Die Welt ist nicht heil, aber heilbar - Alexander Batthyány - E-Book

Die Welt ist nicht heil, aber heilbar E-Book

Alexander Batthyány

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Beschreibung

Alexander Batthyány und Elisabeth Lukas führen in diesem Buch ein Gespräch über die Herausforderungen unserer Tage: Wie kann man in schwierigen Lebensphasen seelisch gesund bleiben? Wie können wir mit neuen Medien und künstlicher Intelligenz angemessen umgehen? Wie kann man im Familien- und Freundeskreis heilsame Gemeinschaften aufbauen? Dieses Buch zeigt konkrete Hilfestellungen auf und zielt darauf ab, innere Ressourcen zum Einsatz zu bringen, um den Herausforderungen des Alltags in krisenhafter Zeit zu begegnen.

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Batthyány / Lukas

Die Welt ist nicht heil, aber heilbar

Alexander Batthyány

Elisabeth Lukas

Die Welt ist nicht heil, aber heilbar

Schwierige Lebensphasen meistern

Impulse aus der Logotherapie Viktor Frankls

Nachhaltige Produktion ist uns ein Anliegen; wir möchten die Belastung unserer Mitwelt so gering wie möglich halten. Über unsere Druckereien garantieren wir ein hohes Maß an Umweltverträglichkeit: Wir lassen ausschließlich auf FSC®-Papieren aus verantwortungsvollen Quellen drucken und verwenden Farben auf Pflanzenölbasis. Wir produzieren in Österreich und im nahen europäischen Ausland, auf Produktionen in Fernost verzichten wir ganz.

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

© 2023 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Studio HM, Hall in Tirol

Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Druck und Bindung: Finidr, Tschechien

ISBN 978-3-7022-4135-3 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-4155-1 (E-Book)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Inhaltsverzeichnis

Einleitung (Elisabeth Lukas)

Von der Kunst, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen

Von der Hoffnung

Von der Möglichkeit, sich gegenseitig zu stützen

Von der Notwendigkeit, Leidketten zu beenden

Sinnmöglichkeiten sichtbar machen

Im Gespräch bleiben trotz allem

Vom guten Umgang mit sozialen Medien

Künstliche Intelligenz und Person

Von der Dialektik zwischen Toleranz und Wahrheit

Schuld, Gewissen und Verantwortlich-Sein

Von der Doppelfunktion der Scham

Den Alltag wieder schätzen lernen

Ausblick: Neu beginnen (Alexander Batthyány)

Bibliographie

Anmerkungen

Für Marie Czernin († 2022)

Alexander Batthyány

Für Heidi Schönfeld

Elisabeth Lukas

Einleitung

Elisabeth Lukas

Viktor Emil Frankl war Psychiater, Neurologe, Philosoph und einer der „großen Söhne Österreichs“. 1905 in Wien geboren, war er als junger Arzt in den 1930er-Jahren mit vielen seelisch kranken und verzweifelten Menschen konfrontiert. Natürlich sah er, dass es genug Ursachen gab, warum Menschen seelisch krank wurden: Viele waren von schlimmen Erfahrungen traumatisiert, die Wirtschaftskrise und Hungersnot trugen dazu bei, es herrschten autoritäre Erziehungssysteme, und die instabile politische Lage verhieß eine ungewisse Zukunft. Wenn wir diese Situation mit der heutigen vergleichen, so können wir sagen: In mancher Hinsicht geht es uns besser. Dennoch hat sich das Potential einer ungewissen Zukunft verschärft, was die heutige Generation sehr zu spüren bekommt. Risikofaktoren, die uns seelisch belasten, gibt es auch derzeit genug.

Frankl jedoch vollzog eine Wende zu einem völlig neuen Ansatz. Er fragte sich: „Was erhält Menschen seelisch gesund?“ Statt Ursachen der Krankwerdung erforschte er Gründe der Gesundwerdung bzw. des Gesundbleibens in bedrängender Zeit. Und so entdeckte er die Bedeutung der Sinnfrage im menschlichen Leben. Überlegen wir uns: Was ist das Beste, das einem Menschen im Leben passieren kann? Wohl dies: Dass er mit sich und seinem Leben im Großen und Ganzen zufrieden ist und dass er das Gefühl hat, sein Leben meistern zu können, auch wenn es einmal Sorgen und Ärgernisse gibt. Genau für diese zwei „Geschenke“ aber stehen die Chancen gut in einem sinnerfüllten, am Sinn orientierten Leben.

