Der Meister und Margarita (Neuübersetzung von Alexandra Berlina) - Michail Bulgakow - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Meister und Margarita (Neuübersetzung von Alexandra Berlina) E-Book

Michail Bulgakow

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Moskau zu Beginn der 1930er-Jahre: Der Teufel sucht die Stadt heim und stürzt ihre Bewohner mit tatkräftiger Unterstützung seiner Zauberlehrlinge in ein Chaos aus Hypnose, Spuk und Zerstörung. Es ist die verdiente Strafe für Heuchelei, Korruption und Mittelmaß. Doch zwei Gerechte genießen Satans Sympathie: der im Irrenhaus sitzende Schriftsteller, genannt »Meister«, und Margarita, dessen einstige Geliebte. Bulgakows Gesellschaftssatire aus der Sowjetzeit ist ein faustisch-fantastisches Meisterwerk.

  • »Bulgakow ist eine Bombe.« August Diehl
  • »Mein Lieblingsbuch – einfach die großartigste Explosion von Fantasie, Verrücktheit, satirischem Witz und Gefühl, die man sich vorstellen kann.« Daniel Radcliffe
  • Der »russische Faust« (BR)
  • »Wer hätte gedacht, dass aus dem Verlag für preiswerte Klassikerausgaben der spannendste Bulgakow kommt? Alexandra Berlina hat mit der Übersetzung von "Meister und Margarita" bereits 2020 eine zum Wiehern komische und durchwegs eingängige Übertragung von Bulgakows Meisterwerk vorgelegt« Opernregisseur Valentin Schwarz

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 676

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michail Bulgakow

Der Meister und Margarita

Aus dem Russischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Alexandra Berlina

Anaconda

Titel der russischen Originalausgabe:

Master i Margarita

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen

Übersetzerfonds für die Förderung

Die Gedichtzeile »Wirbelt Sturm den Schnee in Säulen« hier stammt von Alexander Puschkin, in der Übertragung von Theodor Opitz.

Die Strophe aus Dem geizigen Ritter von Alexander Puschkin hier entstammt der Übertragung von Henry von Heiseler.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 by Anaconda Verlag,einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenAlle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Katze: shutterstock / Crosiy; Silhouette: shutterstock / Dusty_rat; Hintergrund: English School, (19th century), The Kremlin and the Moskvaretskoi Bridge, Moscow. Photo © Look and Learn / Bridgeman Images Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-28757-3V005

www.anacondaverlag.de

– Nun gut, wer bist du denn?

– Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Goethe, Faust

TEIL EINS

Kapitel 1 Redet niemals mit Unbekannten

In der Frühlingshitze kurz vor Sonnenuntergang erschienen am Patriarchenteich zwei Bürger. Der erste war um die vierzig, klein, beleibt, mit dunklem Haarkranz. Er hatte einen aschgrauen Anzug an und hielt einen ordentlichen Filzhut in der Hand; eine schwarze Hornbrille von übernatürlichem Ausmaß zierte das glattrasierte Gesicht. Der zweite – ein breitschultriger junger Mann mit rotblonden Locken – trug ein legeres Hemd und eine keck zurückgeschobene Kappe, beides kariert, zerknautschte weiße Hosen und schwarze Treter.

Der Erste war niemand anders als Michail Berlioz, Vorsitzender eines der größten Moskauer Schriftstellerverbände, unter dem Kürzel MassLit bekannt, und Chefredakteur einer ebenso seriösen wie voluminösen Literaturzeitschrift. Sein junger Begleiter war der Dichter Iwan Ponyrjow, der unter dem Pseudonym Besdomny – »Ohnehaus« – schrieb.

Kaum im Schatten der frisch ergrünten Linden angekommen, stürmten die beiden Literaten den bunt angestrichenen Getränkekiosk.

Ach ja, hier müsste übrigens die erste Absonderlichkeit dieses grauenvollen Maiabends erwähnt werden. Nicht nur am Kiosk, sondern in der ganzen Allee, die parallel zur Malaja Bronnaja im Zentrum der ausgedörrten Stadt verlief, war nicht ein einziger Mensch zu sehen. Niemand kam unter die Linden zu dieser Stunde, in der man kaum noch atmen konnte und die Sonne ins trockene Flirren hinter dem Gartenring kippte, niemand nahm Platz auf den Bänken; leer blieb die Allee.

»Ein Mineralwasser«, bat Berlioz.

»Keins da«, entgegnete, unergründlicherweise beleidigt, die Frau im Kiosk.

»Bier?«, krächzte Besdomny.

»Kommt erst später«, sagte die Frau.

»Was ist denn jetzt zu haben?«, fragte Berlioz.

»Aprikosensprudel, ist aber warm.«

»Na dann her damit, her damit!«

Der Aprikosensprudel schäumte gelb und reichlich, die Luft roch nach Friseursalon. Den Durst gestillt, nun aber vom Schluckauf gepeinigt, zahlten die beiden Literaten und setzten sich auf eine Bank mit Blick auf den Teich, den Rücken der Bronnaja zugekehrt.

Da passierte die zweite Absonderlichkeit, diesmal mit Berlioz. Sein Schluckauf verschwand, sein Herz zuckte und stürzte für einen Augenblick in die Tiefe. Dann kam es wieder empor, doch hatte sich eine stumpfe Nadel hineingebohrt. Das Grauen packte ihn, unbegründet, jedoch so heftig, dass er am liebsten sofort auf und davon gelaufen wäre, weg, weg vom Patriarchenteich.

Er schaute elend umher, ratlos über den Grund seiner Beklemmung, wischte sich die erbleichte Stirn mit dem Taschentuch und dachte: »Was ist bloß mit mir? So was hab ich ja noch nie gehabt … Mein Herz spielt verrückt … Bin wohl überstrapaziert. Zum Teufel mit allem! Ich müsste mal zur Kur, nach Kislowodsk.«

Da verquoll die schwüle Luft vor ihm mit einem Mal zu einem Klumpen, und aus dieser Luft heraus wob sich ein durchsichtiger Bürger von äußerst merkwürdiger Gestalt. Auf dem kleinen Kopf trug er eine Jockeymütze und dazu ein knappes kariertes Jäckchen, alles aus Luft. Der Bürger war lang wie eine Bohnenstange, ungeheuer mager und schmal gebaut, und hatte, wohlgemerkt, eine höhnische Visage.

Nun hatte Berlioz’ bisheriges Leben ihn nicht auf ungewöhnliche Erscheinungen vorbereitet. Er wurde noch bleicher, riss die Augen auf und dachte bestürzt: »Das gibt es doch nicht!«

Doch bedauerlicherweise gab es das sehr wohl. Die schwankende Gestalt des langen durchsichtigen Bürgers nahte, ohne den Boden zu berühren.

Hier nahm das Grauen von Berlioz vollends Besitz, und er musste prompt die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, war alles vorbei; das Trugbild zerstoben, der Karierte verschwunden und mit ihm auch die stumpfe Nadel aus dem Herzen.

»Pfui Teufel!«, rief der Redakteur. »Weißt du, Iwan, grade eben war ich kurz vor einem Hitzschlag! Ich hatte sogar so eine Art Halluzination …« Er versuchte zu lächeln, aber in seinen Augen flackerte immer noch das Unbehagen, und ihm zitterten die Hände. Allmählich beruhigte er sich aber, fächelte sich mit seinem Taschentuch Luft zu, sagte recht munter: »Nun also!«, und kehrte zu dem Monolog zurück, den der Genuss von Aprikosensprudel unterbrochen hatte.

Darin ging es, wie man später festgestellt hat, um Jesus Christus. Der Redakteur hatte nämlich bei dem Dichter für die nächste Ausgabe seiner Zeitschrift eine antireligiöse Ballade in Auftrag gegeben. Besdomny hatte diese Ballade geschrieben, sehr flott sogar, aber leider war der Redakteur damit überhaupt nicht zufrieden. Der Dichter hatte die Hauptfigur – also Jesus – ordentlich schwarzgemalt, aber nach Ansicht des Redakteurs gehörte das ganze Werk trotzdem neu geschrieben. Und so hielt der Redakteur dem Dichter nun, um den grundlegenden Fehler der Ballade zu verdeutlichen, eine Art Vortrag über Jesus.

Schwer zu sagen, ob es an Iwans erzählerischem Talent lag oder an seiner völligen Unkenntnis der Materie – jedenfalls war sein Jesus vollkommen lebendig, ein Jesus, der zwar mit allerlei negativen Eigenschaften versehen war, aber doch ganz und gar real.

Nun wollte Berlioz dem Dichter nachweisen, dass es nicht darum ging, ob Jesus gut oder schlecht war, sondern darum, dass es einen solchen Menschen nie gegeben hatte, dass alle Geschichten über ihn reine Fiktion waren, ganz gewöhnliche Mythen.

Es sei hier erwähnt, dass der belesene Redakteur in seinem Exkurs sehr gekonnt auf antike Historiker verwies – zum Beispiel auf den berühmten Philo von Alexandria und den überaus gebildeten Flavius Josephus –, die nie ein Wort über eine etwaige Existenz Jesu verloren hatten. Mit solider Gelehrsamkeit erklärte er auch, die Passage im fünfzehnten Buch von Tacitus’ berühmten Annalen, Kapitel vierundvierzig, worin von der Hinrichtung Jesu die Rede ist, sei nichts als eine nachträgliche Fälschung.

Der Dichter, dem all das ganz neu war, lauschte gespannt, die aufgeweckten grünen Augen auf den Redakteur gerichtet, und ließ sich durch den Schluckauf kaum ablenken; nur gelegentlich verfluchte er leise den Aprikosensprudel.

