Die Welt ist mein Wohnzimmer - Carolin Keller - E-Book

Die Welt ist mein Wohnzimmer E-Book

Carolin Keller

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit vielen Fotos, die das begeisterte Lernen auf Reisewegen illustrieren! Im Sommer, als Elijan gerade sechs Jahre alt ist, bricht er zusammen mit seiner Mutter zu einer besonderen Reise auf. Wie es dazu kommt und von dem, was man auf Reisen alles lernen kann, davon erzählt dieses Buch. Ausbrechend aus der Situation mit vielen Herausforderungen und Überforderungen unserer Zeit folgt eine kleine Familie dem Ruf ihres Herzens. Voller Liebe, Begeisterung und Forscherdrang, auf der Suche nach sich selbst und nach artgerechterem Leben, Lernen und Miteinander. ***Die Mut-Mach-Geschichte unseres Mutter-Sohn-Abenteuerweges. Allein-begleitend, hochsensibel, ein gefühlsstarkes Hoch-in-die-Luft-Kind, etwas MUT, frei-lernend und ein wenig Wunschkonzert Schule. Komm mit und lass dich zu etwas Mut und ganz viel Lebensfreude für deinen eigenen Weg inspirieren.***

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Welt ist mein Wohnzimmer
Ein schulfreies Abenteuer
Carolin Keller
Inhalt
Titelseite
Impressum
Vorwort
1. Die Welt ist mein Wohnzimmer – warum dieses Buch so heißt
2. Unsere Nahreise ins schulfreie Lernen
3. Die U-Untersuchung und eine unerwartete Rückstellung
4. Schule oder nicht Schule, das ist hier gar nicht erst die Frage
5. Ein besonderes Kind
6. Die Reise vor der Reise
7. Tod und Leben
8. Ein kleiner Musiker auf Streik
9. Der letzte Schubs
10. Die zweite Mutter-Kind-Kur und ein Engel
Tagebuch aus dem Nomadenheim und der SCHULE unterwegs
2016
2017
2018
2019
2020
Nachtrag  
Über die Autorin
Danke
Weiterführende Literatur
Weiterführende Literatur zu Lern- und Hirnforschung
Impressum © 2024 Carolin Keller, Waldstraße 22, 85461 Bockhorn
Alle Rechte vorbehalten
Vorwort
Dieses Buch ist für alle hochsensiblen, gefühlsstarken, wissbegierigen, freiheitsliebenden, feinfühligen, wilden, sanften Kinder – groß und klein. Für alle Mütter (und alle anderen), die ganz alleine da stehen. Und für alle, die eigene Wege gehen, weil sie ihrem Herzen folgen. Für alle, die nicht so ganz in unser Schulsystem passen – und vielleicht auch in sonst so manche Vorstellung nicht – und für all jene, die sich hineinquetschen. Für alle, die sich Vertrauen wünschen, in ihre ureigenen Fähigkeiten und die gehört und gesehen werden möchten.
Dies ist unsere ganz persönliche, besondere Reise. Eigentlich hatte ich vor, nur meine bebilderten, bunten Blogeinträge über die Reisejahre mit meinem Sohn in Buchform zu packen. Während ich die Einleitung schrieb, purzelte unsere Reise hin zu diesen Reisejahren heraus und wollte gehört werden. So sind zwei Teile entstanden.
Ein erster Teil, unsere ganz persönliche Lebensreise, mit  unseren persönlichen Herausforderungen und der Auseinandersetzung damit. Allein-begleitend. Hochsensibel. Gefühlsstark. Aber vor allem immer wieder im Vertrauen auf das Wunder der Bindung zwischen Mutter und Kind und auf das Wunder von Lernen und Wachsen, das jederzeit geschieht und wofür nicht unbedingt ein Schulgebäude notwendig ist.
Und ein zweiter Teil, basierend auf den tagebuchartigen Blogeinträgen mit dem „Stundenplan“ und den Erlebnissen und Erfahrungen von vier Jahren reisen mit schulfrei lernendem Kind.
Nomadenheim im Auto, losgezogen mit dem, was in unseren kleinen Skoda Roomster Minicamper passte, von Ort zu Ort reisend, um zu lernen und zu arbeiten. Loslassen, vertrauen – darauf, dass sich alles fügt – es immer wieder im richtigen Moment einen neuen Platz und eine Aufgabe gibt.
Schule unterwegs, lernen und wachsen, sich zuhause fühlen unterwegs. Ob bei regelmäßiger Mitarbeit bei einer Wildkräuterfrau und anderen Wwoof- oder Workaway-Stellen (Arbeiten gegen Kost und Logis), künstlerischer Kollaboration, Zirkusprojekten, Wandern auf dem Jakobsweg, Probewohnen beim Hüten von Luxusvillen bis zur Jurte, oder dabei, die Geschichte unserer Umgebung zu erforschen und unseren zeitweisen Mitbewohnern im Kreis zu begegnen. Eine Reise, in der es uns nicht darum ging, weit weg zu sein, sondern nah dran! In lebendiger Begegnung mit uns und anderen. Komm doch mit und begleite uns ein Stück auf unserem Weg.
Teil 1
1. Die Welt ist mein Wohnzimmer – warum dieses Buch so heißt
Eine Zeit lang, so mit fünf, sechs, sieben Jahren, hat mein Kind ständig vor sich hin gerappt. Wenn wir im Auto fuhren, wenn er spazierte oder gar gewandert ist, wenn er im Wald saß … Er rappte und rappte … mal irgendwas und irgendwie, mal hat er dabei ganze Liedertexte erfunden.