In vielen Studien hat sich inzwischen gezeigt, was Frankl intuitiv vorweggenommen hat, nämlich dass Menschen, die ihr Leben als sinnvoll betrachten bzw. sich sinnvollen Projekten und Zielen zuwenden, sehr oft – geradezu als Nebeneffekt – Erfolg haben, anerkannt werden, froh über das Geleistete und Erreichte sind, kurz, die Zufriedenheit mit sich und ihrem Wirken steigern können. Als Zweites aber zeigt sich, dass Menschen, die etwas Sinnvolles anstreben, auch an Robustheit und Durchhaltevermögen zulegen, dass sie physische und psychische Kräfte entwickeln, um sich dem Angestrebten zu widmen, und dass sie bei Hürden und Widerständen nicht schnell aufgeben. Sie gewinnen an Frustrationstoleranz. Dies alles fördert ihre Zuversicht und ihr seelisches Gesundbleiben auch noch in Krisensituationen.

Umgekehrt ist der Zweifel an der Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins und den Möglichkeiten, es sinnvoll zu gestalten, niederschmetternd. Der Gedanke, es hat alles keinen Sinn mehr, raubt jegliche Hoffnung und lähmt sämtliche guten Initiativen. Die Folgen sind verheerend. Entweder sagt sich jemand: „Es geht sowieso alles kaputt, also mache ich es mir jetzt so bequem und amüsant, wie ich nur kann – und hinter mir die Sintflut!“ Er kümmert sich um keine Verantwortlichkeiten mehr, was oft in einem bösen Erwachen endet.

Oder er lässt gleich den Kopf hängen und versinkt in Lethargie, Depression, Selbstmitleid oder Zynismus. Dass beide Varianten seelischen Turbulenzen Vorschub leisten, ist nicht verwunderlich. Außerdem ist es exakt, was unsere Gesellschaft nicht braucht, denn es vergrößert zusätzlich die Probleme in problembelasteter Zeit.

Für ein zufriedenstellendes Leben benötigt der Mensch also sinnvolle Aufgaben, die ihm vorschweben und für die er sich engagieren kann. Solche Aufgaben präsentieren sich uns heute in Hülle und Fülle. Man muss nur den einzelnen Personen ihre mögliche Teilhabe daran darlegen. Insbesondere Jugendliche kippen schnell in düstere Stimmungen, weil sie meinen, nichts verändern zu können. Sie seien nicht gefragt, nicht wichtig, politisch wie sozial ohnmächtig und einer brutalen Welt ausgeliefert, die sie um ihre Zukunft betrügt. Kann man ihnen Wege aufzeigen, wie sie sich gerade angesichts der drohenden Verschlechterung unserer Lebensbedingungen bewähren und selber mithelfen können, Schlimmes zu verhindern, flammt sofort Begeisterung auf, und die düstere Stimmung verflüchtigt sich.

Frankl hat schon in den 1930er-Jahren in den von ihm und Charlotte Bühler gegründeten Jugendberatungsstellen nach diesem Prinzip gearbeitet. Damals war die vorherrschende Arbeitslosigkeit ein bedrückendes Thema, und die jungen Menschen setzten ihre Arbeitslosigkeit mit einer Sinnlosigkeit ihres Lebens gleich. Frankl entlarvte dies als Fehlidee und bewog die Ratsuchenden, ehrenamtliche Pflichten zu übernehmen, sich an unentgeltlichen Hilfsaktionen zu beteiligen u. Ä. Und siehe da, trotz leerer Mägen erholten sie sich psychisch. Heute sind es andere Themen, die die Jugend aufwühlen, aber wiederum schleicht sich die Fehlidee ein, nicht allzu viel wert zu sein.

Ein 16-Jähriger brachte seinen Kummer kürzlich auf den Punkt. Er klagte: „Bei der enormen Überbevölkerung auf Erden bin ich einer zu viel!“ Was hätte Frankl ihm entgegnet? Ich vermute, er hätte geantwortet: „Mein Junge, kannst du die Überbevölkerung reduzieren?“ Und auf das Nein des Jungen hätte er gesagt: „Nun ziehe alle Konzentration von dem ab, was nicht in deinen Händen liegt, und richte sie stattdessen auf das, was du selbst bestimmen kannst. Erzähl mir davon! Worüber hast du eine Wahl? Wie du deinen Freunden, deinen Eltern begegnest? Ob du Sport treibst oder träge herumsitzt? Ob du dich in ein Fachgebiet vertiefst oder faulenzt? Erzähl mir von dem, was du in dem kleinen Umfeld rings um dich herum besänftigen, unterstützen, verbessern kannst. Denn sobald du dies tust, gilt: „‚Wenn es dich nicht gäbe, wäre einer zu wenig auf Erden!‘“ Grundsätzlich sollte man all jenen, die sich vor apokalyptischen Visionen fürchten, zurufen: „Fürchtet nicht die Zukunft, sondern das Versäumnis des Augenblicks!“ Denn was sie in der Gegenwart entscheiden, davon wird ihre Zukunft wesentlich mit abhängen. Es ist sinnlos, sich gedanklich auf das zu fixieren, was man im Moment nicht ändern kann, und es vergeudet noch dazu Kraftressourcen, die man für Konstruktives dringend benötigt. Dass vieles aus dem nicht änderbaren Bereich überaus tragisch ist, sei unbestritten. Weshalb Frankl auch die Parole vom „tragischen Optimismus“ ausgab. Er mahnte durchaus zum Realismus: „Sieh dir die Tragödien an und schau nicht weg!“ Aber danach schwenkte er um zum Idealismus: „Und nun sieh dir an, was du beitragen kannst, um aus der Welt einen menschenwürdigen Ort zu machen!“ Zu optimieren, was in unserer Macht steht, das ist Optimismus.

