Logotherapie und Existenzanalyse heute - Alexander Batthyány - E-Book

Logotherapie und Existenzanalyse heute E-Book

Alexander Batthyány

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Beschreibung

Was würde Viktor E. Frankl heute sagen? Aktuelle Fragen zur Logotherapie in offener Diskussion Die von Viktor E. Frankl (1905–1997) begründete "Logotherapie und Existenzanalyse" ist heute weltweit verbreitet; tausende Therapeuten, Seelsorger, Berater und Ärzte arbeiten mit den von Frankl entwickelten Hilfsmitteln. Alexander Batthyány und Elisabeth Lukas – die führenden Vertreter der Frankl-Schule im deutschen Sprachraum – führen in diesem Buch einen Dialog über Fragen, die vielen Logotherapeuten unter den Nägeln brennen. Aktuelle Phänomene wie zum Beispiel die Cyberpathologie, politischer Radikalismus oder die Flüchtlingsfrage werden diskutiert, Problemfelder innerhalb der Logotherapie bzw. ihre Abspaltungen offen angesprochen. Sie präzisieren zentrale Begriffe wie beispielsweise Selbstdistanz und Selbsttranszendenz, thematisieren die Stellung Frankls zur Religion oder analysieren etwa die steigende Zahl an Menschen, denen die Sinnfrage vermeintlich egal ist. Wie würde Viktor E. Frankl damit umgehen? "Es ist eine glückliche Fügung, dass just die beiden Personen, die über das wohl tiefste Verständnis des Werks Viktor Frankls verfügen, gemeinsam ein Buch über die Logotherapie und Existenzanalyse verfasst haben", schreibt Eleonore Frankl im Vorwort, "denn beide haben die Logotherapie nicht nur verstanden, sondern auch vom Herzen her begriffen, was mein Mann mit seinem Werk bewirken wollte. – Wenn sich die beiden Besten zusammensetzen, kommt auch das Beste heraus."

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Alexander BatthyányElisabeth Lukas

LOGOTHERAPIE UND EXISTENZANALYSE HEUTE

Eine Standortbestimmung

Mit einem Geleitwort von Eleonore Franklund einem Vorwort von Franz Vesely

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

© 2020 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

ISBN 978-3-7022-3893-3 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3895-7 (E-Book)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Für Eleonore Franklin Dankbarkeit und Verbundenheit

INHALT

Geleitwort von Eleonore Frankl

Vorwort von Franz Vesely

I.DIE PATHOLOGIE DES ZEITGEISTS IM 21. JAHRHUNDERT

1. Glück ist, was einem erspart bleibt

2. Wohlstand und der Mangel an Dankbarkeit

3. Eine Stärke des Menschen: andere Menschen

4. Reaktives Glück und Unglück

5. Eine fünfte Pathologie des Zeitgeists?

6. Cyberpathologie (Internet und Psyche)

7. Not und Ehrfurcht

II.ZUR PSYCHOLOGISCHEN BEDEUTUNG REALISTISCHER MENSCHENBILDER

1. Unser Selbstbild und seine Auswirkungen

2. Doktrinäre Fügsamkeit

3. Unter dem Sternenhimmel sich und dem Leben neu begegnen

III.AUFMERKSAMKEIT, ACHTSAMKEIT UND SINNFINDUNG

1. Achtsamkeit und Sinnorientierung

2. Logotherapeutische Achtsamkeitsmeditation – eine Methode

3. Selbstdistanz und Selbsttranszendenz

4. Der Workaholiker und die Frage nach Sinn

5. Sinn und Wirklichkeit

6. Selbstüberschätzung und das wohltuende Maß der Wirklichkeit

IV.WEGE ZUR SINNFINDUNG

1. Heilsames Lesen: Bibliotherapie heute

2. Gruppenarbeit – die logotherapeutische Meditationsrunde

3. Die Freude, die am Sinnvollen wächst

4. Skeptische Menschen und die Frage nach Sinn

5. Methoden der Sinnfindung

6. Der Sokratische Dialog: Entdecken statt Aufdecken

7. Abhilfe, wenn sich Gespräche im Kreise drehen …

8. Wie setzt man gute Einsichten und Vorsätze auch wirklich um?

V.VIKTOR FRANKLS LOGOTHERAPIE UND ALFRIED LÄNGLES EIGENENTWURF

1. Über Frankl und Längle

2. Ein (persönlicher) historischer Abriss

3. Zur Entwicklungsfähigkeit der Logotherapie

4. Frankl und Längle – eine Gegenüberstellung

VI.DIE SINNFRAGE IN DER WISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNG

1. Sinnfrage und wissenschaftliche Erkenntnisse

2. Sinn und persönlicher Mythos: Anmerkungen zu Tatjana Schnell

3. Existentiell indifferent?

4. Politischer Radikalismus und existentielles Vakuum

5. Die Antwort der Logotherapie auf den politischen Radikalismus

6. Exkurs: Die Flüchtlingsfrage & ihre sozialen Folgen

7. Resilienz und Sinnfrage

VII.VERORTUNGEN UND EINSATZGEBIETE DER LOGOTHERAPIE

1. Die Logotherapie bewahren: An Konflikten reifen

2. Ist die Logotherapie eine Berufssparte?

3. Beratung und Behandlung: Übergänge und Schnittmengen

4. Vom „Ergänzungscharakter“ der Logotherapie

5. Methodenvielfalt und Kombinationsfähigkeit der Logotherapie

6. Die Besonderheit des Frankl’schen Denkansatzes: Person und Sinn

VIII.DIE LOGOTHERAPIE IN DER PSYCHOTHERAPEUTISCHEN PRAXIS

1. Improvisation und Struktur in der logotherapeutischen Praxis

2. Therapieplan und Leitfaden in der Beratung

3. Einstellung und Heilung

4. Ein Update der logotherapeutischen Neurosenlehre

IX.TRANSZENDENZ: AN DEN GRENZEN MENSCHLICHEN VORSTELLUNGSVERMÖGENS

1. Zum Verhältnis von Logotherapie und Religion

2. Dimensionalontologie und Transzendenz

3. Vom Werden und Wesen der geistigen Person

4. Die geistige Person und kognitive Beeinträchtigungen

5. Nahtoderfahrungen aus Sicht der Logotherapie

X.GELEBTE UND WEITERGEGEBENE LOGOTHERAPIE

1. Von der Faszination des Lernens und Lehrens

2. Frankl als Lehrer und Mentor

3. Das nächste Kapitel: Logotherapie im Wandel der Zeit

Literatur

Personenregister

GELEITWORT VON ELEONORE FRANKL

Es ist eine glückliche Fügung, dass gerade die beiden Personen, die im deutschen Sprachraum über das wohl tiefste Verständnis des Werks Viktor Frankls verfügen, gemeinsam ein Buch über die Logotherapie und Existenzanalyse verfasst haben. Denn beide – Elisabeth Lukas und Alexander Batthyány – haben die Logotherapie nicht nur verstanden, sondern auch vom Herzen her begriffen, was mein Mann mit seinem Werk bewirken wollte. Eine bessere Autorenkombination kann man sich daher gar nicht wünschen: Wenn sich die beiden Besten zusammensetzen, kommt auch das Beste heraus.

Eleonore Frankl

VORWORT VON FRANZ J. VESELY

Alexander Batthyány und Elisabeth Lukas besprechen in diesem Buch ein breites Themenspektrum aus logotherapeutischer Perspektive – darunter aktuelle Themen ebenso wie Problemfelder innerhalb der Logotherapie, die schon länger darauf warteten, kritisch und mit klarer inhaltlicher Genauigkeit diskutiert und behandelt zu werden.

Die beiden Autoren werden damit der Verantwortung gerecht, die Viktor Frankl in die Hände künftiger Logotherapeutengenerationen gelegt hat: die Logotherapie in einem offenen Dialog mit den wissenschaftlichen, philosophischen und gesellschaftlichen Themen, Trends und Problemstellungen der Gegenwart lebendig und zukunftsfähig zu halten.

Franz J. Vesely

Leiter des Viktor Frankl Archivs,

Mitgründer des Viktor Frankl Instituts Wien

I. DIE PATHOLOGIE DES ZEITGEISTS IM 21. JAHRHUNDERT

1. GLÜCK IST, WAS EINEM ERSPART BLEIBT

Batthyány: Wir werden in diesem Gespräch einige bisher noch selten so offen und im Detail diskutierte Fragen innerhalb der Logotherapie behandeln und dabei auch Debatten und Kontroversen ansprechen, die in den letzten Jahren oder Jahrzehnten innerhalb der Logotherapie aufgekommen sind. Wir werden auch auf neuere Entwicklungen innerhalb der Logotherapie und benachbarter Forschungsgebiete eingehen. Und wir werden – und das vielleicht gleich zum Einstieg – auch auf Einsichten und Erkenntnisse im Werk Viktor Frankls hinleuchten, die noch verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden haben; darunter auch einige, die sich vielleicht erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen. In diesem Zusammenhang muss ich gestehen, dass mir der innere Sinn eines solchen Impulses lange Zeit verborgen geblieben ist. Konkreter konnte ich über viele Jahre hinweg mit Frankls Definition von Glück relativ wenig anfangen. Frankl definiert Glück wie folgt: „Glück ist, was einem erspart bleibt“.1

Ich hatte den Satz zwar immer wieder gelesen; aber bis er richtig „angekommen“ ist, dauerte es tatsächlich ziemlich lange. Aber heute scheint mir: Die Einsicht, die in diesem scheinbar kleinen Satz verborgen ist, ist nicht weniger als der Weg zu eben einer jener kopernikanischen Wenden, von denen Frankl im Zusammenhang von tiefen Erkenntnisprozessen und lebensverwandelnden Einsichten gesprochen hat.

