Die Welt als Zahl - Ian Stewart - E-Book

Die Welt als Zahl E-Book

Ian Stewart

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Beschreibung

Wozu brauchen wir im täglichen Leben Mathematik? Warum es ganz und gar nicht «sinnlos» ist (wie viele zu Schulzeiten denken), sich mit Mathematik zu beschäftigen, erklärt der renommierte Professor und Bestsellerautor Ian Stewart in seinem neuen faktenreichen und anschaulichen Buch. Tatsächlich würde unsere moderne Welt ohne Mathematik auseinanderfallen, denn sie begegnet uns überall: Wenn wir ein Selfie machen, einen Film gucken, ChatGPT nutzen oder eine Niere spenden, aber auch wenn im Supermarkt Regale aufgefüllt, ein Fall vor Gericht verhandelt wird oder eine Partei aus politischen Minderheiten Mehrheiten macht.

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Ian Stewart

Die Welt als Zahl

Wie Mathematik unseren Alltag prägt

 

 

Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd Schuh

 

Über dieses Buch

Wozu brauchen wir im täglichen Leben Mathematik? Warum es ganz und gar nicht «sinnlos» ist (wie viele zu Schulzeiten denken), sich mit Mathematik zu beschäftigen, erklärt der renommierte Professor und Bestsellerautor Ian Stewart in seinem neuen, faktenreichen und anschaulichen Buch. Tatsächlich würde unsere moderne Welt ohne Mathematik auseinanderfallen, denn sie begegnet uns überall: wenn wir ein Selfie machen, einen Film gucken, ChatGPT nutzen oder eine Niere spenden, aber auch, wenn im Supermarkt Regale aufgefüllt, ein Fall vor Gericht verhandelt wird oder eine Partei aus politischen Minderheiten Mehrheiten macht.

Vita

Ian Stewart, geboren 1945, ist der beliebteste Mathematik-Professor Großbritanniens. Seit Jahrzehnten bemüht er sich erfolgreich, seine Wissenschaft zu popularisieren. Er studierte Mathematik in Cambridge und promovierte an der Universität Warwick. Dort ist er heute Professor für Mathematik und Direktor des Mathematics Awareness Centre. Seit 2001 ist Stewart zudem Mitglied der Royal Society. Er lebt mit seiner Familie in Coventry.

 

 

 

Monika Niehaus, Diplom in Biologie, Promotion in Neuro- und Sinnesphysiologie, freiberuflich als Autorin (SF, Krimi, Sachbücher), Journalistin und naturwissenschaftliche Übersetzerin (englisch/französisch) tätig. Mag Katzen, kocht und isst gern in geselliger Runde. Trägerin des Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreises 2021.

 

Bernd Schuh, geboren 1948, ist Physiker, Dozent, Journalist, Autor und Übersetzer. Er studierte Mathematik, Physik und Chemie in Köln, wurde 1977 promoviert und habilitierte sich 1982 in Physik. Er ist Träger des Georg von Holtzbrinck Preises für Wissenschaftsjournalismus. 

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «What’s the Use? The Unreasonable Effectiveness of Mathematics» bei Profile Books, London. 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«What’s the Use? The Unreasonable Effectiveness of Mathematics» Copyright © 2021 by Joat Enterprises

Redaktion Bernd Gottwald

Covergestaltung zero-media.net, München, nach dem Original von Profile Books

Coverabbildung Harry Haysom

ISBN 978-3-644-01355-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Hinweise des Verlags

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Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Kapitel 1Verblüffende Nützlichkeit

Die Sprache der Mathematik erweist sich als über alle Maßen effektiv, ein wunderbares Geschenk, das wir weder verstehen noch verdienen. Wir sollten dafür dankbar sein und hoffen, dass sie auch bei zukünftigen Forschungen ihre Gültigkeit behält und dass sie sich – in Freud und in Leid, zu unserem Vergnügen wie vielleicht auch zu unserer Verwirrung – auf viele Wissenszweige ausdehnt.

Eugene Wigner, The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences

Wozu ist Mathematik gut?