Im Übrigen zeichnen sich sinnvolle Aufgaben in Notstandsepochen deutlicher ab als in Wohlstandsepochen. Wenn einem vieles in Leichtigkeit und Überfluss zufällt, dann ist nicht offensichtlich, wofür man sich noch einsetzen sollte. Das tägliche Leben läuft ohne größeren Energieaufwand wie von selbst ab, es rollt quasi an einem vorbei. Das erzeugt Unausgefülltheit und Missmut. So erklärt sich, dass in prosperierenden Zeiten, die ja eigentlich ein riesiges Glück für eine Bevölkerung sind, seelische Krisen wie Süchte oder Gewalttaten eher zunehmen, so absurd das ist. In Katastrophenzeiten hingegen wurde immer wieder beobachtet, dass sich nach einer Phase der Schockstarre und des Jammerns bei vielen Betroffenen die Fähigkeit ausgebildet hat, den Schicksalsschlägen die Stirn zu bieten und das Bestmögliche aus den misslichen Umständen herauszuholen. Wir können diese Beobachtung guten Mutes auf unsere heutige Situation übertragen. Seit der Jahrtausendwende hat sich ein gesamtbedrohliches Szenario zusammengeballt: von den Flüchtlingsströmen angefangen bis zur Erderwärmung, von der Umweltverschmutzung bis zur Pandemie, von Ernährungsengpässen bis zum atomaren Säbelrasseln. Noch sind die Schockstarre und das allgemeine Jammern voll im Gange, aber auch ein zarter Aufruf zur Umkehr und zur Erneuerung regt sich weltweit.

Frankls Konzepte stellen manches psychologische Paradigma auf den Kopf. Zum Beispiel die Auffassung, dass die Menge dessen, was wir im Zuge unseres Heranreifens erfahren haben, Prägungsgewalt über uns habe. Sie hat zwar einen großen Einfluss auf uns, aber je älter wir werden, desto eher können wir uns Einflüssen entziehen, wenn wir sie ablehnen. Geschlagene Mädchen werden nicht automatisch zu schlagenden Müttern. Kinder aus Alkoholikerfamilien werden nicht automatisch zu Säufern. Häufig beschreiten Kinder ganz andere Wege und wenden sich von ihren elterlichen Vorbildern ab. Es ist nicht einfach, die Qualität des Empfangenen eigenständig zu korrigieren, aber machbar ist es.

Nein, das von uns im Laufe des Lebens Erfahrene hat keine Prägungsgewalt, die ist woanders zu lokalisieren: nämlich bei dem von uns Ausgestrahlten und Ausgesandten. Wer Liebe erfahren hat, muss kein Liebender sein. Aber wer Liebe austeilt, der ist ein Liebender. Wer Hass empfangen hat, muss nicht auch gehässig sein. Aber wer selber hasst, der ist ein Hassender. So ist es mit allem, unweigerlich und unabdingbar. Wer lehrt, ist ein Lehrer, wer rettet, ist ein Retter … das von uns in die Welt Ausgesandte formt und prägt unsere eigene Identität. Wenn ich bestohlen werde, ist das zwar unangenehm, aber noch ist alles über mich offen. Ich kann vor Wut schnauben, bitterlich weinen oder gelassen bleiben – mehrere Alternativen stehen mir zur Verfügung. Doch wenn ich selber stehle, gibt es keine Alternative mehr zu meiner Diebesidentität. Auch wenn ich die Tat bereue, auch wenn ich sterbe, bleibt es wahr, dass ich einmal zur Diebin geworden bin. „Jede Tat ist ihr eigenes Denkmal“, wie es Frankl formuliert hat.

