Die weiße Garde - Michail Bulgakow - E-Book

Die weiße Garde E-Book

Michail Bulgakow

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Beschreibung

Bulgakows großer Roman über den ukrainischen Bürgerkrieg und die Wirren der russischen Revolution – ein Meisterwerk der Moderne neu übersetzt von Alexander Nitzberg Kiew 1918, es ist Winter, das Ende des Ersten Weltkrieges ist nah. Doch für die Geschwister Turbin fängt der Krieg gerade erst an: Gnadenlos rollen zahlreiche verfeindete Truppen über die große Stadt hinweg und lassen dabei niemanden unbeschadet davonkommen. "Lebt hin … in Frieden" – der letzte Wunsch der sterbenden Mutter Turbin könnte kaum erschütternder enttäuscht werden. Die Schrecken des russischen Bürgerkriegs stellen den Familienzusammenhalt ihrer Kinder auf eine harte Zerreißprobe. Jelena muss nicht nur um ihren Ehemann, sondern auch um ihre Brüder Nikolka und Alexej bangen, die sich als Fahnenjunker und Militärarzt der Freiwilligenarmee anschließen. Im Kreuzfeuer der unermüdlichen Gefechte zwischen den Anhängern des untergegangenen Zarentums und den verhassten Bolschewiken, zwischen der weißen Garde und der roten Armee müssen die Geschwister sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen – auch, wenn sie damit die familiäre Eintracht, ihre persönlichen Prinzipien und sogar ihr Leben aufs Spiel setzen. Nach Meister und Margarita, Das hündische Herz und Die verfluchten Eier hat Alexander Nitzberg nun endlich auch Bulgakows großen Zeitroman ins Deutsche übertragen. Die weiße Garde besticht jedoch nicht durch das Skurrile, das Satirische, sondern überzeugt mit brutalem Realismus und radikal modernem Stil. Ein großes Sprachkunstwerk, das in Nitzbergs Übersetzung zu einem völlig neuen Erlebnis wird. "Nitzberg ist einem modernen Übersetzungsideal verpflichtet: da geht es nicht darum, den Text zu glätten, sondern authentisch zu bleiben und dem Autor gerecht zu werden." ORF

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Seitenzahl: 683

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Michail Bulgakow

Die Weiße Garde

Roman

Aus dem Russischen übertragen, herausgegeben und benachwortet von Alexander Nitzberg

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Michail Bulgakow

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

HinweisWidmungMottoErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelZweiter Teil8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelDritter Teil13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelErgänzende Kapitel19. KapitelDie Augen – ein einziges gespanntes GehörVerwendete LiteraturDanksagung
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Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert mit Mitteln der Stadt Wien und der Kunststiftung NRW

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Ljubow Jewgenijewna Beloserskaja gewidmet.[1]

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Es schneite, erst leicht, dann in großen Flocken. Der Wind heulte auf, ein Schneesturm begann. Binnen Sekunden mischte sich der dunkle Himmel mit einem ganzen Meer von Schnee. Alles schwand.

– Nichts zu machen, Gnädiger –, rief der Kutscher, – da braut sich ganz schön was zusammen!

Alexander Puschkin, Die Hauptmannstochter[2]

Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken.

Offenbarung des Johannes, 20,12

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Erster Teil

1.

Ein gewaltiges Jahr, ein furchtbares Jahr war nach Christus das Jahr 1918, nach der Revolution das Jahr 2.[3] Viel Sonne im Sommer, viel Schnee im Winter, und höher als sonst standen am Himmel zwei Sterne: Der Stern der Hirten – die abendliche Venus – und der rote zitternde Mars[4].

Doch die Jahre, ob in Friedens-, ob in Kriegszeiten, sausen pfeilgeschwind dahin, und ehe sich’s die jungen Turbins versahen, begann ein pelziger weißer Dezember. Oh, unser guter Christbaumgreis[5], glitzernd vor Glück und Eiskristallen! Und Mama, lichte Königin, wo bist du nun?

Ein Jahr nachdem Tochter Jelena sich mit dem Hauptmann Sergej Iwanowitsch Thalberg vermählt hatte und in jener Woche, da der älteste Sohn Alexej Wassiljewitsch Turbin nach zermürbenden Feldzügen, Kriegsdienst und Leid zurückgekehrt war in die Ukraine, in die Große Stadt, in sein Heimatnest, ist der weiße Sarg mit Mutters Leichnam die steile Straße vom Alexej-Steig hinab nach Podol[6] getragen worden, zur Kapelle von Nikolaus dem Gütigen[7], welche sich am Bühl befindet.

Die Seelenmesse sang man im Mai, Kirschbäume und Akazien überklebten vollständig die Spitzbogenfenster. Vater Alexander, humpelnd vor Trübsal und Schüchternheit, glänzte und schillerte von all den Lichtlein, und der Diakon, violett an Wangen und Hals, goldgeschmiedet bis an die Spitzen der Stiefel, deren Sohlen knirschten, raunte dumpf brausend die Worte des kirchlichen Lebewohls für Mama, die ihre Kinder verließ.

Alexej, Jelena, Thalberg und Anjuta, die im Haus der Frau Turbin aufwuchs, und auch Nikolka, betäubt vom Tod, einen Haarschopf über der rechten Braue, standen zu Füßen des altersgebräunten Hierarchen Nikolaus[8]. Nikolkas blaue Augen, zu beiden Seiten des langen Vogelschnabels angebracht, blickten verstört, ganz und gar entgeistert. Bisweilen hob er sie zu den Ikonen, zum Bogenaltar, der im Zwielicht ertrank, blinzelte droben den rätselhaft traurigen bärtigen Gott an, der sich emporschwang. Wofür dieser Schlag? Das ist ungerecht! Warum war es nötig, Mama fortzunehmen, als endlich alle zusammenkamen, als es endlich Erleichterung gab?

Gott, der höher und höher flog, hinauf zum schwarzen bröckelnden Himmel, beantwortete die Fragen nicht, dieweil Nikolka noch kaum wissen konnte, dass alles, was auch immer geschieht, so sein soll und stets zum Besten geschieht.

Später, vor der Pforte, auf den dumpfen Platten der Stufen, verabschiedete man Mutter und gab ihr Geleit durch die riesige Stadt zum Friedhof, wo unter dem schwarzen Marmorkreuz schon seit Langem Vater lag. Und Mama wurde unter die Erde gebracht. Oje … oje …

***

Viele Jahre vor diesem Tod hatte im Haus Nr. 13 am Alexej-Steig der Kachelofen im Speisezimmer die Kinder gewärmt und großgezogen – die junge Jelenka, den Ältesten, Alexej, und den noch klitzekleinen Nikolka. Wie oft wurde vor der gluterhitzten Kachelfläche Der Zimmermann von Saardam[9] vorgelesen, spielte die Uhr eine Gavotte, und immer roch es Ende Dezember nach Tannennadeln, und auf den grünen Zweigen brannte vielfarbiges Paraffin. Als Antwort auf die Bronzene mit der Gavotte in Mutters – seit Neuestem Jelenkas – Zimmer, schlug aus dem Speiseraum von der Wand die Schwarze mit geballtem Gebimmel. Gekauft hatte sie Vater damals, als die Damen noch diese Ärmel trugen, mit ulkigen Puffen um die Schultern. Solche Ärmel sind nun Vergangenheit, die Zeit blitzte funkenhaft auf, Vater, der Professor, ist verstorben, alle sind längst erwachsen geworden, aber die Uhr ist dieselbe geblieben und schlägt noch immer mit geballtem Gebimmel. Alle haben sich dermaßen an sie gewöhnt, dass – wäre sie wunderhaft von der Wand verschwunden – alle trauern würden, so als sei eine traute Stimme für immer verstummt, und dann – womit die Leerstelle füllen? Doch zum Glück ist die Uhr ganz und gar unsterblich, unsterblich Der Zimmermann von Saardam, die holländischen Kacheln, ein weiser Felsen, selbst in leidvollsten Zeiten labend und lodernd.

Hier diese Kacheln und diese Möbel mit altem Samt von Karmesin, die Betten mit den schimmernden Zapfen, beriebene Wandbehänge, himbeerrot, bunt, mit dem Zaren Alexej Michajlowitsch[10], einen Jagdfalken auf dem Arm, mit Ludwig XIV., sich aalend am Ufer eines seidenen Sees in einem paradiesischen Garten, türkische Matten mit seltsamen Schnörkeln auf einem orientalischen Feld, welches da dem kleinen Nikolka in Scharlachfieberträumen erschien, die Bronzelampe mit ihrem Schirm, die besten Bücherborde der Welt, mit rätselhaft altem Schokoladenaroma, mit Natascha Rostowa, mit der Hauptmannstochter[11], die vergoldeten Tässchen, das Silber, die Portraits, die Portieren – all die sieben vollgestaubten und vollgestopften Zimmer, wo die jungen Turbins groß geworden, all das hat Mutter in höchster Not ihren Kindern überlassen, und schon atem- und kraftlos, sich in die Hand Jelenas, der Weinenden, verkrallend, brachte sie hervor:

– Lebt hin … in Frieden.

***

Aber wie leben? Leben wie?

Alexej Wassiljewitsch Turbin, der Älteste – der junge Arzt – ist 28. Jelena 24. Ihr Mann, Hauptmann Thalberg 31, Nikolka 17 und ein halb. Ihr Leben ist bereits im Aufgehen gebrochen. Seit Langem rauscht Schneegestöber vom Norden her, es rauscht unaufhörlich, je länger, je ärger. Da kehrt der älteste Turbin zurück in sein trautes Heim nach dem ersten Schlag, der die Berge über dem Dnepr erschütterte. Denkt sich, nun gut, bald ist es vorbei, dann beginnt das Leben, das beschrieben ist in diesen ganzen Schokoladenbüchern, doch von wegen, nicht nur weigert es sich zu beginnen, sondern rings wird es schlimmer und schlimmer. Im Norden, da heult und heult der Sturm, und hier unter den Füßen brummt es nur dumpf, knurrt der beunruhigte Erdengrund. Das Jahr 18 eilt seinem Ende zu, schaut täglich drohender und borstiger drein.