Was tut sie für uns, in unserem Alltag?

Vor nicht allzu langer Zeit gab es auf diese Fragen einfache Antworten. Der Normalbürger nutzte ständig die Grundrechenarten, und sei es nur, dass es darum ging, die Rechnung nach dem Einkauf zu überprüfen. Zimmerleute mussten etwas von elementarer Geometrie verstehen. Landvermesser und Navigatoren brauchten darüber hinaus Trigonometrie. Ingenieure mussten Differential- und Integralrechnung beherrschen.

Heute ist es ganz anders. Die Supermarktkasse addiert die Rechnungsposten, berücksichtigt Rabatte, fügt die Mehrwertsteuer hinzu. Wir hören das Piepen, wenn der Laser die Strichcodes scannt, und solange das Piepen mit den Waren zusammenpasst, gehen wir davon aus, dass die elektronischen Helfer wissen, was sie tun. Viele Berufe erfordern noch immer solide mathematische Kenntnisse, doch selbst in diesen Fällen haben wir den größten Teil der Mathematik an elektronische Geräte mit eingebauten Algorithmen ausgelagert.

Mein Thema glänzt durch Abwesenheit. Der Elefant ist nicht einmal im Raum.

Es wäre leicht, daraus den Schluss zu ziehen, Mathematik sei aus der Zeit gefallen und überflüssig, aber das wäre ein Irrtum. Ohne Mathematik würde unsere heutige Welt auseinanderfallen. Um das zu beweisen, werde ich Ihnen Anwendungen in der Politik, in der Juristerei, bei Nierentransplantationen, der Logistik von Supermärkten, bei Spezialeffekten in Filmen und bei der Herstellung von Druckfedern zeigen. Wir werden sehen, in welcher Weise Mathematik eine wesentliche Rolle für medizinische Scanner, Digitalfotografie, Glasfaser-Breitband-Technologie und Satellitennavigation spielt. Wie sie uns hilft, die Auswirkungen des Klimawandels vorherzusagen und uns vor Terroristen und Internet-Hackern schützen kann.

Bemerkenswerterweise basieren viele dieser Anwendungen auf einer Mathematik, die aus völlig anderen Gründen entwickelt wurde – manchmal nur, weil jemand voller Begeisterung seiner Neugier folgte. Bei meiner Recherche für dieses Buch war ich immer wieder überrascht, wenn ich auf Anwendungen meines Fachs in Gebieten stieß, von denen ich niemals geträumt hätte, dass sie überhaupt existieren. Oft fand ich sie in Feldern, von denen ich nicht angenommen hätte, sie wären von praktischem Nutzen, wie raumfüllende Kurven, Quaternionen und Topologie.

Mathematik ist ein grenzenloses, äußerst kreatives System von Ideen und Methoden. Sie steckt dicht unter der Oberfläche der innovativen Technologien, die das 21. Jahrhundert so grundlegend von allen früheren Zeitaltern unterscheiden – Videospiele, internationaler Luftreiseverkehr, Satellitenkommunikation, Computer, das Internet, Mobiltelefone.[1] Kratzen Sie an einem iPhone, und Sie werden auf das helle Glitzern der Mathematik stoßen.

Bitte nehmen Sie das nicht wörtlich …

***

Manche Menschen nehmen an, Computer mit ihren beinahe wundersamen Fähigkeiten seien dabei, Mathematiker, ja sogar die Mathematik selbst, überflüssig zu machen. Aber Computer ersetzen Mathematiker ebenso wenig, wie Mikroskope Biologen ersetzen. Computer verändern die Art und Weise, in der wir Mathematik betreiben, doch größtenteils entlasten sie uns nur von den mühsamen Anteilen. Sie verschaffen uns mehr Zeit zum Denken, sie helfen uns bei der Suche nach Mustern, und sie geben uns ein mächtiges neues Instrument an die Hand, um rascher und effizienter zu arbeiten.