Im Licht dieses Paradigmenwechsels wird klar, dass es nicht opportun ist, das von uns Empfangene und Erfahrene ständig zu memorieren und zu analysieren, vielmehr ist fruchtbar, gut zu überlegen, was jeweils von uns ausgehen kann und soll. Bedenken wir: Was von uns ausgeht, hat stets doppelte Folgen. Ist es positiv für die Außenwelt, dann freut sich erstens diese Außenwelt, aber es bescheinigt zweitens auch uns eine positive Identität. Wer Barmherzigkeit ausübt, macht sich zu einem barmherzigen Menschen. Ist es negativ für die Außenwelt, dann bekümmert es erstens diese Außenwelt, aber es überschattet zweitens auch unsere eigene Identität. Wer andere quält, macht sich zu einem Sadisten. Es sind Doppelfolgen, die nicht mehr annulliert werden können.

In der Praxis kann man Ratsuchenden allein mit dieser Perspektive ein großes Stück weiterhelfen. Wie oft beschweren sie sich über Partner, Kollegen oder Vorgesetzte, die nicht handeln, wie sie ihrer Meinung nach handeln sollten. Beschweren kann man sich lange, aber der Effekt ist minimal. Was andere tun, ist von uns nicht entscheidbar. Wechseln wir zum entscheidbaren Teil und fragen wir uns: Wie wollen wir in Zukunft mit Partner, Kollegen oder Vorgesetzten umgehen? Wollen wir jede Aggression mit Aggression, jede Unfairness mit Unfairness erwidern? Wollen wir die Kette des Leides fortsetzen? Oder wollen wir sie lieber abreißen lassen und etwas Sinnvolleres anbieten? Man sieht, wenn wir den Blick abziehen von dem, was wir empfangen und erfahren, und hinlenken auf das, was wir zu geben haben, landen wir wieder bei der Sinnfrage, und die ist ein prima Geleit durchs Leben. Welche Reaktion von uns wäre so sinnvoll, dass sie Konflikte dämpft, andere nicht verletzt und uns erlaubt, auf uns selbst stolz zu sein? Was fördert die Chance auf positive Doppelfolgen? Nicht immer wird uns die perfekte Antwort darauf einfallen, aber bloß schon die Suche nach der sinnvollsten Antwort auf schwierige Lebensfragen ist ein Impuls, der die Hoffnung für uns und unsere Mitmenschen vermehrt.

Frankls Werk ist ein einziger großer Appell an uns, unnötiges Leid zu verhindern, wo immer wir in der Lage dazu sind, denn an unabwendbarem Leid mangelt es nicht. Aber sogar diesem gegenüber existiert noch eine sinnvolle Antwort im tapferen, geduldigen Ertragen, der höchsten „Leistung“ und „Tüchtigkeit“, die ein Mensch sich abringen kann.

Es ist mir eine große Freude, von meinem Koautor eingeladen worden zu sein, mich gemeinsam mit ihm über die großen Fragen unserer Zeit und Frankls Ideen und Appelle dazu auszutauschen. Je öfter wir dies tun, desto deutlicher zeigt sich, wie überraschend aktuell die logotherapeutischen Thesen sind. Wie stützend, tröstend und umsetzbar sie sich gerade den Menschen von heute präsentieren. Ich bin überzeugt, dass auch die Leserinnen und Leser dies merken werden, sobald sie sich gedanklich in unsere Dialoge einklinken.

Möge ihnen der eine oder andere von uns dargelegte Aspekt zum Wohle gereichen und sie ermutigen, trotz allem Ja zum Leben zu sagen.

Von der Kunst, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen

Batthyány: In unserem zuletzt erschienenen gemeinsamen Buch haben wir versucht, eine Art „Standortbestimmung“ der Logotherapie und Existenzanalyse vorzunehmen, und haben dabei sehr viele und weite Themenfelder abgesteckt.1 Aber wie viel ist seither – innerhalb von nur knapp drei Jahren – geschehen, wie sehr und wie schnell ist die Welt um uns herum ins Wanken geraten! Eine Pandemie mit weltweit Millionen Toten und zahlreichen chronisch an Long Covid Erkrankten, ein Krieg vor bzw. an den Toren Europas, Millionen Menschen sind auf der Flucht, Familien sind zerrissen, Eltern verwaist. Zugleich verzeichnen die Meteorologen teils drastische Wetterverschiebungen: Der Klimawandel wird sichtbar und ablesbar – nicht mehr nur in Klimatabellen, sondern streckenweise sogar schon im alltäglichen Wettergeschehen.