„Die Welt ist mein Wohnzimmer“ war einer meiner Lieblings-Raps, und wie autobiografisch dieser frühe Rap meines Kindes war, möchte ich hier erzählen.
Ich schreibe jetzt, zu einer Zeit, in der sich viele fragen: Wie kann Lernen zuhause, ohne in der Schule anwesend zu sein, funktionieren? In einer Zeit, in der wir, Kinder wie auch viele Erwachsene, eine lange Zeit hinter uns haben, in der wir zwangsweise daheim bleiben mussten. In der wir eingesperrt waren, extrem eingeschränkt in Kontakt-, Bewegungs- und Entwicklungsmöglichkeiten.
Die Welt war unser Wohnzimmer, und auf die klagende Aussage von vielen: „Ihr seid das Lernen zusammen zuhause wenigstens gewohnt“, konnte die Antwort nur so lauten: „Nein, das Wohnzimmer ist verdammt klein und einsam geworden!“
Aber sie war es und bleibt es und wird es wieder werden: Die Welt, unser Wohnzimmer. Und die Liebe zu dieser Welt, mit ihren unendlich vielen Facetten, ihren unendlichen Möglichkeiten zu lernen, zu wachsen, berührt zu werden, mit ihren wunderschönen Orten mit lebendiger Geschichte und Erfahrung, war, ist und bleibt unendlich grenzenlos groß.
2. Unsere Nahreise ins schulfreie Lernen
Während andere sich auf Welt- oder zumindest Fernreise begeben, während Reiseblogger, die als digitale Nomaden die exotischsten Orte ihr Zuhause nennen, wie Pilze aus dem Boden schießen, machten wir uns im August 2015 für unbestimmte Zeit auf den Weg ganz in die Nähe. Nah zu uns, nah in uns.
Im Mai 2015, Elijan ist gerade sechs geworden, kündige ich spontan unsere dunkle Stadtwohnung, in der er geboren wurde, ohne wirklich zu wissen, was kommt. Sicher ist, dass wir raus in die Natur wollen, kein Stadtleben mehr. Sicher ist, dass etwas anders werden soll, dass wir andere Wege gehen wollen. Tief in mir weiß etwas längst, wo es hingeht – auch wenn mein bewusstes Ich noch kein wirkliches Bild davon hat.
Jahre des Burnouts, des aufstockenden ALG-II-Bezuges zu nicht ausreichendem Einkommen, isoliert als überforderte, allein-verantwortliche Mutter möchte ich endlich beenden. Schon in der Schwangerschaft getrennt und in einer Umgebung lebend voller Menschen, die in ihrem System ohne viel Freiraum funktionieren und wenig Platz für echte Begegnung haben.
Ich möchte finden, wie ich als selbstständige Künstlerin und Tänzerin ohne unterstützendes Netz von Großeltern, Kindsvater oder Ähnlichem wieder – oder anders – arbeiten kann. Und ich möchte uns kurz vor der Einschulung ermöglichen, weiter so selbstbestimmt und mit Be-Geist-erung zu lernen wie bisher.
3. Die U-Untersuchung und eine unerwartete Rückstellung
Unerwartet kommt uns dabei auch die Rückstellung für die Schule entgegen. Mein Kind, das es gewohnt ist, als junger Mensch ernst genommen zu werden, ist nicht auf stures Befehle ausführen getrimmt. Bei der letzten U-Untersuchung vor Schuleintritt trifft er auf eine gestresste Ärztin, die ihren kleinen Patienten möglichst schnell und autoritär sein Vorzeige-Muss absolvieren lassen möchte. Ihre Rechnung hat sie dabei ohne ihn gemacht.
Elijan hat von Anfang an ein großes Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Autonomie und noch dazu einen absoluten Alarmsensor für nicht integres und nicht nachvollziehbares Erwachsenenverhalten.
Schon als Kleinkind ist es ihm eine kaum auszuhaltende Verletzung seiner Selbstverantwortung, wenn er an der Hand gehen MUSS, um nur mal ein Beispiel zu nennen. Ihn nicht gleichwürdig und in seinen Fähigkeiten ernst zu nehmen, scheint ihn tief zu beleidigen. Dieses respektiert, bewegt er sich, seit er laufen kann, sicher und aufmerksam. Hält zuverlässiger als jedes ältere Schulkind vor jeder Straßenüberquerung, auch wenn er vorausläuft. Dieses nicht respektiert, kann es zu Dramen kommen, die den Verkehr für längere Zeit lahmlegen. So haben wir es in einigen wenigen Situationen erlebt, in denen er zum Handhalten gezwungen wurde.
Arztbesuche sehen zu dieser Zeit so aus, dass er sich erst mal unter meinem Stuhl versteckt und verstehen möchte, ob er unangesprochen angefasst werden wird (was leider noch allzu häufig vorkommt in unseren Arztpraxen) oder worum es hier gehen wird.
Die ersten Untersuchungen und Versuche der Ärztin, ihn irgendwelche kleinen Aufgaben und Befehle ausführen zu lassen, ohne je wirklich Kontakt mit ihm aufgenommen zu haben – geschweige denn erklärt zu haben, warum er hier plötzlich so Sonderbares demonstrieren soll – habe ich verdrängt.