Die Allgegenwart preisgünstiger, leistungsstarker Computer ist der Hauptgrund dafür, dass Mathematik immer wichtiger wird. Ihre allgemeine Verfügbarkeit hat neue Möglichkeiten eröffnet, Mathematik auf Alltagsprobleme anzuwenden. Methoden, die früher undenkbar waren, weil sie zu viel Rechenarbeit erfordern, sind inzwischen Routine geworden. Die größten Mathematiker der Papier-und-Bleistift-Ära hätten sich bei Methoden, die eine Milliarde Berechnungen erfordern, verzweifelt die Haare gerauft. Inzwischen setzen wir solche Methoden routinemäßig ein, denn wir verfügen über eine Technologie, die diese Berechnungen in Sekundenbruchteilen durchführen kann.

Mathematiker stehen zusammen mit zahllosen anderen Berufen, wie ich betonen möchte, seit Langem bei der Computerrevolution an vorderster Front. Denken Sie nur an George Boole, den Pionier der symbolischen Logik, die die Basis unserer heutigen Computerarchitektur bildet. Denken Sie an Alan Turing und seine universelle Turing-Maschine, ein mathematisches System, das alles berechnen kann, was sich berechnen lässt. Denken Sie an Muhammad al-Chwārizmī, latinisiert Algorismi, dessen Algebra-Text aus dem Jahr 820 n. Chr. die Bedeutung systematischer Berechnungsverfahren betont, die inzwischen nach ihm benannt sind: Algorithmen.

Die meisten Algorithmen, die Computern ihre beeindruckenden Fähigkeiten verleihen, stehen fest auf dem Boden der Mathematik. Viele der verwendeten Techniken sind dem existierenden Vorrat an mathematischen Ideen «gebrauchsfertig» entnommen worden, so wie Googles PageRank-Algorithmus, der quantifiziert, wie wichtig eine Webseite ist, und eine Multimilliarden-Dollar-Industrie begründet hat. Selbst der pfiffigste Deep-Learning-Algorithmus in der künstlichen Intelligenz (KI) verwendet geprüfte mathematische Konzepte, wie Matrizen und gewichtete Graphen. Eine so prosaische Aufgabe, wie ein Dokument nach einer bestimmten Folge von Buchstaben zu durchsuchen, erfordert ein mathematisches Konzept, das als endlicher Automat oder Zustandsmaschine bezeichnet wird; zumindest bei einer häufig verwendeten Suchmethode ist das so.

Die Rolle, die die Mathematik bei diesen aufregenden Entwicklungen spielt, fällt nur allzu häufig unter den Tisch. Wenn die Medien daher das nächste Mal irgendeine wunderbare neue Eigenschaft von Computern anpreisen, denken Sie daran, dass dahinter eine Menge Mathematik steckt und darüber hinaus eine Menge Ingenieurskunst, Physik, Chemie und Psychologie. Ohne die Unterstützung dieses Trupps verborgener Helfer wäre der digitale Superstar nicht in der Lage, derart im Rampenlicht zu stehen und mit seinen Fähigkeiten zu glänzen.

***

Die Bedeutung der Mathematik in unserer heutigen Welt wird leicht unterschätzt, weil fast alles, was sie leistet, im Verborgenen geschieht. Wenn man eine Straße in einer Großstadt entlangschlendert, wird man von Werbung überflutet, die die Bedeutung von Banken, Gemüseläden, Supermärkten, Modegeschäften, Autowerkstätten, Rechtsanwälten, Schnellrestaurants, Wohltätigkeitsorganisationen und Tausenden anderer Aktivitäten und Professionen unterstreicht. Man findet jedoch keine Messingplakette, die dem Kunden die Dienste eines beratenden Mathematikers anbietet. Supermärkte verkaufen keine Mathematik in Dosen.