Wir haben nichts von alledem in unserem letzten Buch besprochen. Wir saßen gerade über den Korrekturfahnen, als die Pandemie an Fahrt aufnahm und ihr weiterer Verlauf – ebenso wie der Krieg in der Ukraine – noch nicht absehbar war. Möglicherweise warf aber das, was sich da gerade zusammenbraute, auch schon seine Schatten voraus; vielleicht lag etwas von dem, was nun über uns gekommen ist, bereits in der Luft. Denn wenn ich heute unser letztes Buch durchblättere, dann fällt mir auf, wie oft wir darin in den verschiedensten (auch scheinbar nicht unmittelbar naheliegenden) Zusammenhängen über menschliche Grenzsituationen, über die tragische Trias von Leid, Schuld und Tod gesprochen haben, obwohl wir beide, wie gesagt, gar nicht wissen konnten, wie schnell und tiefgreifend sich die Lebensumstände und -bedingungen so vieler Menschen ändern würden.

Bereits das erste Kapitel unseres Buchs handelte etwa von der Frage nach Glück und Dankbarkeit und den Problemen und Gefahren, die von einer Konsum- und Anspruchshaltung ausgehen, die das Gute, das wir erleben, als selbstverständlich hinnimmt – und dann eigentlich gar nicht mehr als solches wahrnimmt – und entsprechend wenig Achtung und Aufmerksamkeit dem eigenen möglichen Leiden bzw. dem tatsächlichen Leiden anderer entgegenbringt.

Um daran anzuknüpfen und aus der Perspektive meiner Generation zu sprechen – wir sind in einem historisch unvergleichbaren Wohlstand und in sozialer Absicherung aufgewachsen, und meine Generation ist politisch mündig geworden, als der Kalte Krieg und die nukleare Bedrohung der beiden Blöcke bereits nur noch im Rückspiegel als Relikt der Vergangenheit sichtbar war. Der Fall des Eisernen Vorhangs, zugleich ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung (zumindest im Westen) mitsamt der digitalen Revolution vermittelte meiner Generation die Vorstellung, dass von nun an immer alles besser würde. Viele von uns glaubten an Wachstum, an nahezu unbegrenztes Wachstum sogar. Und doch mahnten Menschen mit sozialem, psychologischem oder philosophischem Weitblick (wie etwa Viktor E. Frankl) zu einer realistischeren Einschätzung unserer Lage – mit Blick etwa auf die sich anbahnende Umweltkatastrophe, auf das Nord-Süd-Gefälle, auf den Welthunger oder einfacher noch mit Blick auf die Grundgegebenheiten der Conditio humana, der menschlichen Bedingtheit.

Die Welt ist nicht heil

Nur gelegentlich haben uns herausragende Ereignisse und Einbrüche wie die Anschläge des 11. September 2001 oder die Attentate von Nizza, Paris oder Berlin aufgerüttelt. Aber jetzt ist das Signal unüberhörbar geworden. Jetzt hat uns die Geschichte innerhalb sehr kurzer Zeit eines Besseren belehrt. Sie hat uns unter anderem einen neuen Realismus gelehrt – und damit eben jenen Realismus, den Frankl immer wieder als Grundlage für seinen auch von Ihnen, Frau Professor Lukas, eingangs angesprochenen „tragischen Optimismus“ voraussetzte: Die Welt sehen und nehmen, wie sie wirklich ist, ohne ihre leidvollen Aspekte auszublenden; und zugleich: Den Optimismus nicht aufgeben, dass die Welt zwar „nicht heil, aber heilbar“ ist. Und dass in unserem Idealismus die Hoffnung aufrecht ist, dass wir es sind, die zumindest ein wenig an der Heilung einer verwundeten Welt mitwirken können – im Kleinen wie im Großen.

Daher haben wir uns dazu entschlossen, dieses Buch insbesondere diesen Zusammenhängen zu widmen – im engeren Sinne also bei den Krisen und Nöten unserer Zeit zu verbleiben und uns anzusehen, was die Psychologie, die Philosophie, die Psychotherapie und insbesondere die Logotherapie und Existenzanalyse dazu beitragen können, diese Nöte besser zu verstehen und ihnen auch angemessen begegnen zu können.