***

So wird einst einstürzen die Wand, fortflattern der aufgescheuchte Falke vom weißen Ärmel des Zaren, ersticken wird das Feuer in der bronzenen Lampe, und die Hauptmannstochter im Ofen verbrannt. Sagte nicht Mutter den Kindern:

– Lebt.

Doch was ihnen bleibt, ist die Qual und das Sterben.

Irgendwann in der Dämmerung, bald nach Mutters Bestattung, ging Alexej Turbin zu Vater Alexander und sagte:

– Traurig, das alles, Vater Alexander. Schon Mutter zu vergessen, war mühsam genug, und dann noch diese aufreibenden Zeiten … Vor allem dachte ich, jetzt, da ich zurück bin, hätten wir das Leben wieder im Griff, aber nein …

Und er verstummte, gestützt auf den Tisch, grübelte in der Dämmerung, starrte ins Weite. Das Gezweig auf dem Kirchhof überdeckte auch das Häuschen des Priesters. Und es schien, gleich dort, hinter der Wand des beengenden Büros, zugestellt mit Büchern, beginnt ein wirrer, geheimnisumwitterter Frühlingswald. Abendlich dumpf lärmte die Stadt, es roch nach Flieder.

– Je nun, je nun –, faselte der Priester konfus. (Es machte ihn konfus, mit Menschen reden zu müssen.) – Wenn es Gott gefällt.

– Hört das irgendwann auf? Später wird es doch besser, nicht wahr? –, fragte Turbin wen auch immer.

Der Priester im Sessel bewegte sich.

– Was soll man sagen, es sind aufreibende Zeiten –, faselte er, – doch kein Grund zur Sorge …

Plötzlich drückte er eine weiße Hand, befreit aus dem dunklen Ärmel der Robe, auf den Stapel von Büchern, schlug das oberste auf, dort, wo ein besticktes buntes Lesezeichen eingelegt war.

– Die Sorge sollte man nicht an sich heranlassen –, sagte er, zwar immer noch konfus, doch andererseits auch mit sehr viel Nachdruck. – Sich Sorgen zu machen, ist eine schwere Sünde …[12] Wobei ich aber eher den Eindruck habe, die eigentlichen Prüfungen stehen noch an. Oh ja, oh ja, gewaltige Prüfungen –, er redete mit wachsender Überzeugung. – Wissen Sie, ich brüte in letzter Zeit immer mehr über diversen Büchern, das meiste natürlich Fachliteratur, theologischer Art, wenn Sie verstehen …

Er hob das Buch derart, dass der letzte Strahl, der vom Fenster kam, auf die Seite fiel, und las:

»Und der dritte Engel goß aus seine Schale in die Wasserströme und in die Wasserbrunnen; und es ward Blut.«[13]

2.

Es war also ein pelziger weißer Dezember. Der sich rasant seinem Mittelpunkt näherte. Auf den verschneiten Straßen lag bereits ein Anflug von Weihnachten. Bald ist das Jahr 18 zu Ende.

Über dem einstöckigen Haus Nr. 13[14], einem bemerkenswerten Bauwerk (die Wohnung der Turbins ging mit der ersten Etage zur Straße hinaus, jedoch mit dem Erdgeschoss zum kleinen krummen und gemütlichen Hof), im Garten, welcher sich um den steilsten Felssteig herum knetete, sind sämtliche Zweige an den Bäumen pfotig geworden und hingen nur schlapp. Der Berg wurde regelrecht überstreut, die Schuppen im Hof zugeschüttet, was entstand, war ein riesiger Zuckerhut. Auf das Haus senkte sich die Mütze des weißen Generals, und im unteren Stock (zur Straße hin das Erdgeschoss, zum Hof unter der Veranda der Turbins hin der Keller) schillerte mit schwächlichem gelblichem Lichtlein der Ingenieur und Feigling, der Bourgeois und Unsympath Wassilij Iwanowitsch Lissowitsch, und im oberen, voller Freude und Kraft, leuchteten auf die Turbinschen Fenster.

In der Dämmerung begaben sich Alexej und Nikolka in den Schuppen, um Holz zu holen.

– Oje, oje, das Brennholz, verflixt wenig da. Schau nur, ist wohl wieder geklaut worden heute.

Aus Nikolkas elektrischer Taschenlampe bricht ein blauer Kegel hervor, und darin ist zu sehen: Die Außenverkleidung, ganz eindeutig vor Kurzem von der Wand gerissen und von außen wieder hastig befestigt.

– Abknallen sollte man das Gesindel! Ich meine es ernst. Lass uns heut Nacht einmal gemeinsam Wache halten! Bin mir ziemlich sicher: Es waren diese Stümper aus Nummer 11. Was sind das doch wieder für miese Gestalten! Sie haben eh viel mehr Brennholz als wir.

– Vergiss sie … Gehen wir. Jetzt pack mit an.

Der rostige Riegel erhob einen Singsang, ein Stoß Klötze kullerte hervor auf die Brüder, dann wurden die Scheite fortgeschleppt. Gegen neun Uhr abends ließen sich die Kacheln von Saardam kaum noch berühren.

Der höchst bemerkenswerte Ofen trug auf seiner blendenden Oberfläche folgende historische Notizen und Zeichnungen, ausgeführt mit Tusche zu verschiedenen Zeiten des Jahres 1918 von der Hand Nikolkas und voller Sinn und Bedeutung.

Wenn man dir sagt, die Alliierten werden schon helfen – dann glaube es nicht. Die Alliierten sind Schweinehunde.[15]

 

Er ist mehr für die Bolschewiken.

 

Eine Zeichnung:

      Die Visage des Momos[16].

Unterschrift:

     Der Ulan Leonid Jurjewitsch.

 

Vernehmt die drohend finstre Kunde:

Es nahn die Kommunistenhunde!

 

Eine Zeichnung in Farbe:

Ein Kopf mit schlapp herabhängenden Ohren, in einer Papacha[17] mit blauem Schweif.

Darunter:

    Schlagt Petljura![18]

Die Hände Jelenas und all der zarten guten alten Turbinschen Freunde – Scherwinski, Myschlajewski, die Karausche – notierten hier mit Farbe, Tusche, Tinte sowie dem Saft von Kirschen:

Jelena Wassiljewna est très-gentile-jewna.

 

Kom mu ne? oder: Kom me nie?[19]

 

Lenotschka, ich habe Karten für Aida.[20]

8. Aufgang rechts.

 

1918, im Mai, um 12 Uhr habe ich mein Herz verloren.

 

Sie sind mir zu dick und zu hässlich.

 

Gnade, sonst gebe ich mir die Kugel!

(Darunter eine Browning, sehr treffend gezeichnet.)

Hoch lebe Russland!

Hoch lebe der Zar!

 

Juni. Die Barkarole.[21]

Aus gutem Grund vergisst kein Russe

das Borodiner Feld.[22]

In Druckbuchstaben von Nikolkas Hand:

No hob ich befojln jeder Frejnd, boj Strof von Tojt und Aweknehmen von alle Recht, in die Ojfn nischt schraibn lojter Narischkajt. Kommissar des Kreises Podolsk. Damenschneider für Mann und Weib, Moische Mandelbaum.[23]

30. Januar, 1918

Die bemalten Kacheln sind glühend heiß, die schwarze Uhr tickt noch genauso wie vor dreißig Jahren: Tink-tonk. Turbin, der Ältere, glatt rasiert, hellhaarig, ergrimmt und gealtert seit dem 25. Oktober 1917[24], in einem Feldrock mit riesigen Taschen, einer blauen Reithose und weichen Hausschuhen in seiner Lieblingspose – im Sessel, die Beine angezogen. Auf dem Bänkchen daneben Nikolka mit Haarschopf, der hat seine Beine ausgestreckt, fast bis zum Schrank – das Speisezimmer ist klein. Er trägt Stiefel mit Metallschnallen. Nikolkas Liebste, die Gitarre, ein zartes und dumpfes Klimper-Klamper … Ein recht undeutliches Klimper-Klamper … Meine Güte, denn noch ist ja nichts gewiss. In der Großen Stadt ist es irgendwie unruhig, vernebelt, ganz und gar ungemütlich …

An Nikolkas Schultern sind Achselstücke mit weißen Tressen, am linken Ärmel ein Chevron[25] in drei Farben mit spitzem Winkel. (1. Infanterie-Bataillon, 3. Abteilung. Formiert seit drei Tagen, angesichts der kommenden Ereignisse.)

Aber all den Ereignissen zum Trotz, ist es im Speisezimmer doch eigentlich herrlich. Es ist heiß, es ist heimelig, zugezogen sind die cremefarbenen Vorhänge. Und die Hitze der Glut wärmt die Brüder und macht sie matt und macht sie schlaff.

Der Älteste schmeißt das Buch hin.

– Los, spiel einmal Die Erkundung[26].

Und Klimper und Klamper und Klimper und Klamper.

Wir sind Blankgestriegelte,

wir sind Glattgeschniegelte,

auf, Ingenieure, vorwärts marschiert!

Und der Ältere stimmt mit ein. Die Augen ergrimmt, doch in ihnen flackert’s, mit jeder Faser fängt er Feuer. Aber sachte, meine Herren, immer schön sachte.

Grüßt euch, ihr Damen,

grüßt euch, ihr Herren …

Jetzt hat die Gitarre Schritt gefasst, den Saiten entschwirrt eine Kompanie, die Ingenieure marschieren, links, rechts, schwenkt! Nikolkas Augen erinnern sich:

Die Militärschule.[27] Bröckelnde Alexandersäulen[28], Kanonen. Die Fahnenjunker, auf ihren Bäuchen, kriechen von Fenster zu Fenster, schießen. In den Fenstern Maschinengewehre.

Ein Haufen Soldaten umzingelt das Haus, also jetzt wirklich buchstäblich ein Haufen. Was willst du machen. General Bogoroditzki kriegt weiche Knie und ergibt sich, zusammen mit den Fahnenjunkern. Einfach nur paaainlich! …

Grüßt euch ihr Damen,

grüßt euch ihr Herren,

unsere Übungen fangen jetzt an.

Nikolkas Augen vernebeln sich.