Ich will das an einem Beispiel illustrieren: Man geht zur Routineuntersuchung zum Arzt. Der Weg zu seiner Praxis ist eine dieser vielen alltäglichen Strecken durch die Stadt: Auf dem Weg kommt man an Blumenständen vorbei, an der Buchhandlung, an einigen Kleidungsgeschäften, an den Lebensmittel- und Blumenläden und Marktständen etc. Schließlich sitzt man im Wartezimmer der Arztpraxis, blättert in den dort ausliegenden Zeitschriften, liest sich vielleicht den einen oder anderen Artikel über Reiseziele, Rezepte und Theaterkritiken durch – und wird dann zum Arzt hineingerufen. Der Arzt begrüßt einen allerdings schon mit einem etwas ernsteren Blick und eröffnet einem dann überraschend, dieser oder jener Befund gefalle ihm nicht, dem müsse man weiter nachgehen, ob sich dahinter nichts Schlimmeres verberge. Jeder, der sich in diese Situation hineinversetzen kann, wird die Verwandlung der Welt nachvollziehen können, die eintritt, sobald diese Welt mit einem Male so unerwartet und grundlegend bedroht ist. Sie ist auf einmal in Frage gestellt. Und: Sie ist dadurch eine andere geworden. Auf dem Heimweg beobachtet man die Sorglosigkeit anderer – es ist genau dieselbe Sorglosigkeit, die man selbst auf dem Hinweg noch mit ihnen teilte, ohne sie allerdings je gewürdigt oder Dankbarkeit darüber empfunden zu haben. Man sieht auf dem Weg nach Hause dem alltäglichen Treiben auf der Einkaufsstraße zu, und es wird einem klar: „Diese Menschen haben etwas, was ich eben verloren habe: Sorgenfreiheit. Diese Sorgenfreiheit hätte ich auch gerne wieder.“ Eine Patientin formulierte es einmal sehr treffend: Sie sprach in eben diesem Zusammenhang von der „unerlebten Fröhlichkeit“ der Menschen, die gar nicht mehr wahrnehmen, wie sorglos und frei sie eigentlich durch die Einkaufsstraßen flanieren.

Es wird einem in solchen Situationen unmittelbar bewusst, was für ein Glück es beispielsweise bis zu diesem Tag gewesen ist, alles das zu erleben, was auf dem Hinweg noch ein kaum je hinterfragtes oder etwa dankbar anerkanntes Geschenk gewesen ist: beispielsweise am Schaufenster einer Buchhandlung stehenzubleiben, sich einige der neuen Buchtitel anzusehen, die man als Nächstes lesen könnte, oder die Kleidung der kommenden Saison – und sich auf die kommende neue Jahreszeit zu freuen, oder die Vielfalt und Farbenpracht der Blumen des Blumenstands auf sich wirken zu lassen etc. Kurz: Auf einmal leuchtet einem auf, wie interessant, wie lebenswert, wie großzügig und wie sorgenfrei das Leben die meiste Zeit gewesen ist. Und mit diesem Gedanken wird einem klar, wie dankbar man die ganze Zeit über selbst für das scheinbar belanglose, „selbstverständliche“ Alltagsglück hätte sein können.

Wenn man sich nun weiter vorstellt, dass man eine Woche später zum Nachfolgetermin geht – die Laborwerte liegen nun vor, und der Arzt eröffnet einem die gute Nachricht, dass alles in Ordnung sei; es war nur eine harmlose und vorübergehende Infektion, die die Blutwerte verfälschte, also ein Fehlalarm. Es lässt sich leicht ausmalen, wie nach dieser erfreulichen Nachricht auf dem Weg nach Hause dieselbe Einkaufsstraße in neuem Licht erstrahlt. Nur: Was ist dieses neue Licht eigentlich? Es ist das Licht der Dankbarkeit. Und Dankbarkeit wofür? Dafür, dass man nur seinen Alltag wieder hat; mehr ist ja nicht geschehen. Die eigentliche Wandlung fand daher im Inneren statt: das dankbare Bewusstsein, dass das vermeintliche belanglose und selbstverständliche Alltagsglück weder belanglos und schon gar nicht selbstverständlich ist, sondern eben ein Glück.

Anders gesagt: Wir gewöhnen uns manchmal so sehr an das, was wir haben – und sind oft im selben Ausmaß so beschäftigt mit dem, was wir gerne hätten oder haben zu müssen glauben, dass die Dankbarkeit für das Gelungene, Heile, Gute atrophiert, also unterversorgt wird und abstirbt. Und dann ist es oftmals erst das Bedrohtsein oder der Verlust des bis dahin als selbstverständlich Hingenommenen, die uns vor Augen führen, wie beschenkt wir die ganze Zeit gewesen sind. Und wie blind für das Schöne, Gute und Gelungene wir womöglich diese ganze Zeit über waren.

Kurz: Dieser scheinbar kleine Satz birgt auf gleich mehreren Ebenen eine tiefe und tatsächlich positiv lebensverändernde Weisheit. Er öffnet die Tür zu einer natürlichen und echten, weil eben begründeten und wirklich empfundenen Dankbarkeit – also einer Dankbarkeit, die nicht nur als „moralische Pflicht“ oder als Lippenbekenntnis dem Leben entgegengebracht wird, sondern die wirklich lebensnahe und erlebnisecht erfahrbar ist. Glück ist tatsächlich, was einem erspart bleibt.

Lukas: Zu dieser Einsicht möchte ich Sie beglückwünschen. Aus dem enormen Fundus logotherapeutischer Einsichten haben Sie mit dem angesprochenen „Impuls“ etwas sehr Bedeutsames herausgepickt. Tatsache ist, dass die Dankbarkeitsvergessenheit grassiert wie eine böse Infektionskrankheit.

Mir ist dies schon als junge Dissertantin Anfang der 1970er Jahre aufgefallen, und damals hielt sich die „Infektion“ noch in Grenzen. Die erbärmliche Kargheit der Nachkriegsjahre war den Erinnerungen vieler Europäer noch nicht entschlüpft. Trotzdem hatte der Wohlstand bereits seinen Siegeszug angetreten und damit ein irrationales Anspruchsdenken zu schüren begonnen. Die Kenntnis von Frankls Trilogie „Schöpferische Werte“, „Erlebniswerte“ und „Einstellungswerte“ im Hinterkopf ging ich damals im Zuge meiner Dissertation daran, nach einer Befragung von 1000 Zufallspersonen die erhaltenen Antworten auf deren Werteladung abzutasten. Dabei fiel mir auf, dass es eine Reihe von Antworten gab, die auf meine Frage nach Sinnfindung im Leben die Freude über positive Faktoren und/oder die Bereitschaft, diese eigenen Schätze mit anderen Menschen zu teilen, benannten. Diese Antworten streiften lediglich die „Erlebniswerte“ und ähnelten eher den „Einstellungswerten“ mit umgekehrten Vorzeichen. Offenbar gibt es nicht nur großartige und sinnorientierte Einstellungen zu Kummer und Leid, sondern ebensolche zu den Gnadenfüllhörnern, die sich gelegentlich über uns öffnen.

Ich besprach mich mit meinem Mentor, und Frankl stand der Idee einer Erweiterung seiner Definition der „Einstellungswerte“ um die „generalisierten Einstellungswerte“ (Lukas) wohlwollend gegenüber. Schlussendlich erbrachte die Aufschlüsselung der Werteladungen der Antworten aus meiner Befragung eine spannende Verteilung. Die drei „Hauptstraßen der Sinnfindung“ (Frankl) waren von jenen Befragten, die ihr Leben als sinnvoll deklarierten, folgendermaßen betreten worden: von 50,40 % über die „schöpferischen Werte“, von 23,26 % über die „Erlebniswerte“ und von 26,34 % über die „Einstellungswerte plus generalisierten Einstellungswerte“ (= 100 %). Rund die Hälfte fand also Sinn im Hineinwirken in die Welt. Rund ein Viertel fand Sinn im Empfangen der Schönheiten der Welt. Rund ein Viertel fand Sinn im Positionbeziehen zu Gegebenheiten der Welt – seien sie zum Weinen oder zum Lachen2.

Batthyány: Diese Arbeit – „Logotherapie als Persönlichkeitstheorie“3 – war, soweit ich weiß, die erste deutschsprachige Dissertation zur Logotherapie; und sie ist auch, gemeinsam mit dem „Purpose in Life-Test“ von James C. Crumbaugh und Leonard T. Maholick (1964)4, eine der von Frankl am häufigsten zitierten Arbeiten der empirischen Logotherapie.

Der historischen Vollständigkeit willen ist vielleicht noch zu erwähnen, dass Ihr Doktorvater, der damalige Ordinarius für Psychologie der Universität Wien, Giselher Guttmann – als Schüler von Hubert Rohracher ein Vertreter derjenigen, die die Psychologie als streng empirische Wissenschaftsdisziplin betrachten und zudem auch ein Pionier der Neuropsychologie –, nicht zuletzt unter dem Eindruck der von Ihnen erhobenen Daten zunehmend den Wert der Logotherapie sowohl als Persönlichkeitstheorie als auch als Psychotherapie zu erkennen begann.