Es mag nun der oder die eine oder andere sich an dieser Stelle fragen, warum ausgerechnet die Impulse aus der Logotherapie hier so relevant und hilfreich sein mögen. Sie, verehrte Frau Prof. Lukas, haben das in Ihrem Einleitungstext erklärt. Man könnte an dieser Stelle noch ergänzend eine größere Anzahl empirischer und klinischer Studien erwähnen, die der Logotherapie angesichts der unterschiedlichsten Formen schicksalhaften Leides oder schwieriger Lebensumstände und Lebensphasen hohe Wirksamkeit attestieren.2

Der „Anwalt des leidenden Menschen“

Aber ich will Ihre einleitenden Worte lieber mit einer kleinen Anekdote ergänzen. Ich habe schon als Student das große Glück gehabt, im privaten Nachlass von Frankl mitarbeiten zu dürfen. Da sich dieser in der Privatwohnung des Ehepaars Frankl befindet, kam es durch meine regelmäßigen Besuche zu einem zunehmend vertrauten, bald freundschaftlichen Kontakt zur Familie Frankl, vor allen Dingen zu Eleonore Frankl, seiner Witwe. Nun muss man wissen, dass Eleonore Frankl ihren Mann so gut wie bei jeder Vortragsreise begleitet, die umfangreiche Korrespondenz mitgeführt und überhaupt an der Entwicklung und auch der internationalen Ausbreitung der Logotherapie unmittelbar teilgenommen hat. Sie hat dadurch viel gesehen und auch wahrgenommen, wie unterschiedlich die Logotherapie rund um den Erdball rezipiert wurde. Eleonore Frankl erlebte das vor allem so: Sie meinte, dass ihrer Erfahrung nach Länder, deren jüngere Geschichte von Krisen, Armut, Krieg oder Naturkatastrophen geprägt waren, ein ungleich tieferes Verständnis der Logotherapie entwickelt hätten als jene Länder, die sich vor allem mit den Problemen des Wohlstands konfrontiert sahen. Ich habe bei solchen Gesprächen manchmal eingeworfen, dass auch Wohlstandsneurosen, Zynismus, Gleichgültigkeit, Langweile, Nörgelei, Abgeklärtheit und eine Art Gefangenschaft im Konsumzwang Gesichter einer tiefen inneren Verzweiflung sein können. Eleonore Frankl hat darauf – sinngemäß – geantwortet, dass das zwar so sein mag; ich möge mir aber auszumalen versuchen, was geschähe, wenn zu einer solchen Gemengelage und inneren Verfasstheit dann noch weitere und größere Krisen wie Armut, Krieg oder Naturkatastrophen hinzukämen.

Genau da sind wir heute. Ich habe es schon angedeutet: Es ist viel geschehen in den letzten drei Jahren und im Gefolge dieser Entwicklungen werden auch weitere Bruchstellen der Gegenwart sichtbar. Wie unterschiedlich etwa global oder auch innerhalb der reicheren Länder Ressourcen wie beispielsweise Bildung, Lebensraum, Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung und Information verteilt sind. Kurz: Der leidende Mensch – der Mensch in Not – ist in den 2020er-Jahren mit einem Mal sehr viel sichtbarer geworden und damit auch die Schattenseiten unserer Sorglosigkeit.

Und damit wird auch ein Teilbereich des Werks von Viktor E. Frankl auf neue Weise sichtbar und bedeutsam, der gelegentlich im zeitgenössischen Diskurs zur Logotherapie etwas unterzugehen oder zumindest unterbelichtet zu werden drohte. Frankl wurde z. B. gelegentlich attestiert, ein ausgesprochen „positives“ Welt- und Menschenbild zu vertreten, aber es wurde dabei oft nicht ausreichend berücksichtigt, wie häufig Frankl vom Leid gesprochen hat, von der „tragischen Trias“ aus Leid, Schuld und Tod, von der Notwendigkeit der Leidensfähigkeit oder von der Sinnfrage und -findung trotz und gar noch im Leid. Frankl wurde in noch älterer wissenschaftlicher Literatur manchmal sogar als „Anwalt des leidenden Menschen“ bezeichnet – und das bildet sich auch in seinen biographischen und werkgeschichtlichen Umständen ab: Große Teile der Logotherapie sind ja in aus heutiger Sicht unvorstellbar schweren Zeiten entstanden, also zur Zeit der großen Arbeitslosigkeit und bitteren Armut im Wien der Zwischenkriegsjahre, in Zeiten eines wachsenden Antisemitismus, der Unsicherheit und nicht zuletzt des aufkommenden Nationalsozialismus in Österreich – um von dem Leid, das dann folgen sollte, gar nicht zu reden.