»Es gibt keine einzige östliche Religion«, dozierte Berlioz, »in der nicht eine Frau – in der Regel eine makellose Jungfrau – einen Gott gebiert. Genauso, ohne jegliche Originalität, haben die Christen ihren Jesus erschaffen. In Wirklichkeit hat er nie gelebt: Darauf sollte der Schwerpunkt liegen.«

Berlioz’ Tenor hallte durch die leere Allee, und während er immer tiefer in ein Dickicht eindrang, das nur ein hochgebildeter Mensch betreten kann, ohne sich das Genick zu brechen, lernte der Dichter allerlei Interessantes und Nützliches über den gnädigen ägyptischen Gott Osiris, den Sohn von Himmel und Erde, über den phönizischen Gott Tammuz, über Marduk und sogar über den weniger bekannten, von den Azteken in Mexiko einst inbrünstig verehrten, gestrengen Gott Huitzilopochtli.

Und nun, während der Redakteur dem Dichter gerade erzählte, wie die Azteken ihre Huitzilopochtli-Figuren aus Teig kneteten, ist in der leeren Allee jemand erschienen.

Danach, als es, offen gesagt, schon viel zu spät war, legten verschiedene Behörden ihre Berichte vor, in denen dieser Jemand beschrieben wurde. Beim Vergleich dieser Berichte kommt man aus dem Staunen nicht heraus. So besagt der erste, die Person sei klein gewesen, habe goldene Zähne gehabt und auf dem rechten Bein gehinkt. Der zweite behauptet, der Mann sei ein Riese gewesen, habe Platinkronen getragen und auf dem linken Bein gehinkt. Der dritte vermerkt lakonisch die Abwesenheit jeglicher besonderer Kennzeichen.

Man muss schon zugeben, dass keiner dieser Berichte etwas taugt.

Zuerst einmal hinkte der Beschriebene überhaupt nicht und war weder klein noch riesig, sondern einfach nur hochgewachsen. Was seine Zähne betrifft, so hatte er links Kronen aus Platin und rechts welche aus Gold. Er trug einen teuren grauen Anzug und westliche Schuhe, ebenfalls grau. Die Baskenmütze, von der gleichen Farbe, war verwegen übers Ohr gezogen, und unter seinem Arm klemmte ein Gehstock, dessen Knauf den Kopf eines schwarzen Pudels darstellte. Der Mann schien knapp über vierzig. Der Mund irgendwie schief. Sauber rasiert. Dunkles Haar. Das rechte Auge schwarz, das linke komischerweise grün. Die Brauen zwar beide schwarz, dafür jedoch die eine höher als die andere. Kurzum, ein Ausländer.

Der Ausländer ging zunächst an der Bank vorbei, auf welcher der Redakteur und der Dichter saßen, sah die beiden dann aber von der Seite an, blieb stehen und setzte sich auf die nächste Bank, zwei Schritte von den Plaudernden entfernt.

»Ein Deutscher«, dachte Berlioz.

»Ein Engländer«, dachte Besdomny. »Dass er nicht schwitzt mit diesen Handschuhen!«

Der Ausländer blickte neugierig auf die hohen Gebäude, die den rechteckigen Teich umrahmten. Offenbar sah er den Ort zum ersten Mal. Sein Blick blieb an den oberen Etagen hängen, in deren Fenstern sich grell die zersplitterte Sonne spiegelte, als sie Berlioz den letzten Abschiedsgruß entbot.

Dann schaute er weiter unten an den sich vorabendlich verdunkelnden Scheiben entlang, schmunzelte über irgendetwas, kniff die Augen zusammen, legte die Hände auf den Knauf seines Spazierstocks und das Kinn auf die Hände.

»Nun, Iwan«, sagte währenddessen der Redakteur, »die satirische Darstellung der Geburt Jesu ist dir sehr gut gelungen, aber das Wesentliche ist doch, dass schon vor Jesus eine ganze Reihe von Gottessöhnen geboren wurde, wie beispielsweise der phönizische Adonis, der phrygische Attis oder der persische Mithras. Das heißt, sie wurden eben nicht geboren, keiner von ihnen hat wirklich existiert, auch Jesus nicht! Anstatt also seine Geburt oder, sagen wir, die Ankunft der drei Könige darzustellen, musst du schildern, wie all diese absurden Gerüchte zustande gekommen sind. Du schreibst aber so, als wäre er tatsächlich geboren worden!«

Besdomny versuchte, den verdammten Schluckauf zu stoppen, indem er die Luft anhielt, was die Plage nur noch schlimmer und lauter machte, und im selben Moment unterbrach Berlioz den Vortrag, weil der Ausländer plötzlich aufstand und zu ihnen herüberkam.

Überrascht sahen sie ihn an.

»Verzeihen Sie bitte«, sprach er mit Akzent, ansonsten jedoch in korrektem Russisch, »dass ich mir erlaube, auch wenn wir uns nicht kennen – aber das Thema Ihrer gelehrten Konversation ist für mich von solchem Interesse, dass …«

Hier nahm er mit einer kultivierten Geste seine Baskenmütze ab, und den Freunden blieb nichts weiter übrig, als sich leicht von ihren Plätzen zu erheben und eine halbe Verbeugung zu machen.

»Nein, eher ein Franzose«, dachte Berlioz.

»Ein Pole?«, dachte Besdomny.

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass der Ausländer dem Dichter vom ersten Wort an widerwärtig war. Berlioz hingegen fand ihn eher sympathisch – das heißt, nicht unbedingt sympathisch, aber, nun ja … faszinierend.

»Darf ich mich zu Ihnen gesellen?«, fragte der Ausländer höflich, und irgendwie ergab es sich so, dass die beiden auseinanderrückten. Flink setzte er sich zwischen sie und übernahm das Gespräch.

»Wenn ich mich nicht verhört habe, beliebten Sie zu sagen, Jesus habe nie existiert?«, und er richtete sein linkes grünes Auge auf Berlioz.

»Nein, Sie haben sich durchaus nicht verhört«, antwortete Berlioz galant, »genau das habe ich gesagt.«

»Ach, wie aufregend!«, rief der Ausländer.

»Was zum Teufel will der?«, dachte Besdomny und runzelte die Stirn.

»Und Sie, haben Sie zugestimmt?«, fragte der Fremde, nun in seine Richtung gewandt.

»Aber total!«, bestätigte der junge Mann, der sich gern dergestalt blumig und poetisch ausdrückte.

»Fabelhaft!«, rief der ungebetene Gesprächspartner. Dann schaute er sich verstohlen um, dämpfte seine tiefe Stimme und fuhr fort: »Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber wenn ich Sie recht verstehe, dann glauben Sie auch nicht an Gott?« Er riss erschrocken die Augen auf und fügte hinzu: »Ich schwöre, ich werde es niemandem verraten!«

»Nein, wir glauben nicht an Gott«, erwiderte Berlioz, das Entsetzen des Touristen milde belächelnd, »aber darüber kann man bei uns ganz frei sprechen.«

Der Ausländer lehnte sich auf der Bank zurück und kreischte, geradezu vor Neugier platzend:

»Sie sind also Atheisten?!«

»Ja, wir sind Atheisten«, schmunzelte Berlioz, während Besdomny wütend dachte: »Was rückt uns der denn so auf die Pelle, der verflixte Westler!«

»Oh, wie zauberhaft!«, rief der wundersame Fremde und drehte den Kopf vom einen zum anderen.

»Hierzulande kann der Atheismus niemanden überraschen«, sagte Berlioz diplomatisch. »Die Mehrheit unserer Bevölkerung hat längst bewusst aufgehört, an Märchen über Gott zu glauben.«

Da zog der Ausländer die folgende Nummer ab – er stand auf, schüttelte dem staunenden Redakteur die Hand und sagte:

»Erlauben Sie mir, Ihnen von Herzen zu danken!«

»Wofür das denn?«, erkundigte sich Besdomny und blinzelte verwirrt.

»Für eine sehr wichtige Information, die für mich als Reisenden von großem Interesse ist«, erklärte der komische Ausländer und hob bedeutungsvoll den Zeigefinger.

Diese wichtige Information hatte wohl tatsächlich einen starken Eindruck auf ihn gemacht, denn sein Blick streifte bang über die Häuser, offenbar in der Befürchtung, hinter jedem Fenster sitze ein Atheist.

»Nein, Engländer ist er nicht«, dachte Berlioz, während Besdomny sich stirnrunzelnd wunderte: »Wo hat der bloß das ganze Russisch aufgeschnappt?«

»Aber gestatten Sie mir die Frage«, sprach der Reisende nach einigem besorgten Überlegen, »was ist es denn dann mit den Beweisen der Gottesexistenz, derer es bekanntlich exakt fünf gibt?«

»Tut mir leid«, erwiderte Berlioz bedauernd, »kein einziger dieser Beweise taugt etwas; die Menschheit hat sie längst für nichtig erklärt. Sie werden doch zustimmen, dass es nach vernünftigen Maßstäben keinen Beweis für die Existenz Gottes geben kann.«

»Bravo!«, rief der Ausländer. »Bravo! Da sind Sie mit dem guten alten Immanuel ganz auf einer Linie. Das Kuriose ist bloß: Der emsige Alte hat zwar alle fünf Beweise in Grund und Boden gestampft, doch dann, wie um sich selbst zu verhöhnen, einen sechsten zusammengebastelt!«

»Kants Beweis«, widersprach der hochgebildete Redakteur mit einem feinsinnigen Lächeln, »ist ebenso wenig überzeugend. Nicht umsonst sagt Schiller, die kantsche Argumentation in dieser Frage sei nur für Knechte geeignet. Auch Strauss hatte für diesen Beweis nichts als Spott übrig.«

Während er das sagte, dachte er: »Ja aber, wer ist er denn? Und warum spricht er so fließend Russisch?«

»Dieser Kant, der gehört auf die Solowki-Inseln für solche Beweise! So für drei Jährchen, wenn’s recht wär!«, platze Iwan heraus.

»Aber Iwan!«, flüsterte Berlioz verlegen.

Indessen war der Ausländer von dem Vorschlag, Kant in ein Lager zu schicken, keineswegs schockiert, sondern vielmehr überaus entzückt.