Säulen von Schwüle über dem güldenen ukrainischen Ackerland.[29] Durch den Staub ziehen mit Staub überstreute Kompanien der Fahnenjunker. Ist alles gewesen, ist alles vorbei. Einfach nur peinlich. Einfach nur Humbug.

Jelena zog die Portiere beiseite, und in dem schwarzen Zwischenraum erschien ihr rötlich-blonder Kopf. Den Brüdern sandte sie einen sanften Blick, der Uhr einen sehr, sehr besorgten. Kein Wunder. Thalberg, wo steckt er bloß? Ganz schön aufgewühlt, Schwesterherz.

Wollte mit einstimmen, um es zu verstecken, doch hielt plötzlich inne und hob den Finger:

– Augenblick mal. Hört ihr das auch?

Abbrach der Gleichschritt der Kompanie auf allen sieben Saiten: Abteilung – Halt! Alle drei horchten und stellten fest – richtig, Kanonen. Schwer, dumpf und fern. Da, schon wieder: Ein Bu-u-uh … Nikolka tat die Gitarre fort, fuhr hoch, und ihm nach Alexej, krächzend.

Im Salon, dem Empfangszimmer, war’s stockfinster. Nikolka stieß mit dem Stuhl zusammen. Vor den Fenstern eine regelrechte Opernaufführung Die Nacht vor Weihnachten[30], das Original – Schnee und Lichter. Ein Zittern, ein Schillern. Nikolka drückte die Stirn ans Glas. Aus den Augen schwand die Schwüle, die Schule, die Augen – ein einziges gespanntes Gehör. Wo? Es zuckten die Junkernschultern.

– Weiß der Kuckuck. Es klingt, als käm es von Swjatoschino[31]. Komisch, es kann nicht so nahe sein.

Alexej ist im Finstern, und Jelena rückt näher ans Fenster, die Augen erschrocken schwarz. Warum ist Thalberg noch immer nicht da? Der Ältere spürt ihre Aufregung, darum spricht er kein Wort, obwohl er es will. Ja, in Swjatoschino, klarer Fall. 12 Werst vor der Stadt, kaum weiter. Verdammt, was soll das?

Nikolka greift nach dem Fensterriegel, die andere Hand stemmt sich gegen die Scheibe, als wollte er sie hinauspressen, und bekommt eine platte Nase.

– Es würde mich schon reizen, dahin zu fahren. Mal sehen, was da los ist …

– Du hast da gerade noch gefehlt …

Jelena redet kummervoll. So ein Jammer aber auch. Wollte der Gatte nicht allerspätestens – wohlgemerkt: allerspätestens – um drei zurück sein? Jetzt ist es zehn.

Und schweigend zurück ins Speisezimmer. Auch die Gitarre schweigt schwermütig. Nikolka schleppt den Samowar an, der da schaurig trällert und schlabbert. Auf dem Tisch sind Tassen, zart geblümt außen, innen golden, es sind ganz besondere, in der Art von kleinen Figurensäulchen. Zu Mutters, Anna Wladimirownas, Zeiten zählten sie noch zum Festtagsgeschirr, jetzt trinken die Kinder tagtäglich daraus. Die Decke ist, trotz der Kanonen, trotz dieser ganzen Unwägbarkeiten, Sorgen und Humbug, weiß und gestärkt. Alles Jelenas Werk, sie kann nicht anders, auch Anjutas, die da aufwuchs im Haus der Turbins. Der Tuchrand glänzt, und jetzt im Dezember stecken in der matten gesäulten Vase auf dem Tisch blaue Hortensien und zwei düster flammende Rosen, als Bejahung von Schönheit und Lebensmut, und das, obwohl der grimmige Feind immer näher und näher rückt, um die Große Stadt einzunehmen, und durchaus in der Lage ist, die prächtige Stadt aus Schnee zu zerschlagen und die Scherben des Friedens mit Stiefeln zu treten. Blumen. Die Blumen sind eine Gabe von Jelenas treuem Kavalier, dem Oberleutnant der Garde Leonid Jurjewitsch Scherwinski, einem Freund der Verkäuferin in der berühmten Confiserie Marquise, einem Freund der Verkäuferin im gemütlichen Blumenlädchen Flora von Nizza. Im Schatten der Hortensien eine Untertasse mit blauem Muster, ein paar Scheiben Wurst, Butter in transparenter Dose, im Gebäckkorb ein Messer mit Ornament und ein weißer länglicher Brotlaib. Jetzt hätte man so schön was essen können, dazu noch ein feines Tässchen Tee, wenn nicht diese Umstände … Oje … oje …

Auf der Kanne hockt rittlings ein bunter Gockel aus grober Wolle, und im polierten Rumpf des Samowars glänzen die drei verunstalteten Turbinschen Gesichter, und Nikolka hat Wangen wie Momos.

Jelenas Augen sind voll Trübsal, die Strähnen, vom rötlichen Feuer umschliert, hängen wehmütig herab.

Thalberg ist irgendwo steckengeblieben mit seinem hetmanschen Geldzug und hat allen gründlich den Abend verdorben. Weiß der Geier, ihm wird doch nicht etwa rein zufällig irgendwas zugestoßen sein? … Lau kauen die Brüder die Butterbrote. Vor Jelena eine kalt gewordene Tasse und Der Herr aus San Francisco.[32] Die vernebelten Augen schauen blind die Wörter an:

»… das Dunkel, den Ozean, den Sturm.«

Nein, Jelena liest nicht.

Schließlich hält es Nikolka nicht aus:

– Wüsste gern, warum die so nahe schießen. Das kann doch nicht sein, dass …

Unterbrach sich selbst und wurde bei der Bewegung vom Samowar verunstaltet.[33] Pause. Der Zeiger überquert die Zwei und – Tink-tonk – nähert sich Viertel nach zehn.

– Die schießen, weil die Deutschen Schurken sind –, brummt unerwartet der Ältere.

Jelena hebt den Kopf zur Uhr und fragt:

– Wollen die uns etwa unserem Los überlassen? – Ihre Stimme klingt kläglich.

Wie auf Kommando wenden die Brüder ihre Köpfe und beginnen zu lügen.

– Ich weiß von nichts –, sagt Nikolka und benagt eine Scheibe.

– Ich sagte das nur so, hmm … rein hypothetisch. Sind bloß Gerüchte.

– Keine Gerüchte –, antwortet Jelena hartnäckig, – das ist kein Gerücht, vielmehr eine Tatsache; ich habe heute die Schtscheglowa gesehen, sie hat mir gesagt, aus Borodjanka seien zwei deutsche Regimenter abgezogen worden.

– Ach, Unsinn.

– Denk einmal nach –, beginnt der Ältere, – ist es vorstellbar, dass die Deutschen diesen Mistkerl so nahe an die Stadt heranlassen? Denk einmal nach. Ich wüsste nicht, wie sie mit ihm auch nur eine Sekunde klarkommen könnten. Ist doch absurd. Die Deutschen und Petljura. Für sie selbst ist er immer nur ein Halunke. Ist doch lächerlich.

– Was redest du da. Ich kenne deine Deutschen. Hab schon welche mit roten Bändern gesehen.[34] Und einen Unteroffizier, betrunken, mit einem Frauenzimmer. Das Frauenzimmer war auch betrunken.

– Was heißt das schon? Dekadenzerscheinungen, kommt in den besten Familien vor, vereinzelt sogar in der deutschen Armee.

– Also glaubt ihr, Petljura bleibt uns erspart?

– Hmm … Da bin ich mir ziemlich sicher.

– Absolument. Noch ein Tässchen bitte. Und reg dich nicht auf. Wie heißt es so schön: Ruhe bewahren.

– Aber mein Gott, wo ist Sergej? Die haben bestimmt den Zug überfallen und …

– Und was? Mach dich nicht verrückt. Die Strecke ist doch vollkommen frei.

– Und wo ist er dann?

– Ach, du meine Güte! Als wüsstest du es selber nicht. Ich vermute, sie müssen auf jeder Station vier geschlagene Stunden warten.

– Das nennt man revolutionäres Reisen. Eine Stunde Fahrt, zwei Stunden Warten.

Jelena seufzte nur schwer, warf einen Blick auf die Uhr, schwieg und redete weiter:

– Mein Gott, mein Gott! Wären die Deutschen nicht so hinterhältig, dann gäbe es auch keinen Grund zur Sorge. Zwei ihrer Regimenter reichen aus, diesem eurem Petljura den Garaus zu machen. Nein, wie ich sehe, spielen sie wieder einmal irgendein übles doppeltes Spiel. Und wo bleiben die viel gepriesenen Alliierten? Oh, diese Schurken. Die haben doch versprochen …

Der Samowar hatte bislang geschwiegen, fing aber plötzlich zu singen an, und die Kohle, getönt mit ergrauter Asche, trat heraus und rieselte aufs Tablett. Die Brüder sahen lustlos zum Ofen herüber. Die Antwort – da steht sie. S’il vous plaît:[35]

Die Alliierten sind Schweinehunde.

Der Zeiger rückte auf Viertel nach, die Uhr krächzte solide, machte Ping, und gleich erwiderte dem Geschepper ein langgezogener Ton oben in der Diele.

– Na, Gott sei Dank, das ist Sergej –, sagte fröhlich der Ältere.

– Das ist Thalberg –, bekräftigte Nikolka und eilte zur Tür, um aufzusperren. Jelenas Wangen röteten sich, sie sprang auf.

***

Aber von wegen, es war nicht Thalberg. Drei Türen polterten, und dumpf erscholl auf der Treppe Nikolkas erstaunte Stimme. Dann noch eine Stimme. Den Stimmen folgte auf der Treppe Gestampf von beschlagenen Stiefeln, und ein Gewehrkolben schlug auf. Die Tür zur Diele ließ Frost herein, und vor Alexej und Jelena erstand eine wuchtige breitschultrige Gestalt im Soldatenmantel bis an die Sohlen, mit Stoffepauletten und darauf drei Oberleutnantssterne mit Kopierstift gezeichnet. Die Kapuze bereift, das gewichtige Gewehr mit dem braunen Bajonett erstreckte sich über die gesamte Diele.