Zumindest sagte mir dies Professor Guttmann knapp 30 Jahre später, als er dann wiederum als Doktorvater meine Dissertation betreute. Professor Guttmann war es auch, der vor diesem Hintergrund ihrer empirischen Glaubwürdigkeit über viele Jahre hindurch im österreichischen akademischen Diskurs immer wieder seine Stimme für die Logotherapie erhob und so maßgeblich darauf hinwirkte, dass die Logotherapie vom österreichischen Ministerium bzw. dem Psychotherapiebeirat als Richtlinienpsychotherapie anerkannt wurde und heute das psychotherapeutische Fachspezifikum des Ausbildungsinstituts für Logotherapie und Existenzanalyse (ABILE5) staatlich akkreditiert ist.

Aber um wieder den Anschluss an die Gegenwart zu finden: Ihre Forschungsarbeit wurde 1971 am Institut für Psychologie der Universität Wien eingereicht. Vor dem Hintergrund Ihrer langjährigen therapeutischen Beobachtungen, klinischen Erfahrung und Lehr- und Vortragstätigkeit seither: Ich frage mich, ob diese Prozentsätze der Werteschwerpunkte heute – immerhin knapp 50 Jahre später – ähnlich verteilt wären, wenn man diese Messung erneut durchführen würde?

Lukas: Nein, vermutlich würden die Prozentsätze heute anders aussehen. Ich vermute, dass sowohl die „Erlebniswerte“ als auch die „Einstellungswerte plus generalisierten Einstellungswerte“ unter die 25 %-Marke rutschen würden. Bei den „Erlebniswerten“ bin ich dessen nicht sicher, doch scheint mir, dass selbst überzeugte Internetfans das Surfen und Kommunizieren im Netz nicht mehr als „rein beglückendes Erlebnis“ erachten, sondern irgendwo zwischen Informationsgewinn, Zwang und Fesselung einordnen. Jedenfalls werden für sonstige beglückende Erlebnisse die Zeitfenster schmal. Für „Einstellungswerte“ angesichts von Leid dürften die schnell aufwallende Entrüstung und Wehleidigkeit verwöhnter Menschen arg groß sein. Und für „generalisierte Einstellungswerte“ fehlt vielerorts der Sensus der Dankbarkeit.

2. WOHLSTAND UND DER MANGEL AN DANKBARKEIT

Lukas: Dass man sich zu einem schweren und unabänderlichen Schicksal tapfer tragend und würdig einstellen kann, und dass dies eine beachtliche Sinnkomponente darstellt, ist für unsere Zeitgenossen überraschend genug. Dass man sich zu einem leichten und angenehmen Schicksal es würdigend einstellen kann, ja, dass es angemessen ist, sich an Erfreulichem zu erfreuen, klingt schon fast wie eine Farce. „Na logisch“, schreit der Verstand, und dennoch scheint es einer erheblichen Intelligenzakrobatik zu bedürfen, eine solche Würdigung zu vollziehen. Korrespondenten aus allen Erdteilen präsentieren uns Bilder des Grauens aus Hunger- und Kriegsländern, von Flucht, Vertreibung, Unterdrückung und Aussichtslosigkeit am laufenden Band, aber der „logische“ Abgleich mit unseren hiesigen selbst in Pandemiezeiten noch paradiesischen Bedingungen fällt aus. Im Gegenteil: Die Zahlen der seelisch angeknacksten und Therapie benötigenden Personen in unserem Kulturkreis steigen. Die Zufriedenheit sinkt.

Batthyány: … und das wirft zugleich die Frage auf: Woran mag das liegen und wie ist das möglich? Wie kann mitten im Wohlstand – und für viele Menschen auch mitten im Überfluss – und in so starkem Kontrast zu anderen, nämlich viel entbehrungsreicheren Zeiten und Landstrichen, Undankbarkeit so epidemisch werden?

Lukas: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich einfach zu alt und zu sehr Kriegskind, um das zu verstehen. Die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt, ist, dass positive Lebensbedingungen als solche überhaupt erst erkannt werden müssen. Ich habe unzählige Patienten gehabt, die (zu Recht) unglücklich waren – aber gewiss auch eine nicht zählbare Schar an Patienten, die nicht wussten, dass sie glücklich waren bzw. glücklich hätten sein können. Sie waren nicht imstande, ihre Lebensumstände als milde und schonend zu taxieren. Sie hatten keine Ahnung, was ihnen in ihrer Vergangenheit erspart geblieben war. Sie hatten keinen Schimmer, wie prächtig ihre Zukunftsoptionen aussahen. Sie waren für all das Gute rund um ihre Person mit völliger Ignoranz geschlagen. Dann kamen sie daher und meckerten über Banalitäten …

Für sie habe ich einen drastischen Therapieplan entworfen6. Ich ging daran, ihnen ein schlimmes Schicksal im Konjunktiv auszufantasieren. Eine junge, von Nichtigkeiten genervte Mutter wurde angeleitet sich vorzustellen, sie sei mit ihrem kleinen Sohn gerade auf der Fahrt zu einer Klinik, wo der Bub einer Herzoperation unterzogen werden müsse. Wie würde sich ihre Lage anfühlen? Ein junger quengeliger Mann wurde aufgefordert zu imaginieren, dass er soeben einen Einberufungsbefehl in ein Kampfgebiet erhalten habe. Er müsse sich als Soldat von seinen Lieben verabschieden. Einen wohlhabenden und entsprechend mürrischen Arzt ließ ich die Vision durchleiden, ihm sei vor Jahren ein gravierender Kunstfehler unterlaufen, der ihn jetzt erschreckend einhole. Es war faszinierend zu erleben, wie froh die Patienten plötzlich aufatmeten, dass diese Fantasien im Konjunktiv nicht die Realität widerspiegelten. Und wie gefasst und gelassen sie daraufhin ihre Realität annahmen.

Ist diese Methode brutal? Ich möchte die Frage verneinen. Manchmal müssen Menschen bis in ihr Innerstes aufgerüttelt werden, um ihre Grundeinstellungen neu zu überdenken. Manchmal sind es auch Erschütterungen, die das Leben selbst ihnen verpasst, auf Grund derer sie ihre Haltung radikal revidieren. Im Prinzip muss es niemandem gut gehen. Nirgends in der ganzen belebten Natur ist verankert, dass Pflanzen, Tiere oder Menschen unbehelligt ihr Dasein fristen können. Dahinwelken und Schmerzempfinden sind allgegenwärtig. Der Tod lauert überall. Was uns davon wie lange erspart bleibt, ist pures Göttergeschenk. Das zu wissen, ist das größte Geschenk!

In einer Industriegesellschaft wie der Unsrigen müssen wir höllisch aufpassen, Glück nicht mit dem Besitz von Konsumgütern zu verwechseln. Freilich will die Industrie die Waren, die sie erzeugt, verkaufen und muss zu diesem Zweck das Bedürfnis nach ihren Waren ständig anheizen. Zufriedene Menschen geben aus ihrer Sicht zu wenig Geld aus. Allerdings gäbe es dazu eine Sinn-Alternative, nämlich die Verwirklichung von „generalisierten Einstellungswerten“. Mit ihnen ist ja nicht nur eine „das Positive würdigende“ Einstellung gemeint, sondern auch eine samariterhafte Einstellung. Austeilen kann nur derjenige, der Besitztümer hat. Helfen kann nur derjenige, der Hilfsmittel hat. Letztlich bedeutet das Gutgehen nicht bloß Anlass zur Freude, sondern auch Anlass, sich um das Schlechtgehende zu kümmern.

Zufriedene Menschen geben zu wenig Geld aus? Sie brauchen es „zu ihrem Glück“ nicht für überflüssige, dem Begehren einsuggerierte Waren auszugeben, daher könnten sie es für ihre Mitmenschen ausgeben, speziell für diejenigen, die weniger Grund zur Zufriedenheit haben. Frankl war weise, als er davon sprach, dass den „Einstellungswerten“ die Superiorität zukommt. Sie evozieren menschliche Höchstleistungen. Ergänzen möchte ich, dass auch die „generalisierten Einstellungswerte“ zu menschlichen Höchstleistungen einladen. In einer Welt, in der die jeweiligen Glückspilze den jeweiligen Unglücksraben liebevoll ihre Hände entgegenstrecken würden, ließe sich für alle gut leben.

3. EINE STÄRKE DES MENSCHEN: ANDERE MENSCHEN

Batthyány: Das ist ein wertvoller Denkanstoß. Im Grunde geht er nämlich einen erheblichen Schritt weiter als Frankls Glücksbestimmung: Nicht nur ist Glück, was einem erspart geblieben ist. Es birgt auch zusätzlich einen „gesonderten“ Auftrag zur Selbsttranszendenz, also zum Blick über den Tellerrand des eben nicht nur bedürftigen, sondern auch dankbaren, großzügigen, wohlwollenden und zum Teilen bereiten Ichs.