Der Ärztin steht schon der Termin des nächsten kleinen Prüflings ins gestresste Gesicht geschrieben. Schließlich legt sie ein Seil auf den Boden und blafft:
„So, jetzt lauf mal von hier nach da drüben!“
Elijan schaut jetzt endgültig verblüfft und ich sehe es förmlich in seinem kleinen Kopf arbeiten.
(Was ist wohl in die arme Frau gefahren? Was ist das für ein Unsinn? Ich verstehe hier gar nichts mehr …)
Seine Antwort ist einfach.
„Nö!“ (Entschuldigung, aber warum denn bitte?)
Die Ärztin versucht es sehr kreativ mit einem barschen: „Doch, lauf jetzt hier entlang!“
Oh Wunder, die Antwort ist wieder: „Nö!“
Dabei hat sie sich doch solche Mühe gegeben. Man sieht ihr an: Nicht nur der nächste kleine Patient wartet, sondern eine ganze viel zu lange Reihe von Patienten.
Völlig aufgelöst blafft sie schließlich noch rauer: „Wir warten jetzt hier so lange, bis du da rübergelaufen bist!“ (Obwohl das angesichts ihres Termindruckes sicher das Letzte ist, was sie eigentlich will.)
Der kleine Kerl verschränkt die Arme und reckt die Nase in die Luft:
„Na und? Irgendwann gehst du nach Hause und dann gehen wir auch!“
Diese sehr weise Erkenntnis bringt die Ärztin nun endgültig aus der Fassung und zum Schluss, dass er so nicht in die Schule gehen kann, ja absolut nicht schulreif ist.
Ich erinnere mich dunkel, etwas gemurmelt zu haben wie: „Genau das ist der Grund, warum ich nicht gerade von Schule überzeugt bin“ – und dass das wohl sehr fragwürdig wäre, wenn das, was hier gefragt war, erstrebenswert für den Schuleintritt sein sollte.
Sicher ist, dass ich auf ihre Aussage „So kann er aber nicht in die Schule gehen“ antworte: „Da bin ich ganz Ihrer Meinung, bitte schreiben Sie mir das doch gleich auf!“
Somit gehe ich völlig unverhofft mit einer Aufforderung zur Rückstellung in der Tasche aus der Praxis.
Als Mai-Kind weit vom Kann-Kind entfernt und immer schon eher weiter, wacher und aufgeschlossener als viele Altersgenossen, waren eigentlich alle überzeugt, dass es für uns keine Chance auf Rückstellung gibt.
Aber manchmal ebnen sich die Wege von selbst, wenn die innere Ausrichtung stimmt.
Das war einer der ersten Zu-Fälle auf unserem Weg ins freiere Lernen.
So lustig es erzählt ist, so überrumpelt saß ich nebendran. Schockiert und ratlos, wie ich reagieren soll. Gefangen im unbewussten Konflikt meiner eigenen Konditionierung, dass es in einer solchen Situation angemessener ist, brav zu sein und der Ärztin in die Hände zu spielen und dem Bewusstsein, dass mein fast noch Kleinkind hier im Raum gerade der reifere Mensch ist und ich für ihn einstehen sollte. Ein bisschen schäme ich mich hinterher, dass ich nicht noch mehr in die Bresche gesprungen bin für ihn, auch wenn er das gut für sich selbst erledigt hat.
Ich nehme mir vor, in Zukunft ganz zu ihm zu halten und ihn zu verteidigen, wenn es dran ist, und nicht einer alten Konditionierung zu folgen. Und ich muss sagen, ich bin ein wenig stolz auf mein Kind, das sich in dieser absurden Situation wackerer geschlagen hat als ich.
4. Schule oder nicht Schule, das ist hier gar nicht erst die Frage
Ich muss gestehen, meine eigene Schullaufbahn war eine einzige Aneinanderreihung von extrem unschönen Erfahrungen und ich habe mich schon als Kind oft genug gefragt, was das Ganze soll. Dass da etwas gewaltig schiefläuft (neben meinem Freigeist und dem Drang, mich lieber in der Natur als in Räumen aufzuhalten, die mich unwohl fühlen ließen), war mir – mal bewusster, mal unbewusster – klar. Diese Erfahrung mag wohl auch ein Grundbaustein sein für das, was ich mir für mein eigenes Kind anders wünschte.
Ich komme aus einem Lehrerhaushalt. Meine beiden Eltern waren – sicher jeder auf seine Weise – engagierte Lehrer. Vor allem meine Mutter war bekannt dafür, dass sie als Grundschullehrerin viel Zeit investierte, um kreatives Material herzustellen und zusammenzusammeln. Innerhalb ihrer Möglichkeiten versuchte sie schon, ein Schrittchen vorwärtszugehen in unserem veralteten Lehrplan und Schulsystem.
Nichtsdestotrotz haben doch auch die typischen Sprüche in meinem Umfeld in meiner Kindheit ihres zu meinem Bild vom Lehrer und der Schule zugefügt: „Oh Gott, lauter Lehrer um dich, die wissen immer alles besser!“ oder: „Die können nur reden, nicht zuhören!“
Klischeehaft vielleicht, aber doch auch bedauerlicherweise immer wieder erlebt, dass diese Klischees nicht so weit von der Realität entfernt waren. Besonders potenziert gerne mal fast mit Wettbewerbscharakter bei Lehrertreffen oder -feiern.
