Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 641 - Jutta von Josten - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 641 E-Book

Jutta von Josten

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Beschreibung

Barbara Runge ist ein ungewöhnliches junges Mädchen mit einem goldenen Herzen. Sie ist nur glücklich, wenn sie anderen Menschen helfen kann. Die Eltern sind sehr stolz auf sie, doch sie befürchten auch, dass Barbaras Hilfsbereitschaft eines Tages ausgenutzt wird und sie bittere Erfahrungen machen muss.
Als ein undurchschaubarer Mann im Leben ihrer Tochter auftaucht, scheinen sich ihre Befürchtungen zu bewahrheiten. Denn Oliver Kuntze übt einen verheerenden Einfluss auf Barbara aus, die ihnen immer fremder wird. Und am Ende entreißt er ihr ihnen die geliebte Tochter ganz ...


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Inhalt

Cover

Ein Herz voller Güte

Vorschau

Impressum

Ein Herz voller Güte

Der bewegende Roman um eine selbstlose Frau

Barbara Runge ist ein ungewöhnliches junges Mädchen mit einem goldenen Herzen. Sie ist nur glücklich, wenn sie anderen Menschen helfen kann. Die Eltern sind sehr stolz auf sie, doch sie befürchten auch, dass Barbaras Hilfsbereitschaft eines Tages ausgenutzt wird und sie bittere Erfahrungen machen muss.

Als ein undurchschaubarer Mann im Leben ihrer Tochter auftaucht, scheinen sich ihre Befürchtungen zu bewahrheiten. Denn Oliver Kuntze übt einen verheerenden Einfluss auf Barbara aus, die ihnen immer fremder wird. Und am Ende entreißt er ihr ihnen die geliebte Tochter ganz ...

»Möchten Sie noch etwas Kaffee, meine Liebe?« Lore Runge fiel es schwer, Freundlichkeit zu heucheln. Sie hatte nur den einen Wunsch, Marion Mellenthin möge endlich gehen. Aber sie war die Frau von Herberts Chef, und deshalb musste sie zuvorkommend und liebenswürdig behandelt werden, obwohl allgemein bekannt war, weshalb sie regelmäßig Besuche bei den leitenden Angestellten machte: Sie brauchte Stoff für ihre Klatschgeschichten.

»Nur noch einen Schluck, bitte.« Sie reichte ihre Tasse an.

Lore unterdrückte einen Seufzer, während sie dem unerwünschten Gast die Tasse füllte.

»Vielleicht auch noch ein Stückchen Kuchen?«, säuselte Lore Runge und fand ihren eigenen süßlichen Ton unerträglich.

»Um Himmels willen, bloß nicht! Sie wissen ja, die Linie!« Marion Mellenthin war eher hager als schlank. Sie war fünfundvierzig, kleidete sich aber wie ein Teenager und hielt sich für eine alterslose Schönheit.

»Hat Dieter denn nun endlich eine Freundin?« So direkte Fragen stellte sie selten.

»Ich weiß es nicht, Frau Mellenthin. Dieter ist achtzehn und sagt seiner Mutter längst nicht mehr alles.« Lore lächelte entschuldigend.

Marion Mellenthins Augen blitzten auf.

»Eines Tages werden Sie Ihre Gleichgültigkeit bereuen, Liebste! Auch wenn die jungen Leute den Kinderschuhen entwachsen sind, muss man sie straff am Zügel halten, glauben Sie mir! Bei den Kösters hat falsch verstandene Großzügigkeit zur Katastrophe geführt. Der einzige Sohn musste die Tochter eines Briefträgers heiraten, weil sie ein Kind von ihm erwartet. Dabei wollte er doch studieren. Seine ganze Zukunft ist zerstört.«

Lore Runge wusste, dass der junge Köster die Tochter des Briefträgers liebte und ohnehin keine Chancen hatte, zum Studium zugelassen zu werden. Aber sie wusste aus Erfahrung, wie sinnlos es war, mit Marion Mellenthin zu diskutieren.

»Dieter ist sehr vernünftig für sein Alter«, sagte sie daher nur. »Er wird schon keine Dummheiten machen.«

»Wie leichtfertig Sie sind!« Marion Mellenthin hatte keine Kinder. »Eines Tages werden Sie an meine Worte denken, dann aber wird es zu spät sein.«

»Ich glaube, Sie sehen zu schwarz. Ich habe bedingungsloses Vertrauen zu meinen Kindern.«

»Das hat schon mancher bereuen müssen. Da fällt mir ein, wo steckt eigentlich Barbara? Treibt sie sich auch herum, ohne dass Sie wissen, wo sie ist?«

»Babs geht jeden Mittwochnachmittag ins Altersheim. Sie macht Besorgungen für die alten Leutchen, liest ihnen vor und unterhält sich mit ihnen. Das macht ihr große Freude.«

Marion Mellenthin bekam schmale Lippen.