Dazu fällt mir eine wissenschaftliche Arbeit ein, die in einem der von der American Psychological Association herausgegebenen Sammelbände zur sogenannten „Positiven Psychologie“ erschienen ist.7 In diesem Band wurde vermessen, welche Stärken und Möglichkeiten im Menschen brachliegen – das ist ja das Programm der „Positiven Psychologie“. Viele Autoren, darunter einige der heute bekannteren psychologischen Forscher, versuchten sich an dem Thema. Man kommt allerdings nicht umhin, kritisch anzumerken: So schön an und für sich das Projekt der Positiven Psychologie auch sein mag, so sehr waren viele der Autoren allzu forciert optimistisch und erlagen daher der Versuchung, die Psychologie in ein fortwährendes Selbstoptimierungsprojekt und in weiterer Folge menschliches Leben insgesamt in ein überaus ambitioniertes „Glücksprojekt“ abgleiten zu lassen, in dem das Bewusstsein von Leid und Mangel und die tragische Trias aus Leid, Schuld und Tod (und paradoxerweise daher auch die Dankbarkeit) – oder auch nur das Anerkennen und Gutseinlassen des eben auch einmal Nichtvollkommenen – keinen rechten Platz haben. Der Perfektionismus fortwährender Selbstverwirklichung und -verbesserung und des immer Positiven nimmt da manchmal durchaus beklemmende Dimensionen an und ist angesichts des globalen Leids auch moralisch fragwürdig und schlichtweg unrealistisch. Wir werden noch im Laufe dieser Gespräche darauf kommen, warum und in welcher Hinsicht es einer so einseitigen Gewichtung und Überbetonung des Positiven an einem vernünftigen, reifen und gesunden Realismus mangelt – und auch, wie kostspielig sie psychologisch sein kann, wenn es etwa um Leidbewältigung und Mitgefühl und Frustrationstoleranz geht.

Aber ein einzelner Artikel stach aus dem erwähnten Sammelband heraus. Die bedeutende amerikanische Sozialpsychologin Ellen Berscheid von der Universität Minnesota beschrieb darin mit beeindruckender Feinfühligkeit die „größte Stärke des Menschen: andere Menschen“8. Berscheid machte daran sogar einen der wesentlichen Faktoren kultureller und sozialer Entwicklung fest.

Was Sie eben über generalisierte Einstellungswerte und die „samariterhafte Einstellung“ gesagt haben, kann man somit auch ausdehnen nicht nur auf zu teilende Güter, sondern auch für Fähigkeiten in Stellung bringen, die sich einsetzen lassen, um einander zu helfen, um füreinander da zu sein, und sich einzubringen. Das setzt nämlich erstens die Anerkennung der Bedürftigkeit des Menschen voraus (verschließt also nicht mehr die Augen vor dem Leiden oder den Nöten der Menschen), zweitens behält es aber auch den Wert der gegenseitigen Hilfsbereitschaft im Blick.

Bildlich gesprochen: Der Blinde kann den Lahmen tragen und der Lahme den Blinden führen, und beide bezeugen damit ja viel mehr als nur die Fähigkeit des Menschen, ihre jeweiligen Schwächen zu kompensieren. Sie bezeugen damit eben auch, dass andere Menschen – und unsere Bereitschaft, unsere Fähigkeiten mit ihnen zu teilen und in den Dienst des anderen zu stellen – tatsächlich eine der größten Stärken des Menschen sind. Zweitens werden diese Fähigkeiten ja erst dann ihrer eigentlichen sinnvollen Bestimmung zugeführt – davor waren es ja bloß Möglichkeiten. Nun aber, im Einsatz für und mit etwas oder jemand, der oder das nicht wieder man selbst ist, werden sie sinnvoll genutzt und verwirklicht.

Aber dieser Zusammenhang zeigt auch etwas noch Grundsätzlicheres über die Natur selbst. Man kann das auch philosophisch deuten und dann entfalten sich sehr schöne und tröstliche Implikationen für unser Welt- und Menschenbild: dass nämlich mit der Person, vor allem ihrem Potential zur Selbsttranszendenz, etwas in die Welt getreten ist, in dessen Hand sogar die Schwäche noch Zeugnis von Stärke werden kann.

Um zum Blinden und dem Lahmen zurückzukommen: Wir kennen aus der Natur zwar zahlreiche Beispiele der Symbiose und des biologischen Gleichgewichts und des gegenseitig Angepasstseins von Wirtstieren etc. – das ist ja gleichsam das „Erfolgsrezept“ der Natur: Zusammenarbeit und Ineinanderwirken.

Aber das, was Sie mit der „samariterhaften Einstellung“ beschreiben, geht weit darüber hinaus. Es ist uns im Unterschied zum Tier stets nur als Möglichkeit, also im Freiraum, gegeben. Das Teilen und die Großzügigkeit ist beim Menschen eben nicht, wie beim Tier, triebhaft vorbestimmt. Nichts treibt uns zur Großzügigkeit an. Mit anderen Worten: Im Menschen ist Teilen nicht einfach ein biologisches Programm, das automatisch abläuft, sobald wir irgendwo ein Defizit erblicken. Es ist etwas viel Wertvolleres: nämlich Ausdruck genuinen Wohlwollens – also ein Akt in Freiheit und Verantwortung bzw. der Akt in der Freiheit, wohlwollend und Anteil nehmend zu leben – oder eben nicht.

4. REAKTIVES GLÜCK UND UNGLÜCK

Batthyány: Wir können ja beides: am Leid vorbeigehen oder im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen versuchen. Denn das Gegenbild zu dem, was Sie „samariterhafte Haltung“ nennen, wenn ich Ihren Gedanken nochmals aufgreifen und weiterspinnen darf, ist auf der anderen Seite, dass Undankbarkeit und geringes Wohlwollen in sehr unmittelbarer Weise miteinander zusammenhängen: dass man in einer innerlich unreifen Anspruchshaltung für das eigene Glück ebenso erblindet („es steht mir ja zu!“) wie für die Not in der Welt („was geht mich das an?“). Ersteres wird als selbstverständlich hingenommen und Letztes geht einen dann scheinbar nichts an. Frankls Satz vom Glück als das, was einem erspart bleibt, und Ihre Worte über generalisierte Einstellungswerte und die samariterhafte Einstellung decken so gesehen beide Seiten der Medaille ab: Das eigene Glück ist ebenso wenig selbstverständlich wie die Not des anderen, an der man nicht schulterzuckend vorübergehen soll, sofern man Ressourcen hat, diese Not zu lindern oder zu beheben.

Wobei wir es nebenbei gesagt dem Realismus schulden, dass wir nicht vergessen sollten, dass wir ja tatsächlich nie wissen, wann wir uns auf welcher Seite befinden werden: ob und wann und für wie lange wir also das Glück haben, teilen zu können, oder ob und wann wir darauf angewiesen sein werden, dass sich ein anderer unserer annimmt und uns aufrichtet.

Lukas: Gut, dass Sie bei Ihren Überlegungen zum sinnorientierten Miteinander den Aspekt der Freiheit betont haben. In der Psychopathologie basieren viele Probleme auf falschen bzw. sinnwidrigen Reaktionen auf gewisse Lebensvorgaben. Frankl hat in seiner „Theorie und Therapie der Neurosen“9 ein ausführliches Kapitel den „reaktiven Neurosen“ gewidmet. Solche wurden sonst nirgendwo diagnostiziert und sind heute von der Begrifflichkeit her veraltet. Trotzdem ist das reaktive Element bei einer Menge an seelischen Störungen ausschlaggebend.

Der eine wird am Schulweg von einem Hund angesprungen und entwickelt eine Hundephobie – der andere wird am Schulweg von einem Hund angesprungen und lernt, mit Hunden geschickt umzugehen. Die eine entdeckt, dass sie durch Vorgabe von Halsschmerzen oder Magengrimmen die zärtliche Fürsorge ihrer Mutter herbeirufen kann, und übt sich daraufhin im histrionischen Manipulieren ihrer Mitwelt ein. Die andere macht dieselbe Entdeckung, verzichtet aber auf weiteres „Theaterspielen“. Zahlreiche psychologische Krankheitsbilder sind von ihrer Entstehungsgeschichte her Kombipakete: nicht nur die psychosomatischen Krankheiten mit ihrer typischen Kombination von körperlicher Vorschädigung plus Auslösestressor, sondern auch viele Abhängigkeitsprobleme, bei denen auf kurzfristig erzeugbaren Emotionalgewinn mit „Mehr desselben“ statt mit vorsichtiger Zurückhaltung reagiert wird, oder iatrogene (also durch ärztliche Einwirkung erst entstandene) Störungsformen, bei denen unbedachte Äußerungen von Ärzten und sonstigen Autoritätspersonen zu ernst genommen bzw. als drohendes Unheil ausgelegt werden.

In diese Aufzählung passt, was wir soeben diskutiert haben, nämlich die inadäquate (statt adäquate) Reaktion auf eigenes Glück und auf fremdes Leid.

5. EINE FÜNFTE PATHOLOGIE DES ZEITGEISTS?

Batthyány: Zugleich ist das, was wir gerade besprechen, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv zu beobachten und berührt damit unmittelbar auch jenen Bereich, den Frankl „die Pathologie des Zeitgeistes“ genannt hat, als er vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vier gesellschaftlich weit verbreitete kritische Haltungen ausmachte: die provisorische, fatalistische, kollektivistische und fanatische Daseinshaltung.10

Allerdings hat Frankl diese vier Daseinshaltungen vor mehr als 70 Jahren beobachtet und beschrieben; daher stellt sich die naheliegende Frage, ob der heutige Zeitgeist tatsächlich noch ganz deckungsgleich ist mit dem damaligen Zeitgeist, der ja unter ganz anderen historischen und sozialen Bedingungen gewachsen und in Erscheinung getreten ist.

Mit Blick auf die Gegenwart untersuchen daher Studenten in der Forschungsabteilung des großen Moskauer Instituts unter meiner Leitung seit einigen Jahren, ob sich zu diesen vier Fehlhaltungen im Laufe der Zeit vielleicht noch andere hinzugesellt haben. Und tatsächlich kommt da – sowohl in Einzelgesprächen als auch in Gruppenerhebungen – immer wieder ein neues kollektivneurotisches Syndrom zum Vorschein, das die Vermutung, die Pathologie des Zeitgeists habe sich angesichts des geänderten sozioökonomischen Klimas entwickelt, bestätigt: nämlich eine Vermengung überragend vieler Möglichkeiten bei gleichzeitigem Schwinden des Verantwortungsbewusstseins. Anders ausgedrückt: Freiheit und Verantwortung sind in ein gehöriges Ungleichgewicht geraten.