Da mag sich an modernen Schulen einiges getan haben in der Zwischenzeit. So genau weiß ich das wohl nicht. Aber sind wir mal ehrlich, wirklich zuhören und nicht nur selber reden oder gar nur besser zu wissen, ist tatsächlich nach wie vor eine Mangelerscheinung. Nicht nur in Schulen, sondern leider auch in unserer gesamten Gesellschaft.
Wirklich wahrgenommen werden und nicht nur in ein Bild gepresst. Mit unseren ureigenen Ideen, Fähigkeiten und eigenen Lösungen ernst genommen werden. Raum bekommen, um uns zu entfalten, zu einer unbekannten Größe, und nicht nur in ein Schema gepresst etwas er-FÜLLEN müssen. Und doch sehnen wir uns alle so sehr danach. Stehen mal mehr, mal weniger da im Mangel, mit solchen unbefriedigten Bedürfnissen, die doch zu unseren emotionalen Grundbedürfnissen zählen.
Auf unserem Weg werde ich immer wieder von Skeptikern gefragt: „Was macht dir denn so Angst, was ihm in der Schule schlecht tun könnte?“
Die Antwort ist: Das ist der falsche Ansatz, und dann stellt sich diese Frage gar nicht. Mein Ansatz ist: Ich sehe, wie mein Kind sich entfalten, lernen und wachsen kann, in einem weiteren Raum, als dem, den unser enges Schulsystem und unsere Vorstellung von UNTER-richten (also etwas nach unten richten) bietet. Ich sehe, wie mein Kind sich entfalten, lernen und wachsen kann, wenn es seinem inneren Kompass und seiner Begeisterung folgt. Für mich – da es auch zu unserem Familienleben passt – gibt es keinerlei Grund, ihm diesen Raum nicht zu geben, soweit ich kann!
Und bei der Ahnung (und mittlerweile einiger Erfahrung), welche Potenziale noch in uns schlummern, die bisher noch „nach unten gerichtet“ werden, bekomme ich eine Gänsehaut vor Begeisterung und Vorfreude.
So gehe ich diesen Weg, weil er sich stimmig für uns anfühlt. Ich höre meinem Kind zu, schaue hin und lausche. Ich höre mir zu und nehme uns ernst. Und ich gehe diesen Weg aus der Begeisterung heraus. Nicht aus alten, schlechten Erfahrungen und nicht aus Angst vor Irgendetwas.
5. Ein besonderes Kind
Sind wir nicht alle ein wenig besonders?
Und wenn wir weniger angepasst werden und uns weniger anpassen, weil es als kleines Kind (eventuell sogar überlebens-) notwendig ist, wie würden sich unsere Besonderheiten entwickeln?
Wie könnten sich unsere uns ureigenen Fähigkeiten entwickeln? Gefühlt gehe ich mit meinem Kind durch alle möglichen kleinen Besonderheiten, einschließlich unserer Situation von Anfang an ohne wirklich erreichbare Verwandte oder den Kindsvater. Also wirklich allein-begleitend.
Die Entscheidung, den Wunsch des Vaters, ich möge zu ihm ins Ausland ziehen, abzulehnen, ist leicht. Zu klar ist, dass die Beziehung nicht funktioniert, die Basis für gemeinsame Elternschaft mehr als mau ist.
Für mich ist klar: Besser wäre anders, aber das schaffe ich auch allein. Ich liebe Kinder und Kinder lieben mich. Schon als ich noch selbst Kind war, liefen mir kleine Kinder nach und suchten meine Nähe ohne mein Zutun. Ich habe unzählige pädagogische Erfahrungen und eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendtherapeutin. Schon sehr früh habe ich mich mit vollem Herzen aufs Muttersein gefreut. Ich wusste immer, ich werde eine tolle Mutter und ich werde es lieben.
Völlig unterschätzt habe ich, wie es ist, wirklich allein zu sein mit dieser Aufgabe. Dass das, was schon für eine Kleinfamilie – selbst mit Großeltern – eine herausfordernde, eigentlich nicht artgerechte Situation ist, für einen Menschen allein schier unmöglich ist.
Meine Mutter ist zwei Jahre vor Elijans Geburt aus dem Leben gegangen. Mein Vater hat gerade eine neue Frau und seine Strategie, mit alten Wunden aus der ersten Familie umzugehen, ist, das Vorherige auszublenden und alles und alle, die damit zu tun haben. Obendrein hat die neue Frau ein Problem mit mir, erfüllt die gleichen Muster und Themen meiner Mutter, wenn auch auf andere und doch auf gleiche Weise, und sie wohnen weit entfernt. Großeltern der väterlichen Seite sind nicht vorhanden oder erreichbar.
Mein Freundesnetz löst sich unglücklicherweise um diese Zeit herum auch nach und nach auf. Eine zieht weg, eine andere kommt mit der Entscheidung, abgetrieben zu haben und meinem Mutterglück nicht zurecht. Wieder andere gehen einfach gerade andere Wege … so ist das Leben.
Neue, vor allem „alleinerziehende“ Freunde reagieren erstaunlicherweise auch oft mit Unverständnis auf meine Situation. Ihre Babys verbringen Tage oder gar Wochenenden mit dem Vater. Wenn sie krank sind, kommen die Großeltern und unterstützen.
An ihren freien Wochenenden gehen sie kinderfrei tanzen, schlafen aus und schreiben dann in Ruhe Bewerbungen.
Ich bin hier mit meinem Kind. Punkt.
Und so bekomme ich sogar von ihnen Vorwürfe, dass ich im Gegensatz zu ihnen noch immer nicht das Gleiche geschafft habe.