»Ganz genau!«, rief er, und sein grünes linkes Auge, das Berlioz zugewandt war, leuchtete auf, »da gehört er hin! Ich habe ihm ja damals schon beim Frühstück gesagt: ›Wie Sie wollen, Herr Professor, aber was Sie sich da ausgedacht haben, ist ungereimt! Es mag ja klug sein, aber viel zu kompliziert. Man wird Sie auslachen.‹«

Berlioz starrte ihn an. Kant? Beim Frühstück? Was redete er denn da?

So unübersehbar das Befremden des Redakteurs auch war, der Ausländer sprach ungeniert weiter, wobei er sich nun an den jungen Dichter wandte: »Man kann ihn aber nicht auf die Solowki schicken, aus dem einfachen Grunde, dass er seit über hundert Jahren an einem weitaus entlegeneren Ort weilt. Ihn von dort zu extrahieren ist ganz und gar unmöglich, das kann ich Ihnen versichern.«

»So ein Pech aber auch!«, versetzte der Dichter zänkisch.

»Finde ich ebenfalls«, sagte der Fremde mit funkelndem Auge und fuhr fort: »Da stellt sich mir nun aber eine Frage: Wenn es keinen Gott gibt, wer ist es dann, der über das Leben des Menschen und das ganze irdische Geschehen schaltet und waltet?«

»Der Mensch halt!«, erwiderte Besdomny augenblicklich und gereizt auf die zugegebenermaßen nicht allzu klare Frage.

»Verzeihung«, sprach der Unbekannte sanft, »aber zum Walten braucht man doch einen genauen und einigermaßen langfristigen Plan. Darf ich fragen, wie der Mensch walten soll, wenn er doch selbst für eine lächerlich kurze Spanne – sagen wir, tausend Jahre – nicht planen kann, ja wenn er nicht einmal für sein persönliches Morgen zu bürgen vermag? Stellen Sie sich zum Beispiel vor«, hier wandte er sich an Berlioz, »Sie fangen an, über sich und andere zu schalten und zu walten, kommen sozusagen auf den Geschmack, und plötzlich – öchött, öchött – ein Lungensarkom …« Hier grinste der Ausländer genüsslich, als würde ihm der Gedanke an ein Lungensarkom Vergnügen bereiten.

»Ja, ein Sarkom«, er wiederholte das sonore Wort und kniff katzenhaft die Augen zusammen, »und schon ist alles Walten vorbei! Sie interessieren sich nur noch für Ihr eigenes Schicksal. Ihre Nächsten beginnen, Sie anzulügen; Sie befürchten das Schlimmste, eilen zu gelehrten Ärzten, dann zu Quacksalbern, schließlich vielleicht gar zu Wahrsagern. Sie wissen sehr wohl, dass das Erste und das Zweite genauso sinnlos ist wie das Dritte. Das Ganze endet tragisch: Gerade haben sie noch scheinbar über ihr Leben gewaltet, und schon liegen Sie reglos in einer Holzkiste; die Menschen um Sie herum stellen fest, dass Sie für nichts mehr zu gebrauchen sind, und verbrennen Sie in einem Ofen. Oder es kommt noch schlimmer: Da beschließt einer, nach Kislowodsk zu fahren«, hier schielte der Ausländer auf Berlioz, »scheinbar keine große Sache, aber selbst das schafft er nicht, denn plötzlich rutscht er aus und gerät unter eine Straßenbahn! Sie werden doch nicht sagen, er wollte selbst dergestalt über sein Leben schalten und walten? Müsste man nicht vielmehr annehmen, er wurde von jemand anderem verwaltet und ausgeschaltet?« Und der Unbekannte lachte seltsam auf.

Berlioz lauschte gebannt der unbehaglichen Erzählung von dem Sarkom und der Straßenbahn, und ihm wurde immer mulmiger. »Das ist kein Ausländer!«, dachte er. »Nein, kein Ausländer, sondern ein höchst eigentümliches Subjekt … Ja, aber wer ist er denn nun?«

»Sie würden gerne rauchen, wie ich sehe«, wandte sich der Fremde plötzlich an Besdomny. »Mit welcher Marke kann ich dienen?«

»Haben Sie eine Auswahl dabei oder was?«, erkundigte sich mürrisch der Dichter, dem die Zigaretten ausgegangen waren.

»Mit welcher Marke kann ich dienen?«, wiederholte der Unbekannte.

»Sowjetskaja, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen«, gab Besdomny zänkisch zurück.

Sogleich holte der Unbekannte ein Zigarettenetui aus der Hosentasche und hielt es ihm hin: »Hier, Sowjetskaja.«

Was den Redakteur und den Dichter am meisten verblüffte, war weniger die Tatsache, dass sich ausgerechnet Zigaretten dieser Marke in dem Etui befanden, sondern vielmehr das Etui selbst. Es war von gewaltiger Größe und aus reinem Dukatengold; beim Öffnen blitzte auf dem Deckel ein Dreieck aus Diamanten weißblau auf.

Darauf nun dachten die beiden sich gänzlich verschiedene Dinge. Berlioz: »Also doch ein Ausländer!« Besdomny aber: »Na so was aber auch, verflixt und zugenäht!«

Der Dichter und der Besitzer des Etuis zündeten sich je eine an, der Nichtraucher Berlioz lehnte ab.

»Ich sollte folgendermaßen erwidern«, beschloss Berlioz, »gewiss, der Mensch ist sterblich, das will ja niemand bestreiten. Aber die Sache ist –«

Doch ehe er diese Worte aussprechen konnte, sagte der Ausländer: »Gewiss, der Mensch ist sterblich, aber das wäre halb so schlimm. Das Schlimme ist: Er ist ganz unvermittelt sterblich. Das ist des Pudels Kern! Der Mensch kann noch nicht mal sagen, was er am selben Abend macht.«

»Was für eine absurde Behauptung«, dachte Berlioz. Laut sagte er: »Nun, das ist wahrhaftig eine Übertreibung. Ich weiß durchaus, was ich heut Abend mache. Natürlich, wenn mir auf der Bronnaja ein Ziegelstein auf den Kopf fällt –«

»Aus heiterem Himmel«, versetzte der Fremde gewichtig, »fällt niemandem ein Ziegelstein auf den Kopf. Insbesondere in Ihrem Fall, das kann ich Ihnen versichern, besteht keine solche Gefahr. Sie werden eines anderen Todes sterben.«

»Wissen Sie womöglich auch, eines welchen?«, erkundigte sich Berlioz mit vollkommen verständlicher Ironie. Das Gespräch wurde immer absurder. »Und würden Sie es mir gar verraten?«

»Mit Vergnügen«, antwortete der Unbekannte. Er musterte Berlioz von oben bis unten, als wollte er ihm einen Anzug nähen, murmelte etwas wie »eins, zwei … Merkur im zweiten Haus … der Mond verschwindet … sechs, Unglück … Abend – sieben …«, und verkündete dann laut und freudig: »Ihnen wird der Kopf abgetrennt!«

Besdomny starrte den unverfrorenen Unbekannten mit wilder Wut an, während Berlioz mit einem schiefen Grinsen fragte: »Von wem denn? Von Feinden? Von westlichen Spionen?«

»Nichts dergleichen. Von einer Russin, einer jungen Kommunistin.«

»Hmpf«, grunzte Berlioz, verärgert über den dreisten Scherz. »Sie müssen mir schon verzeihen, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich.«

»Ich bitte ebenfalls, mir zu verzeihen, aber es ist nun einmal so. Was haben Sie denn heute Abend vor, wenn ich fragen darf?«

»Fragen dürfen Sie schon. Ich gehe erst kurz heim, in die Sadowaja, und dann gibt es abends um zehn eine Sitzung im MassLit, dort werde ich den Vorsitz führen.«

»Nein, das kann nicht sein«, erwiderte der Ausländer entschieden.

»Und warum nicht?«

»Darum«, der Ausländer blinzelte zum Himmel hinauf, wo schwarze Vögel in Erwartung der Abendkühle lautlos ihre Bahnen zogen, »weil Annuschka das Sonnenblumenöl bereits gekauft hat, ja nicht nur gekauft, sondern auch schon verschüttet. Also findet die Sitzung nicht statt.«

Daraufhin herrschte, wie man sich denken kann, Stille unter den Linden.

»Verzeihung«, sprach Berlioz nach einer Pause und musterte den offenbar übergeschnappten Fremden, »aber was hat denn Sonnenblumenöl mit dem Ganzen zu tun? Und wer ist bitte diese Annuschka?«

»Sonnenblumenöl hat mit dem Ganzen Folgendes zu tun –«, fuhr Besdomny dazwischen, offenbar entschlossen, dem ungebetenen Gesprächspartner den Krieg zu erklären, »– sind Sie schon mal in einer Anstalt für Geisteskranke gewesen, Bürger?«

»Iwan!«, rief Berlioz leise.

Der Ausländer war aber keinesfalls beleidigt, sondern brach in denkbar fröhliches Gelächter aus.

»Aber sicher, aber sicher doch, recht oft sogar!«, gestand er lachend. Sein Auge aber, mit dem er den Dichter anstarrte, das lachte nicht. »Ja, wo bin ich wohl nicht gewesen! Schade nur, dass ich nicht dazu gekommen bin, den Professor zu fragen, was Schizophrenie ist. Das müssen Sie schon selbst herausfinden, mein lieber Herr Besdomny!«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich bitte Sie, wer kennt Sie denn nicht?« Damit zog der Ausländer die Literaturgazette vom Vortag aus der Tasche, und Iwan sah auf der ersten Seite sein eigenes Konterfei und darunter seine Verse. Doch dieses Ruhmesblatt, das ihn gestern noch so erfreut hatte, bereitete ihm diesmal kein Vergnügen.

