausgeschlafener Mensch würde die Prinzessin gewiss eher befreien können als eine Frau, der vor Müdigkeit die Augen zufielen.
Am nächsten Tag nach einem guten Morgenmahl ritt sie wieder los, zur Nordseite des Reiches, wo der dunkle Zauberer seinen Turm hatte, in dem er wohnte und wo er auch die Prinzessin gefangen hielt. Sie ritt über Felder und durch Wälder, durch Berge und Täler, bis sie schließlich zu der Mauer kam, die den Turm des Zauberers umschloss. Die Mauer hatte weder Tür noch Tor, kein Fenster gab es, und sie war hoch und voller spitzer Pfeile, so dass auch kein Klettern möglich schien. Die anderen Retter, die Prinzen und Helden, hatten allesamt versucht, mit Gewalt, mit Schwertern und Katapulten die Mauer zu besiegen und waren nicht durchgedrungen. Unsere Heldin aber ging erst einmal um die Mauer herum und dachte nach. Sie überlegte, welche Möglichkeiten in Frage kämen, die Mauer zu bezwingen, und sah, dass es eine magische Barriere war, die die Mauer bildete, solche Magie hatte sie bei ihrer Mutter, der Hexe, zu fühlen gelernt. Dann dachte sie daran, dass sie doch ihre Lektionen der Achtsamkeit und Fürsorge sicher nicht umsonst gelernt hatte und setzte sich einfach vor die Mauer in die Wiese und spürte und schaute.
Sie schaute auf jeden Ziegelstein, jeden spitzen Pfeil auf der Mauer, sie sah Moos und kleine Krabbeltiere. Und wie sie so schaute, so bemerkte sie eine Stelle, in der sich nichts Lebendes zu befinden schien, kein Käfer, keine Spinne, nicht einmal ein Fleckchen Moos. Die Stelle hatte etwa die Größe einer Männerhand, und einige Stellen schienen abgenutzter als andere. So kam ihr der Einfall, ihre Hand - vorsichtig, denn bei Magie, besonders bei dunkler, ist immer Vorsicht geboten - auf diese Stelle der Mauer zu legen. Sie spürte, dass ihr die Magie entgegenfloss - dies bedeutete, dass sie den Anfang eines magischen Rituals begonnen hatte - und als sie noch genauer hinsah und versuchte, auch die Magie in ihren Händen zu spüren, sah sie in den verschiedenen Abnützungen ein Muster, das sie mit ihren Fingern nachzog. Und plötzlich - wie von buchstäblicher Zauberhand - ging die Mauer an dieser Stelle entzwei und sie schlüpfte hindurch und fand sich vor dem Turm wieder.
Froh darüber, die erste Hürde überwunden zu haben, betrachtete sie den Turm, der schwarz und düster in den Himmel ragte. Das Tor wurde von Wölfen bewacht, die sich zwar nicht um sie kümmerten, solange sie in der Wiese war, aber sofort mit den Zähnen zu fletschen begannen, als sie sich dem einzigen Tor näherte. Sie zog sich also wieder in die Wiese zurück und übte wieder ihre Achtsamkeit. Sie stellte fest, dass sie etwas hungrig war, und holte sich aus der mitgebrachten Satteltasche etwas Brot und Fleisch. Als sie so dasaß und aß, erkannte sie, dass auch die Wölfe vernachlässigt und hungrig aussahen und warf ihnen das Fleisch zu und begnügte sich mit Brot und Obst. Die Wölfe stürzten sich auf das Fleisch, als hätten sie tagelang nichts zu fressen bekommen, und konzentrierten sich so auf ihr Tun, dass das Tor praktisch unbewacht war. So konnte sie einfach hindurch spazieren, denn dem Zauberer war es nie eingefallen, dass er mehr Sicherheit als die wilden Wölfe und die magische Mauer brauchen würde.
Als sie in den Turm trat, fand sie viele Türen, praktischerweise mit Schildern und Aufschriften wie „Labor", „Schlafzimmer", „Schatzkammer" und andere, doch sie dachte sich, es geht mich nichts an, was der Zauberer in seinen privaten Gemächern hat und macht, ich will ja nur meine liebe Freundin finden.
Sie konzentrierte sich wieder auf das Spüren und hörte leisen Gesang, ein Lied, dass die Prinzessin immer gesungen hatte, und folgte diesem Gesang bis zu einer Dachkammer ganz oben im Turm. Dort war ein Schild mit der Aufschrift: „Dienstbotenverlies - Und für etwaige Retter: wer die Prinzessin von ihren Ketten befreien möchte, muss sie küssen". Die Tür war erstaunlicherweise unverschlossen, und als sie eintrat, sah sie auch, warum: ihre liebe Freundin, die Prinzessin, war angekettet, und saß an einem Spinnrad und spann.