– Grüß euch –, trällerte die Gestalt mit heiserem Tenor, und die stocksteifen Finger verkrallten sich in der Kapuze.

– Witja!

Nikolka half der Gestalt, die Enden zu lösen, die Kapuze glitt ab, unter der Kapuze der Fladen einer Offiziersmütze mit schwarz angelaufener Kokarde, und schon erschien über den riesigen Schultern der Kopf von Oberleutnant Wiktor Wiktorowitsch Myschlajewski. Dieser Kopf war überaus schön, war von seltsamer trauriger faszinierender Schönheit, zeigte einstige Rasse und Verfall. Schönheit lag in den unterschiedlich gefärbten furchtlosen Augen, in den langen Wimpern. Die Nase leicht krumm, die Lippen blasiert, die Stirn blank weiß, ohne besondere Merkmale. Doch da – es neigt sich voll Wehmut der Mundwinkel, und das Kinn ist ein wenig schräg geschnitten, so als hätte der Bildhauer, welcher da ein aristokratisches Gesicht modellierte, plötzlich den bizarren Einfall gehabt, etwas von der Tonschicht abzubeißen, um dem männlichen tapferen Gesicht ein winziges und unregelmäßiges weibliches Kinn zurückzulassen.

– Wo kommst denn du auf einmal her?

– Wo kommst du her?

– Vorsichtig –, antwortete schwach Myschlajewski, – sonst platzt sie noch. Die Schnapsflasche.

Fürsorglich hängte Nikolka den schweren Soldatenmantel auf, aus dessen Tasche ein in Zeitung eingewickelter Glashals hervorschaute. Hängte dann die schwere Mauser mit dem hölzernen Holster[36] auf, dass der Hirschgeweihständer erzitterte. Erst jetzt wandte sich Myschlajewski Jelena zu, küsste die Hand und sagte:

– Vom Roten Gasthof.[37] Darf ich bei euch übernachten, Lena? Ich schaff’s nicht nach Hause.

– Mein Gott, selbstverständlich.

Mit einem Mal stöhnte Myschlajewski auf, hatte vor, die Hände anzuhauchen, aber die Lippen gehorchten nicht. Die weißen Brauen und der vom Raureif ergraute Samtstreifen des gestutzten Schnurrbarts begannen zu tauen, das Gesicht wurde nass. Turbin der Ältere öffnete ein paar Knöpfe seines Feldrocks, fuchtelte ein wenig entlang der Naht und holte ein schmutziges Hemd hervor.

– Na, bitte … Alles voll. Die krabbeln nur so.

– Folgendes –, die aufgescheuchte Jelena fing an, sich zu rühren und vergaß Thalberg für einen Augenblick. – Nikolka, dort in der Küche ist Brennholz. Lauf schnell und heiz mal das Bad an. Ein Jammer, dass Anjuta heute Ausgang hat. Los, Alexej, zieh ihm den Feldrock aus.

Im Speisezimmer bei den Kacheln ließ Myschlajewski seinem Stöhnen freien Lauf und stürzte geradezu auf den Stuhl. Jelena hastete um ihn herum, ihr Schlüsselbund klirrte. Turbin und Nikolka zogen kniend Myschlajewski die schmalen feschen Stiefel mit Metallschnallen an den Waden aus.

– Ah, tut das gut … Tut das gut …

Ausgewickelt die ekligen fleckigen Fußlappen. Darunter seidene lila Socken. Den Feldrock entfernte Nikolka sofort, auf die kalte Veranda – verreckt, ihr Läuse. Myschlajewski im äußerst verdreckten Batisthemd, bekreuzigt von schwarzen Hosenträgern, in blauen Bridges mit Verschnürung, wurde schmächtig und schwarz, wurde krank und schäbig. Und die aufgeblauten Handflächen klapperten platschend die Kacheln ab.

Finstr… Kund …

Kommunist… hund …

Herz … verlor …

– Was sind das bloß für Menschen! –, rief Turbin. – Sie hätten euch doch wenigstens mit Filzstiefeln und Pelzjoppen ausstatten können.

– Filzstiiie…fel –, äffte Myschlajewski winselnd nach. – Filzstie…

Hände und Füße wurden in der Wärme zerschlitzt von unerträglichem Schmerz. Als er schließlich Jelenas Schritte in der Küche verklingen hörte, schrie Myschlajewski grimmig und jämmerlich:

– Ein Sauhaufen!

Kippte, vom Krampf befallen und schnaufend, wies auf die Socken und stöhnte auf:

– Zieht sie aus, zieht sie aus, zieht sie aus …

Es roch scheußlich, nach vergälltem Spiritus, in der Schüssel schmolz ein Berg voll Schnee, von einem kleinen Weinglas, gefüllt mit Schnaps, wurde Oberleutnant Myschlajewski auf der Stelle betrunken, dass der Blick erlosch.

– Mein Gott, wird man’s wirklich amputieren müssen? – Und verbittert wippte er auf dem Stuhl.

– Ach was. Ist alles nur halb so schlimm. Ah. Hast dir den großen Zeh abgefroren. Ah … Es wird schon. Und diesen Zeh auch.

Nikolka ging in die Hocke und zog ihm frische schwarze Strümpfe an, die hölzernen starren Hände Myschlajewskis krochen in die Ärmel des zottligen Bademantels. Auf den Wangen entfalteten sich flammende Male, und, verkrümmt und in frischer Wäsche, im Bademantel, wurde aufgeweicht, wurde belebt der gefrorene Oberleutnant Myschlajewski. Zornige rohe Flüche hüpften wie Hagelkörner auf dem Fensterbrett. Zur eigenen Nasenspitze schielend, empörte er sich in derben Worten über den Stab in einem Waggon der ersten Klasse, dann über irgendeinen Oberst Schtschotkin, den Frost, Petljura, und die Deutschen, und den Sturm, und hörte erst auf, als er dero Gnaden, den Hetman der Ukraine[38] höchstpersönlich mit dem deftigsten Gossengegeifer bedacht hatte.

Alexej und Nikolka schauten, wie der auftauende Oberleutnant mit den Zähnen klapperte, und riefen nur hie und da ihr »Ach so, ach so«.

– Der Hetman, wie? Diese Rattensau! –, knurrte Myschlajewski – Ein Chevaliergarde, wie?[39] Haust in einem Palast! Und wir werden losgeschickt so wie wir sind. Wie? Vierundzwanzig Stunden lang draußen, bei Eis und Schnee … Großer Gott! Ich glaubte schon, wir gehen alle drauf … Zur Hölle nochmal! Zweihundert Meter von Offizier zu Offizier – und das nennen sie eine Kette bilden?

– Jetzt sei mal kurz still –, sprach Turbin, vom Geschimpfe langsam um den Verstand gebracht, – sag, wer ist denn dort, am Roten Gasthof?

– Tja! –, Myschlajewski winkte ab. – Wer kann das schon mit Gewissheit sagen? Weiß du, wie viele wir am Gasthof waren? Vierzig Mann. Und da kommt auf einmal dieses Luder, dieser Oberst Schtschotkin, und sagt (da verzog Myschlajewski das Gesicht, um den ihm tief verhassten Oberst Schtschotkin darzustellen, und sprach mit einem widerlich tschilpenden Stimmchen): »Ihr Herren Offiziere, ihr seid die letzte Hoffnung der Großen Stadt. Enttäuscht nicht die Erwartungen der im Sterben liegenden Mutter aller russischen Städte, zeigt sich der Gegner – geht über zum Angriff, Gott ist mit uns! In sechs Stunden lass ich euch ablösen. Aber seid sparsam mit den Patronen …« (Weiter sprach Myschlajewski mit seiner gewöhnlichen Stimme.) – Und zischt ab mit seinem Automobil in Begleitung des Adjutanten. Es ist arschdunkel! Es ist arschkalt. Es sticht wie mit Nadeln.

– Mein Gott, wer ist denn da, am Roten Gasthof? Doch nicht etwa Petljura, oder?

– Ach, weiß der Kuckuck! Jedenfalls sind wir am Morgen beinahe übergeschnappt. Nach Mitternacht warten wir auf die Ablösung … Arme und Beine wie abgefallen. Ablösung? Von wegen. Feuermachen ist, versteht sich von selbst, nicht drin, das Dorf ist zwei Werst entfernt, der Gasthof eine Werst. Nachts scheint der Acker von Leben erfüllt. Du glaubst, die schleichen sich schon heran … Also, was tun? … Du packst das Gewehr – was tun, schießen oder nicht schießen? Ich meine, es reizt dich. Du heulst wie ein Wolf. Du rufst – aus der Kette hallt es zurück. Also verschanze ich mich im Schnee, schaufel mir mit dem Kolben ein Grab, steig hinein, versuche, nicht einzuschlafen: Schläfst du ein – bist du mausetot. Am Morgen halt ich es nicht mehr aus, merke – ich trete allmählich weg. Und weißt du, was mich gerettet hat? Die Maschinengewehre. In der Dämmerung hör ich’s auf drei Werst Entfernung rattern! Aber stell dir vor, keine Kraft aufzustehen. Und nun brausen die Kanonen los. Ich robbe mich hoch, jedes Bein wie von Blei: »Na bitte, bestens, Petljura beehrt uns.« Also ziehen wir die Kette ein bisschen enger, rufen uns zu. Beschließen: Sollte was sein, bilden wir einen Haufen, ballern uns frei, rücken ab Richtung Stadt. Haben wir Pech, dann haben wir Pech. Wenigstens bleiben wir beisammen. Und stell dir vor – es beruhigt sich. Morgens beginnen wir, immer zu dritt, in den Gasthof zu laufen, um uns zu wärmen. Und was glaubst du, wann die Ablösung kommt? Heute gegen zwei Uhr nachmittags. Vom Ersten Bataillon an die zweihundert Junker. Und weißt du, überaus prächtig ausstaffiert – Pelzmützen, Filzstiefel, Maschinengewehre. Gebracht hat sie Oberst Nay-Tours[40].

– Ah! Einer von uns! –, rief Nikolka.

– Warte mal, war das nicht einer von den Belgrader Husaren[41]? –, fragte Turbin.