»Entschuldigung«, sagte er, und seine Miene wurde düster, »könnten Sie wohl einen Moment warten? Ich will ein paar Worte an meinen Kameraden richten.«

»Aber herzlich gern!«, beteuerte der Fremde. »Es ist so schön hier unter den Linden, und im Übrigen, ich habe es nicht eilig.«

»Hör zu, Michail«, flüsterte der Dichter, nachdem er Berlioz beiseite gezerrt hatte, »das ist gar kein ausländischer Tourist, das ist ein Spion! Ein zurückgeschleuster russischer Emigrant. Frag ihn nach seinen Papieren, eh er entkommt!«

»Meinst du?«, wisperte Berlioz besorgt und dachte: »Da hat er wohl recht!«

»Glaub mir«, krächzte ihm der Dichter ins Ohr, »er tut nur so dumm, um etwas herauszufinden. Hörst du, wie gut er Russisch spricht?« Während er redete, schielte er immer wieder zur Seite, damit der Unbekannte sich ja nicht davonmachte. »Komm, wir müssen ihn aufhalten, sonst entkommt er noch.«

Und damit eilten der Dichter und Berlioz zurück.

Der Unbekannte saß jetzt nicht mehr auf der Bank, sondern stand daneben. In den Händen hielt er ein dunkelgrau eingebundenes Heftchen, einen dicken Umschlag aus gutem Papier und eine Visitenkarte.

»Entschuldigen Sie, dass ich in der Hitze der Diskussion vergaß, mich vorzustellen. Hier sind meine Visitenkarte, mein Reisepass und eine Einladung, als Berater nach Moskau zu kommen«, sagte der Fremde gewichtig und schaute die beiden mit wissendem Blick an.

Das war ihnen nun peinlich. »Teufel aber auch, er hat alles gehört«, dachte Berlioz und deutete mit einer höflichen Geste an, dass es nicht nötig sei, irgendwelche Nachweise vorzulegen. Aber der Ausländer hielt dem Redakteur die Papiere vor die Nase, und der Dichter erhaschte auf der Karte das Wort »Professor« in lateinischen Lettern sowie den Anfangsbuchstaben eines Namens, ein W.

»Sehr erfreut«, murmelte der Redakteur verlegen, und der Ausländer steckte die Papiere wieder ein. Damit war der Friede wiederhergestellt, und alle drei setzten sich von Neuem auf die Bank.

»Sie wurden also als Berater eingeladen, Herr Professor?«, erkundigte sich Berlioz.

»Jawohl.«

»Sind Sie Deutscher?«, fragte Besdomny.

»Wer, ich?« Der Professor wurde auf einmal nachdenklich. »Ja, ich bin wohl Deutscher«, sagte er schließlich.

»Ihr Russisch ist aber tipptopp«, bemerkte Besdomny.

»Ich spreche überhaupt in vielen Zungen.«

»Was ist denn Ihr Fachgebiet?«, wollte Berlioz wissen.

»Ich bin Spezialist für schwarze Magie.«

»Das ist ja ein Ding!«, pochte es im Kopf des Redakteurs. »Und Sie – man hat Sie in dieser Eigenschaft nach Moskau eingeladen?«, fragte er stotternd.

»Ja, in ebendieser Eigenschaft«, sagte der Professor und erklärte: »In der Staatsbibliothek sind einige Originalmanuskripte des Totenbeschwörers Gerbert von Aurillac gefunden worden, zehntes Jahrhundert, diese soll ich nun durchsehen. Ich bin weltweit der einzige Experte.«

»Ah, Sie sind Geschichtswissenschaftler?«, fragte Berlioz mit großer Erleichterung und Respekt.

»Jawohl«, bestätigte der Gelehrte und fügte unvermittelt hinzu: »Heute Abend passiert übrigens am Patriarchenteich eine spannende Geschichte!«

Das verblüffte nun wieder sowohl den Dichter als auch den Redakteur. Der Professor winkte sie indes näher zu sich heran, und als sie sich zu ihm herüberbeugten, flüsterte er: »Dass Sie es nur wissen: Jesus hat existiert.«

»Sehen Sie, Herr Professor«, erwiderte Berlioz und rang sich ein Lächeln ab, »wir respektieren Ihre Gelehrsamkeit, aber in dieser Frage sind wir anderer Ansicht.«

»Das ist keine Frage von irgendwelchen Ansichten«, entgegnete der seltsame Professor, »er hat existiert, Punktum.«

»Aber es braucht doch einen Beweis –«, sagte Berlioz.

»Nein, auch einen Beweis braucht es nicht«, versetzte der Professor. Und dann begann er leise und mit einem Mal akzentfrei zu erzählen: »Sehen Sie: Im weißen Umhang mit blutrotem Saum, frühmorgens am vierzehnten Tage des Frühlingsmonats Nisan, betrat …«

Kapitel 2 Pontius Pilatus

Im weißen Umhang mit blutrotem Saum, frühmorgens am vierzehnten Tage des Frühlingsmonats Nisan, betrat mit schleppendem Gang, der sogleich den Reiter erkennen ließ, ein Mann die Kolonnade zwischen den beiden Flügeln des Palasts von Herodes dem Großen: Pontius Pilatus, der Prokurator von Judäa.

Nichts verabscheute der Prokurator so sehr wie den Geruch von Rosenöl, und nun sprach alles dafür, dass dieser Tag kein guter werden sollte, verfolgte ihn doch dieser Geruch schon seit dem Morgengrauen. Es schien dem Prokurator, als komme er von den Zypressen und den Palmen im Garten; selbst durch den Mief nach Lederrüstungen und Schweiß, den sein Geleit verströmte, drang der verfluchte Gestank der Rosen. Aus den Gebäuden hinter dem Palast, in denen die erste Kohorte der Zwölften Legion einquartiert war, die der Prokurator nach Jerschalaim gebracht hatte, wehten Rauchschwaden über die obere Gartenterrasse hinunter in die Kolonnade – die Küchenbullen kochten schon das Mittagessen für die Centurien –, und selbst in die bitteren Rauchnoten mischte sich der fettige Rosendunst.

»Oh Götter, Götter, warum straft ihr mich? Kein Zweifel, das ist sie, da ist sie wieder, die unbesiegbare, furchtbare Krankheit … Hemikranie … Der halbe Kopf schmerzt, kein Mittel, kein Entkommen. Vielleicht, wenn ich versuche, den Kopf nicht zu bewegen –«

Auf dem Mosaikboden am Springbrunnen stand ein Sessel bereit; der Prokurator setzte sich, ohne irgendwen anzusehen, und streckte die Hand zur Seite aus. Ehrerbietig legte der Sekretär ein Pergament hinein. Der Prokurator warf einen flüchtigen Blick darauf, wobei er vor Schmerz das Gesicht unwillkürlich zu einer Grimasse verzog, reichte das Schriftstück wieder an den Sekretär und stieß mühsam hervor:

»Der Angeklagte kommt aus Galiläa? War der Fall schon beim Tetrarchen?«

»Jawohl, Herr Prokurator.«

»Und?«

»Er weigert sich, eine Entscheidung zu treffen, und sendet Euch das Todesurteil des Sanhedrin mit der Bitte um Eure Sanktionierung.«

Die Wange des Prokurators zuckte.

»Bringt den Angeklagten«, sagte er leise.

Alsbald führten zwei Legionäre einen etwa siebenundzwanzigjährigen Mann von der Gartenterrasse her auf den Balkon und bis vor den Sessel des Prokurators. Der Gefangene trug einen zerrissenen, alten hellblauen Chiton. Ein Lederband umfasste das weiße Tuch um seinen Kopf, die Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Unter dem linken Auge hatte er einen großen blauen Fleck, im Mundwinkel einen blutverkrusteten Striemen. Der Mann betrachtete den Prokurator mit beklommener Neugier.

Dieser schwieg eine Weile und fragte dann leise auf Aramäisch: »Du hast also das Volk angestiftet, den Tempel von Jerschalaim zu zerstören?«

Der Prokurator saß da wie versteinert, während er sprach, nur seine Lippen bewegten sich leicht. Ja, wie versteinert saß er da, denn er hatte Angst, seinen höllisch brennenden Kopf zu bewegen.

Der Mann mit den gefesselten Händen machte einen halben Schritt auf ihn zu und sprach: »Guter Mann! Glaube mir –«

Noch immer reglos, ohne die Stimme zu heben, fiel ihm der Prokurator ins Wort: »Mich nennst du einen guten Mann? Du irrst dich. In Jerschalaim geht das Gerücht, ich sei ein blutrünstiges Ungeheuer. Und dieses Gerücht stimmt.« Dann fügte er ebenso monoton hinzu: »Holt den Rattenschinder.«

Als Centurio Marcus, genannt der Rattenschinder, vor den Prokurator trat, war allen so, als sei es plötzlich dunkler geworden auf dem Balkon. Der Kommandeur der ersten Centurie überragte den größten Söldner der Legion um Haupteslänge und hatte so breite Schultern, dass er die morgendlich tiefstehende Sonne vollständig verdeckte.

»Der Verbrecher redet mich mit ›guter Mann‹ an«, sagte der Prokurator auf Lateinisch. »Schaff ihn hinaus und mach ihm klar, wie man mit mir zu sprechen hat. Aber nicht verstümmeln.«

Marcus der Rattenschinder bedeutete dem Gefangenen mitzukommen, und außer dem reglos verharrenden Prokurator schaute alles den beiden hinterher.

Überhaupt schauten dem Centurio stets alle hinterher, wo immer er erschien, allein schon seiner Größe wegen, und, besonders wenn man ihn zum ersten Mal sah, auch wegen seines entstellten Gesichts: Die Nase war ihm einst von einem germanischen Streitkolben zerschmettert worden.

Marcus polterte mit seinen schweren Caligae über den Mosaikboden, lautlos folgte ihm der Gefesselte, und dann war es ganz still in der Kolonnade, so still, dass man das Gurren der Tauben auf der Gartenterrasse hörte, und die arabeskenreichen Melodien des Wassers im Springbrunnen.