Dann gibt es andere neue Freundinnen, die mir versichern, dass sie ja auch sozusagen alleinerziehend sind. Allein mit Kind, der Vater kommt so spät nach Hause und sie sind die ganze Woche allein. Immer wieder, wenn ich anrufe, sind sie im Theater oder im Kino, sitzen mit einer Freundin im Café oder sind sogar ohne Kind im Urlaub. Der Vater oder die Großeltern versorgen das Kind zuhause.
Womit ich sicher nicht unterstellen will, dass sie nicht auch alle ge- und überfordert sind. Wer ist das nicht in unserer Gesellschaft, die vergessen hat, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen? Doch ich fühle mich noch mehr allein und ungesehen mit meinem konstanten Gefordertsein ohne Pause.
Mein Baby ist bereits mehrere Monate alt und schläft, als jemand das erste Mal da ist, und ich das erste Mal allein rausgehe, um schnell eine kleine Runde mit dem Fahrrad um die Häuser zu drehen und wieder zurückzusausen.
Ich breche in Tränen aus. Tränen des Glücks, Tränen der Trauer, ich weiß es nicht. Es ist egal. Ich bin einfach berührt. Fahre und der Fahrtwind bläst mir um die Nase, und ich bin berührt davon, mit mir zu sein. Einfach so, ohne Kind am Körper auf dem Fahrrad zu sitzen. Auch wenn es nur eine Viertelstunde nach ein paar Monaten ist.
Und ich verstehe zum ersten Mal, dass allein mit Kind nicht gleich allein mit Kind ist. Und dass alleinerziehend eine sehr dehnbare Bezeichnung ist.
Einiges von dem, wie es uns ergeht, und was sich in Schwierigkeiten und Herausforderungen zeigt, findet sicher auch hierin seinen Ursprung, bedingt sich gegenseitig. Anderes haben wir wohl mitgebracht in unserem Wesen.
Dass auch mein Kind, so wie ich, wohl hochsensibel ist und dies durchaus eine Rolle spielt, wird erst später klar. Es braucht einiges an hilfreichen Begegnungen und Erkenntnissen und weitere Zu-Fälle und glückliche Fügungen auf dem Weg, um uns Schritt für Schritt in einen für uns stimmigeren inneren Rhythmus und eine für uns stimmigere Umgebung zu bringen.
6. Die Reise vor der Reise
In den ersten Monaten
… sage ich oft mit verzücktem jungem Mutterglücks-Strahlen in den Augen: „Das ist wie ein super genialer, berauschender Extremsporttrip, nur sehr viel länger und intensiver!“
Nach zwei gut betreuten Wochenbettwochen bin ich allein mit Baby und meinem dreibeinigen Hund, und das erst mal für die kommenden Monate.
Ich habe mein Kind in Ausbildungswochen und Prüfungen auf dem Rücken – zu der Zeit bin ich noch in der Ausbildung zur Kinder- und Jugendtherapeutin in Blockwochen. Habe ihn auf dem Rücken, wenn der Hund mittags raus muss und Mittagsschlafzeit ist. Mich selbst mal mit ihm hinzulegen, steht nicht zur Debatte. Ich habe ihn im Tragetuch, wenn ich Ski fahre und wenn ich einkaufen gehe, wenn ich Hausarbeit mache und spätabends tanze ich mit ihm auf dem Arm, wenn er schreit.
Kranksein heißt für mich trotzdem weitermachen. Bis auf einen schlimmen Magen-Darminfekt, mit dem ich wirklich nicht  mehr zu irgendetwas fähig bin, als von Matratze zu Toilette zu kriechen.
Dafür muss mein Handy dran glauben. Mein Kind taucht es munter in meinem Tee herum, während ich viel zu fertig bin, um etwas mitzubekommen oder einzugreifen.
Obwohl er von Anfang an ein sehr offenes, strahlendes Gemüt hat, setzt bald allabendlich eine lange Schreizeit ein. Pünktlich, wenn ich essen möchte, vor allem in Gesellschaft. Kein einziges Mal kommt es vor, dass ich mich nicht eine halbe Stunde abseits der Gesellschaft setzen muss, bis alles durchgestanden ist. Oder auch pünktlich, wenn es ans Schlafen gehen soll. So tanze ich allabendlich mit Kind auf dem Rücken oder im Arm nach einem langen, anstrengenden Tag. Tanzen scheint zu helfen.
Mein Baby hat einen großen Drang nach Bewegung und vor allem strebt es nach oben. Ja, das tun sie wohl alle. Er vielleicht ein wenig mehr als manche andere. Seine beste Freundin und Paten-Schwester sitzt gerne. Sie sitzt wie ein Buddha und beobachtet auf eine sehr weise anmutende Weise. Sie fängt sehr früh an, sehr eloquent zu sprechen. Ist es nicht voller Wunder, was wir so mitbringen?
Elijan krabbelt sehr früh und ist immer noch unzufrieden. Mit sieben Monaten ist er endlich auf den Füßen und fängt an, sich an den Möbeln entlangzuhangeln. Das taugt ihm, da wollte er doch hin.
„Schau mal, Elijan hält sich an der Luft fest!“, sagt seine Patentante oft. Er ist ein Hoch-in-die-Luft-Kind.
Der nächste Schritt ist dann, dass er, fast noch bevor er richtig laufen kann, alles unerreichbar Hohe stürmt. Bäume, Klettertürme im Fitnesspark …
Ich selbst habe Höhenangst.