Als sie ihre Freundin erblickte, war die Hexentochter überglücklich und rief ihren Namen, die Prinzessin sah sich um und hatte Freudentränen in den Augen, als sie sah, wer zu ihrer Rettung kam. Sie umarmten sich, und die Hexentochter sprach: „Liebste Freundin, wie glücklich bin ich, dich gefunden zu haben. Wie ist es dir ergangen?" Und die Prinzessin erzählte von der Arbeit und den Mühen, die sie in ihrem Skiavendienst für den Zauberer verrichten hatte müssen.
Schließlich meinte die Hexentochter: „ Wir wollen nun versuchen, dich hier raus zu holen. Auf einem Schild an deiner Tür stand, um deine Ketten zu lösen, muss ich dich küssen, erlaubst du also, dass ich dir einen Kuss gebe?" Die Prinzessin hatte nichts dagegen einzuwenden, weder dagegen, dies aus Rettungszwecken zu tun noch dagegen, ihre liebe Freundin prinzipiell zu küssen. Also gaben sie sich einen langen Kuss, und ein helles Licht erstrahlte und die Ketten zerfielen zu Staub. Da erschien plötzlich der Zauberer, der gespürt hatte, dass sich der magische Vertrag mit dem König durch die Rettung in Nichts auflöste. Völlig ungläubig starrte er auf die beiden Mädchen und schrie voller Wut: „Wie ist dies möglich, das kann nicht sein, selbst wenn jemand die Mauer und das Tor durchdringt, keiner würde so klug sein, die letzte Falle zu durchschauen!"
Die Mädchen spürten keine Furcht, denn da der Zauber gebrochen war, hatte der Zauberer keine Macht mehr über sie beide. Die Hexentochter aber war verwirrt und meinte: „Welche Prüfung denn? Ich habe doch nur, wie es auf dem Schild stand, die Prinzessin geküsst." „Nein!", schrie der Zauberer außer sich, „du musst sie vorher gefragt haben, ob es ihr auch Recht sei!" „Ja, natürlich habe ich sie gefragt, ich kann doch nicht einfach in ein Zimmer stürmen und jemanden küssen, ohne zuerst zu fragen, ob es ihm recht ist?"
„Das habe ich noch nie erlebt", schrie der Zauberer, „jeder andere hätte sie nach der Aufforderung auf dem Schild einfach geküsst und wäre damit verflucht worden, wer fragt denn noch bei einer Rettungsaktion, ob das Erlösungsküssen auch erlaubt ist?!?"
Da erkannte die Hexentochter, dass dies die dritte Prüfung gewesen sei, die der Respektierung von Grenzen und sagte zu ihm: „Jeder, der auch die Grenzen und Gefühle des anderen achtet, verhält sich so. Und ich sage euch, elender Zauberer, dass ihr dies nicht getan habt und richte euch viele Grüße von meiner Mutter, der weisen, weißen Hexe aus und sie lässt euch sagen, bei der nächsten Sitzung des Zauberrates werden Regeln festgelegt, dass keiner mehr, auch ihr nicht, mit Menschenleben spielen kann!" Der Zauberer erbleichte und zog sich in seine Gemächer zurück, vor der weisen, weißen Hexe und dann auch noch dem ganzen Zauberrat hatte er Respekt.
Die beiden Mädchen konnten unbehelligt aus dem Turm, an den nunmehr satten und schlafenden Wölfen und durch die Mauer nach draußen gelangen und ritten gemeinsam auf dem Pferd zurück zum Königsschloss. Als der König und die Königin ihre Tochter wiedersahen, waren sie überglücklich und auch die weise, weiße Hexe freute sich sehr über den Erfolg und die Rückkehr ihrer Tochter, und so wurde noch am selben Abend ein großes Fest gefeiert.
Als aber dann der Hofnarr nach dem Essen den König fragte, ob denn nun die Hexentochter die Hand der Prinzessin und das Nordreich bekäme, meinte dieser, das Reich könne sie natürlich haben, doch die Tochter heiraten, das ginge ja denn doch nicht. Die Hexentochter wollte schon sagen, dass sie ja nicht wie der Zauberer einen Menschen ohne dessen Einverständnis haben wollte und daher gern darauf verzichtete, als die Prinzessin das Wort ergriff und den König mahnte: „Willst du ein gegebenes Versprechen nicht einhalten? Sie hat mich gerettet und so darf sie mich nach deinen Regeln auch heiraten!"
Die Hexentochter schaute ganz ungläubig zur Prinzessin, die ihr aber nur ein Küsschen zuwarf. Der König protestierte, das entspreche aber nicht den Gesetzen, doch die Königin schnitt ihm das Wort ab und meinte: „Wie gut, dass du mir das Recht abgetreten hast, die Gesetze zu ändern. Ab heute darf daher jeder jeden Menschen heiraten, den er will, und wenn die Prinzessin auch einverstanden ist, so soll die Hochzeit mit ihrer Retterin gefeiert werden!"