Gern wäre der Prokurator aufgestanden, gern hätte er sich, reglos verharrend, das Wasser über die Schläfe rinnen lassen. Aber er wusste: Auch das würde ihm nicht helfen.

Nachdem der Rattenschinder den Gefangenen in den Garten gebracht hatte, ließ er sich von einem Legionär, der am Fuße einer Bronzestatue stand, eine Peitsche reichen, holte gemächlich aus und zog sie dem Gefesselten über die Schultern. Die Bewegung des Centurios war lässig und leicht, doch der Gefangene brach zusammen und ging zu Boden, als hätte man ihm die Beine abgeschnitten; er keuchte, alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und sein Blick wurde leer.

Mit der Linken hob Marcus den Gefallenen wie einen leeren Sack in die Luft, stellte ihn auf die Füße und näselte in gebrochenem Aramäisch: »Den römischen Prokurator Hegemon nennen. Keine anderen Wörter sagen. Stillstehen. Verstehest mich, oder schlage dich?«

Der Gefangene schwankte, kam aber zu sich; die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, er holte Luft und antwortete heiser: »Ich verstehe dich. Schlage mich nicht.«

Einen Moment später stand er wieder vor dem Prokurator.

»Name?«, ertönte eine kranke, dumpfe Stimme.

»Mein Name?«, fragte der Gefangene hastig, sichtlich bestrebt, vernünftig zu sein und keinen Zorn mehr zu erregen.

Der Prokurator sagte leise: »Meinen kenne ich. Stell dich nicht dümmer als du bist. Dein Name.«

»Jeschua«, antwortete der Gefangene prompt.

»Beiname?«

»Ha-Nozri.«

»Wo kommst du her?«

»Aus der Stadt Gamala«, und er machte mit dem Kopf eine Geste, die andeuten sollte, dass sich irgendwo zu seiner Rechten, weit entfernt im Norden, die Stadt Gamala befand.

»Aus welchem Geblüte stammst du?«

»Das weiß ich nicht genau, ich kann mich an meine Eltern nicht erinnern. Man sagte mir, mein Vater sei Syrer gewesen.«

»Wo wohnst du?«

»Ich habe kein Zuhause«, sagte der Gefangene schüchtern, »ich wandere von Stadt zu Stadt.«

»Kurzum, ein Landstreicher. Familie?«

»Keine. Ich bin allein auf der Welt.«

»Kannst du lesen und schreiben?«

»Ja.«

»Sprichst du noch etwas anderes als Aramäisch?«

»Ja. Griechisch.«

Ein geschwollenes Lid hob sich, ein schmerzgetrübtes Auge fixierte den Gefangenen. Das andere Auge blieb geschlossen.

Pilatus redete nun Griechisch: »Du warst es also, der das Tempelgebäude zerstören wollte und das Volk dazu anstiftete?«

Hier belebte sich das Gesicht des Gefangenen wieder, die Angst wich aus seinen Augen, und er antwortete in der griechischen Sprache: »Niemals, gu –«

Wieder blitzte die Furcht auf, denn um ein Haar hätte er sich versprochen. »Niemals, Hegemon, nie im Leben wollte ich das Tempelgebäude zerstören, niemals habe ich irgendwen zu solch einer sinnlosen Tat angestiftet.«

Überraschung zeigte sich in der Miene des Sekretärs, der über einen niedrigen Tisch gebückt das Protokoll führte. Er hob kurz den Kopf, beugte sich aber gleich wieder über das Pergament.

»In dieser Stadt versammeln sich alle möglichen Menschen zum Fest. Da sind Magier, Astrologen, Wahrsager, Mörder«, sprach der Prokurator monoton, »und auch Lügner. Du zum Beispiel bist ein Lügner. Hier steht klar und deutlich geschrieben: stiftete an, den Tempel zu zerstören. Es gibt Menschen, die dies bezeugen.«

»Diese guten Menschen«, sagte der Gefangene und fügte hastig ein »Hegemon« hinzu, »sind ungebildet und haben mich missverstanden. Ich befürchte mittlerweile, dieses Durcheinander könnte noch lange so weitergehen. Und alles nur, weil dieser Mensch falsch aufschreibt, was ich sage.«

Stille trat ein. Inzwischen hatte der Prokurator auch das zweite, leidende Auge geöffnet; sein Blick lag schwer auf Jeschua Ha-Nozri.

»Ich wiederhole, nun aber zum letzten Mal: Spiel hier nicht den Verrückten, Schurke«, sagte er gleichmäßig und sanft, »es steht nicht viel in deiner Akte, aber genug, um dich zu hängen.«

»Nein, nein, Hegemon«, sprach der Gefangene erregt, bemüht, Pilatus zu überzeugen, »es gibt da so einen mit einem Ziegenpergament, der läuft mir nach auf Schritt und Tritt, und er schreibt, die ganze Zeit schreibt er. Einmal habe ich in dieses Pergament geschaut und war entsetzt. Ich habe nie etwas von dem gesagt, was dort geschrieben steht, nichts davon! Ich habe ihn angefleht: ›Verbrenn doch dein Pergament, um Gottes willen!‹ Aber er hat es mir aus den Händen gerissen und ist wegerannt.«

»Wer war das?«, fragte Pilatus mit Widerwillen und fasste sich an die Schläfe.

»Levi Matthäus«, erklärte Jeschua rasch, »er ist Steuereintreiber gewesen. Das erste Mal traf ich ihn auf der Straße in Bethanien, an der Ecke zum Feigenhain, da kam ich mit ihm ins Gespräch. Am Anfang war er feindselig, hat mich sogar beleidigt – das heißt, er hat gedacht, er würde mich beleidigen –, indem er mich einen Hund genannt hat.« Er lächelte. »Ich für meinen Teil finde an diesem Tier nichts Schlechtes und nehme keinen Anstoß an dem Wort.«

Überrascht hielt der Sekretär im Schreiben inne und sah verstohlen auf, doch galt sein Blick nicht etwa dem Gefangenen, sondern dem Prokurator.

»Aber nachdem er mich angehört hatte, wurde er milder«, fuhr der Gefangene fort, »schließlich warf er das Geld auf die Straße und sagte, er wolle mit mir wandern.«

Pilatus verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und wandte seinen Oberkörper dem Sekretär zu: »Oh, Jerschalaim! Was man hier nicht alles zu hören kriegt! Ein Steuereintreiber, hörst du, und wirft Geld auf die Straße!«

Darauf wusste der Sekretär nichts zu antworten, und so lächelte er zurück.

»Er hat eben gesagt, von nun an sei ihm Geld verhasst«, erklärte Jeschua die seltsame Tat und fügte hinzu: »Seitdem ist er mein Begleiter, dieser Levi Matthäus.«

Mit dem gleichen unguten Lächeln blickte der Prokurator erst auf den Gefangenen und dann nach der Sonne, die unaufhaltsam über den Reiterstatuen des Hippodroms weit unter ihm aufstieg, und auf einmal war da der quälende, fast schon Übelkeit erregende Gedanke, es brauchte nur zwei Worte, um diesen seltsamen Verbrecher loszuwerden: »Hängt ihn.« Dann das Geleit wegschicken, die Kolonnade verlassen, in den Palast gehen, auf dem Bett zusammenbrechen, das Zimmer verdunkeln, kaltes Wasser holen lassen, stöhnend nach dem Hund rufen und sich bei ihm, bei Banga, über die Hemikranie beklagen. Und jäh blitzte im kranken Kopf des Prokurators ein verlockender Gedanke auf, der Gedanke an Gift.

Er schaute den Gefangenen dumpf an, schwieg eine Zeit lang und versuchte schmerzhaft, sich zu erinnern, warum dieser Mensch mit dem wund geprügelten Gesicht in der gnadenlosen Morgensonne Jerschalaims vor ihm stand, und was für unnötige Fragen er ihm sonst noch stellen musste.

»Levi Matthäus?«, wiederholte der Kranke heiser und schloss die Augen.

»Ja, Levi Matthäus«, die Antwort gellte schmerzhaft in seinen Ohren.

»Nun, was hast du denn der Menge auf dem Basar wirklich über den Tempel gesagt?«

Jetzt war es dem Prokurator, als bohre sich die Stimme des Gefangenen geradewegs in seine Schläfe. Es tat unsagbar weh, als sie fortfuhr: »Ich sagte, Hegemon, der Tempel des alten Glaubens würde fallen, und ein neuer Tempel der Wahrheit würde entstehen. Ich habe das so gesagt, um es verständlicher zu machen.«

»Warum hast du die Leute auf dem Basar aufgewiegelt, du Landstreicher, mit deinem Gerede von Wahrheit, von der du keine Ahnung hast? Was ist Wahrheit?«

Und sogleich dachte der Prokurator: »Oh Götter, Götter! Diese Frage hat in einer Vernehmung nichts zu suchen … Mein Verstand gehorcht mir nicht mehr.« Wieder stellte er sich eine Schale dunkler Flüssigkeit vor. »Gift will ich, Gift …«

Erneut hörte er die Stimme: »Die Wahrheit ist zuallererst, dass dir der Kopf schmerzt, und zwar so sehr, dass du kleinmütig an den Tod denkst. Mit mir zu sprechen, ja sogar mich anzusehen, fällt dir schwer. Ich bin jetzt dein unwilliger Folterer, und das macht mich traurig. Du kannst nicht mal mehr denken, du wünschst dir nur noch, dein Hund würde kommen, anscheinend das einzige Wesen, an dem du hängst. Aber bald ist dein Leiden vorüber, deine Kopfschmerzen werden verschwinden.«

Der Sekretär hielt mitten im Wort inne, hörte auf zu schreiben und starrte den Gefangenen an.

Gequält hob Pilatus den Blick und sah, dass die Sonne bereits recht hoch über dem Hippodrom stand, dass einer ihrer Strahlen in die Kolonnade eingedrungen war und über die abgenutzten Sandalen von Jeschua kriechen wollte, der vor dem grellen Licht zurückscheute.