So wie ich in den ersten Jahren spüre, dass da eine unsichtbare Verbindung ist, wie ein Kaugummi zwischen uns, und ich weiß, dass er sicher vorausgeht und sicher anhält, ich ihn sicher mal irgendwo stehen lassen kann und weiß, dass er noch da steht, und es keinen Grund für Sorge gibt, weil sich der Kaugummi zwischen uns wieder zusammenzieht, so spüre ich, dass er sicher in der Höhe ist. Fast noch mehr. Es ist sein Element.
Mir, mit meiner Höhenangst, wird vom Hinschauen schon schwindlig und übel. Und tief in mir weiß etwas, dass mir nichts anderes bleibt, als mich umzudrehen und tief, tief durchzuatmen. Meine Angst wegatmen. Nicht mein Kind zurückpfeifen. Meinem Kind vertrauen.
Das ist eine gute Vorübung, denn später mit zehn Jahren wird er an einem Platz auf unserem Weg eine Zeit lang täglich über zwanzig Meter hoch auf einer Fichte sitzen. Zusammen mit seinen Eichhörnchenbrüdern Shadow und Wing, selbst ein kleines Eichhorn.
Von Bewegung und Eindrücken scheint er nicht genug zu bekommen. Während ich abends immer mehr und früher zum Umfallen müde bin, ist er unermüdlich hellwach und in Bewegung.
Ich fange an, mit ihm auch am Abend nochmal in die Bücherei zu gehen, Dinge zu unternehmen.
Ich habe den Eindruck und die Hoffnung, dass ich ihm noch mehr Input geben muss, ihn mehr fordern, um ihn zu sättigen, und um zermürbende Abende zuhause zu vermeiden. Er nimmt alles mit voller Freude und sich verströmender Power an. Müder wird er dadurch nicht. Es dauert einiges an Zeit und Erfahrung, bis ich eine Ahnung davon bekomme, dass er nicht mehr Reize und Aktion braucht, sondern im Gegenteil Hilfe zur Ruhe. Er es alleine einfach nicht schafft, seinen Modus von „Full Power“ auf „Eindrücke verarbeitet und langsam runterfahren“ zu stellen.
Mit einem guten halben Jahr
… bitte ich um Hilfe. Neben all den nur mäßig erfolgreichen Versuchen, nachbarschaftlich und zwischen Allein-Begleitenden (die meist selbst komplett überfordert sind) oder mit anderen Eltern Austausch aufzubauen, wende ich mich jetzt an die ehrenamtliche Hilfe Wellcome und später an die Bezirkssozialarbeiterin. Von Wellcome gibt es ein paar Babysitter-Stunden. Spaziergänge mit meinem Baby, während denen ich zuhause meist in komaartigen Schlaf falle. Pech, dass sich ab da bald eine heftige Fremdelphase einstellt und diverse weitere Versuche mit Leihomas und Babysittern zumindest teils zunichtemacht.
Was an abendlichen Schreizeiten nachlässt, potenziert sich in Schlafschwierigkeiten. Auch da braucht es einiges an Zeit und Erfahrung, bis ein Muster von „Je mehr Eindrücke am Tag, desto schlechter der Schlaf“ erkennbar wird. Was noch lange nicht heißt, dass Erkenntnisse einfach so eine Besserung auslösen.
Mit einem guten Jahr
... sind wir das erste Mal zur Beratung in der Schrei- und Schlafambulanz im Kinderzentrum München und sind dort von da an regelmäßig zu Gast. Nach einigen anderen Versuchen bekommen wir später einen Platz auf der Warteliste für die Aufnahme in der Eltern-Kind-Station zur stationären Schlafbegleitung. Im Schnitt stündlich ist unsere Nacht unterbrochen. Ich gehe auf dem Zahnfleisch.
Ein ganzes, zermürbendes Jahr werden wir auf der Warteliste stehen. Absurderweise lassen die Schlafprobleme gerade nach und wir können endlich aufatmen, als ein Platz frei wird. Wir haben es, wie so vieles, alleine geschafft. Die Bezirkssozialarbeiterin ermöglicht uns eine wöchentliche Begleitung zuhause über die Frühen Hilfen. Die uns eine Zeit lang begleitende Fachkraft begründet irgendwann die Ablehnung der Weiterbewilligung mit einem: „Du weißt, wie es geht und machst das super.“ Ja, ich weiß, wie es geht. Aber es geht nicht alleine, ist einfach nicht darauf angelegt. Wo ist nur unser Rudel?
So unfassbar herausfordernd manches ist, so beruhigend ist es, immer wieder auch von diesen Stellen so positive Rückmeldungen zu bekommen. Alle sind begeistert vom Charme und der Entwicklung meines Kindes. Überall höre ich Lob auf meine Kompetenz als Mutter und bekomme ein wenig von selten vorhandenem Mitgefühl und Anerkennung für das, was ich leiste. Das tut gut. Ein kleines Pflaster auf einem etwas wunden und völlig übermüdeten Mutterherz, das sich wohl doch auch oft genug fragt, was es falsch macht.