Wir beobachten insbesondere bei Menschen, die finanziell und auch sonst gut abgesichert sind, eine enorme Anspruchshaltung dem Leben und anderen Menschen gegenüber, zugleich aber auch eine mangelnde Anerkennung des Guten und parallel dazu einen Mangel an Bereitschaft, sich den unvermeidlichen Schattenseiten des Daseins zuzuwenden, ja, diese überhaupt zu akzeptieren. Mit anderen Worten: Diesen Menschen mangelt es an vernünftiger Ehrfurcht vor dem, was sie haben und ihnen eben erspart bleibt – und auch vor dem, was sie dem Leben oder anderen schuldig sind.

Wenn man dieses neue Syndrom mit Frankls Pathologie des Zeitgeists vergleicht, dann fällt zunächst einmal auf, dass die vier von Frankl beschriebenen kritischen Daseinshaltungen allesamt durch ein Element der Angst gekennzeichnet sind: In der provisorischen Geisteshaltung etwa herrscht eine grundlegende Angst vor der Zukunft vor. Es wird der Zukunft so stark misstraut, dass die Betroffenen gar nicht erst einen Sinn darin erblicken können, etwas aufzubauen, von dem sie aufgrund ihrer Zukunftsängste befürchten, dass es ohnedies nicht von Bestand und Dauer sein wird. In dieser entmutigten Geisteshaltung scheint es den Betroffenen fraglich, ob und weshalb sie sich überhaupt noch für etwas oder jemanden engagieren sollten, wenn doch ohnedies nicht gewährleistet ist, dass das, wofür sie sich einsetzen, nicht schon im nächsten Augenblick wieder bedroht oder tatsächlich vernichtet wird. Daher richten sie sich im Provisorium ein – ängstlich und mutlos auf den nächsten Schicksalsschlag wartend. Das Angstmotiv hier lautet: Angst vor der Zukunft und Angst vor Bedrohung.

In der fatalistischen Daseinshaltung hingegen überragt die Angst vor vermuteten und unerkannten Schicksalsmächten und unterminiert jegliche Initiative und freie und verantwortliche Lebensführung. Der Glaube an die Übermacht des Schicksals, das dem Einzelnen, so glaubt er, gar nicht erst die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsfähigkeit einräumt, ihn vielmehr zu einem hilf- und bedeutungslosen Rädchen im großen Schicksalswerk reduziert, untergräbt seine Gestaltungsmotivation:

Bei näherem Hinsehen ergibt sich, dass sich der Fatalist auf den Standpunkt stellt: Es ist nicht möglich, zu handeln, sein Schicksal in die Hand zu nehmen; denn dieses Schicksal ist übermächtig. Während der Fatalist fortwährend vorsagt, ein Handeln sei nicht möglich, denkt sich der provisorisch Eingestellte: Ein Handeln ist auch ganz und gar nicht nötig; denn wir wissen nicht, was morgen los sein wird.11

Das Angstmotiv des Fatalisten ist somit die Übermacht des Schicksals, nicht selten gepaart mit abergläubischer Furcht vor verborgenen Schicksalszusammenhängen (Unglückssymbolen, Horoskopen, schlechten Omen etc.).

Beim Kollektivismus dagegen ist das vereinfachende, oft stereotypisierende Gruppendenken meist nicht nur mit dem „Untergehen der Person in der Masse“ (Frankl) verbunden, sondern auch mit dem gleichzeitigen Aufbau eines Feindbilds – nämlich eines anderen Kollektivs (Out-Group): Tatsächlich bestätigt ja auch die sozialpsychologische Forschung, dass das sogenannte In-Group/Out-Group-Denken nur in dem Maße funktioniert, wie ein abzulehnendes und meist als feindlich wahrgenommenes Gegenkollektiv konstruiert wird: wir gegen die anderen bzw. die anderen gegen uns.12 Das Angstmotiv richtet sich hier also auf ein Feindbild, also alle jene, die gegen das eigene Kollektiv einstehen, weil sie andere Ideale oder Identifikationsmerkmale (in der Regel die eigenen) höher schätzen.

Im Fanatismus dagegen – auch das bestätigt die sozial- und einstellungspsychologische Forschung – herrschen andere Ängste vor: erstens die Angst vor den eigenen Zweifeln, die umso radikaler kompensiert werden müssen durch Loyalitätsbeteuerungen gegenüber der fanatisch verteidigten Meinung oder Einstellung13; zweitens aber auch die Angst vor der Gültigkeit oder Wahrhaftigkeit anderer, den eigenen Ansichten widersprechenden Überzeugungen. Denn deren Wahrhaftigkeit würde wiederum (in diesem Fall berechtigte) Zweifel an den eigenen Ansichten wecken, was seinerseits wieder als beängstigend erlebt wird.

Kurz: So unterschiedlich die vier von Frankl beschriebenen krisenträchtigen Daseinshaltungen auch geartet sein mögen, sie alle haben einen gemeinsamen Nenner im Faktor der Angst: Angst vor der Zukunft (provisorische Lebenshaltung), Angst vor dem Schicksal (fatalistische Lebenshaltung), Angst vor anderen Gruppen (kollektivistische Lebenshaltung) und Angst vor anderen Deutungen der Welt oder bestimmter Weltzusammenhänge bzw. Angst vor den eigenen Zweifeln (fanatische Lebenshaltung). Und allen gemein ist zudem, wie Frankl betonte, das Kernmerkmal der Scheu vor der eigenen Verantwortung.

Bei der von uns in unseren Forschungen gefundenen fünften Pathologie – also der übertriebenen Anspruchshaltung und der damit meist einhergehenden mangelnden Ehrfurcht vor der eigenen Freiheit und Verantwortung und dem Leben insgesamt – scheint es dagegen überraschenderweise so, als spiele Angst eine eher untergeordnete Rolle. Im Gegenteil gewinnt man bei dieser Daseinshaltung viel eher den Eindruck, es fehle diesen Menschen ein wenig an Angst oder zumindest Sorge – und vor allem auch an Realismus etwa mit Blick auf die Tatsache, dass wir in Wirklichkeit erstens gar keinen Anspruch darauf haben, dass das Leben uns jeden nur denkbaren Wunsch erfüllt und uns alle Herausforderung und Bewährungsproben und Leiden „erspart“ und zweitens – wie Frankl es formulierte – dass nicht wir das Leben fragen, sondern wir im Gegenteil die vom Leben Befragten sind. Um es mit den Worten von Frankls seinerzeitigem Assistenten an der Wiener Poliklinik Paul Polak zu sagen: Wir können dem Leben keine Bedingungen stellen. Aber eben dies scheint in dieser Daseinshaltung eines der Kernmerkmale zu sein.

Je mehr unsere Erhebungsdaten in diese Richtung weisen und zeigen, dass die von uns beobachtete kritische Daseinshaltung sich von den von Frankl beschriebenen kollektiven pathologischen Geisteshaltungen abhebt, desto deutlicher wird, dass wir es hier tatsächlich mit einer neuen, fünften pathologischen Geisteshaltung zu tun haben, die man am ehesten wie folgt beschreiben könnte: Das Gute und Angenehme wird wie selbstverständlich hingenommen („es steht mir zu“), zugleich werden die Herausforderungen des Daseins – sei es das eigene Leid oder das Leid der anderen, und überhaupt alles, was in irgendeiner Weise nach Bewährung und Aufforderung zu konstruktiver Teilnahme am Leben aussieht, aus der eigenen Vorstellungsund Lebenswelt verdrängt.

Interessanterweise hat Rudolf Allers, seinerzeit einer der frühen Mentoren Viktor Frankls aus dem ehemaligen Umfeld der Individualpsychologischen Vereinigung um Alfred Adler, in seiner Phänomenologie der Psychiatrie bereits einige dieser Merkmale im Amerika der 1960er Jahre beobachtet und sehr treffend wie folgt beschrieben:

Konflikte, Schwierigkeiten aller Art, die man früher in Kauf nahm und als unvermeidlich anerkannte, erscheinen heute vielen als ungebührliche Störungen ihres Behagens. Sie sind überzeugt davon, dass sie ein Anrecht auf ein leichtes Leben haben, und sehen daher im Konflikt nicht ein unausweichliches Moment der menschlichen Wirklichkeit, sondern ein Symptom. Überdies scheuen sie die Verantwortung, die jeder, auch nur einigermaßen folgenschweren, Entscheidung anhaftet. Daher sind sie nur allzu bereit, die Entscheidung anderen aufzubürden. Es ist nicht leicht zu sagen, ob man diese Menschen nun wirklich als Neurotiker ansehen soll (…) oder als Menschen, die in der Diagnose eine gültige Entschuldigung für ihre oft genug selbstverschuldete Lebensunfähigkeit finden und in der Behandlung einen Kompromiss zwischen ihrer Begierlichkeit und ihrer Feigheit.14

In der heutigen Erscheinungsform dieser Geisteshaltung kommen allerdings wie erwähnt unseren Erhebungen zufolge noch einige weitere Merkmale hinzu: Es mangelt in Folge der eben beschriebenen Anspruchshaltung erstens an Dankbarkeit, zweitens an Leidensfähigkeit angesichts des unabänderlichen Schicksals, drittens an Mitgefühl und viertens an Verantwortungsbereitschaft – wobei das letzte Kriterium diese Geisteshaltung wiederum eindeutig in die ursprünglich von Frankl ausgemachten Pathologien des Zeitgeists eingliedert. Ein Mangel an Verantwortungsbereitschaft ist ja gemeinsamer Nenner und Bindeglied zwischen allen bisher beschriebenen kritischen Daseinshaltungen.