Der Prokurator stand auf; er umklammerte den Kopf mit beiden Händen, und Entsetzen entstellte sein glattrasiertes gelbliches Gesicht. Doch er beherrschte sich sogleich wieder und ließ sich in den Sessel sinken.

Unterdessen sprach der Gefangene weiter, aber der Sekretär schrieb nicht mehr mit, sondern reckte nur noch wie eine Gans den Hals, um ja kein Wort zu versäumen.

»Da, schon ist es vorbei«, Jeschua Ha-Nozri sah Pilatus wohlwollend an, »und darüber bin ich sehr froh. Ich würde dir raten, Hegemon, den Palast für eine Weile zu verlassen und einen Spaziergang zu machen, zum Beispiel in die Gärten am Ölberg. Es wird ein Gewitter geben«, er drehte sich um und blinzelte in die Sonne, »aber erst am Abend. Ein Spaziergang würde dir guttun, und ich würde dich gerne begleiten. Mir sind ein paar neue Gedanken gekommen, die für dich vielleicht interessant wären, und ich möchte sie gerne mit dir teilen, zumal mir scheint, dass du ein sehr kluger Mensch bist.«

Der Sekretär wurde totenblass und ließ die Schriftrolle auf den Boden fallen.

»Du leidest daran«, fuhr der Gefangene fort, und niemand unterbrach ihn, »dass du zu verschlossen bist und den Glauben an die Menschen verloren hast. Man kann doch nicht seine ganze Zuneigung in einen Hund stecken, nicht wahr? Dein Leben ist verarmt, Hegemon.« Hier erlaubte er sich ein Lächeln.

Der Sekretär war sich nicht sicher, ob er seinen Ohren trauen sollte. Allein, was blieb ihm weiter übrig? Er versuchte sich auszumalen, was für eine absonderliche Form der Zorn des aufbrausenden Prokurators angesichts solch unerhörter Unverfrorenheit wohl annehmen würde. Doch so gut der Sekretär den Prokurator auch kannte, hier versagte seine Fantasie.

Schließlich ertönte die brüchige Stimme des Prokurators, der heiser auf Lateinisch sagte: »Bindet ihn los.«

Einer aus dem Geleit stieß mit seinem Speer auf den Boden, reichte ihn einem anderen Legionär, ging hin und nahm dem Gefangenen die Fesseln ab. Der Sekretär beschloss, vorerst nichts aufzuschreiben und sich über nichts mehr zu wundern.

»Gestehe«, sagte Pilatus leise, nun wieder auf Griechisch, »du bist wohl ein großer Arzt?«

»Nein, ich bin kein Arzt«, antwortete Jeschua und rieb sich lustvoll die befreiten Handgelenke, die rotgequetscht und geschwollen waren.

Pilatus blickte ihn an, und seine Augen waren nicht mehr dumpf, sondern sprühten ihre wohlbekannten Funken.

»Ich hatte dich nicht gefragt«, sagte er, »sprichst du vielleicht auch Lateinisch?«

»Ja, Prokurator.«

Pilatus’ gelbliche Wangen wurden rot, und er fragte in dieser Sprache: »Woher wusstest du, dass ich den Hund rufen wollte?«

»Ganz einfach«, antwortete der Gefangene. »Du hast deine Hand in der Luft bewegt«, er wiederholte Pilatus’ Geste, »wie zum Streicheln, und deine Lippen –«

»Ja«, sagte Pilatus. Er schwieg eine Zeit lang und fragte dann, diesmal auf Griechisch: »Bist du also Arzt?«

»Nein, nein«, entgegnete Jeschua mit Nachdruck, »glaub mir, ich bin kein Arzt.«

»Nun gut, wenn du es geheim halten willst, das ist deine Sache. Das hat mit der Angelegenheit kaum etwas zu tun. Du behauptest also, nicht zur Zerstörung des Tempels angestiftet zu haben, noch dazu, ihn anzuzünden oder in sonst irgendeiner Weise zu vernichten?«

»Ich wiederhole, ich habe niemanden zu solchen Handlungen angestiftet, Hegemon. Wirke ich etwa wie ein Schwachsinniger?«

»Oh nein, du wirkst keineswegs wie ein Schwachsinniger«, erwiderte der Prokurator leise, und sein Lächeln hatte etwas Furchtbares, »schwöre also, dass du nichts dergleichen getan hast.«

»Wobei soll ich schwören?«, fragte der seiner Fesseln ledige Gefangene lebhaft.

»Nun, sagen wir, bei deinem Leben. Es ist höchste Zeit, bei deinem Leben zu schwören, denn wisse – es hängt an einem Haar.«

»Du glaubst doch nicht etwa, du hättest es aufgehängt, Hegemon? Wenn doch, dann irrst du gewaltig.«

Pilatus zuckte zusammen und zischte: »Ich kann dieses Haar jedenfalls durchschneiden.«

»Auch darin irrst du dich.« Der Gefangene lächelte milde und hielt die Hand gegen die Sonne. »Gewiss kann doch allein derjenige das Haar durchschneiden, der das Leben daran aufgehängt hat, nicht wahr?«

»So, so«, schmunzelte Pilatus zurück, »ich weiß vielleicht nicht, wieso dein Leben an einem Haar hängt, aber warum die schaulustigen Nichtstuer von Jerschalaim an deinen Lippen hängen – das weiß ich. Eine flinke Zunge hast du, das muss man dir lassen. Übrigens: Stimmt es, dass du auf einem Esel durch das Susa-Tor nach Jerschalaim hereingeritten bist, begleitet von allerlei Gesindel, das dich als Prophet feierte?« Hier deutete der Prokurator auf die Pergamentrolle.

Jeschua schaute ihn verdutzt an.

»Ich habe gar keinen Esel, Hegemon«, sagte er. »Ich bin zwar wirklich durch das Susa-Tor nach Jerschalaim gekommen, aber zu Fuß, allein von Levi Matthäus begleitet, und gefeiert hat mich auch niemand, weil mich damals in Jerschalaim gar niemand kannte.«

»Kennst du zufällig«, fuhr Pilatus fort, ohne den Gefangenen aus den Augen zu lassen, »einen gewissen Dismas, einen Gestas und einen Bar-Rabban?«

»Nein, diese guten Menschen kenne ich nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Erkläre mir dann, warum du schon wieder ›gute Menschen‹ sagst. Heißen bei dir etwa alle so?«

»Ja, alle. Es gibt keine schlechten Menschen auf der Welt.«

»Na, das höre ich ja zum ersten Mal. Aber vielleicht weiß ich zu wenig vom Leben!«, grinste Pilatus. »Du brauchst nicht mehr mitzuschreiben«, wandte er sich an den Sekretär, der ohnehin längst aufgehört hatte zu protokollieren, und sprach dann weiter: »Hast du das aus irgendeinem griechischen Buch?«

»Nein, ich habe es selbst herausgefunden.«

»Und das predigst du?«

»Ja.«

»Nehmen wir doch mal den Centurio Marcus; man nennt ihn den Rattenschinder. Ist er ein guter Mensch?«

»Ja«, antwortete der Gefangene, »aber er ist ein unglücklicher Mensch. Seit die guten Menschen ihn entstellt haben, ist er grausam und hart geworden. Ich wollt, ich wüsste, wer ihn so verstümmelt hat.«

»Das kann ich dir gern berichten, ich war nämlich dabei. Die guten Menschen stürzten sich auf ihn wie die Hunde auf einen Bären. Die Germanen hingen ihm am Hals, an den Armen, an den Beinen. Der Infanterie-Manipel war umzingelt, und hätte nicht eine Kavallerie-Turma, die übrigens unter meinem Kommando stand, die Flanke durchbrochen, dann hättest du heute nicht das Vergnügen seiner Bekanntschaft. Es war die Schlacht von Idistaviso, im Tal der Jungfrauen.«

»Einmal mit ihm reden …«, sinnierte der Gefangene verträumt, »ich bin mir sicher, das würde ihn sehr verändern.«

»Ich vermute«, erwiderte Pilatus, »der Legat wäre nicht begeistert, solltest du versuchen, mit einem seiner Offiziere oder Soldaten zu sprechen. Das wird aber zum Glück nicht passieren, dafür werde ich zu sorgen wissen.«

In diesem Moment sauste eine Schwalbe in die Kolonnade, drehte unter der goldenen Decke einen Kreis, schoss nach unten, streichelte mit ihrem spitzen Flügel beinahe das Gesicht einer bronzenen Nischenstatue und verschwand hinter dem Kapitell einer Säule. Vielleicht war sie auf die Idee verfallen, dort zu nisten.

Während die Schwalbe noch dahinflog, entstand im Kopf des Prokurators, in welchem nunmehr Leichtigkeit und Klarheit herrschten, eine Formulierung: Der Hegemon hat den Fall des Wanderphilosophen Jeschua, genannt Ha-Nozri, untersucht und keinen Straftatbestand gefunden. Insbesondere konnte er keinerlei Zusammenhang zwischen Jeschuas Handeln und den jüngsten Unruhen in Jerschalaim feststellen. Der Wanderphilosoph hat sich als psychisch krank erwiesen. Folglich lehnt der Prokurator das von dem Kleinen Sanhedrin gegen Ha-Nozri verhängte Todesurteil ab. Da aber der utopische Unfug des Ha-Nozri die Gemüter in der Stadt aufwiegeln könnte, entfernt der Prokurator ihn aus Jerschalaim und sperrt ihn ein in Caesarea am Mittelmeer, unweit seiner eigenen Residenz …

Es blieb nur, dies dem Sekretär zu diktieren.

Pfft machten die Schwalbenflügel über dem Kopf des Hegemonen; der Vogel huschte zum Brunnenbecken und entschwand sodann in die Freiheit. Pilatus blickte auf, schaute den Gefangenen an und sah, wie die um ihn flirrenden Staubkörnchen zu einer leuchtenden Säule wurden.