Wenn man allerdings etwas tiefer schürft, wird die Bedeutung der Mathematik rasch deutlich. Die Gleichungen der Aerodynamik sind entscheidend wichtig für den Flugzeugbau. Navigation basiert auf Trigonometrie. Wir benutzen Trigonometrie heute anders als in den Tagen von Christoph Kolumbus, denn wir bauen die Mathematik direkt in elektronische Geräte ein, statt Feder, Tinte und Navigationstabellen zu verwenden, doch die zugrunde liegenden Prinzipien sind praktisch dieselben geblieben. Die Entwicklung neuer Arzneimittel stützt sich auf Statistik, um sicherzustellen, dass die Medikamente sicher und wirksam sind. Satellitenkommunikation basiert auf einem tiefgreifenden Verständnis der Dynamik von Umlaufbahnen. Wettervorhersagen erfordern die Lösung von Gleichungen, die Wind, Luftfeuchtigkeit, Temperatur und die Wechselbeziehungen all dieser Parameter beschreiben. Es gibt zahllose weitere Beispiele. Wir bemerken nicht, wie viel Mathematik dahintersteckt, weil wir dieses Wissen gar nicht benötigen, um von den Ergebnissen zu profitieren.

Was macht Mathematik für ein breites Spektrum menschlicher Aktivitäten so nützlich?

Diese Frage ist nicht neu. Im Jahr 1959 hielt der Physiker Eugene Wigner an der New York University einen denkwürdigen Vortrag mit dem Titel «The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences».[2] Wigner konzentrierte sich auf die Naturwissenschaften, doch das, was er sagte, hätte auch auf die erstaunliche Leistungsbreite der Mathematik in Landwirtschaft, Politik, Sport und einer Vielzahl anderer Gebiete gepasst. Wigner selbst hoffte, diese Wirksamkeit würde sich auf «auf ein breites Spektrum des Lernens» erstrecken. Das war ganz sicher der Fall.

Das Schlüsselwort in diesem Titel erregt Aufmerksamkeit, weil es überraschend ist: unreasonable, gemeinhin übersetzt mit unvernünftig. Die meisten Anwendungen von Mathematik sind höchst vernünftig, sobald man einmal herausgefunden hat, welche Methoden für die Lösung eines wichtigen Problems oder der Erfindung eines nützlichen Hilfsmittels eine Rolle spielen. So ist es beispielsweise außerordentlich vernünftig, dass Ingenieure beim Bau von Flugzeugen die Gleichungen der Aerodynamik benutzen. Dazu wurde die Aerodynamik schließlich entwickelt. Ein Großteil der Mathematik, die bei der Wettervorhersage eingesetzt wird, wurde mit dem Gedanken an dieses Ziel im Hinterkopf geschaffen. Anstoß für die Statistik war die Entdeckung großräumiger Muster in Daten über das menschliche Verhalten. Um Gleitsichtbrillen zu entwickeln, bedarf es sehr viel Mathematik, doch der größte Teil wurde mit Blick auf die Optik entwickelt.

Die Fähigkeit der Mathematik, schwierige Probleme zu lösen, wird im Wigner’schen Sinne unvernünftig, oder besser unplausibel, wenn zwischen der ursprünglichen Motivation zur Entwicklung der Mathematik und ihrer späteren Anwendung keine derartige Verbindung existiert. Wigner begann seinen Vortrag mit einer Story, die ich hier leicht ausgeschmückt wiedergebe.

Zwei frühere Klassenkameraden treffen sich. Einer, ein Statistiker, der an Bevölkerungstrends arbeitet, zeigt seinem Schulfreund einen seiner Forschungsartikel, der mit einer Standardformel der Statistik, der Normalverteilung oder «Glockenkurve», beginnt.[3] Er erklärt ihm verschiedene Symbole – dies hier ist die Populationsgröße, das da der Durchschnitt der Stichprobe – und führt aus, wie sich die Formel verwenden lässt, um die Größe der Population abzuleiten, ohne einzelne Individuen zu zählen. Sein Gegenüber hegt den Verdacht, sein Freund mache Witze, ist sich aber nicht völlig sicher, daher fragt er nach weiteren Symbolen. Schließlich stößt er auf eines, das so aussieht: π.

«Was ist das? Sieht irgendwie vertraut aus.»