– Ja, richtig, ein Husar … Verstehst du, die sehen uns an und sind einfach baff: »Wir dachten, ihr seid hier zwei, drei Kompanien, mit Maschinengewehren, dass ihr es überhaupt geschafft habt!«

Es stellt sich heraus, dieses Gedonner, das waren Horden, die Serebrjanka[42] überfallen hatten, an die tausend Mann, eine Offensive. Ein Glück, die wussten nichts von unserer mickrigen Kette, sonst kannst du dir leicht ausmalen, diese ganze Meute hätte einen Abstecher in die Große Stadt gemacht. Ein Glück, die anderen hatten Kontakt mit Post-Wolynski[43] – man gab es durch, darauf bekamen sie von irgendeiner Batterie eine kräftige Ladung Schrapnelle, das nahm ihnen ein wenig die Luft aus den Segeln, und so mussten sie sich unverrichteter Dinge zum Teufel scheren.

– Wer war es denn nun? Doch nicht etwa Petljura? Das kann nicht sein.

– Ach, weiß der Geier. Ich tippe eher auf die hiesigen Bauernlümmel, diese Dostojewski-Gottesträger![44] … Pfui Deibel … Dieses verdammte Gesocks!

– Du meine Güte!

– Tja –, röchelte Myschlajewski und lutschte an seiner Zigarette, – so wurden wir Gott sei Dank abgelöst. Zählen nach: ganze achtunddreißig. Na, herzlichen Glückwunsch: Zwei Mann erfroren. Verflixt. Und zwei weitere eingesammelt, die kriegen die Beine amputiert …

– Wie! Also wirklich zu Tode erfroren?

– Na freilich, was denkst denn du. Ein Fähnrich und ein Offizier. Und in Popeljucha[45], das ist unterhalb des Gasthofs, ist es noch sehr viel hübscher gekommen. Wir schleppen uns hin, Unterleutnant Krassin und ich, um einen Schlitten zu holen, für die Gefrosteten, meine ich. Das Dorf leergefegt – keine Sterbensseele. Kommt so ein Opa herausgehumpelt, in einem Schafspelz, mit einem Stöckchen. Stell dir vor, der erblickt uns und strahlt. Schon spüre ich, da ist doch was faul. Was ist das bloß, frage ich mich. Was grinst dieser alte Sack von einem Gottesträger: »Ihr jungen Burschn … ihr jungen Burschn …« Und ich zu ihm, mit dem süßesten Stimmchen: »Grüß dich, Großvater, wo bleiben die Schlitten.« Und er: »Nix da. Das Offizierspack hat sie nach Post-Wolynski gebracht.« Also zwinker ich Krassin zu und frage: »Aha. Das Offizierspack, sagst du? Und wo sind eure Leute?« Darauf sagt der Alte, diese Plaudertasche, doch tatsächlich: »Sind allähsamt zu Petljura gählaufen.«[46] Na? Wie gefällt dir das? Blind wie der ist, bemerkt er die Schulterstücke nicht, die wir unter den Kapuzen tragen, und hält uns für Petljuras Bande. Da ist mir dann bald der Kragen geplatzt … Es ist eiskalt … Ich bin ganz schön sauer … Ich pack diesen Opa am Schlafittchen, dass er beinahe sein armes Seelchen aushaucht, und schrei: »Sind allesamt zu Petljura gelaufen? Ich knall dich ab, wie gefällt dir das? Dann weißt du, wie man zu Petljura läuft! Du läufst mir schnurstracks ins Himmelreich, Drecksau!« Alles klar, der geheiligte Ackerbauer, Sämann und erhabene Hüter der Flamme (da ließ Myschlajewski ein schlimmes Schimpfwort wie eine Steinlawine prasseln) ist auf der Stelle hellwach geworden. Stürzt auf die Knie und krakeelt: »Bitte, bitte, Hochwohlgeboren, vergebt dem halbblinden blöden Greis, ihr kriegt eure Pferde, und zwar sofort, nur bitte, bitte, lasst mich leben!« Da fanden sich auch gleich so Pferde wie Schlitten.

Also, in der Dämmerung sind wir in Post. Was sich da abspielt – spottet jeder Beschreibung. Auf der Eisenbahnstrecke vier Batterien, und nicht eine davon ist kampfbereit, denn es stellt sich heraus: Denen fehlen die Geschosse. Überall hast du Kommandostäbe. Aber kein Schwein weiß was. Vor allen Dingen – wohin mit den Toten! Nun finden wir den Wagen mit den Sanitätern, ob du’s glaubst oder nicht, wir müssen die zwingen, die Leichen aufzuladen, die wollen und wollen sie nicht mitnehmen: »Bringt die doch selber in die Stadt.« Da aber werden wir fuchsteufelswild. Krassin, der ist so kurz davor, einen vom Stab kaltzumachen. Und der darauf: »Sind Petljura-Mätzchen.« Und macht die Fliege. Erst gegen Abend entdecke ich den Waggon von Schtschotkin. Erster Klasse, voll elektrisiert … Und was glaubst du? Da steht so ein Lakai, so eine Art Offiziersbursche, und lässt keinen hinein. Na, wie findest du das? Sagt: »Die geruhen alle zu schlafen. Hab den Befehl, keinen vorzulassen.« Da trommel ich mit dem Kolben gegen die Wand, und mir nach machen alle einen solchen Radau, dass die aus ihren Abteilen nur so herauskullern. Kommt auch Schtschotkin hervor und beginnt zu winseln: »Ach, du meine Güte. Ja, natürlich. Gleich. He, Ordonnanz, Suppe, Cognac. Gleich seid ihr alle untergebracht. G-ganz entspannt. Helden seid ihr. Ach, welch ein Verlust, aber was willst du tun – es ist Krieg! Bin selbst fertig …« Und hat dabei eine prächtige Schnapsfahne. A-a-ah! – Myschlajewski gähnte plötzlich, ließ die Nase hängen. Brabbelte schläfrig:

– Die Einheit bekommt einen beheizten Waggon und einen Ofen … O-oh! Hab mächtig Schwein gehabt. Offenbar wollte er mich loswerden nach dieser Geschichte mit dem Gepolter. »Sie, Leutnant, kommandiere ich in die Stadt. Und zwar zum Stab von General Kartusow[47]. Bitte, sich dort zu melden. He-e-e! Also ich ruckzuck in die Lok … Stocksteif … Tamaras Schloss[48] … ’nen Schnaps …

Myschlajewski ließ die Zigarette fallen, kippte nach hinten und begann zu schnarchen.

– So ist’s brav –, sagte verwirrt Nikolka.

– Wo ist Jelena? –, fragte besorgt der Ältere. – Der braucht eine Bettdecke und bring ihn ins Bad.

Jelena aber weinte indessen im Kämmerlein neben der Küche, wo hinter dem Vorhang aus Kattun in dem Badeöfchen die Flamme der trocknen zerhackten Birke zuckte. Die kleine heisere Küchenuhr zeigte klapprig die elfte Stunde. Und da erschien auch der tote Thalberg. Natürlich, der Zug ist beschossen worden, die Eskorte zerschlagen, und auf dem Schnee ringsum verspritztes Blut und Hirn. Jelena hockte im Halbdunkeln, der zerknitterte Haarkranz von Flammen erhellt, Tränen rannen die Wangen herab. Sie haben ihn getötet. Sie haben ihn getötet …

Und da vibrierte ein leises Klingeln, überrieselte die gesamte Wohnung. Und Jelena – im Sausewind durch die Küche und durch die dunkle Bibliothek, ins Speisezimmer. Und die Lichter noch greller. Und die schwarze Uhr schlug und tickte und ging rauf und runter.

Doch Nikolka und der Ältere erloschen sehr bald nach dem ersten Freudenausbruch. Überhaupt galt die Freude mehr Jelena. Unschön wirkten auf die Brüder die keilförmigen, vom hetmanschen Kriegsministerium verliehenen Schulterstücke Thalbergs. Aber noch vor den Schulterstücken, eigentlich gleich nach Jelenas Hochzeit, bildete sich in der Blumenvase des Turbinschen Lebens ein Sprung, durch den, irgendwie still und heimlich, all das gute Wasser entwich. Alles Feuchte fort. Die wichtigste Ursache bestand wohl in den zweifach beschichteten Augen des Generalstabshauptmanns Thalberg Sergej Iwanowitsch …

Oje, oje … Wie dem auch sei, die erste Schicht war jetzt klar zu lesen. Außen simple menschliche Freude über Sicherheit, Wärme und Licht. Doch weiter unten – sichtbare Sorge, und die brachte Thalberg soeben selbst. Das Tiefste aber – wie immer verborgen. Auf jeden Fall war Thalbergs Gestalt überhaupt nichts anzusehen. Der Hüftenbereich breit und hart. Die beiden Abzeichen – der Akademie und der Universität –, diese weißen Köpfchen, glänzen gradlinig. Die dürre Gestalt bewegt sich unter der schwarzen Uhr wie ein Automat. Thalberg ist ziemlich durchgefroren, aber lächelt alle wohlwollend an. Doch sogar das Wohlwollen ist voller Sorge. Nikolka rümpfte die lange Nase – er hatte dies als Erster bemerkt. In langgezogenen Worten erzählte Thalberg, sehr gemächlich und fröhlich, wie der Zug, der Geld in die Provinz bringen sollte und den er mit der Eskorte begleitet hat, bei Borodjanka, vierzig Werst vor der Großen Stadt, überfallen wurde – von wem auch immer! Jelena schloss erschrocken die Augen, schmiegte sich schlotternd an die Abzeichen, wieder riefen die Brüder ihr »Ach so, ach so«, und Myschlajewski schnarchte im Tiefschlaf und offenbarte drei Goldkronen.

– Wer war es denn nun? Petljura?