»Wenn Sie mich fragen, ich finde es unnatürlich, wenn ein sechzehnjähriges Mädchen solche Interessen hat. An Ihrer Stelle würde ich das nicht dulden. Die Kleine sollte ihre Jugend genießen.«

Der kann man es aber auch wirklich nicht recht machen, dachte Lore Runge amüsiert.

»Mein Mann und ich finden es richtig, unseren Kindern so viel Freiheit wie nur möglich zu lassen«, erklärte sie. »Wir halten nichts davon, sie in eine bestimmte Richtung zu dirigieren. Das rächt sich später fast immer.«

»Ich fürchte eher, Ihre lasche Auffassung von Erziehung wird sich rächen, meine Beste.«

So geh doch endlich, dachte Lore. Gleich kommen Herbert und die Kinder nach Hause, und sie werden keineswegs erfreut sein, dich hier zu treffen. In der Hoffnung, das Gespräch dadurch zu beenden, schwieg sie.

Es blieb eine unerfüllte Hoffnung. Marion Mellenthin wechselte lediglich das Thema.

»Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, dass Gerda Schneider sich scheiden lassen will? Ihr Mann hat eine Freundin. Na, der wird sich wundern! Wir dulden in unserem Betrieb keine Mitarbeiter, die moralisch nicht einwandfrei sind. Ich habe schon mit meinem Mann gesprochen. Schneiders Vertrag läuft bald aus, und er wird bestimmt nicht verlängert.«

Lore wurde zu ihrer Erleichterung einer Stellungnahme enthoben, denn Dieter trat auf die Terrasse. Sein Gesicht war mürrisch und wurde noch mürrischer, als er Marion Mellenthin entdeckte.

»Ach, Sie sind's«, brummte er.

Seine Mutter hoffte inständig, dass er all die frechen Bemerkungen, die ihm jetzt bestimmt auf der Zunge lagen, hinunterschlucken würde.

»Ja, ich bin's.« Marion Mellenthin lächelte ihn kokett an. Sie lebte in der durch nichts begründeten Überzeugung, für einen Achtzehnjährigen durchaus noch attraktiv zu sein. »Gut sehen Sie aus, Dieter! Ich hatte immer schon eine Schwäche für große, schlanke Männer mit blonden Haaren und blauen Augen – junge Wikinger.«

Hoffentlich sagt er jetzt nicht, dass er Frauen in mittleren Jahren, die ihre Haare rot färben und sich wie Clowns schminken, immer schon verabscheut hat, wünschte sich Lore. Zuzutrauen war es ihrem Sohn.

Zu ihrer Überraschung zeigte er sich jedoch empfänglich für das Kompliment und lächelte geschmeichelt. Das konnte nur bedeuten, dass sein unterentwickeltes Selbstbewusstsein wieder einmal einen empfindlichen Dämpfer erhalten hatte.

»Sie sehen auch fabelhaft aus, gnädige Frau«, versicherte er, blinzelte seiner Mutter dabei allerdings verstohlen zu.

»Ihr Sohn ist wirklich außerordentlich wohlerzogen, meine liebe Frau Runge«, bemerkte Marion Mellenthin entzückt.

»Möchtest du ein Stück Kuchen, Dieter?«, fragte Lore.

»Danke, Mama, nein. Ich war vorhin in der ›Hexe‹ und hab eine doppelte Portion Pommes gegessen.«

»In der ›Hexe‹!«, empörte Marion Mellenthin sich. »Aber das ist doch dieses Lokal, in dem mit Rauschgift gehandelt wird!«

»Kein Gedanke, gnädige Frau, das weiß ich genau, denn ich bin dort Stammgast. Mir hat noch niemand Rauschgift angeboten. Eigentlich schade, denn ...«

»Dieter!«, unterbrach ihn Lore hastig, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte. Wenn sie ihn weitersprechen ließ, würde Frau Mellenthin vermutlich überall verbreiten, er sei rauschgiftsüchtig. »Mir fällt gerade ein, dass wir nicht mehr genug Brot haben. Sei so lieb und geh schnell noch zum Bäcker und kaufe eins.«

Zum Glück verstand er, dass sie ihn los sein wollte, und nickte bereitwillig.