«Ja, das ist Pi – das Verhältnis vom Umfang des Kreises zu seinem Durchmesser.»

«Jetzt weiß ich, dass du mich aufziehst!», antwortet sein Freund. «Was in aller Welt sollte ein Kreis mit der Populationsgröße zu tun haben?»

Der erste Punkt bei dieser Geschichte ist, dass die Skepsis des Freundes durchaus vernünftig war. Schließlich geht es in dem einen Fall um Geometrie, in dem anderen um Menschen. Der zweite Punkt ist, dass es trotz des gesunden Menschenverstands eine Verbindung gibt. Die Glockenkurve basiert auf einer Formel, in der π vorkommt. Dabei handelt es sich nicht lediglich um eine bequeme Näherung, sondern tatsächlich um das gute alte π. Aus welchem Grund diese Zahl im Kontext der Glockenkurve auftaucht, ist selbst für Mathematiker alles andere als intuitiv einsichtig, und man benötigt fortgeschrittene Infinitesimalrechnung, um zu verstehen, wie sie da hineinkommt, geschweige denn, warum.

Lassen Sie mich Ihnen eine andere Geschichte über π erzählen. Vor einigen Jahren ließen wir das Bad im Parterre renovieren. Spencer, ein erstaunlich vielseitiger Handwerker, der das Bad neu kacheln sollte, fand heraus, dass ich populäre Bücher über Mathematik schreibe. «Ich habe da ein Mathematikproblem für Sie», eröffnete er mir. «Ich soll einen kreisrunden Boden fliesen und muss die Fläche wissen, um zu berechnen, wie viele Kacheln ich brauche. Da gibt es eine Formel, die sie uns beigebracht haben …»

«Pi r2», antwortete ich.

«Genau, das ist sie!» Also erinnerte ich ihn daran, wie man die Formel benutzt. Er zog glücklich mit der Antwort auf sein Fliesenproblem, einem signierten Exemplar eines meiner Bücher und der Erkenntnis von dannen, dass die Mathematik, die er in der Schule gelernt hatte, entgegen dem, was er bislang geglaubt hatte, für seine gegenwärtige Tätigkeit durchaus von Nutzen war.

Der Unterschied zwischen den beiden Geschichten ist deutlich. In der zweiten Story taucht π auf, weil es von vornherein eingeführt wurde, um genau diese Art von Problem zu lösen. Es ist eine einfache, direkte Geschichte über die Nützlichkeit von Mathematik. In der ersten Geschichte taucht π ebenfalls auf und löst das Problem, doch seine Präsenz ist eine Überraschung. Es ist eine Geschichte über verblüffende und auf den ersten Blick unplausible Nützlichkeit: eine Anwendung einer mathematischen Idee auf ein Gebiet, das sich völlig von den Ursprüngen der Idee unterscheidet.

***

In diesem Buch werde ich nicht viel über vernünftige Anwendungen meines Fachs schreiben. Sie sind wertvoll, sie sind interessant, sie gehören ebenso zur mathematischen Landschaft wie alles andere, sie sind ebenso wichtig – aber sie lassen uns nicht erstaunt die Augenbrauen hochziehen und «Wow!» rufen. Zudem können sie diejenigen, die das Sagen haben, zu der Vorstellung verleiten, der einzige Weg, Fortschritte in der Mathematik zu machen, bestehe darin, Probleme auszuwählen und dann die Mathematiker dazu zu bringen, Lösungsmethoden zu entwickeln. An einer solchen zielorientierten Suche ist nichts auszusetzen, doch es ist, als kämpfe man mit einem auf den Rücken gebundenen Arm. Die Geschichte hat immer wieder den Wert des zweiten Arms gezeigt, die erstaunliche Bandbreite der menschlichen Fantasie. Was der Mathematik ihre Macht gibt, ist die Kombination dieser beiden Denkansätze. Jeder ergänzt den anderen.