Auch tut es gut zu hören, dass sich der im Kinderzentrum begleitende Psychologe später nach vielen gemeinsamen Stunden sicher ist, dass Elijan kein ADHS hat. Er kann sich sehr wohl genau und ausgedehnt auf etwas konzentrieren. Er reagiert nur so unglaublich heftig darauf, wenn seine Grenzen verletzt oder überschritten werden, und wenn Eindrücke zu viel werden, und ist so konstant in Bewegung. Es gäbe kaum ein Umfeld, in das er weniger gepasst hätte, als das enge Korsett der Schule, und ich bin mir sicher, er wäre dort mit ein wenig Pech sehr schnell als ADHS-Kind „diagnostiziert“ worden.
Ab Verlassen der Großstadt, der täglichen großen Kindergruppe und anderen Reizüberflutungen und mit Beginn von Aufenthalten in der Natur, mit Tieren und mit wenigen lieben Menschen, mit denen wir gemeinsam sind, hören wie von einem auf den anderen Tag die jahrelangen Schreiattacken und Unruhen auf. Mein Kind kommt in seiner Mitte an.
Er trifft zwar seine engen Freunde regelmäßig zwischendurch, was wichtig und sehr erfüllend ist. Er ist schon immer sehr loyal, hält schon früh durch Telefonieren und Briefe schreiben Kontakt mit Menschen, die er in sein Herz geschlossen hat.
Aber das Bedürfnis, oft und mit vielen anderen Kindern zu sein, wird erst viel später wieder wichtig. Erst als das Ruhen in der Mitte nach all den Überreizungen der letzten Jahre ausgekostet ist. Das, was er in der Zeit erlebt, ist zu schön, zu nährend, zu stimmig, als dass es noch Anderes bräuchte.
Mit eineinhalb Jahren
… nimmt das Burnout überhand. Ich liege auf der Couch und habe Herzrasen, mag nicht mehr sprechen, habe Sehnenscheidenentzündung in den Armen, einen vereiterten Zahn, der aus Zeit, Energie und Betreuungsmangel erst viele Monate später gezogen werden wird. Ich habe konstant starke Magenschmerzen. Mein bewegungsbegeistertes Kind kann nicht ruhig am Tisch sitzen. Wir üben. Und üben. Erarbeiten Regeln und Taktiken gemeinsam mit dem Kinderzentrum. Er sitzt auf dem Tisch, ist überall in Aktion und nur für kurze Momente ruhig auf den Stuhl zu bekommen. So geht es hin und her. Er hat ein Tempo drauf, das mich schwindlig macht. Daneben in Ruhe schlucken und verdauen ist eine Herausforderung.
Ich habe Burnout, liege auf der Couch und mag nicht mehr.
Nach einer Etage Treppenstufen zum Therapieraum siegt der Schwindel, die Füße werden erst mal hochgelegt und ich mit Getränk und Essen versorgt. Eine Mutter-Kind-Kur wäre ratsam.
7. Tod und Leben
Aber wir haben noch Batey. Auch unser Dreibeiner braucht immer mehr besondere Aufmerksamkeit. Ihn für eine so lange Zeit wegzugeben, kommt nicht in Frage und wäre auch nicht bezahlbar.
Er hat immer mal wieder Probleme mit dem verbliebenen Vorderbein und über ein Jahr schicken mich die Ärzte immer wieder weg, mit der Aussage, er wäre überfordert mit seinen drei Beinen und es wäre eine Entzündung.
Ich spüre gleich, da stimmt etwas anderes nicht. Nach vielen vergeblichen Versuchen, die Ursache und Heilung zu finden, erfahren wir in der Tierklinik, dass ein Tumor im Rückenmark sitzt und ihn immer mehr erlahmen lassen wird.
Es ist das Frühjahr 2011, Elijan ist zwei Jahre alt. Und Batey? Wie alt mag er sein? Vielleicht vier oder fünf Jahre? Genau wissen wir es nicht. Viel zu jung für eine tödliche Krankheit. Wir Drei sitzen jetzt täglich zusammen. Die Isar und ihre Auen sind alles in unserer Welt. Haben ein Buch dabei, ein Picknick oder etwas zum Buddeln und einen Kauknochen. Nicht viel. Wir sind da, einfach nur präsent. In duftenden Frühlingsblüten, im Hochsommerschatten der Auenbäume, im bunten, herbstlichen Laub auf feuchtem Moos. Die Isar hat eine reinigende, wilde Kraft. Sie lässt die Großstadt vergessen.
Oft schaffen wir es mit dem humpelnden Dreibein nicht mal mehr bis an die Isar, oder es ist uns an den heißen Wochenenden dort zu voll. Dann sitzen wir in den Auenanlagen. Die Isar-Auen haben eine zauberhafte Kraft. Voller Wildkräuter, Kletterbäume, Bächlein und Spielwiesen. Sie lassen Lärm und Reizüberflutung vergessen.
Und so sitzen wir hier und vergessen die Zeit. Die Zeit, die jetzt begrenzt ist und für uns doch in jedem Augenblick unendlich. Es gibt kein Vorher. Es gibt kein Nachher. Es gibt nur uns in diesem Moment an diesem wunderschönen Platz. Glücklich, dass wir uns haben und dass wir sind. Es ist erstaunlich, wie wir manchmal im Angesicht des Todes erst verstehen, wie es ist, ganz präsent im Moment zu sein. Ebenso ging es mir, als meine Mutter gerade gegangen war.