Vielleicht erklärt das auch Eleonore Frankls Aussage, ein wirklich tiefes Verstehen des Werks Viktor E. Frankls setze voraus – oder wäre zumindest leichter –, wenn man um die eigene Verwundbarkeit und um die Wirklichkeit des Leidens aus eigener Anschauung, aus eigener Erfahrung wisse. Dieses Werk ist ja vor eben einem solchen Hintergrund verfasst worden. Und so kann man an dieser Stelle auch überlegen, ob das nicht bedeutet, dass sich Aspekte dieses Werks nach längeren Phasen einer Art kollektiver (relativer) Sorglosigkeit neu erschließen, weil uns die Gegenwart selbst in den reichen Industrienationen wieder mit größeren Problemen konfrontiert, die nicht nur individuelles, sondern auch „kollektives“, also weiter gefasstes Leid unmittelbar vor, manchmal auch hinter die eigene Haustüre bringen.

Nun haben Sie im Laufe Ihrer langjährigen Praxis als Psychotherapeutin einige tausend Patienten und Patientinnen betreut und sind dadurch fortwährend mit menschlichem Leid konfrontiert worden – vermutlich sowohl mit „hausgemachtem“ als auch schicksalhaftem Leid. Und Sie sind selbst Teil einer Generation, die die Entbehrungen der Nachkriegszeit an eigenem Leib erlebt hat. Daher interessiert es mich sehr, wie Sie diese Zusammenhänge sehen und einschätzen.

Lukas: Frankl war klug genug zu sagen: „Menschliches Sein ist zutiefst und zuletzt Passion.“ Ich bin nicht überzeugt, dass die vergangene Wohlstandsepoche mit ihrem reduzierten „Passionspotential“ unserer Gesellschaft zuträglicher war als die gegenwärtige Krisenepoche.

Privilegien sind eine Verpflichtung

Dabei sind wir in unseren Landen immer noch Privilegierte, obwohl sich die Zeichen mehren, dass diese Ära ihrem Ende naht. Privilegien sind jedoch eine Verpflichtung, und zwar die Verpflichtung, diese Privilegien mit weniger privilegierten Menschen zu teilen. Frankl hat dies in einem Aufsatz mit der Kurzformel „Wir geben Brot – sie geben uns Sinn“ auf den Punkt gebracht. Gemeint hat er darin, dass es die Pflicht der reichen Länder sei, den armen Ländern beizuspringen und deren Lebensgrundlage aufzustocken. Und betont hat er darin, dass dann keineswegs bloß die armen Länder die Beschenkten seien, sondern dass ebenso die Privilegierten von der Ausübung ihrer Verpflichtung profitieren würden, was heißen will, dass die reichen Länder im Akt des Helfens ganz genauso Beschenkte sind. Er sah glasklar, wie „wunschlos unglücklich“ viele Personen in den reichen Ländern waren.

Was soll man sich auch wünschen, wenn alles vorhanden ist, was man braucht, und noch mehr als man braucht? Wofür soll man sich einsetzen, wofür engagieren, welchen Ansporn gibt es, welche Würze und Spannung hat das Leben, wenn die meisten Wünsche sowieso befriedigt sind? Übersättigung geht mit Lustlosigkeit einher, im physischen wie im psychischen Sinne. Nach einem opulenten Mahl mit einem Sechs-Gänge-Menü hat niemand Lust zu speisen. Und steht das Sechs-Gänge-Menü täglich auf dem Programm, vergeht einem auch noch die Erwartungsfreude darauf. Die Freude ist ein Kind der Entbehrung und nicht der Fülle. Ein Festessen nach einer Fastenzeit kann sie hervorlocken, nicht aber der tägliche Mampf von vollgeladenen Tellern. Im psychischen Bereich ist es analog, und im geistigen (dem urtümlich menschlichen) Bereich wird die Sache existentiell, wie Frankl nicht müde wurde zu erläutern.

Batthyány: Vielleicht darf ich hier kurz einhaken, weil das so gut hierher passt. Vor einigen Jahren erregte eine groß angelegte Studie Aufsehen in der Fachwelt: Die Psychologen Shigehiro Oishi und Ed Diener von der Universität Virginia hatten mit Hilfe von Daten des Gallup-Instituts die Lebenszufriedenheit und Sinnerfüllung in 132 Ländern untersucht, eigentlich ursprünglich davon ausgehend, dass ein hoher ökonomischer Lebensstandard mit hoher Lebenszufriedenheit und diese wiederum mit hoher Sinnerfüllung korreliert sein sollte. Tatsächlich aber zeigte die Auswertung der Daten genau das Gegenteil: Es wurde eine recht hohe negative Korrelation zwischen Wohlstand und Sinnerfüllung gefunden (r=-0,49)3. Die Autoren scheinen selbst überrascht gewesen zu sein von diesem Effekt – und von seiner Stärke. In ihrer Diskussion dieser Befunde – auf der Suche nach einer Erklärung – gehen die Autoren auch darauf ein, dass es schließlich Viktor Frankl war, der nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenserfahrungen darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Zusammenhänge zwischen Sorglosigkeit, Lebenssinn und Lebensglück nicht einfach linear zu denken sind. Das Leben hat immer auch Aufforderungscharakter, weshalb eine allzu sehr auf materielle Annehmlichkeiten ausgerichtete Lebenshaltung dem Menschen also nicht notwendig jene Erfüllung schenkt, die er sich davon erwartet. Das bestätigt Ihre Beobachtungen also auch auf globaler Ebene.