– Also, wenn das Petljura wäre –, sagte Thalberg gönnerhaft, aber mit sorgenvollem Lächeln, – würde ich wohl kaum … äh … hier mit euch reden. Ich weiß nicht, wer es war. Höchstwahrscheinlich ein paar verwilderte Serdjuken.[49] Dringen mit Gewalt in die Waggons, wedeln wie wahnsinnig mit den Gewehren, rufen: »Wem ist die Eskorte?« Ich erwidere: »Den Serdjuken«, sie tappen und tappen auf der Stelle, dann höre ich den Befehl: »Los, Jungs, wir gehen!« Und schon waren sie alle weg. Hielten wohl Ausschau nach Offizieren, glaubten, es sei eine Offizierseskorte, und nicht einfach eine ukrainische –, Thalberg schielte bedeutungsvoll zu Nikolkas Chevron herüber, sah auf die Uhr und sagte zuletzt überraschenderweise: – Jelena, komm mal mit, auf ein Wort …

Jelena folgte ihm in Eile auf die Seite der Thalbergs, ins Schlafgemach, wo an der Wand über dem Bett auf dem weißen Handschuh der Falke saß, wo auf dem Schreibtisch Jelenas weich und sanft die grüne Lampe brannte, wo auf dem Mahagonisockel bronzene Schäferinnen standen vor der Fassade der Uhr, welche da alle drei Stunden die Gavotte spielte.

Es kostete Nikolka eine immense Anstrengung, Myschlajewski wachzubekommen. Dieser torkelte unterwegs, verfing sich zweimal krachend im Türrahmen, schlief in der Badewanne ein. Nikolka musste bei ihm Wache halten, damit er weiß Gott nicht darin ersäuft. Turbin der Ältere aber schritt, ohne selbst zu wissen, warum, in das finstere Wohnzimmer, drückte sich gegen das Fenster und horchte: Wieder brummten fern und dumpf, wie durch Watte, die harmlosen Kanonen, vereinzelt und fern.

Jelena mit feurig getöntem Haar verlor sogleich an Jugend und Anmut. Die Augen rot. Mit hängenden Armen hörte sie Thalberg traurig zu. Er aber, eine trockene Generalstabssäule, überragte sie und sprach unerbittlich:

– Jelena, es geht nicht anders.

Worauf Jelena, das Unausweichliche akzeptierend, in folgenden Worten antwortete:

– Nun gut, ich verstehe. Vielleicht hast du recht. Sagen wir, in fünf, sechs Tagen? Die Lage kann sich doch stabilisieren?

Da aber hatte es Thalberg schwer. Selbst sein beständiges patentiertes Lächeln entfernte er aus dem Gesicht. Es wurde älter, in jedem Punkt lag ein klar gefasster Gedanke. Jelena … Jelena. Ach, eine schwache, flüchtige Hoffnung … In fünf … sechs Tagen …

Und Thalberg sprach:

– Wir müssen jetzt gleich auf der Stelle fahren. Der Zug geht um ein Uhr nachts …

… Eine halbe Stunde später war im Zimmer mit dem Falken alles leergefegt. Der Koffer am Boden und gebäumt seine matrosenhafte Trennwand.[50] Jelena, abgemagert und streng, mit lauter Falten um die Lippen, tat in den Koffer Hosen, Hemden, Bettdecken. Thalberg, kniend an der unteren Schublade stocherte darin mit dem Schlüssel. Und dann … und dann ist’s im Zimmer eklig, wie in jedem vom Chaos des Packens beherrschten, und noch sehr viel schlimmer, wenn von der Lampe der Schirm abgezogen ist. Auf gar keinen Fall. Auf gar keinen Fall von den Lampen die Schirme abziehen! So ein Lampenschirm ist was Heiliges. Auf gar keinen Fall mit Rattengetrippel vor Gefahr ins Unbekannte flüchten. Einfach nur am Lampenschirm nicken, lesen – draußen den Sturm wüten lassen – warten, bis man an deine Tür klopft.

Thalberg dagegen flüchtete. Er ragte, die Papierschnipsel mit den Füßen tretend, am geschlossenen wuchtigen Koffer, in seinem langen Militärmantel, den schwarzen ordentlichen Ohrenwärmern, der hetmanschen blaugrauen Kokarde und umgürtet mit einem Säbel.

Auf dem Ferngleis der Großen Stadt, Nr. I, Hauptstation, wartet einer bereits – noch ohne Lok, eine kopflose Raupe. Er besteht aus neun Waggons, stromdurchrieselt, voll grellweißer Strahlen. Um ein Uhr nachts reist mit ihm nach Deutschland der gesamte von Bussowsche Generalstab.[51] Thalberg wird mitgenommen: Thalberg verfügt offenbar über die besten Kontakte … Das hetmansche Ministerium ist billigste Operette (Thalberg genoss es, sich trivial, aber durchaus treffend auszudrücken), wie im Übrigen auch der Hetman selbst.[52] Billig vor allem auch angesichts …

– Versteh doch (im Flüsterton), die Deutschen wollen den Hetman seinem Los überlassen, und es ist sogar sehr, sehr gut möglich, dass Petljura hier einmarschiert. Petljura hat an sich ja gute Wurzeln. Innerhalb der Bewegung sind auf seiner Seite die Volksmassen, und das wäre, du weißt schon …

Jelena wusste. Und wie sie es wusste. Im März 1917 war Thalberg der Erste, jawohl, der Erste, der die Militärschule mit einer breiten roten Binde betrat.[53] Damals, in den allerersten Tagen, als die Offiziere in der Großen Stadt bei der kleinsten Erwähnung der Neuigkeiten aus Petersburg zu Backstein erstarrten und sich irgendwohin, in dunkle Flure, verkrochen, um bloß nichts zu hören. Da war es Thalberg, und kein anderer, der als Mitglied des Revolutionären Kriegsrats den berühmten General Petrow verhaftete.[54] Und nachdem am Ende des besagten Jahres in der Großen Stadt bereits viele wunder- und seltsame Dinge geschehen waren, als gewisse Menschen geboren wurden, ohne Stiefel, doch mit geplusterten Pluderhosen, unter den grauen Soldatenmänteln hervorlugend, und als die selbigen Menschen verkündeten, sie würden unter gar keinen Umständen aus der Großen Stadt an die Front ziehen, alldieweil sie an der Front nichts zu suchen hätten, sondern allesamt hier, in der Großen Stadt, bleiben, schließlich sei es ihre Große Stadt, eine Stadt der Ukrainer, nicht der Russen,[55] zeigte sich Thalberg sichtlich gereizt und erklärte das trocken für wenig brauchbar, jawohl, für billigste Operette. Und bis zu einem gewissen Grad hatte er damit auch wirklich recht: Es war in der Tat billigste Operette, aber eine, bei der mächtig Blut floss. Die Menschen mit den Pluderhosen[56] wurden flugs aus der Großen Stadt von grauen zerrütteten Regimentern vertrieben, welche da von irgendwoher angerückt kamen, von jenseits der Wälder, von der Ebene her, die nach Moskau[57] führt. Thalberg sagte, die mit den Pluderhosen seien Hasardeure, die Wurzeln aber liegen in Moskau, auch wenn diese Wurzeln eigentlich bolschewistisch sind.

Eines Tages, im März[58], marschierten in die Große Stadt in grauen Kolonnen die Deutschen ein, rostrote Metallschüsseln auf den Köpfen, die sie vor Schrapnellkugeln schützen sollten, die Husaren aber trugen so pelzige Mützen und saßen auf so rassigen Rossen, dass Thalberg augenblicklich begriff, wo bei ihnen die Wurzeln liegen. Schon nach wenigen schweren Salven der deutschen Kanonen unterhalb der Stadt waren die Moskowiten abgeschwirrt in die blauen Wälder, um Aas zu fressen, die Menschen mit den Pluderhosen jedoch schleppten sich heim im Gefolge der Deutschen. Das war eine große Überraschung. Thalberg lächelte verlegen, hatte jedoch keinerlei Angst, denn in Gegenwart der Deutschen waren die Pluderhosen auffällig zahm, trauten sich nicht, irgendwen zu töten, ja, bewegten sich recht verschreckt durch die Straßen und wirkten dabei eher wie unsichere Besucher. Thalberg sagte, sie hätten keine Wurzeln und diente zwei Monate lang nirgends. Nikolka Turbin musste einmal schmunzeln, als er Thalbergs Zimmer betrat. Dieser saß und schrieb auf einem großen Blatt irgendwelche grammatikalischen Übungen, vor ihm aber lag ein schmales graues auf billigem Papier gedrucktes Broschürchen:

Ignatij Perpillo. Ukrainische Grammatik.[59]

Im April 1918, zu Ostern, dröhnten im Zirkus freudig die elektrischen Kugeln, und bis an die Kuppel war es dunkel vor Menschenvolk. Thalberg ragte in der Arena, eine freudig kraftstrotzende Säule, und führte die Zählung der Hände durch – Sense für die Pluderhosen, jawohl, es wird eine Ukraine, doch eine hetmansche – gewählt wurde dero Gnaden, der Hetman der Ukraine.[60]

»Wir sind abgeschirmt von der blutigen Moskauer Operette«, sprach Thalberg und glänzte in der seltsamen hetmanschen Uniform zu Hause, vor dem Hintergrund der herzallerliebsten alten Tapeten. Verachtungsvoll würgte die Uhr: Tink-tonk, und aus der Vase entfloss das Wasser. Es gab nichts, worüber Nikolka und Alexej mit Thalberg noch hätten reden können. Es wäre auch äußerst schwierig geworden, allein schon, weil Thalberg sich maßlos ärgerte, sobald das Gespräch die Politik tangierte, insbesondere in den Fällen, da Nikolka ganz und gar taktlos begann: »Im März hast du noch was anderes erzählt, nicht wahr, Serjoscha? …« Thalberg zeigte sofort seine weit auseinanderliegenden, jedoch großen und weißen Oberzähne, in den Augen zuckten gelbe Fünkchen, und Thalberg verlor die Contenance. Auf die Weise kamen die Diskussionen so ganz von selbst aus der Mode.