Somit scheinen wir hier einem verhältnismäßig neuen psychologischen Phänomen zu begegnen, das in der Regelmäßigkeit seines Auftretens nahelegt, dass wir es tatsächlich mit einer fünften kollektiven Neurose zu tun haben.

Allerdings habe ich dies, gewissermaßen aus Respekt vor der Tatsache, dass Frankls „Pathologie des Zeitgeistes“ so harmonisch in sich abgeschlossen ist, noch nie publiziert oder als Ergänzung zur bekannten „Pathologie des Zeitgeistes“ vorgeschlagen.

6. CYBERPATHOLOGIE (INTERNET UND PSYCHE)

Lukas: Im Gegensatz zu Ihnen, der – wie Sie andeuten – sich aus „Pietätgründen“ scheut, Frankls Zusammenstellung um eine fünfte kritische Zeitgeistströmung anzureichern, habe ich dies längst getan. Ich bin mir ziemlich sicher, Professor Frankl hätte es ebenfalls getan, hätte er die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft noch miterlebt. Ich habe diese fünfte „kollektive Neurose“ mit der grassierenden Cyberpathologie unserer Tage gleichgesetzt.15

Natürlich gibt es viele verschiedene Lebenshaltungen, die philosophisch und ethisch fragwürdig sind und krisenträchtige Auswirkungen für die Betreffenden und ihr Umfeld haben. Nicht umsonst hat die Logotherapie in ihrer Methodik der „Einstellungsmodulation“ ein therapeutisches Gegenmittel zu einem ganzen Katalog von Fehlhaltungen geschaffen. Um aber von einer Zeitgeistströmung sprechen zu können, müssen ihr sehr große Bevölkerungsteile huldigen. Und das ist mit der Cyberpathologie der Fall. Wir schlagen mit ihr nicht nur ein Kapitel kollektiver Sucht auf, die wie ein Moloch insbesondere die Jugend in ihren Bann zieht. Wir betreten mit ihr auch just jenes Areal, zu dem die von Ihnen genannten Beobachtungen fugenlos passen. Denn bei Süchtigen finden wir immer

1. eine hohe Anspruchshaltung: „Ich brauche das“… „Das steht mir zu …“, „Ich kann das Leben ohne das (Suchtmittel) nicht aushalten …“,

2. eine geringe Dankbarkeit, weil sämtliche Werte am Wahrnehmungshorizont allmählich verblassen und nur noch das Suchtmittel zählt,

3. ein herabgesetztes Verantwortungsbewusstsein, das parallel mit dem Toleranz-16 und Kontrollverlust der Süchtigen einhergeht,

4. eine Überspielung und Vertuschung der Abhängigkeit und Schwierigkeiten mittels erheblicher Lügen- und Selbstbetrugsenergie.

Ich gebe Ihnen absolut recht, dass die beiden Basiselemente „zu wenig angemessene Furcht“ und „zu wenig Ehrfurcht (vor dem verpflichtenden Guten, will heißen: dem Guten, das zu dessen Wertschätzung und zu dessen Weitergabe im Rahmen eigenen Vermögens verpflichtet)“ die Stützpfeiler der Malaise sind. Obwohl der Süchtige eine ausgedehnte Phase des Hineinschlitterns lang genau weiß, dass er menschlich, physisch, sozial, pekuniär bergab rutscht, ist nicht genug Furcht vor dem Abgrund da, um ihn mit aller Kraft und gebündelter „Trotzmacht des Geistes“ (Frankl) zur Handbremse greifen zu lassen. Gleichzeitig ist zu wenig Ehrfurcht da, Ehrfurcht vor der Kostbarkeit seines Lebens, vor den ihm gewährten Freiräumen und Ressourcen, vor dem Willkommensein in der Welt und Gerufensein durch die Welt, vor der Einladung, sie liebevoll und verantwortlich mitzugestalten … Kaum dringt etwas davon mehr zu seinem betörten Gehirn und seiner umnebelten Seele vor – einzig die Gereiztheit und Ruhelosigkeit leise raunender und immer lauter pochender Entzugsqual dominieren und motivieren den Süchtigen …

Nun hat es Suchterkrankungen von jeher gegeben. Wie konnte es aber zu einem solchen „Massenbefall“ wie der Cyberpathologie kommen? Daran dürften mehrere Faktoren beteiligt sein. Einerseits ist beständiger Fortschritt, kultureller, technischer wie wissenschaftlicher Fortschritt, geistesnotwendig.

In der – nach Maßstäben der Evolution – kurzen Zeit, seit das Menschengeschlecht das Licht der Welt erblickt hat, sind ungeheuerliche Fortschritte erzielt worden. Dass wir inzwischen fähig sind, Atome zu spalten, Informationen drahtlos rund um den Erdball zu schicken oder uns ins All aufzuschwingen, grenzt an Wunder. Tatsächlich sind es Ausstrahlungen des „wundersamen“ Geistes, mit dem wir begabt wurden, und der danach strebt, alles Vorfindliche zu handhaben, seine eigene Intelligenz genauso wie die Früchte der ihn tragenden Erde. Geistiges kennt keine Stagnation, Geistiges ist ununterbrochen in Bewegung, ja, wie Frankl formuliert hat: „Geist ist reine Dynamis“ – Bewegung (nicht im Raum, sondern) im Sein. Fortschritt ist das Fort- und Voranschreiten des Geistes.

Andererseits sind wir Wesen aus Fleisch und Blut, mit einer anfälligen und hinfälligen Physis und einer bunt zusammengewürfelten Psyche, in der die Emotionen und Kognitionen, Lust und Verstand, in einem kuriosen Gerangel miteinander liegen. Dieses „allzu Menschliche“ bremst das „spezifisch Menschliche“ immer wieder ein und umwölkt es mit Irrungen und Wirrungen und nicht zuletzt auch mit Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Folglich kommt alles darauf an, dass beim zügigen Fortschritt der verantwortliche Umgang mit den Neuerungen, die der Fortschritt mit sich bringt, ebenso zügig mithält. Dieser Wettlauf zwischen den Erfindungen des Geistes und der Sensibilität des menschlichen Gewissens rollt seit Jahrtausenden ab; bislang ohne eindeutige Gewinner und Verlierer. Dass jedoch die Erfindungen des Geistes in diesem Wettlauf einen bedenklichen Vorsprung haben, hat bereits Frankl Sorgen bereitet, als er anmerkte, dass weder die althergebrachten Traditionen noch die angeborenen Instinkte den Menschen der Gegenwart mehr (sittliche) Orientierung zu spenden vermögen, und gefährliche Auswüchse („wollen, was andere tun“ bzw. „tun, was andere wollen“) in das entstandene Orientierungsvakuum hineinwuchern.

Ich selbst habe die Erfindungen des Fernsehens, später des Computers, und mittlerweile des Smartphones miterlebt. Die Bildschirmfaszination, das Ergriffensein (im wahrsten Sinne des Wortes) von virtuellen Welten, das Unbedingt-dabei-sein-Wollen in der digitalen Moderne, die stürmische Begeisterung über ungeahnte und nie dagewesene Möglichkeiten … Das alles ist viel zu schnell über uns hereingebrochen, als dass sich irgendwelche Korrekturmechanismen hätten ausbilden können, zumal das bereits vorhandene Orientierungsvakuum solche erschwerte.

Erfindungen sind an und für sich wertneutral. Dass Physiker Mechanismen errungen haben, mit denen Atome gespaltet werden können, impliziert keinen Atombombenabwurf. Dass Raketen die Anziehungskraft der Erde überwinden können, impliziert keinen Vernichtungsschlag „von oben“. Dass beliebige Fotos für jedermann zugänglich ins Internet gestellt werden können, impliziert keine Kinderpornographie im großen Stil. Solange das Gewissen die Technik an der Leine führt, kann und wird sie uns zum Segen gereichen. Nur wenn es die Leine loslässt – dann bewahre uns Gott!

Der Cyberspace verlockt zum partiellen Ausstieg aus dem Zuständigkeitsbereich des Gewissens. So vieles darin ist bloß „Kino“, ist „Geflunker“, ist unecht. So vieles darin kann fantasiert, einfach behauptet, zu gemeinen Zwecken vorgegaukelt werden. Man kann zum Beispiel Folterszenen zur perversen Ergötzung der Betrachter nachstellen, ohne jemandem ein Haar zu krümmen. Mogelt man ein paar Videos von echt gepeinigten Personen darunter, fällt dies kaum auf. Der Ergötzungseffekt mag derselbe sein … Es ist brandgefährlich, wenn die Schranke zwischen Fantasie und Wirklichkeit wankt. Wenn die Überprüfbarkeit von Nachrichten schrumpft. Wenn User absichtlich auf falsche Fährten geleitet werden. Wenn unentwegt nichtige Botschaften von Wichtigem ablenken. Wenn kursierende Meinungen die Sachlichkeit verdrängen. Wenn der Glaube wächst, im Netz und nur dort stehe einem die ganze Welt offen … Wie soll sich das Gewissen des Einzelnen in diesem Getümmel von Realem, Irrealem, Surrealem auskennen? Das Gewisper im Äther lullt das Gewissen geradezu in den Schlaf.