Wunschvoll unglücklich

Lukas: Wenn sich keine sinnvollen Aufgaben und Projekte im Spannungsbogen zwischen Sein und Sollen abzeichnen und der dem Menschen gemäße „Wille zum Sinn“ frustriert wird, wankt des Menschen Stabilität, egal wie viel Luxus um ihn herum vorhanden ist. Weshalb die Hilfe für darbende Personen dem Gebenden unter Umständen mehr zurückgibt, als er spendet. Er gewährt Brot – er gewinnt Sinn … Kein schlechter Tausch, wie Frankl es ausgedrückt hat. Je mehr jemand wünscht und dazu beiträgt, dass es einem anderen besser gehen möge, desto glücklicher wird er selbst, und sein „wunschlos Unglücklichsein“ ist dahin.

Wahrscheinlich werden Sie einwenden, dass nun aber, da die Wohlstandsübersättigung weltweit massiv schrumpft, viele unserer Zeitgenossen in den Modus des „wunschvoll Unglücklichseins“ übergewechselt sind.

Das stimmt, denn mit den Übergangszeiten hat es eine eigene Bewandtnis. Der Übergang von der Armut in den Reichtum bzw. vom nicht privilegierten Zustand in einen eher privilegierten Zustand vollzieht sich konträr zu dessen Umkehrung. Ich selbst habe diesen Übergang von der kargen Nachkriegszeit in das heraufdämmernde Wirtschaftswunder miterlebt. Die Freude – eben ein Kind der Entbehrung – war groß. Das erste Fahrrad, die ersten eigenen Bücher, die erste Füllfeder und ein Paar neue Sandalen ließen uns Jugendliche im Paradies schwelgen. Leider sammelte sich allmählich zunehmend mehr Besitztum an, man gewöhnte sich daran, und die Freude verdünnte sich. Aber der Übergang war von Jubel geprägt.

Ganz anders sieht ein Übergang vom wohlsituierten Leben zum notgedrungenen Verzicht aus. Man hat sich, wie gesagt, an das wohlsituierte Leben gewöhnt, sogar dann, wenn es von einer partiellen Sinnleere begleitet gewesen ist, und klammert sich daran fest. Wird es einem plötzlich entrissen, ist lautes Protestgeheul angesagt. Da man häufig erst im Nachhinein begreift, was einem an Köstlichkeiten gewährt war, ist die Erkenntnis, sie künftig missen zu müssen, deprimierend und verleitet zu Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Hier ist also das „wunschvoll Unglücklichsein“ von heute, zumindest in jenen Weltteilen, die lange Zeit privilegiert gewesen sind und es de facto noch sind. Dennoch sind die Aussichten gut, dass sich der „Wille zum Sinn“ bei vielen Bewohnerinnen und Bewohnern erholen wird. Immer noch sind sie zum „Brot-gegen-Sinn-Tausch“ eingeladen, aber zusätzliche Sinnaspekte zeichnen sich mit atemberaubender Präzision am Horizont ab. Was kann getan werden zur Befriedung waffenintensiver Konflikte? Was kann getan werden zur Abbremsung von Dürre, Waldvernichtung oder Ozeanvermüllung? Was kann getan werden, um gefährliche Krankheitserreger zu entschärfen? An sinnvollen Aufgaben fehlt es wahrhaftig nicht, sie sind insbesondere uns überflussverwöhnten und sinnfrustrierten Reichen geradezu in den Schoß gefallen, und da liegen sie jetzt. Nach Abklingen des Protestgeheuls und nach Überwindung der Niedergeschlagenheit und der Verzweiflung des Übergangs werden wir so weit an die neue Situation angepasst sein, dass sich wieder schöpferische Impulse in unseren Herzen und Köpfen melden werden. Für geistbegabte Wesen wie uns sind unangenehme Herausforderungen nahrhafter als angenehmer Stillstand. Mit der nachträglichen Einwilligung in die uns derzeit abverlangten Verzichte wird in die psychische Aufgewühltheit der Gegenwart genügend Ruhe einkehren, um sich den Problemen der Zeit tapfer zu stellen.