Tja, Operette … Jelena wusste genau, was dieser Ausdruck auf den angeschwollenen baltischen Lippen zu bedeuten hat. Aber diesmal verhieß die Operette wenig Gutes, und zwar nicht den Pluderhosen, nicht den Moskowiten, nicht Hinz und Kunz – Sergej Iwanowitsch Thalberg persönlich. Ja, jeder Mensch hat seinen Stern, nicht umsonst wurden im Mittelalter von Hofastrologen Horoskope erstellt, um das Kommende vorauszusagen. Welch eine Weisheit besaßen sie doch! Nun also, Thalberg Sergej Iwanowitsch hatte einen unpassenden heillosen Stern. Thalbergs Geschick wäre glücklich gewesen, würde sich alles nur vorwärtsbewegen, auf einem geraden ebenen Pfad, doch die Geschehnisse in der Großen Stadt verliefen zu diesem Zeitpunkt keineswegs gerade, vielmehr in einem bizarren Zickzack, und vergebens bemühte sich Sergej Iwanowitsch herauszufinden, was passieren wird. Es gelang ihm nicht. In weiter Ferne, hundertfünfzig, vielleicht auch zweihundert Werst vor der Großen Stadt, stand auf den Gleisen, erleuchtet von grellem weißem Licht, ein Salonwagen. Im Wagen schlotterte, wie eine Bohne in einer Schote, ein Blankrasierter[61], und diktierte seinen Schreiberlingen und Adjutanten in einer absonderlichen Sprache, mit welcher sogar ein Perpillo die denkbar größten Probleme hätte. Oh, wehe dir, Thalberg, wenn der Besagte in die Große Stadt einzieht, dabei könnte er es sehr wohl tun! Wehe. Die Ausgabe der Zeitung Westi[62] ist bestens bekannt, und Hauptmann Thalberg, der den Hetman gewählt hat, ebenfalls. Die Zeitung enthält einen Artikel aus der Feder von Sergej Iwanowitsch mit den denkwürdigen Worten:

Petljura ist ein Hasardeur, der da mit seiner Operette unser Land zu vernichten droht …

– Du verstehst nur zu gut, Jelena, ich kann dich unmöglich mitnehmen – zu unwägbar und zu abenteuerlich. Nicht wahr?

Jelena sprach keinen Laut, denn sie war stolz.

– Ich glaube, ich schaffe es ungehindert über Rumänien auf die Krim und zum Don.[63] Von Bussow hat mir Unterstützung zugesagt. Man schätzt mich. Die deutsche Besatzung wurde allmählich zu einer Operette. Die Deutschen ziehen sich bereits zurück. (Im Flüsterton.) Nach meinem Dafürhalten ist auch Petljura bald gestürzt. Die wahre Macht kommt jetzt vom Don. Du verstehst doch, ich darf dort gar nicht fehlen, jetzt, wo sich eine Armee für Recht und Ordnung heranbildet. Dort fehlen, heißt auch – die Karriere zerstören, Denikin[64] war der Chef meiner Division. Ich bin mir sicher, in kaum drei Monaten, allerspätestens aber im Mai, marschieren wir ein in die Große Stadt. Du brauchst also keine Angst zu haben. Es wird dich niemand anrühren, und im schlimmsten Fall besitzt du ja noch den Pass mit deinem Mädchennamen. Ich bitte Alexej, auf dich aufzupassen.

Jelena kam zu sich.

– Warte mal –, sagte sie, – wir müssen doch die Brüder warnen, dass die Deutschen dabei sind, uns zu verraten?

Thalberg wurde puterrot.

– Natürlich, natürlich, ich will unbedingt … Oder, noch besser, sag du es ihnen. Obwohl es an der Lage wenig ändert.

Ein seltsames Gefühl beschlich Jelena, aber zum Grübeln war keine Zeit: Schon küsste Thalberg seine Frau, und da gab es so eine Sekunde, in der seine zweigeschossigen Augen nur eines durchschoss – Zärtlichkeit. Jelena ertrug es nicht länger und schluchzte, aber leise, leise, denn schließlich war sie eine starke Frau, immerhin die Tochter von Anna Wladimirowna. Dann kam es zum Abschied von den Brüdern im Wohnzimmer. Rosa Licht entflammte in der Bronzelampe und flutete den gesamten Winkel. Das Klavier zeigte seine gemütlichen weißen Zähne und die Partitur des Faust[65], dort, wo das schwarze Notengekritzel in dichten schwarzen Reihen marschiert und der bunte rotbärtige Valentin singt:[66]

Sei, Herr des Himmels, inbrunstvoll

Mein Flehen zu dir gewandt.

Schütze die Schwester mir …

Und selbst Thalberg, dem jeglicher Sinn für alles Sentimentale fehlte, blieb dieser Augenblick im Gedächtnis, die schwarzen Akkorde und die zerfledderten Seiten des ewigen Faust. Oje, oje … Nie wieder soll Thalberg die Kavatine[67] an den Herrgott hören, nie wieder hören, wie Jelena für Scherwinski in die Tasten greift! Und dennoch, wenn Thalberg und die Turbins einst nicht mehr unter uns weilen, werden die Töne erneut erschallen, wird der bunte Valentin an die Rampe treten, werden die Logen Parfum verströmen, werden zu Hause schöne Frauen, von Strahlen bemalt, in die Tasten greifen, schon deshalb, weil Faust, wie Der Zimmermann von Saardam, ganz und gar unsterblich ist.

Thalberg erzählte alles fein hübsch, gleich hier, vor dem Klavier. Die Brüder lauschten ihm voll Anstand, bemüht, die Brauen nicht hochzuziehen. Der Jüngste aus Stolz, der Älteste, weil er ein Waschlappen war. Thalbergs Stimme zitterte.

– Dann werdet ihr also Jelena beschützen. – Thalbergs Augen, die erste Schicht, blickten bittend und angespannt. Er machte unschlüssige Bewegungen, schaute zerstreut auf die Taschenuhr und sprach unruhig: – Es ist Zeit.

Jelena fasste ihren Gatten beim Hals, zog ihn zu sich, bekreuzigte ihn schief und voll Hast und gab ihm einen Kuss. Thalberg stach die beiden Brüder mit den Bürsten des schwarzen gestutzten Schnurrbarts. Thalberg prüfte unruhig den Inhalt der Brieftasche, diesen ganzen Stoß von Amtspapieren, zählte nach in dem dürren Fach die ukrainischen Scheine, die deutschen Mark, und mit einem Lächeln, mit einem verkrampften Lächeln, machte er sich auf den Weg. Klingeling … In der Diele zerlief Licht, dann auf der Treppe das Poltern des Koffers. Jelena lehnte sich über das Geländer und sah zum letzten Mal den Kamm der Kapuze.

Nachts, um ein Uhr, von Gleis fünf, aus dem Dunkeln, das dicht gefüllt mit zahllosen Grüften von ausgeladenen Güterwaggons, fuhr ab, und zwar gleich mit groß dröhnendem Tempo, angeheizt von rot brausenden Flammen, grau wie eine Kröte, ein Panzerzug, ausstoßend ein wüstes schrilles Gebrüll. Er durchsauste acht Werst in nur sieben Minuten und war auf einmal in Post-Wolynski, in dem Krach, Gepoch, in all den Lichtern, bog ab, ohne die geringste Verzögerung, über die wild hüpfenden Weichen, von der Hauptlinie zur Seite, und in den Gemütern der steifgefrorenen Fahnenjunker und Offiziere, zusammengekauert in beheizbaren Wagen, in den Absperrungen um Post herum, einen Schimmer von Hoffnung und Stolz weckend, enteilte er, sich vor niemandem fürchtend, zur deutschen Grenze. Und ihm nach, zehn Minuten später, rauschte durch Post, mit zig Fenstern leuchtend, ein Personenzug mit einer enormen Lok. Zylinderartige, massive, bis an die Augen zugepackte Wachpostendeutsche blitzten auf an den Bahnsteigen, blitzten auf mit schwarzen Bajonetten. Weichensteller, vor Frost würgend, sahen, wie an den Schienenfugen die langen Pullmans[68] geschüttelt wurden, Fenster bewarfen die Weichensteller mit grellen Garben. Dann – alles verschwunden, und die Gemüter der Junker füllten sich mit Unruhe, Missgunst und Wut.

– U-u-uh … Diese Mistkerle! … –, winselte es irgendwo neben der Weiche, und die warm beheizten Wagen überfiel ein scharf brennender Sturm. In dieser Nacht wurde Post beständig umstöbert.

Doch im dritten Waggon hinter der Lok, in einem mit gestreiftem Stoffbezügen überdeckten Abteil, beflissen und unterwürfig lächelnd, saß gegenüber dem deutschen Leutnant Thalberg und redete Deutsch.

– Oh, ja –, intonierte von Zeit zu Zeit der beleibte Leutnant und kaute die Zigarre.

Nachdem der Leutnant eingeschlafen war, schlossen sich alle Abteiltüren, und im warmen und blendenden Waggon erhob sich ein monoton rollendes Gebrodel, da trat Thalberg in den Gang, warf den fahlen Vorhang zurück, den mit den durchscheinenden Buchstaben S.W.E.B.[69], und starrte noch lange in die Nacht hinaus. Dort hüpften durcheinandergewirbelte Funken, hüpften die Flocken, und vorne die Lok zog und heulte so zornig, so forsch, dass selbst Thalberg all seine Freude verlor.

3.