Batthyány: … und doch ist es, wie bei jedem Instrument, auch eine Frage, wie und wozu man es verwendet …

Lukas: Freilich gibt es auch das dicke Plus des Fortschrittes. Das elektronische Gedächtnis speichert alles, was sich Menschen niemals merken könnten. Blitzschnell liegen auf jedwede Anfrage Antworten aus dem Erfahrungspool von Generationen auf dem Tisch. Blitzschnell kann mit weit entfernten bekannten oder unbekannten Personen kommuniziert werden, was ein gigantisches Gedankenaustauschprogramm ermöglicht. Es entstehen neue Transparenzen: Was hinter den Stirnen vorgeht, pulsiert plötzlich in einem öffentlich zugänglichen Datennetz. Und es entstehen neue Assistenten in Form von künstlicher Intelligenz und Robotik; Hausdiener, die beträchtlich weniger schwächeln als ihre Hausherren. Unser gesamtes Wirtschafts- und Zivilisationssystem wäre ohne sie bereits dem Chaos preisgegeben. Dass man von einer Hilfe abhängig wird, sobald man sie längere Zeit benützt, ist nicht zu verhindern. Autofahrer, die es gewohnt sind, von einem „Navi“ dirigiert zu werden, verlernen es, selbständig ihre Wege zu finden, u. Ä.

Leider gilt dasselbe auch für die sozialen Kontakte. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die realen Beziehungen zwischen Freunden und in den Familien bei einem krankhaften Medienkonsum deutlich verschlechtern. Experten beziffern die Schwelle zum krankhaften Medienkonsum mit ca. vier Stunden täglichem Smartphone-Starren – was eindeutig eine „untere“ Grenze darstellt, die zunehmend überschritten wird. Die Betreffenden wähnen sich zwar im Facebook-Universum mit anderen dialogisch verbunden, verlernen es aber, in direkter Nähe anderen verständnisvoll und konstruktiv zu begegnen. Es kommt noch schlimmer: Die „digital natives“ erlernen Empathie und gegenseitige Achtung gar nicht mehr richtig, wie Hirnforscher und Psychologen belegen.17 Laut Mehrfachstudien hegen viele dieser Sprösslinge einer heraufdämmernden Ära 1. die illusorische Erwartung, dass ständig auf sie eingegangen wird, wissen aber 2. Freundlichkeit und Interesse an ihrer Person nicht zu würdigen, sind sich 3. über die Folgen ihrer eigenen Aussendungen und Mails nicht im Klaren und halten 4. keinerlei „Belohnungsaufschub“ aus, weil alles uneingeschränkt sofort verfügbar sein muss. Voilà! Da sind sie: Ihre vier klugen Beobachtungen: Überzogene Ansprüche, kein Gefühl der Dankbarkeit, reduziertes Verantwortungsbewusstsein und die Abneigung, irgendeine Frustration durchzuhalten, und sei es nur das „Warten“ auf etwas Positives (vom Ertragen des Negativen gar nicht zu reden). Da ist sie: die fünfte „kollektive Neurose“ in der Pathologie des aktuellen Zeitgeistes!

7. NOT UND EHRFURCHT

Batthyány: Wenn wir nun den Weg von der Diagnose zur Therapie gehen wollten: Wie könnte ein solcher Ihrer Meinung nach aussehen?

Lukas: Schwer zu sagen. Ich weiß, in unserem Beruf gibt man sich mit diagnostischen Erwägungen nicht zufrieden. Man fragt sich sofort: Was wären denn Richtlinien für eine Therapie von Cyberkranken? Alle Logotherapeuten sind gut beraten, sich künftig intensiv mit dieser Frage zu beschäftigen. Überlegen wir: Gibt es einen Hinweis, den uns Frankl dazu hinterlassen hat? Er schrieb:

So ist die Zielsetzung der kollektiven Neurose dieselbe wie die der individuellen: Sie gipfelt und mündet aus in den Appell an das Verantwortungsbewusstsein … Wollen wir also unsere Patienten zum Bewusstsein ihres Verantwortlichseins bringen … dann müssen wir versuchen, uns den geschichtlichen Charakter des Lebens und damit die menschliche Verantwortung im Leben zu vergegenwärtigen … Dem Menschen … empfehle man zum Beispiel, einmal so zu tun, als ob er an seinem Lebensabend in seiner Biographie blätterte …18

Frankl führte an dieser Stelle aus, dass alle Details unverrückbar in den Abschnitten der eigenen Lebensvergangenheit festgeschrieben sind. Könnte man rückblickend eines davon ausradieren und verbessern, würde man das wohl oft gerne tun. Doch dieser Wunsch bleibt uns auf ewig versagt. Wie wäre es darum, schon während des Schreibens sorgsam darauf zu achten, dass die Details, die sich da verewigen, uns am Ende unseres Lebens nicht leidtun?19

Batthyány: Darf ich hier kurz einhaken – ich berichtete davon auch andernorts20, aber es passt so gut hierher, dass ich kurz davon erzählen möchte, wie mir eine ältere Deutschlehrerin in einem Hospiz eben diese Einsicht schilderte, obgleich sie Frankls Werk kaum kannte (außer sein Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen). Wir trafen uns im Garten des Hospizes, in dem sie nun, schwerst herzkrank, ihre letzten Lebenstage verbrachte. Da saßen wir also unter einem schönen alten Apfelbaum und sie erzählte von ihrem Leben und war alles in allem recht versöhnt mit sich, ihrem Leben und auch ihrem baldigen Sterben. Dann fielen die Worte, die direkt anknüpfen an das, was Sie gerade zitiert haben. Sie sagte nämlich, dass ihre Lebensgeschichte nun zu Ende ginge, dass ich aber, als vergleichsweise junger Mensch, gut an mein Werk gehen solle – dass ich heute die Verantwortung tragen würde für das, was einmal in meiner Lebensgeschichte stehen werde. Es ist nicht leicht, die dichte und zugleich ungemein friedliche Atmosphäre dieses Gesprächs an einem Frühsommermorgen im Hospiz einzufangen. Aber ich muss sagen: Dieses Gespräch ist nun schon einige Jahre her, aber es ist seither eigentlich kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht an diese Worte denken musste.

Das Interessante aber ist: Frankl hat – und das schließt wieder an das Zitat an, das Sie soeben brachten – diesen Blick auf die eigene Endlichkeit und das Verdichten der eigenen Entscheidungen und Handlungen zur jeweils individuellen Lebensgeschichte ja auch therapeutisch als Weg der Vermittlung von Lebensverantwortung wie folgt vorgestellt:

Wir weisen den Kranken an, sich vorzustellen, sein Lebensablauf wäre ein Roman und er selbst eine entsprechende Hauptfigur; es läge dann aber ganz in seiner Hand, den Fortgang des Geschehens von sich aus zu lenken, sozusagen zu bestimmen, was im nächsten Kapitel zu folgen hat. Dann wird er statt der scheinbaren Last der Verantwortung, die er scheut und vor der er flüchtet, seine wesenhafte Verantwortlichkeit im Dasein als Freiheit der Entscheidung gegenüber seiner Unzahl von Möglichkeiten des Handelns erleben.

Noch intensiver können wir schließlich an den persönlichen Einsatz seiner Aktivität appellieren, wenn wir ihn dazu auffordern, sich vorzustellen, er sei an einem Endpunkt seines Lebens angelangt und im Begriffe, seine eigene Biographie zu verfassen; und eben jetzt halte er gerade bei jenem Kapitel, das von der Gegenwart handelt; und es liege nun, wie durch ein Wunder, ganz in seiner Hand, Korrekturen vorzunehmen; er dürfe gerade noch das, was unmittelbar darauf geschehen solle, ganz frei bestimmen … Auch das Vehikel dieses Gleichnisses wird ihn zwingen, aus dem Vollen seiner Verantwortlichkeit heraus zu leben und zu handeln.21

Nun, dass jemand, der so kurz vor dem eigenen Ende steht wie die oben erwähnte ältere Dame, diese Einsicht gewinnt, lebt und weitergibt, ist eine Sache. Eine andere ist es, mitten im Leben im Blick auf die eigene Endlichkeit einen Anstoß zur Verantwortung zu entdecken. Das hat etwas durchaus Drastisches an sich …

Lukas: Ja, Frankl fuhr schweres Geschütz auf. Er schlug vor, die Patienten mit ihrer Endlichkeit zu konfrontieren und ihnen ihre Lebensverantwortung von der Warte des Todes aus ans Herz zu legen. In seiner Genialität hat er wieder einmal exakt den Punkt getroffen. Ich gebe zu: Ich habe immer Widerwillen verspürt, wenn die Suchtprofis erklärten, „es müsse den Süchtigen erst miserabel genug gehen“, bevor sie sich zur Therapie aufraffen. Aber es stimmt, so traurig es ist. Wenn die Wahrnehmung des „Sinndrucks“ schwindet, hat der „Leidensdruck“ noch eine allerletzte Chance. Ähnlich operierte Frankl angesichts der Problematik pathologischer Zeitströmungen. Vom Faktum des Todes aus beleuchtet, ändern sich die Präferenzen. Deswegen möchte ich, was Präventiv- und Therapiemöglichkeiten betrifft, die Reihenfolge der aufgelisteten Beobachtungen umdrehen. Man wird damit beginnen müssen, die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Lebens (inkl. Leiden und Sterben) voranzutreiben (4). Das wird – wie Frankl propagiert hat – das Verantwortungsbewusstsein für die Lebensnutzung schärfen (3). Daraufhin wird sich eine Dankbarkeit für vorhandene Sonnenseiten des Lebens einstellen (2) und der absurde Anspruch auf puren Lebensgenuss verlieren (1).