Der König saß nur stumm daneben und wagte nichts mehr dagegen zu sagen, war es doch sein Fehler gewesen, der seine Tochter erst in Gefahr gebracht hatte. So fand bald danach die Hochzeit zwischen den beiden Freundinnen statt, und sie lebten und herrschten glücklich bis an ihr Lebensende, und die Schnecke wurde zum Wappentier ihres Königreiches. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Vielleicht ist hier an dieser Stelle der rechte Ort, um beim Lesen einmal inne zu halten und sich zu fragen: Wie hat mir das Märchen gefallen? Kann ich etwas daraus mitnehmen? Finde ich in den Lehren der Schnecke und der anderen weisen Ratgeber etwas, das ich für mich auch nutzen kann?
Manchmal ist es gut, ein Buch nicht in einem Zuge durchzulesen, sondern immer wieder einmal zu pausieren und über das Gelesene nachzudenken, es setzen zu lassen oder natürlich auch es (heftig) zu kritisieren. Und ich stelle an dieser Stelle dann dem geneigten Publikum die Frage: Hat die Geschichte es klarer gemacht, warum die erste Lehrmeisterin eine Schnecke war - oder könnte eigentlich jedes Tier ihren Platz einnehmen?
Ich möchte jedenfalls gerne meine Gedanken teilen, warum ich die Schnecke als Symbol für eine Lehrmeisterin der Achtsamkeit gewählt habe und warum mir die Weisheit der Schnecke - und eigentlich das, wofür sie steht, was sie versinnbildlicht - so wichtig ist, dass sie sogar im Titel vorkommt und damit auch dem ganzen Buch seine Grundlage gibt. Die Schnecke ist - in der Psychologie und anderswo - häufig ein Symbol für die so genannte Entschleunigung. Entschleunigung bedeutet zuerst einmal schlicht und einfach, dass man (zumindest manchmal) bewusster und langsamer durch das Leben geht. Dass man sich Pausen schafft, Hektik (zumindest immer wieder mal) vermeidet, und ab und zu inne hält.
Um etwa diese Entschleunigung zu erreichen, werden übrigens tatsächlich Schnecken - ja, echte, lebendige, kriechende Schnecken - in der Praxis eingesetzt. Ja, wusstet ihr, dass Schnecken, insbesondere die rund 20 cm großen Achatschnecken, wirklich als Therapietiere genutzt werden? Sie werden eben bei hyperaktiven Kindern verwendet, damit diese neben der Freude an einem interessanten Haustier auch Ruhe und Achtsamkeit lernen, denn wenn man solch eine Schnecke auf dem Arm hat, muss man warten und Geduld aufbringen, bis sie ihr Häuschen verlässt und ihre Fühler streckt.
Haustierachatschnecke auf meinem Arm. Was sie da frisst, ist eine gelbe Kirschtomate.
Diese Geduld sollten wir auch für uns und unser Innerstes aufbringen und geduldig warten, bis sich, wie die Fühler der Schnecke, die sich vorsichtig aus der schützenden Hülle bewegen, unsere innersten (oft unbewussten) Sorgen, Wünsche, Gedanken und Gefühle herauswagen, die manchmal so verschreckt und versteckt sein können wie kleine, ganz junge Schnecklein. Die notwendige Ruhe, die dieser Achtsamkeit vorangeht, die Geduld, die wir auch für uns aufbringen sollten, ist für mich daher durch die Schnecke personifiziert. Man muss einmal einen Schritt aus der Hektik zurücktreten, sich eben entschleunigen, bevor man die notwendige Geruhsamkeit spürt, die die Basis bildet für eine solche auf sich und andere gerichtet Achtsamkeit, wie sie die der Heldin in der Geschichte erlebte.
Manchmal allerdings muss man auch einfach etwas durchhalten, aushalten, abwarten, bis eine neue Situation kommt, bevor man aktiv werden kann - dies ist die schwierigere Aufgabe, die in meinem Märchen der Prinzessin zugeteilt war. Dies symbolisiert in meinem Fall Situationen wie aktive Krankheitsschübe oder andere Lebenssituationen, wo man im Moment und kurzfristig nichts tun kann, um etwas Gravierendes zu ändern, sondern etwas auch einmal für eine gewisse Zeit einfach durchhalten und das auch bewusst akzeptieren muss. Diese praktische Passivität ist manchmal viel schwerer, als die Hände hochzukrempeln und was anzupacken - die Prinzessin hat in diesem Falle also die viel schwerere Aufgabe als die Retterin. Doch ist es für mich wichtig anzumerken, dass sie, sobald sich die Situation dann verändert hat, durchaus auch selbst aktiv wurde und ihre Wünsche durchsetzte - diese Passivität darf also nicht chronisch werden und/oder sich auf alle Lebensbereiche ausbreiten.