Beispielsweise beschäftigte sich der große Mathematiker Leonhard Euler 1736 mit einem kuriosen kleinen Rätsel, bei dem es um Leute ging, die verschiedene Brücken überquerten. Er wusste, dass es interessant war, denn es erforderte offenbar eine neue Art von Geometrie, die die üblichen Vorstellungen von Längen und Winkeln über den Haufen warf. Er konnte jedoch nicht ahnen, dass das Thema, das er damals aus der Taufe hob, im 21. Jahrhundert dazu beitragen würde, mehr Patienten mit einem Nierentransplantat zu versorgen. Zum einen wären Nierentransplantationen damals als reine Fiktion erschienen, zum anderen hätte, selbst wenn das nicht so gewesen wäre, jede Verbindung mit dem Rätsel geradezu lachhaft gewirkt.

Und wer hätte sich vorstellen können, dass die Entdeckung raumfüllender Kurven – Kurven, die durch jeden Punkt einer quadratischen Fläche laufen – «Essen auf Rädern» helfen könnte, seine Lieferrouten zu planen? Sicherlich nicht die Mathematiker, die solche Fragen in den 1890er-Jahren untersuchten und sich dafür interessierten, wie sich so esoterische Konzepte wie «Kontinuität» und «Dimension» definieren ließen – und die schließlich herausfanden, dass lang gehegte mathematische Überzeugungen falsch sein können. Viele ihrer Kollegen taten das ganze Unterfangen als irregeleitet und destruktiv ab. Schließlich mussten jedoch alle erkennen, dass es nichts nützt, in Wunschdenken zu verharren und vorzugeben, alles sei in Ordnung, wenn das Gegenteil der Fall ist.

Nicht nur die Mathematik der Vergangenheit wird in dieser Weise genutzt. Die Nierentransplantationsmethoden basieren auf zahlreichen modernen Erweiterungen von Eulers ursprünglicher Erkenntnis, darunter leistungsstarke Algorithmen zur kombinatorischen Optimierung – eine Methode, die beste Wahl unter einer großen Fülle von Möglichkeiten zu treffen. Zu den zahllosen mathematischen Techniken, die Animatoren in der Filmbranche benutzen, zählen viele, deren Ursprung lediglich ein Jahrzehnt oder weniger zurückreichen. Ein Beispiel ist der «Formenraum» (shape space), ein unendlichdimensionaler Raum von Kurven, die als gleich betrachtet werden, wenn sie sich nur durch einen Wechsel des Koordinatensystems unterscheiden. Sie werden dazu verwendet, Animationssequenzen glatter und damit natürlicher erscheinen zu lassen. Die persistente Homologie, eine andere, erst kürzlich erfolgte Entwicklung, entstand, weil reine Mathematiker komplexe topologische Invarianten berechnen wollten, die multidimensionale Löcher in geometrischen Formen zählen. Ihre Methode erwies sich auch als effiziente Möglichkeit sicherzustellen, dass Sensornetze eine vollständige Abdeckung liefern, wenn sie Gebäude oder Militärbasen vor Terroristen oder anderen Kriminellen schützen. Abstrakte Konzepte aus der algebraischen Geometrie – Isogenie-Graphen von supersingulären Kurven – können Kommunikationen über das Internet gegen den Angriff von Quantencomputern sichern. Diese Entwicklungen sind so neu, dass sie gegenwärtig erst in rudimentärer Form existieren, doch wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden, können sie schon bald die heutigen Kryptosysteme obsolet machen.

Die Mathematik bringt solche Überraschungen keineswegs nur vereinzelt hervor, sondern so etwas kommt erstaunlich oft vor. Diese Überraschungen sind nach Ansicht vieler Mathematiker die interessantesten Verwendungsmöglichkeiten des Fachs und die wichtigste Rechtfertigung dafür, Mathematik tatsächlich als seriöses Fach zu betrachten statt lediglich als Trickkiste, in der für jedes Problem der richtige Trick steckt.