»Mach ich, Mama«, erwiderte Dieter und wandte sich der Besucherin zu. »Wir sehen uns sicher nicht mehr, wenn ich wiederkomme, gnädige Frau.« Er machte eine zackige Verbeugung. »Deshalb verabschiede ich mich schon jetzt.«

»Behalten Sie Ihren Sohn bloß gut im Auge, damit er nicht auf die schiefe Bahn gerät«, riet Marion Mellenthin Lore Runge, sobald Dieter verschwunden war. »Nach dem, was man so hört, ist die ›Hexe‹ die reinste Lasterhöhle.«

»Ihre Informationen müssen falsch sein, denn sonst würde unser Sohn dort nicht verkehren. Dieter raucht nicht einmal, und er trinkt auch nicht, im Gegensatz zu den meisten seiner Mitschüler.«

»Da fällt mir ein, haben Sie vielleicht einen Kognak für mich?«, bat Marion. »Ich trinke ja eigentlich nie etwas, aber der Arzt hat mir empfohlen, täglich um diese Zeit ein Gläschen zu nehmen. Mir ist das Zeug ja widerlich, aber wenn es mir aus medizinischen Gründen verordnet wird, muss ich mich wohl überwinden.«

Lore Runge hatte die Gerüchte, die Mellenthin sei eine heimliche Alkoholikerin, bisher nicht glauben wollen. Sollte doch etwas dran sein?

»Sehr gern«, sagte sie und verschwand im Haus, um Flasche und Glas zu holen.

Sie beugte sich gerade über den Barschrank im Wohnzimmer, als sie von einer vertrauten Stimme angesprochen wurde.

»Wobei ertappe ich denn da mein geliebtes Weib?«, fragte ihr Göttergatte.

Lore fuhr hoch, als sei sie wirklich bei etwas Verbotenem ertappt worden.

»Ach, Herbert, hast du mich erschreckt«, beklagte sie sich. Da sie befürchten musste, dass Marion Mellenthin sie durch die offen stehende Terrassentür hören konnte, wählte sie ihre Worte mit Bedacht. »Stell dir vor, wir haben lieben Besuch. Frau Mellenthin kam heute Nachmittag überraschend vorbei.« Sie kam immer überraschend, weil sie hoffte, Unordnung oder etwas noch Schlimmeres zu entdecken. »Ist das nicht nett?«

»Reizend ist das, ganz reizend«, erklärte Herbert Runge mit verkniffener Miene. »Wo ist sie denn, die Schöne?«

»Hier bin ich, Herr Runge«, rief Marion Mellenthin von der Terrasse. »Hallihallo!«

»Der Alte hat mich den ganzen Tag herumgehetzt und jetzt am Feierabend auch noch seine bezaubernde Gemahlin – mir reicht's«, flüsterte er seiner Frau zu. »Für mich bitte auch ein Glas, Lore«, fügte er laut hinzu und begab sich zur Terrasse.

Lore hörte ihn mit Frau Mellenthin sprechen und hatte Mitleid mit ihm. Er war kaufmännischer Direktor in den Mellenthin-Werken und bekam ein ausgezeichnetes Gehalt. Aber er musste es sich hart verdienen. Mellenthin pflegte seine leitenden Angestellten erbarmungslos zu schikanieren, wenn er schlechte Laune hatte.

Manchmal hätte Herbert am liebsten gekündigt, aber andererseits machte ihm die Arbeit viel Freude. Er war dreiundvierzig Jahre alt, und es würde schwierig sein, einen gleichwertigen Posten mit einem so guten Verdienst zu finden, auf den sie angewiesen waren.

Vor fünf Jahren hatten sie sich das Haus gebaut, und die monatliche Belastung war enorm hoch. Zudem waren auch die Kinder in einem Alter, in dem sie viel Geld kosteten.

Es hieß also, gute Miene zum bösen Spiel der Mellenthins zu machen. Mit diesem Vorsatz trat Lore Runge, ein Tablett mit zwei Gläsern und der Kognakflasche in den Händen, auf die Terrasse.

»Ich habe mich so nett mit Ihrer lieben Frau unterhalten«, flötete Marion Mellenthin. »Manchmal kommt es mir vor, als ob Sie die Einzigen aus meinem großen Bekanntenkreis sind, bei denen alles in Ordnung ist. Sie beide verstehen sich, das spürt man gleich. Und Ihre Kinder sind so wohlgeraten. Vorhin habe ich mit Dieter gesprochen, und der Bengel hat regelrecht mit mir geflirtet. Stellen Sie sich das nur vor!« Sie kicherte.