Zu dieser nächtlichen Stunde herrschte in der unteren Wohnung des Hausbesitzers Wassilij Iwanowitsch Lissowitsch vollkommene Stille, die nur eine Maus im kleinen Speisezimmer von Zeit zu Zeit störte. Die Maus knabberte, knabberte, hartnäckig, eifrig, im Schrank eine ranzige Käsescheibe und vermaledeite dabei die Knauserigkeit der Ingenieursgemahlin Wanda Michajlowna. Die vermaledeite knöcherige und überaus argwöhnische Wanda schlief fest im Finstern des Schlafgemachs in der kühlen und feuchten Wohnung. Der Ingenieur selbst war noch hellwach und befand sich in seinem vollgestopften, mit Büchern gefüllten und infolgedessen höchst gemütlichen Kämmerlein mit dicht zugezogenen Gardinen. Die Stehlampe, welche da eine altägyptische Göttin mit grünem geblümtem Sonnenschirm darstellte, färbte den Raum zart und geheimnisvoll, und auch der Ingenieur war geheimnisvoll in seinem tiefen ledernen Sessel. Das Geheimnisvolle und Zweideutige der vagen Zeit drückte sich darin aus, dass jener Mann im Sessel mitnichten Wassilij Iwanowitsch Lissowitsch war, sondern … Wassilissa[70]. Das heißt, er selbst nannte sich Lissowitsch, viele Menschen, die ihm begegneten, sprachen ihn an mit Wassilij Iwanowitsch, aber nur direkt an den Kopf geworfen. Hinter seinem Rücken, in der dritten Person, nannte man ihn einzig Wassilissa. Das passierte, weil der Hausbesitzer seit dem Januar 1918, als in der Stadt nun ganz offensichtlich Wundersames zu geschehen begann, seine einst lesbare Handschrift änderte, und so schrieb er, statt des präzisen W. Lissowitsch, aus Angst vor etwaiger zukünftiger Rechenschaft, in Amtspapieren, Bescheinigungen, Ausweisen, Verordnungen und auf Kärtchen nur noch Wass. Liss.[71]

Nikolka, dem Wassilij Iwanowitsch am 18. Januar 1918 Kärtchen für Zucker ausgestellt hatte, bekam am Kreschtschatik, anstelle des Zuckers, einen schlimmen Schlag mit einem Stein in den Rücken und musste zwei Tage lang Blut röcheln.[72] (Das Geschoss zerplatzte gleich über der Zuckerschlange, die aus lauter furchtlosen Menschen bestand.) Zu Hause, sich an der Wand abstützend und immer wieder grün anlaufend, zwang er sich dennoch ein Lächeln ab, um Jelena nicht unnötig zu erschrecken, spuckte einen Napf voll Blutflecke, und Jelenas Aufschrei:

– Oh, mein Gott! Was ist denn das?!–

beantwortete er mit:

– Wassilissa und ihr gottverdammter Zucker! – Dann wurde er bleich und brach zusammen. Nikolka erhob sich zwei Tage später, aber Wassilij Iwanowitsch Lissowitsch war von da an verschwunden. Erst der Hof von Numero 13 und daraufhin die ganze Stadt riefen den Ingenieur Wassilissa, und allein der Besitzer des weiblichen Namens stellte sich vor als Vorsitzender des Hauskomitees Lissowitsch.

Sich zur Genüge überzeugt habend, dass die Straße nun endgültig still ist und keine vereinzelten Kufen mehr knirschen, sehr besorgt auf das Sirren aus dem Schlafzimmer horchend, schlich Wassilissa nun zur Diele, sehr besorgt befühlte er daselbst die Schlösser, die Kette, die Schraube, den Haken und kehrte zurück ins Kämmerlein. Der Schublade seines massiven Tisches entnahm er vier glänzende Sicherheitsnadeln. Danach ging er auf Zehenspitzen irgendwohin, in die Finsternis, und brachte ein Betttuch und einen Plaid. Horchte noch einmal und legte sogar den Zeigefinger an die Lippen. Zog den Anzug aus und die Ärmel hoch, holte vom Bord eine Dose Kleister, einen sorgsam zum Rohr zusammengerollten Fetzen Tapete und eine Schere. Dann schmiegte er sich an die Fensterscheibe und studierte unter dem Schild seiner Hand voller Aufmerksamkeit die Straße. Das linke Fenster verhängte er bis zur Hälfte mit dem Betttuch, das rechte verhüllte er mit dem Plaid und benutzte hierfür die vier Sicherheitsnadeln. Behutsam half er nach mit der Hand, damit sich nicht etwa ein Schlitz bildet. Packte einen Stuhl, stellte sich darauf, und tastete mit den Fingern nach irgendetwas über den Büchern, dort auf dem obersten Regal, machte mit einem schmalen Messer einen vertikalen Schnitt in der Wand, dann, im rechten Winkel zur Seite, schob er das Messer unter den Spalt und erschloss ein sehr ordentliches in der Größe von zwei Ziegelsteinen gearbeitetes Zwischenfach – im Zuge der vergangenen Nacht hatte er es dort selbst erzeugt. Den Deckel, eine dünne Zinkplatte, stieß er auf, stieg wieder ab, beschaute schüchtern die Fensterscheiben, strich mit der Hand über den Stoff. Aus dem Inneren der unteren Schublade, geöffnet von einer doppelten schnarrenden Drehung des Schlüssels, erblickte die Welt ein ordentlich überkreuz verschnürtes und versiegeltes Päckchen in Zeitungspapier. Das setzte Wassilissa im Geheimfach bei und legte erneut den Deckel vor. Schnippelte und stückelte auf dem roten Filz des Tisches sich noch lange die Streifen zurecht, bis sie seiner Vorstellung entsprachen. Bepinselt mit Kleister, verklebten sie die winzigen Freiräume meisterlich:[73] Halbstrauß an Halbstrauß, Viereck an Viereck. Als der Ingenieur vom Stuhl herabstieg, stellte er fest: Dort an der Wand blieb keine Spur von einem Geheimfach. Wassilissa rieb sich inspiriert die Hände, zerknüllte sofort und verbrannte im Ofen die Tapetenreste, verstreute die Asche und versteckte den Kleister.

Auf der schwarzen und menschenleeren Straße stieg eine wölfische zerlumpte graue Gestalt vollkommen lautlos vom Akazienzweig[74], auf welchem sie eine halbe Stunde gesessen hatte, scharf geplagt vom Frost, aber gefräßig durch den verräterischen Spalt über dem oberen Rand der Decke die Arbeit des Ingenieurs begutachtend, dem das Verhängnis gerade auch wegen des Verhängens des grün gefärbten Fensters gefolgt war. Dann sprang die Gestalt stahlfedernhaft in den Schnee, schritt fort die Straße hinauf, stürzte ein mit ihrer wölfischen Gangart in die Gassen, und der Sturm und das Dunkel und die Schneeberge fraßen sie auf und verwehten all ihre Spuren.

Tiefste Nacht. Wassilissa im Sessel. In dem grünen Düster, wirkt er da nicht wie der leibhaftige Taras Bulba[75]? Der Schnauzer nach unten, flauschig – zum Teufel, was denn für eine Wassilissa! – ja, ein richtiges Mannsbild ist das. In den Schubladen ein sanftes Scheppern, und vor Wassilissa, auf dem roten Filz, stapeln sich schmale Papierschnipsel – grünliches Spielkartenmuster.

Noten der Staatskasse

50 Karbowanzen[76]

Äquivalent für Kreditscheine.

Auf dem Muster ein Bauer mit schlaff hängendem Schnauzer, ausgerüstet mit einer Schaufel, und eine Bäuerin mit einer Sichel. Auf der Rückseite in einem Oval vergrößerte rötliche Gesichter des Bauern und der Bäuerin mit der Sichel. Und auch hier der Schnauzer nach unten auf die ukrainische Art.[77] Über allem die warnende Aufschrift:

Jede Fälschung wird mit Zuchthaus bestraft.

Selbstsichere Unterschrift:

Direktor der Staatskasse Lebidj-Jurtschik.[78]

Der ehern-berittene Alexander II.[79] im gusseisernen Seifenschaumgezottel seines Backenbarts, in einer Kolonne Berittener, schielte gereizt auf das Meisterwerk Lebidj-Jurtschiks und zugleich voll Zärtlichkeit auf die Lampenprinzessin. Von der Wand aus betrachtete die Schnipsel verschreckt ein Träger des Stanislaus-Ordens[80], Staatsdiener und Vorfahre Wassilissas, gemalt in Öl. Im grünlichen Lichtschein erglänzten weich die Buchrücken von Gontscharow, Dostojewski, und in einer kraftstrotzenden Kolonne der schwarzgoldene berittene Gardist Brockhaus-Efron.[81] Also: Die reinste Augenweide.

Das fünfprozentige Wertpapier ist sicher versteckt hinter der Tapete. Zusammen mit 15 Katharinkas, 9 Peter-, 10 Nikolaus-I-Noten,[82] dazu drei Brillantringe, eine Brosche, ein Anna-[83] und zwei Stanislaus-Orden.

Dann, im Geheimfach Nr. 2 – 20 Katharinkas, 10 Peter-Noten, 25 silberne Löffel, eine goldene Taschenuhr mit Kettchen, drei Zigarettenetuis (»Dem lieben Kollegen«, und das obwohl Wassilissa Nichtraucher war), 50 Zehner in Gold, ein paar Salzstreuer, eine Kassette mit Silberbesteck für sechs Personen und ein silbernes Sieb (das große Geheimfach in der Holzscheune, zwei Schritt von der Tür, geradeaus, ein Schritt nach links, ein Schritt von der Kreidemarkierung auf einem Holzscheit in der Wand. Alles in Von-Einem-Gebäckschachteln,[84] gewickelt in Wachstuch, die Nähte geharzt, zwei Arschin[85] in die Tiefe).

Das dritte Geheimfach – der Dachboden: Drei Viertel vom Rohr Richtung Nordosten[86], unterhalb eines Balkens im Lehm: Eine Zuckerzange, 183 goldene Zehner, 25000 in Wertpapieren.

Lebidj-Jurtschik ist nur für laufende Kosten.

Wassilissa blickte sich um, das tat er jedes Mal, wenn er Geld zählte, und begann, das Muster zu bespeicheln. Sein Gesicht ward himmlisch verklärt. Dann plötzlich lief es fahl an.

– Verflucht, ’ne Blüte, verflucht, ’ne Blüte –, murrte er verärgert und schüttelte den Kopf, – was ein Jammer!

Die blauen Augen Wassilissas offenbarten die Trauer des Lamms an der Schlachtbank. In dem dritten Zehnerpack – einer, in dem vierten – zwei, in dem sechsten – zwei, in dem neunten jedoch, ganz ohne Zweifel, gleich drei jener Scheine, für die Lebidj-Jurtschik mit Zuchthaus droht. Insgesamt hundertdreizehn Scheine, und auf acht davon, bitte dies zu beachten, eindeutige Anzeichen von Blüten. Zum Beispiel der Bauer ist irgendwie traurig, sollte aber zufrieden sein, und da, an der Garbe, keine Spur von dem mysteriösen verlässlichen umgedrehten Komma und den zwei Punkten, auch das Papier ist besser als das Lebidjsche. Wassilissa hielt es gegen das Licht, und Lebidj schimmerte, eindeutig gefälscht, von der anderen Seite hindurch.