Wigner fuhr fort, dass «der enorme Nutzen der Mathematik in den Naturwissenschaften ans Mysteriöse grenzt und … es keine rationale Erklärung dafür gibt». Es stimmt natürlich, dass die Mathematik ursprünglich aus der Behandlung physikalischer Probleme erwuchs, doch Wigner wunderte sich nicht über den Nutzen der Mathematik auf Gebieten, für die sie entwickelt worden war. Was ihn verblüffte, war ihre Effizienz auf scheinbar nicht damit verwandten Gebieten. Die Infinitesimalrechnung entwickelte sich aus Isaac Newtons Erforschung der Planetenbewegungen, daher ist es kaum überraschend, dass sie zum Verständnis der Planetenbahnen beiträgt. Überraschend ist es hingegen, wenn die Infinitesimalrechnung uns statistische Schätzungen menschlicher Populationen ermöglicht, wie in Wigners kleiner Geschichte, wenn sie eine Veränderung der Fischfangzahlen in der Adria im Ersten Weltkrieg[4] erklären kann, wenn sie die Optionskurse im Finanzsektor lenkt, Ingenieuren hilft, Verkehrsflugzeuge zu entwerfen, und eine entscheidende Rolle bei der Telekommunikation spielt. Denn die Infinitesimalrechnung wurde für keines dieser Einsatzgebiete entwickelt.

Wigner hatte recht. Die Art und Weise, wie Mathematik immer wieder uneingeladen in der Physik und in anderen Gebieten menschlicher Aktivität auftaucht, ist wirklich rätselhaft. Ein Lösungsvorschlag besteht darin anzunehmen, dass das Universum «aus Mathematik besteht» und Menschen diese grundlegende Zutat lediglich ans Licht bringen. Ich will über diese These an dieser Stelle nicht diskutieren, doch wenn diese Erklärung korrekt ist, dann ersetzt sie ein Rätsel durch ein noch grundsätzlicheres: Warum besteht das Universum aus Mathematik?

***

Auf einer pragmatischen Ebene kann man argumentieren, dass die Mathematik einige Eigenschaften aufweist, die dazu beitragen, dass sie im Wigner’schen Sinne unplausibel nützlich ist. Zu diesen Eigenschaften gehören, da stimme ich zu, ihre zahlreichen Verbindungen zu den Naturwissenschaften, die sich in unserer Welt als umwälzende Technologien manifestieren. Viele der großen mathematischen Neuerungen sind in der Tat aus wissenschaftlichen Untersuchungen erwachsen. Andere wurzeln in menschlichen Anliegen. Zahlen wurden erfunden, um die Buchführung zu erleichtern (wie viele Schafe besitze ich?). Geometrie bedeutet so viel wie «Erdvermessung» und stand in enger Beziehung zu Landbesteuerung und im Alten Ägypten zum Bau der Pyramiden. Die Trigonometrie erwuchs aus Astronomie, Navigation und Landkartenherstellung.

Das allein ist jedoch keine befriedigende Antwort. Viele andere große mathematische Innovationen waren nicht die Folge wissenschaftlicher Untersuchungen oder menschlicher Bedürfnisse. Primzahlen, komplexe Zahlen, abstrakte Algebra, Topologie – die primäre Motivation für diese Entdeckungen bzw. Erfindungen war menschliche Neugier und ein Gefühl für Muster. Das ist ein zweiter Grund, warum Mathematik so effizient ist: Mathematiker suchen nach Mustern und enthüllen grundlegende Strukturen. Sie suchen nach Schönheit – nicht Schönheit der Form, sondern der Logik. Als Newton versuchte, die Bewegung der Planeten zu verstehen, fand er die Lösung, als er wie ein Mathematiker dachte und nach tiefer liegenden Gesetzmäßigkeiten hinter den astronomischen Rohdaten suchte. Dabei entdeckte er das Gravitationsgesetz.[5] Viele der größten mathematischen Ideen hatten überhaupt keinen Bezug zur realen Welt. Pierre de Fermat, ein im 17. Jahrhundert lebender Rechtsgelehrter, der Mathematik zum Vergnügen betrieb, machte grundlegende Entdeckungen in der Zahlentheorie: Er stieß auf tief liegende Muster im Verhalten natürlicher Zahlen. Es sollte drei Jahrhunderte dauern, bis seine Arbeit auf diesem Gebiet praktische Anwendung fand, doch ohne sie wären Geschäftsvorgänge, die das Internet antreiben, heutzutage unmöglich.