»Mein Sohn hat eben Geschmack – wie sein Vater«, behauptete Herbert Runge, und seine Frau wusste, wie schwer ihm dieses Kompliment über die Lippen kam. »Auf Ihre Gesundheit, gnädige Frau.« Er hob ihr sein Glas entgegen.

»Danke, Herr Runge.« Sie tat ihm Bescheid und leerte das ihre auf einen Zug. »Ich trinke nur wegen der Gesundheit.« Und sie erzählte noch einmal, was ihr der Arzt geraten hatte.

»Dann sollten Sie noch ein bisschen Medizin nehmen.« Runge schenkte ihr noch einmal ein, und sie protestierte nicht. »Wenn ich nach Hause komme, trinke ich auch gern ein Glas. Es entspannt.«

»Aber bei einem bleibt es doch sicher nicht, oder?« Sie hatte wieder etwas gefunden, wo sie nachhaken konnte. Schelmisch drohte sie ihm mit dem Finger. »Sie wissen ja, dass mein Mann kein Verständnis für Alkoholiker hat. Als er den jungen Schröder dabei ertappt hat, wie er im Büro eine Flasche Bier trank, hat er ihn fristlos entlassen.«

Lore und Herbert Runge wechselten einen Blick.

»Ich trinke nie mehr als ein Glas, gnädige Frau«, erklärte er mit Nachdruck, »und im Betrieb keinen Tropfen. Ach, da kommt ja Babs!«

Barbara Runge war ein stilles, in sich gekehrtes Mädchen mit verträumten hellbraunen Augen, die das empfindsame kleine Gesicht beherrschten, und langem kastanienfarbenem Haar. Sie begrüßte die Eltern mit einem Kuss auf die Wange und knickste artig vor Frau Mellenthin, bevor sie die Hand nahm, die ihr entgegengestreckt wurde.

»Wie kindlich sie noch ist«, stichelte Marion Mellenthin. »Man sollte nicht glauben, dass sie schon sechzehn ist. In dem Alter schminken sich andere Mädchen doch schon und haben einen Freund.

An Barbara prallte das wirkungslos ab. Sie war gern kindlich und fand, dass sie noch genug Zeit hatte, um erwachsen zu werden.

»Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte sie höflich. »Aber ich möchte natürlich nicht stören.«

»Du störst doch nicht, Schatz.« Lore lächelte ihrer Tochter zu. »Willst du ein Stück Kuchen? Allerdings ist es ja schon fast Zeit fürs Abendbrot.« Hoffentlich verstand die Mellenthin diesen Hinweis.

»Ich bin überhaupt nicht hungrig«, versicherte Babs. »Eine der alten Damen im Altersheim hatte heute Geburtstag. Da bin ich zum Kaffee eingeladen worden. Sie hat aus ihrem Leben erzählt. Es war sehr interessant. Frau Mellenthin ist schon über achtzig, und was die alles erlebt hat, das ist unglaublich.«

»Frau Mellenthin?«, fragte Herbert Runge. »Ist das vielleicht eine Verwandte von Ihnen, gnädige Frau?«

Marion Mellenthin geriet in Verlegenheit. Sie konnte natürlich nicht zugeben, dass diese grässliche alte Tante ihres Mannes in einem gewöhnlichen Altersheim lebte.

»Aber nein, Herr Runge! Wie kommen Sie nur auf so eine Idee? Der Name Mellenthin ist doch sehr häufig. Sehen Sie nur einmal im Telefonbuch nach.« Hastig warf sie einen Blick auf ihre mit Brillanten besetzte Armbanduhr. »Um Himmels willen! Jetzt muss ich mich aber sputen. Wir haben heute Abend nämlich Gäste! Der Regierungspräsident und seine Gattin kommen zum Canasta. Ganz reizende Leute!«

Der Abschied fiel überstürzt aus. Herbert Runge begleitete den Gast zum Wagen.

♥♥♥

»Das wäre überstanden!«, stieß er seufzend hervor, als er wieder das Haus betrat. »Viel länger hätte ich dieses neugierige Frauenzimmer auch nicht ertragen.«

»So solltest du nicht reden, Papa«, rügte Barbara ihn. »Ich finde Frau Mellenthin sehr nett.« Sie fand alle Menschen nett und wollte nicht glauben, dass es auch boshafte gab.