Tatsächlich zeichnen sich inzwischen derartige „Umkehrtrends“ vage ab. Deshalb möchte ich Sie gleichsam trösten: Ich sehe Grund zum „tragischen Optimismus“ (Frankl). Der Tod tastet sich mit seinen Fangarmen langsam durch die Fortschrittseuphorie hindurch. Die Autoabgase verpesten die Städte, die Klimaerhitzung verdorrt die Felder, der Plastikmüll besudelt die Meere, Viren breiten sich aus, die Schere zwischen Arm und Reich explodiert … Das von rasanten technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen überrumpelte menschliche Gewissen regt sich in den Weltbevölkerungen und müht sich, im Wettlauf aufzuholen. Es flüstert von globalen Megaaufgaben, die nur im friedlichen und konsensualen Miteinander bewältigt werden können. Mit steigender, bedrohlicher Not wird sein Flüstern eindringlicher werden und das Cybergesumme übertünchen.

Not lehrt Furcht und Ehrfurcht, was sich im (zu Unrecht spöttisch gebrauchten) Wort „Not lehrt beten“ niederschlägt. Not lehrt uns, dass uns alles nur „auf Zeit“ gehört, aber auch, dass uns dieses „auf Zeit Gehörige“ in einem Gnadenakt anvertraut ist. Und Beten nährt unsere Hoffnung, dass die Gnade immer noch waltet …

1Frankl, V. E. (2005). … trotzdem Ja zum Leben sagen. Bd. 1 der Edition der Gesammelten Werke. Hrsg. von Batthyány, A., Biller, K. und Fizzotti, E. Wien: Böhlau, 79. Genau genommen handelt es sich bei Frankls Formulierung um eine semantische Verkürzung des Satzes: „Glück ist das Nicht-Eintreten von dem, was einem erspart bleibt.“

2Lukas, E. In: Frankl, V. E. (1982). Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Bern: Hans Huber (3. Auflage), 290

3Lukas, E. (1971). Logotherapie als Persönlichkeitstheorie. Dissertation. Universität Wien

4Crumbaugh, J. C. & Maholick, L. T. (1964). An experimental study in existentialism: The psychometric approach to Frankl’s concept of noogenic neurosis. In: Journal of Clinical Psychology, 20 (2), 200–207

5Das österreichische Ausbildungsinstitut für Logotherapie und Existenzanalyse (ABILE) wurde 1994 mit ausdrücklicher Zustimmung Viktor Frankls gegründet und führt neben der regulären Psychotherapieausbildung auch Forschungsprojekte im Bereich der Psychotherapiewissenschaften an der Donau-Universität Krems aus.

6Vgl. dazu Lukas, E. (2014). Vom Sinn des Augenblicks. Hinführung zu einem erfüllten Leben. Kevelaer: topos plus, Kapitel „Die Sonnenseiten des Lebens bejubeln“

7Aspinwall, L. G. & Staudinger, U. M. (Eds.) (2003). A Psychology of Human Strengths: Fundamental Questions and Future Directions for a Positive Psychology. Washington, DC: American Psychological Association

8Berscheid, E. (2003). The human’s greatest strength: Other humans. In: Aspinwall & Staudinger. A Psychology of Human Strengths, s. Anm. 7

9Frankl, V. E. (1982). Theorie und Therapie der Neurosen. München: UTB

10Frankl, V. E. (1955). Pathologie des Zeitgeistes: Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde. Wien: Deuticke

11Frankl, V. E. (2018). Psychotherapie für den Alltag: Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde. Freiburg/Br.: Herder, 47

12Linville, P. W., Fischer, G. W. & Salovey, P. (1989). Perceived distributions of the characteristics of in-group and out-group members: Empirical evidence and a computer simulation. In: Journal of Personality and Social Psychology, 57 (2), 165; Struch, N. & Schwartz, S. H. (1989). Intergroup aggression: Its predictors and distinctness from in-group bias. In: Journal of Personality and Social Psychology, 56 (3), 364.

13Johnson, J. J. (2010). Beyond a shadow of doubt: The psychological nature of dogmatism. In: International Journal of Interdisciplinary Social Sciences, 5 (3)

14Allers, R. (1963/2008). Abnorme Welten. Ein phänomenologischer Versuch zur Psychiatrie. Hrsg., kommentiert und eingeleitet von Batthyány, A. Weinheim/Basel: Beltz, 143

15Vgl. dazu die Kapitel „Viel Bildschirmzeit – wenig Empathie“ und „Vorbild und Beeinflussbarkeit“ in Lukas, E. (2018). Auf den Stufen des Lebens. Bewegende Geschichten der Sinnfindung. Kevelaer: topos premium

16Während anfangs noch eine gewisse Vorsicht beim Suchtmittelkonsum waltet, verliert sich diese immer mehr, weil die sukzessive Abhängigkeit einen häufigeren Konsum und/ oder eine laufende Dosissteigerung erfordert. Das nennt man „Toleranzverlust“. Der suchtmittelfreie Zustand wird vom Organismus immer weniger und schlechter „toleriert“.

17Vgl. dazu: Spitzer, M. (2015). Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München: Droemer

18Frankl, V. E. (1982). Der leidende Mensch. Bern: Hans Huber (2. Auflage), 197f.

19Diesen Gedankengang gipfelte Frankl in seiner imperativen Maxime auf: „Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen – im Begriffe bist.“

20Batthyány, A. (2019). Die Überwindung der Gleichgültigkeit. Sinnfindung in einer Zeit des Wandels. München: Kösel (2. Auflage), 53f.

21Frankl, V. E. (2010). Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten. Weinheim: Beltz, 22f.

II. ZUR PSYCHOLOGISCHEN BEDEUTUNG REALISTISCHER MENSCHENBILDER

1. UNSER SELBSTBILD UND SEINE AUSWIRKUNGEN

Batthyány: Wir sprachen zuletzt von der Not als Lehrmeister … es gibt aber auch noch andere und weitaus weniger glaubwürdige Lehrmeister, die unser Welt- und Menschenbild jedoch maßgeblich prägen. Es sind Lehrmeister, denen zugleich oft viel mehr und lieber Gehör geschenkt wird als der eigenen Not oder der Not der anderen. Ich denke da insbesondere an die Rolle der Wissenschaft, vor allem auch der Psychologie, bei der Prägung unseres Menschenbilds.

Wir beobachten ja in den letzten Jahren eine erneut entfachte breite Diskussion über die Grundfragen und das Wesen des Menschseins, wie sie in dieser Intensität vielleicht zuletzt zu Zeiten Darwins oder Freuds stattgefunden hat. Diese Entwicklungen hängen eng zusammen mit den Fortschritten der Neurowissenschaften, vor allem aber auch ihrer Popularisierung und Vereinfachung auf einen blanden Materialismus und Determinismus durch die populärwissenschaftlichen und Massenmedien. Auf die Materialismusdebatte brauchen wir hier jetzt nicht einzugehen – das würde ein eigenes Buch füllen und auf uns warten ja noch viele andere Themen, die besprochen werden wollen. Diejenigen, die sich für das Materialismusproblem interessieren und zu diesem Themengebiet nach Antworten suchen, finden aber ohnehin bereits eine Menge hervorragender Abhandlungen zu diesem Thema.22

Aber zum Determinismus gibt es einiges zu sagen – auch deswegen, weil es dazu einige empirische Befunde gibt, die uns in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen interessieren sollten. Sie belegen nämlich erstens den starken und direkten Zusammenhang zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir über uns und den Menschen denken und glauben – bzw. ihm und uns zutrauen. Zweitens zeigen sie aber auch, dass ein doch erheblicher Teil unseres Verhaltens durch unsere Einstellungen änderbar ist. Und drittens – etwas weiter gedacht – zeigen sie daher auch: Wenn Einstellungen dauerhaft änderbar sind, ist auch Verhalten dauerhaft änderbar. Das ist vielleicht auch für all jene eine gute Botschaft, die sich immer wieder das Versprechen abnehmen, „von jetzt an anders zu handeln“, dann aber doch immer wieder rückfällig werden und nach einer Weile feststellen müssen, dass der bloße Vorsatz, etwas von nun an anders zu machen, noch lange nicht ausreicht, um diesen Vorsatz auch wirklich tätig umzusetzen. Die Forschung zeigt ebenso wie die Lebenserfahrung der wohl meisten: Eine zusätzliche Zutat ist vonnöten – und diese Zutat scheint nun ganz grundlegend die jeweilige Einstellung zu sein, und hierbei vor allem unser Selbst- und Menschenbild: Ermutigt es uns, frei und proaktiv von unseren Möglichkeiten Gebrauch zu machen – oder entmutigt es uns und stempelt es uns zum Opfer unserer inneren und äußeren Bedingtheiten ab?

Um das konkreter auszuführen: Jemand, der sich und sein Verhalten für weitgehend abhängig von Innen- und Außenzuständen betrachtet, wird vermutlich gar nicht erst – oder weniger intensiv – versuchen, seinen Bedingtheiten gegenüber Stellung zu beziehen.23 Das klingt nun zunächst sehr einfach und naheliegend – aber wie eng dieser Zusammenhang wirklich ist, belegen einige Experimente über die Wechselwirkung von Selbstbild und Handeln, die von Verhaltensforschern in den letzten Jahren durchgeführt worden sind.