»War das alles?«, fragte Pilatus den Sekretär.

»Nein, zu meinem Bedauern«, antwortete dieser überraschend und reichte ihm ein weiteres Pergament.

»Was denn noch?« Der Prokurator legte die Stirn in Falten.

Nachdem er gelesen hatte, was ihm übergeben worden war, veränderte sich sein Gesicht vollends. Es verlor seinen Gelbstich und wurde graubraun, die Haut füllte sich mit dunklem Blut, die Augäpfel versanken tief in ihren Höhlen.

Wohl ebenfalls des Blutes wegen, das ihm in die Schläfen stieg und dort pulsierte, geschah etwas mit dem Augenlicht des Prokurators. Es kam ihm vor, als sei der Kopf des Gefangenen davongeschwommen und an seiner Stelle ein anderer erschienen. Dieser neue Kopf hatte eine Glatze und trug einen unregelmäßig gezackten goldenen Kranz. Auf der Stirn fraß sich eine runde, salbenverschmierte Schwäre in die Haut. Der Mund eingefallen, zahnlos, mit gleichsam schmollend vorgeschobener Unterlippe. Es schien Pilatus, als verschwänden die rosa Säulen des Balkons und die Dächer von Jerschalaim irgendwo in der Tiefe, als ertränke alles im dichtesten Grün der capreischen Gärten. Auch mit seinem Gehör passierte etwas Seltsames: Er vermeinte in der Ferne Posaunen zu hören, gedämpft und bedrohlich, und dann, ganz deutlich, eine arrogant näselnde, jedes Wort zerdehnende Stimme, die verkündete: »Erlass in Sachen Majestätsbeleidigung …«

Da rasten hektisch die Gedankenfetzen, ungereimt und unerhört: »Verloren!« Und dann: »Beide, verloren!« Und dann noch etwas völlig Absurdes, etwas von Unsterblichkeit, wobei diese Unsterblichkeit, warum auch immer, unerträgliche Wehmut auslöste.

Pilatus sammelte seine ganz Kraft, jagte die Erscheinung davon, richtete den Blick auf den Balkon und sah wieder die Augen des Gefangenen vor sich.

»Höre, Ha-Nozri«, sprach der Prokurator und sah Jeschua auf seltsame Weise an: Seine Miene war drohend, der Blick indes voll Unbehagen. »Hast du jemals etwas über den großen Cäsar gesagt? Antworte! Hast du das? Ja … oder … nein?« Pilatus betonte das Wort »nein« ein klein wenig deutlicher, als es sich für einen Richter geziemt, und blickte dem Gefangenen eindringlich ins Gesicht, als wollte er ihm etwas mitteilen.

»Die Wahrheit zu sagen, ist leicht und beglückend«, bemerkte dieser.

»Ich muss nicht wissen«, zischte Pilatus, »ob es für dich beglückend oder nicht beglückend ist, die Wahrheit zu sagen. Du wirst sie so oder so sagen müssen. Wäge aber jedes Wort sorgfältig ab, wenn du redest, es sei denn, du wünschst dir einen nicht nur unvermeidlichen, sondern auch qualvollen Tod.«

Niemand wusste, was mit dem Prokurator von Judäa geschehen war, aber er erlaubte sich, die Hand zu heben, als wollte er sich vor der Sonne schützen und dahinter, wie hinter einem Schild, dem Gefangenen einen bedeutungsschweren Blick zu senden.

»Sprich«, fuhr er fort, »kennst du einen gewissen Judas aus Kirjat? Was genau, wenn überhaupt etwas, hast du ihm über Cäsar gesagt?«

»Also, das war so«, begann Jeschua bereitwillig. »Vorgestern Abend lernte ich am Tempel einen jungen Mann kennen, der sich Judas nannte, aus der Stadt Kirjat. Er lud mich in sein Haus in der Unterstadt ein und tischte auf.«

»Ein guter Mensch?«, fragte Pilatus, und ein teuflisches Feuer blitzte in seinen Augen.

»Ein sehr guter und wissbegieriger Mensch«, bestätigte der Gefangene. »Er zeigte größtes Interesse an meinen Gedanken, empfing mich sehr herzlich –«

»– zündete die Lampen an …«, äffte ihn Pilatus knurrend nach, und seine Augen glimmerten.

»Ja«, fuhr Jeschua fort, ein wenig überrascht, dass der Prokurator das wusste, »und bat mich, meine Meinung über die Staatsgewalt darzulegen. Er war sehr interessiert an dieser Frage.«

»Und was hast du gesagt? Oder willst du nun vielleicht behaupten, du hast es vergessen?« Doch in der Stimme des Pilatus war keine Hoffnung mehr.

»Unter anderem sagte ich, dass jede Staatsgewalt eben eine Gewalt ist, und dass die Zeit kommen wird, in der weder Cäsaren noch sonst irgendwer etwas befiehlt. Der Mensch wird eintreten ins Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo es keiner Gewalt mehr bedarf.«

»Und weiter!«

»Weiter nichts. Auf einmal kamen Leute angerannt, fesselten mich und brachten mich ins Gefängnis.«

Der Sekretär, bemüht, nichts zu verpassen, füllte das Pergament zügig mit Wörtern.

»Eine größere und bessere Staatsgewalt als die des Imperators Tiberius gab es nie und wird es niemals geben!«, schallte Pilatus’ kranke, heisere Stimme. »Wie kannst du es wagen, dies anzuzweifeln, du irrsinniger Übeltäter!«

Merkwürdigerweise war sein hasserfüllter Blick dabei auf den Sekretär und das Geleit gerichtet.

Dann rief er: »Das Geleit soll den Balkon verlassen!«, und wandte sich an den Sekretär: »Lass mich allein mit dem Verbrecher; hier geht es um die Staatsräson.«

Das Geleit hob die Speere und marschierte, mit den Hacken der beschlagenen Stiefel klackend, in den Garten; der Sekretär folgte.

Eine Zeit lang störte nur das Singen des Brunnens die Stille auf dem Balkon. Pilatus sah zu, wie eine Schale aus Wasser über dem Rohr emporschoss, sich an den Rändern brach und in Bächen hinabfiel.

Der Gefangene sprach als Erster.

»Ich sehe, ein Unglück ist geschehen, weil ich mit diesem jungen Mann aus Kirjat geredet habe. Hegemon, ich ahne, ihm wird Schlimmes zustoßen, und er tut mir sehr leid.«

»Ich denke«, erwiderte der Prokurator mit einem merkwürdigen Lächeln, »es gibt jemanden, um den du dich mehr sorgen solltest als um Judas aus Kirjat. Jemanden, der es viel schlimmer haben wird! … Nun also, Marcus der Rattenschinder, dieser kalte Folterer aus Überzeugung, und auch die Leute, die dich, wie ich sehe«, der Prokurator deutete auf Jeschuas entstelltes Gesicht, »für deine Predigten schlugen, und die Banditen Dismas und Gestas, die mit ihren Handlangern vier Soldaten töteten, und schließlich der dreckige Verräter Judas – die alle sind also gute Menschen?«

»Ja.«

»Und das Reich der Wahrheit wird kommen?«

»Es wird kommen, Hegemon«, antwortete der Gefangene mit Überzeugung.

»Nie wird es kommen!«, schrie Pilatus plötzlich mit so fürchterlicher Stimme, dass Jeschua zurückwich. Mit dieser Stimme hatte der Prokurator viele Jahre zuvor, im Tal der Jungfrauen, seine Reiter angespornt: »Attacke! Attacke! Sie haben den Riesen, den Rattenschinder!« Nun erhob er diese befehlsraue Stimme noch lauter und donnerte so heftig, dass man ihn bis in den Garten hörte: »Verbrecher! Verbrecher! Verbrecher!«

Dann fragte er auf einmal leise: »Jeschua Ha-Nozri, glaubst du an irgendwelche Götter?«

»Es gibt nur einen Gott«, antwortete Jeschua, »und ich glaube an ihn.«

»Dann bete zu ihm! Bete gut! Obwohl …«, sagte Pilatus, plötzlich heiser, »das wird dir auch nichts helfen.« Er wusste nicht, wie ihm geschah. »Eine Frau hast du nicht?«, fragte er unvermittelt und gequält.

»Nein, ich bin allein.«

»Verhasste Stadt«, murmelte der Prokurator, zuckte fröstelnd die Achseln und rieb sich die Hände, als wollte er sie waschen. »Hätte dich doch einer niedergestochen, eh du diesem Judas aus Kirjat begegnet bist! Es wäre besser für dich gewesen.«

»Und wenn du mich einfach gehen lässt, Hegemon?«, fragte der Gefangene, und seine Stimme klang besorgt. »Ich sehe, man will mich töten.«

Ein Krampf verzerrte Pilatus’ Gesicht; er wandte seine entzündeten, rot geäderten Augen Jeschua zu und sagte: »Du Elender, meinst du, der römische Prokurator kann einen Mann gehen lassen, der gesagt hat, was du gesagt hast? Oh Götter, Götter! Denkst du etwa, ich will mich in deiner Lage wiederfinden? Ich teile deine Gedanken nicht! Höre mir zu: Wenn du von diesem Moment an auch nur ein Wort sagst, wenn du mit irgendjemandem sprichst, dann hüte dich vor mir! Ich wiederhole – hüte dich!«

»Hegemon –«

»Ruhe!«, donnerte Pilatus, und sein gequälter Blick folgte der Schwalbe, die wieder auf den Balkon gesegelt war. Dann rief er: »Zu mir!«

Nachdem der Sekretär und das Geleit zurückgekehrt waren, verkündete Pilatus, er habe das Todesurteil bestätigt, welches bei der Versammlung des Kleinen Sanhedrin über den Verbrecher Jeschua Ha-Nozri verhängt worden war, und der Sekretär schrieb seine Worte auf.