»Ein Glück, dass die blöde Ziege weg ist«, sagte Dieter, der seinem Vater gefolgt war. »Ich habe mich die ganze Zeit versteckt. Oder brauchst du wirklich noch Brot, Mama?«

Lore schüttelte den Kopf.

»Dachte ich es mir doch. Ich hab inzwischen die Garage aufgeräumt, Papa. Macht fünf Mark.« Er streckte die Hand aus.

»Ich finde es nicht richtig, dass du dich für jede Handreichung bezahlen lässt, Dieter«, schimpfte seine Schwester. »Wir sind doch eine Familie, und da ist es nur recht und billig, wenn jeder ein paar Pflichten übernimmt.«

»Predige denen, die bereit sind, dir zuzuhören, Babs«, erwiderte er grinsend.

Herbert Runge gab seinem Sohn die fünf Mark. Die Kinder bekamen ziemlich wenig Taschengeld, hatten aber immer Gelegenheit, sich etwas dazuzuverdienen. Auf diese Weise sollten sie den Wert des Geldes kennenlernen. Barbara half, wo sie konnte, ohne dafür Geld zu verlangen.

Lore hatte inzwischen den Tisch auf der Terrasse abgedeckt und trug das Geschirr in die Küche.

»War es sehr schlimm?«, erkundigte sich ihr Mann.

»Nein, es war sogar ganz nett. Zum Glück hatte ich alles in Ordnung, als die gnädige Frau zur Inspektion kam. Und zufällig hatte ich sogar einen Kuchen gebacken. Ich glaube nicht, dass sie etwas Nachteiliges über uns erzählen kann.«

»Ach, die findet immer etwas«, meinte Herbert. »Wann gibt's denn Abendbrot?«

»Sofort, wenn du willst. Ich habe den Kartoffelsalat schon vorbereitet und muss nur noch die Würstchen heiß machen. Deckst du bitte den Tisch im Esszimmer, Babs?«

»Gern, Mama.« Barbara musste nie zweimal um etwas gebeten werden. Bei ihrem Bruder war das anders.

Kurz darauf saß die Familie gemeinsam beim Abendessen.

»Darf ich in den großen Ferien mit einer Jugendgruppe nach Frankreich fahren?«, fragte Barbara. »Wir wollen uns die Schlösser an der Loire anschauen.«

»Aber wir wollten doch alle zusammen nach Borkum fahren!«, wandte Herbert Runge ein. »Ich habe schon gebucht. Das weißt du doch, Babs.«

»Ich würde viel lieber nach Frankreich, Papa. Den ganzen Tag nur in der Sonne liegen, das finde ich langweilig.«

»Ihr solltet allein nach Borkum fahren!«, schaltete sich Dieter ein. »Wenn ihr mal Urlaub ohne uns macht, werdet ihr ihn viel mehr genießen.« Dieser Vorschlag war nicht so selbstlos, wie er sich anhörte. Dieter wollte mit einem Freund, der ein Auto besaß, nach Italien.

Lore und Herbert Runge sahen sich an. Wollten die Kinder jetzt ihre eigenen Wege gehen? Durfte man sie daran hindern?

»Wir sprechen noch darüber«, sagte Herbert, um Zeit zu gewinnen.

»Es war doch immer so schön auf Borkum«, jammerte Lore. »Ihr habt doch so viel Spaß gehabt. Wisst ihr das nicht mehr?«

»Wir sind aber keine kleinen Kinder mehr, Mama«, wurde sie von ihrem Sohn belehrt, »und aus dem Alter raus, in dem man Sandburgen am Strand baut. In meiner Klasse fährt niemand mehr mit seinen Eltern in Urlaub.«

Das stimmte zwar nicht ganz, aber seine Mitschüler, die immer noch mit der ganzen Familie in die Ferien fuhren, wurden deswegen von den anderen verspottet. Dieter brannte darauf, ins Lager der Spötter überwechseln zu können.

Herbert Runge war verärgert, weil aus dem gemeinsamen Urlaub nun offenbar nichts wurde. Zwingen wollte er die Kinder auch nicht, mit ihnen zu fahren. Er hüllte sich in gekränktes Schweigen. Statt dankbar zu sein, dass er ihnen vier Wochen Borkum in einem guten Hotel bieten konnte, zogen sie es vor, ihre eigenen Wege zu gehen.

Seine Frau ahnte wie so oft seine Gedanken. Sie legte beschwichtigend ihre Hand auf die seine.

Damit bewirkte sie, dass sich sein müdes, enttäuschtes Gesicht aufheiterte.

Ein Urlaub allein mit Lore, das konnte doch ein großes Vergnügen werden.