Batey beim Sterben zu begleiten ist eine Entscheidung, die gar nicht erst gefällt werden muss. Auch wenn ich damit nicht nur auf Verständnis stoße. Selbst als er morgens aufsteht und plötzlich ein Bein nicht mehr funktioniert, selbst als er nur noch gehoben werden kann, zeigt er so deutlich, dass seine unbändige Lebensfreude und Energie ungebrochen sind. Ihn zu pflegen ist eine zusätzliche riesige Herausforderung und gleichzeitig eine der lehrreichsten Erfahrungen für uns über das Leben und Sterben.
Um Weihnachten dann, kurz nachdem die Lähmung vollständig ist, liegt er ein erstes Mal im Sterben. Es war ein guter Weg. Ich hatte lange getrauert und mit dem Schicksal gehadert, mich dann verabschiedet, gedankt, um Verzeihung gebeten und war bereit, ihn gehen zu lassen.
Doch dann lebt er auf. Seine unbändige Lebensenergie scheint ihn wieder zurückbringen zu wollen.
Er freut sich irrsinnig über die Frühlingssonne, fängt sogar an, mit den Hinterbeinen Schrittchen zu üben.
Am 26. April 2012 packen wir für einen ersten Frühlings-Campingtrip auf unseren Lieblings-Campingplatz in Lofer in Österreich, wo wir für ein paar Tage auch Opa treffen wollen.
Batey spürt, was los ist, während wir geschäftig hin und her wuseln. Er liebt unsere Campingreisen und diesen Platz besonders. Ich könnte schwören, er weiß, wo es hingehen soll.
Bewegen kann er sich kaum noch, aber der ganze Hund ist in freudiger Aufruhr. Er liegt auf der Couch, bellt und wackelt mit dem Schwanz, auch die ganze Autofahrt lang. Und er ist im wahrsten Sinne des Wortes zufrieden, als wir dort sind.
Am Morgen auf dem Campingplatz nach dem Frühstück bringe ich ihn auf die Wiese und wieder in seinen Wagen. Er liegt da und schaut auf die sonnige Campingwiese und die Alpen und beschließt, dass dies ein guter Moment und ein guter Platz zum Sterben ist. Hierfür hat es sich gelohnt, den Winter durchzuhalten. Er wollte nicht in einer dunklen Wohnung gehen. Er wollte noch ein letztes Mal mit uns draußen sein und auf einer sonnigen Frühlingswiese gehen.
Als Batey seinen letzten Atemzug getan hat, legen wir ihn auf sein Lammfell unter einen Baum auf der Wiese. Ich erkläre Elijan, dass Batey jetzt durch den Tunnel gegangen ist. Wir haben immer wieder dieses wundervolle Buch gelesen vom Dachs, der sterben wird und sich von seinen Freunden verabschiedet und durch den Tunnel geht. Und wir haben viel darüber gesprochen.
Wir verabschieden uns von Batey und wünschen ihm eine gute Reise. Ein paar Frühlingsblumen legen wir neben ihn und Elijan legt ihm ein Stück Reiswaffel vor die Schnauze.
„Für den Weg“, sagt er.
Bei all dem ist er gefasst und es wirkt, als empfinde er das Sterben als etwas völlig Selbstverständliches. Es wirkt, als hätte er schon etwas über das Sterben erfahren.
Es fühlt sich so stimmig an, dass Batey sein Leben selbst aushaucht – auf einer Wiese in unserer Mitte. Und es fühlt sich so stimmig an, dass mein Kind dieses zum Leben dazu gehörende Sterben miterlebt. Etwas, das in unserer Gesellschaft, die den Tod versucht auszuschließen, kaum ein Erwachsener erlebt hat, bis er selber geht.
Ich sitze noch bei Batey, streichle ihn. Opa geht mit Elijan auf den Spielplatz.
„Ich will auch durch den Tunnel gehen!“, sagt Elijan zu Opa.
„Du wirst noch viel erleben in deinem Leben und durch den Tunnel gehen, wenn du alt bist“, sagt Opa.
Wie oft wird müde lächelnd kommentiert, dass da wohl ein Hund „den Partner oder ein Kind ersetzt“. Unser Hund war tatsächlich unser drittes nächstes Familienmitglied. Vielleicht kann das nur nachvollziehen, wer selbst schon ein „Seelen-Retter-Haustier“ hatte oder wer es vermochte, sein Herz vollkommen für die uneingeschränkte loyale Freundschaft und Liebe eines Tieres zu öffnen.
Batey hat mich unglaublich viel gelehrt. Über gewaltfreies Miteinander, die Liebe und die riesige Freude am Leben. Für manche mag es verrückt klingen, aber ohne ihn wäre ich eine weniger gute Mutter geworden.
Elijan lernte mit ihm teilen und warten, war durch ihn kein Einzelkind. Er hatte mit ihm immer jemanden nah bei sich zum Kuscheln, und der auf ihn aufpasste. Sie teilten Kinderwagen und Bett und – wenn ich nicht schnell genug war oder mal nicht aufpasste – auch den Hundenapf und den Kauknochen.
Und sie teilten dieses besondere Sich-ins-Leben-Verströmen und diese unbändige Bewegungsenergie. Batey ist – wenn auch nur mit drei Beinen – wie ein Irrer gerannt. Er konnte gar nicht stillhalten. Ich habe nie einen Hund gesehen, der so sehr übersprudelte vor Bewegungsdrang und Lebensfreude und so voller Liebe für jeden Menschen, dem er begegnete. Und das, obwohl er so viel Schlimmes erlebt hatte. Er kam aus einer Tötungsstation, hatte Projektile im Körper und war angefahren worden.
---ENDE DER LESEPROBE---