Im nächsten Moment stand Marcus der Rattenschinder vor dem Prokurator. Dieser befahl ihm, den Verbrecher dem Befehlshaber der geheimen Schutzpolizei zu übergeben, und zwar mit der Anweisung, ihn von den anderen Verurteilten zu trennen; zudem sollte der Befehlshaber auch seinen Leuten unter Androhung schwerster Strafen untersagen, mit Jeschua Ha-Nozri zu reden oder seine Fragen zu beantworten.

Auf ein Zeichen von Marcus schloss sich das Geleit um Jeschua und führte ihn vom Balkon.

Als Nächstes erschien vor dem Prokurator ein gutaussehender Mann mit blondem Bart und Adlerfedern am Helm; auf seiner Brust glänzten goldene Löwenmäuler, und golden waren auch die Beschläge am Gürtel seines Schwertes; sein dreifach besohltes Schuhwerk war kniehoch geschnürt, sein scharlachroter Umhang lag über der linken Schulter. Es war der Legat, der das Kommando über die Legion innehatte.

Der Prokurator fragte ihn, wo die Sebasterkohorte gerade stationiert sei. Der Legat erklärte, die Sebaster riegelten den Platz vor dem Hippodrom ab, wo das Urteil vor dem Volke verkündet werden solle.

Darauf befahl der Prokurator dem Legaten, zwei Centurien aus der römischen Kohorte auszuwählen. Die eine, unter dem Kommando des Rattenschinders, sollte die Verbrecher, die Henker und die Wagen mit dem Hinrichtungswerkzeug zum Kahlen Berg begleiten und sich sodann dem oberen Absperrkommando anschließen. Die andere würde direkt zum Kahlen Berg marschieren, um dort mit der Abriegelung zu beginnen. Zusätzlich bat der Prokurator, ein Kavallerie-Regiment zur Bewachung des Berges abzukommandieren, und zwar die syrische Ala.

Nachdem der Legat den Balkon verlassen hatte, befahl der Prokurator, den Präsidenten und zwei Mitglieder des Sanhedrin sowie den Leiter der Tempelwache von Jerschalaim in den Palast zu rufen, und zwar so, dass er zuerst allein mit dem Präsidenten sprechen könnte.

Der Sekretär führte den Befehl rasch und präzise aus. Die Sonne, die an diesen Tagen Jerschalaim mit besonders unbändigem Zorn versengte, hatte sich ihrem Höhepunkt noch nicht genähert, als der Prokurator auf der oberen Gartenterrasse, an der von zwei weißen Marmorlöwen flankierten Treppe, den Hohepriester der Juden traf, der auch der Vorsteher des Sanhedrins war – Josef Qajfa.

Es war still im Garten. Aber als der Prokurator unter der Kolonnade hervortrat und seine Schritte auf die sonnenüberflutete obere Ebene des Gartens lenkte, wo die Palmen auf ihren monströsen Elefantenbeinen standen und von wo sich die ganze verhasste Stadt seinem Blick darbot – all die Hängebrücken, Festungen und vor allem dieser schier unbeschreibliche, drachenschuppenvergoldete Marmorbrocken, der Tempel von Jerschalaim –, vernahm sein scharfes Ohr von fern, von unten, wo die Steinmauer den Schlossgarten vom Stadtplatz trennte, ein tiefes Brummen, über dem hier und da ein schwaches Stöhnen oder Schreien aufwirbelte.

Dem Prokurator wurde klar, dass sich dort auf dem Platz bereits unzählige durch die jüngsten Unruhen aufgewiegelte Einwohner Jerschalaims versammelt hatten, dass diese Menge ungeduldig auf die Verkündung des Urteils wartete und dass eifrige Wasserverkäufer dort mit lautem Rufen ihre Ware feilboten.

Zum Schutz vor der gnadenlosen Hitze lud der Prokurator den Hohepriester sogleich auf den Balkon ein, doch Qajfa entschuldigte sich höflich und erklärte, dass er das Gebäude am Vorabend des Festes nicht betreten dürfe. Pilatus zog die Kapuze über seine Halbglatze und begann die Unterredung auf Griechisch.

Er sagte, er habe den Fall Jeschua Ha-Nozris untersucht und das Todesurteil bestätigt.

Nun seien also drei Räuber verurteilt, am heutigen Tage hingerichtet zu werden – Dismas, Gestas und Bar-Rabban –, und außerdem dieser Jeschua Ha-Nozri. Die ersten beiden hatten es gewagt, das Volk zum Aufstand gegen Cäsar aufzurufen, und waren von römischen Soldaten nach einem Kampf festgenommen worden; da sie der Gerichtbarkeit des Prokurators unterlagen, gab es über sie nichts zu besprechen. Aber die beiden anderen, Bar-Rabban und Ha-Nozri, waren von den örtlichen Behörden verhaftet worden und vom Sanhedrin verurteilt. Einer dieser zwei Verbrecher sollte nach Gesetz und Brauch dem großen Pessachfest zu Ehren freigelassen werden.

Darum wollte der Prokurator wissen, welchen der beiden Verbrecher der Sanhedrin freizulassen beabsichtigte: Bar-Rabban oder Ha-Nozri?

Zum Zeichen, dass er die Frage verstanden hatte, neigte Qajfa den Kopf und antwortete: »Der Sanhedrin bittet um die Freilassung des Bar-Rabban.«

Der Prokurator wusste sehr wohl, dass der Hohepriester diese Antwort geben würde, aber nun war es an ihm, sein Erstaunen darüber zu zeigen.

Das tat er auch, und zwar sehr gekonnt. Die Brauen hoben sich in dem hochmütigen Gesicht, und er schaute dem Hohepriester verwundert in die Augen.

»Ich gestehe, diese Antwort verblüfft mich«, sagte er milde, »ob hier wohl nicht ein Missverständnis vorliegt?«

Und dann erklärte Pilatus sein Befremden. Die römische Staatsgewalt sei weit davon entfernt, in die Rechte der lokalen geistlichen Autoritäten einzugreifen, das wisse der Hohepriester sicherlich, im vorliegenden Falle handle es sich jedoch unzweifelhaft um einen Fehler. Und Rom habe selbstverständlich ein Interesse daran, dass dieser Fehler behoben werde.

Man betrachte nur die Verbrechen von Bar-Rabban und Ha-Nozri: In ihrer Schwere seien diese nicht zu vergleichen. Der Letztere, offenbar wahnsinnig, habe lediglich in Jerschalaim und an einigen anderen Orten zur allgemeinen Verwirrung irgendwelche Absurditäten geschwafelt, während die Schuldlast des Ersteren weit erheblicher sei. Er habe sich nicht nur direkte Aufrufe zur Rebellion erlaubt, sondern auch bei dem Versuch, ihn zu verhaften, einen Wächter getötet. Bar-Rabban sei ungleich gefährlicher als Ha-Nozri.

Aufgrund all dessen bitte der Prokurator den Hohepriester, die Entscheidung zu überdenken und den weniger gefährlichen der beiden Verurteilten freizulassen, und das sei doch gewiss Ha-Nozri. Nun …?

Qajfa sagte leise, aber bestimmt, der Sanhedrin habe sich gründlich mit dem Fall befasst; zum zweiten Male müsse er verkünden, dass Bar-Rabban befreit werden solle.

»So? Auch nach meiner Fürsprache? Obwohl ich für die römische Staatsgewalt spreche? Wiederhole es ein drittes Mal, Hohepriester.«

»Ein drittes Mal: Ich wiederhole, dass wir Bar-Rabban freilassen«, sagte Qajfa leise.

Nun war alles vorbei, es gab nichts mehr zu sagen. Ha-Nozri verließ den Prokurator für immer, und nur der Tod würde seine furchtbaren, rasenden Schmerzen heilen. Aber es war nicht dieser Gedanke, der ihn nun traf. Dieselbe unverständliche Wehmut, die ihn bereits auf dem Balkon befallen hatte, durchbohrte sein ganzes Wesen. Sogleich versuchte der Prokurator, eine Erklärung dafür zu finden, und die Erklärung, die er fand, war seltsam: Ihn beschlich das Gefühl, er habe mit dem Verurteilten nicht zu Ende geredet oder ihn vielleicht nicht zu Ende angehört.

Pilatus verscheuchte diesen Gedanken, und er verflog so schnell, wie er gekommen war. Er verflog, und die Wehmut blieb ohne Erklärung, denn auch ein anderer blitzartig aufflackernder und im nächsten Augenblick wieder erloschener Fetzen erklärte sie nicht: »Unsterblichkeit … Die Unsterblichkeit ist gekommen …« Wessen Unsterblichkeit? Das konnte der Prokurator nicht begreifen, aber der Gedanke an diese rätselhafte Unsterblichkeit jagte ihm trotz der sengenden Sonne einen eisigen Schauer über den Rücken.

»Gut«, sagte Pilatus, »so sei es.«

Und damit drehte er sich um, betrachtete die ihm sichtbare Welt und wunderte sich über die Veränderung, die mit ihr vonstattengegangen war. Der rosenbeladene Busch war verschwunden, verschwunden waren die Zypressen um die obere Terrasse; der Granatapfelbaum, die weiße Statue inmitten des Grüns und das Grün selbst – alles verschwunden. Stattdessen waberte vor ihm eine scharlachrote Masse. Algen schwankten und regten sich darin, zogen ihn mit sich. Der schlimmste Zorn überschwemmte, versengte und erstickte ihn – der Zorn der Ohnmacht.

»Eng«, brachte Pilatus heraus, »mir ist eng!«

Mit klammer Hand zerrte er an der Fibel seines Umhangs, bis sie in den Sand fiel.

»Es ist schwül heute. Irgendwo gewittert es wohl«, antwortete Qajfa, ohne den Blick vom geröteten Gesicht des Prokurators zu lassen, aller noch bevorstehenden Qualen gewahr. Ein schlimmer Monat, dieser Nisan!