Ein anderes Merkmal der Mathematik, das seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend offensichtlich wird, ist ihre Allgemeingültigkeit. Unterschiedliche mathematische Strukturen weisen viele gemeinsame Merkmale auf. Die Regeln der elementaren Algebra sind dieselben wie diejenigen der Arithmetik. Unterschiedliche Formen der Geometrie (euklidisch, projektiv, nichteuklidisch, sogar Topologie) sind alle eng miteinander verknüpft. Diese verborgene Einheit lässt sich offenlegen, indem man von Anfang an mit allgemeinen Strukturen arbeitet, die spezifischen Regeln gehorchen. Wenn man die Allgemeingültigkeiten versteht, werden alle speziellen Beispiele klar. Das spart eine Menge Arbeit, die sonst vergeudet würde, indem man im Grunde dasselbe viele Male in einer etwas anderen Sprache wiederholt. Dieses Verfahren hat jedoch auch eine Schattenseite: Es hat die Tendenz, das Fach abstrakter zu machen. Statt von vertrauten Dingen wie Zahlen zu sprechen, müssen sich die Verallgemeinerungen auf alles beziehen, das denselben Regeln wie Zahlen gehorcht und Namen trägt wie «Noetherscher Ring», «Tensorkategorie» oder «topologischer Vektorraum». Wenn diese Art Abstraktion ins Extrem getrieben wird, kann es schwer werden zu verstehen, was die Verallgemeinerungen sind, geschweige denn, wie man sie nutzen kann. Dennoch sind sie so nützlich, dass unsere moderne Welt ohne sie nicht funktionieren würde. Sie möchten gern Netflix schauen? Jemand muss die Mathematik dafür erarbeiten. Das ist keineswegs Zauberei, fühlt sich allerdings so an.

Ein viertes Merkmal der Mathematik, das für diese Diskussion von großer Bedeutung ist, ist ihre Übertragbarkeit. Sie ist eine Konsequenz der Allgemeingültigkeit und der Grund dafür, dass Abstraktion nötig ist. Ganz gleich, um welches Problem es sich handelt, besitzt ein mathematisches Konzept oder eine mathematische Methode ein Niveau der Allgemeingültigkeit, das oft erlaubt, sie auf ganz verschiedene Probleme anzuwenden. Jedes Problem, das entsprechend umformuliert werden kann, ist dann einfach zu lösen. Die einfachste und effizienteste Art, übertragbare Mathematik zu schaffen, besteht darin, Übertragbarkeit von Anfang an einzubauen, indem man die Allgemeingültigkeit deutlich macht.

In den letzten zweitausend Jahren hat die Mathematik ihre Inspiration aus drei Hauptquellen geschöpft: dem Walten der Natur, dem menschlichen Handeln und der Neigung des menschlichen Gehirns, nach Mustern zu suchen. Auf diesen drei Säulen ruht das ganze Fach. Das Wunderbare daran ist, dass Mathematik trotz der vielfältigen Hintergründe ein einziges Ganzes ist. Jeder Zweig des Fachs, ganz gleich, welchen Ursprung und welches Ziel er hat, ist inzwischen eng mit jedem anderen Zweig verknüpft – und die Verbindungen werden zunehmend stärker und vielfältiger.

Das verweist auf einen fünften Grund, warum Mathematik auf so unerwartete Weise so nützlich ist: ihre Einheit. Und damit einher geht ein sechster Grund, für den ich im Lauf des Buches zahlreiche Beispiele liefern werde: ihre Vielfalt.

Realität, Schönheit, Allgemeingültigkeit, Übertragbarkeit, Einheit, Vielfalt – zusammen führen sie zu Nützlichkeit.

So einfach ist das.