Die Welt neu bewerten - Alexander Dill - E-Book

Die Welt neu bewerten E-Book

Alexander Dill

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Beschreibung

Haben wir bisher die Welt und ihre Länder falsch bewertet? Mit seinem Streifzug durch zahlreiche Kulturen und Länder zeigt Alexander Dill, wie verzerrt, ja manipulierend die international führenden Kennzahlen wie das BIP – aber auch Alternativen, wie der Human Development Index – die Länder der Welt und ihre jeweilige Kreditwürdigkeit bisher eingeschätzt haben. Bevorzugt wurden und werden die finanzstarken Hauptschuldner, während die Länder des Globalen Südens oftmals leer ausgehen. Legte man Normen wie Solidarität, Ver-trauen, Hilfsbereitschaft und das Sozialklima als Maß für die Kreditwürdigkeit einer Gesellschaft an, sähen die Rankings jedoch ganz anders aus und viele Länder könnten der Armutsfalle entfliehen. Ein fulminantes Plädoyer für eine Neubewertung der Welt nach sozialen Kriterien, die geeignet erscheint, zahlreiche Krisen und Konflikte zu überwinden.

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Alexander Dill
Die Weltneu bewerten
Warum arme Länder arm bleibenund wie wir das ändern können
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2017 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Susanne DarabasKorrektorat: Maike SpechtUmschlaggestaltung: Andrew Corbett DesignSatz: Markus Miller, München
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96006-186-1

Inhalt

Kleine Gebrauchsanweisung zur Lektüre
Einleitung Materielle Maßstäbe überwinden
1. Einblicke in die Geschichte der Weltbewertung
2. Kennen Sie Jamhuri ya Muungano wa?
3. Wir sind alle Weltbewerter
4. Gängige Praxis der Weltbewertung
5. Christliches Abendland – islamisches Morgenland?
6. Bewertungssysteme auf dem Prüfstand
7. Die Bewertungstricks der internationalen Indizes
8. Die Lüge der Armutsbekämpfung
9. Warum in Asien so viel Vertrauen herrscht
10. Der unfähige Lehrmeister – wie die USA ihre Führungsrolle in der Modernisierung der Gesellschaft verloren
11. Unter Weltbewertern – eine Reportage
12. Vom Ozonloch zum Bruttosozialloch
13. Warum wir Verschiedenes messen sollten statt Gleiches
14. Auch Länder freuen sich über Lob
15. Sozialkapital: eine stabilere Währung
16. Vom Nationalen ins Lokale?
17. Nullzinsen als Erlösung
18. Die Welt neu bewerten
Statt eines Epilogs Weltfinanzamt statt Weltregierung – eine Utopie aus dem Jahr 2027
Danksagung
Über den Autor
Literaturempfehlungen

Kleine Gebrauchsanweisung zur Lektüre

Die tägliche Diskussion von Nachrichten aus fremden Ländern und Kulturen macht uns alle zu Weltbewertern am Küchentisch. Allerdings liegen wir mit unseren Ferndiagnosen zu Armut, Umweltzerstörung, Kriegen und Flucht oft falsch. Bei der Lektüre dieses Buches sehen wir, dass auch die vermeintlichen Experten in der Regel den gleichen Bewertungsfehler machen, der in der Psychologie »Bestätigungsfehler« (engl.: confirmation bias) genannt wird: Wir suchen uns solche Fakten aus, die unsere bereits feststehende Annahme bestätigen. Die Experten, die in weltweiten Ranglisten etwa »menschliche Entwicklung« und »sozialen Fortschritt« begutachten, tun dies nach vorher feststehenden Normen und Kriterien. Das Ergebnis sind Charts, in denen stets die gleichen Staaten in allen Aspekten an der Spitze stehen.
Dieses Buch versucht nachzuweisen, dass die bisherigen Bewertungen insbesondere durch die Übergewichtung des Bruttosozialproduktes (bzw. des BIP) dazu führen, dass reiche Länder reich bleiben und arme Länder arm, weil erstere immer mehr Schulden aufnehmen können und damit die Mittel erhalten, die arme Länder dringend für das Erreichen der UN-Nachhaltigkeitsziele und damit die Überwindung von Armut, Umweltzerstörung und Krieg benötigen.
Dabei geht es nicht in erster Linie um die Frage, wie gerecht oder objektiv Einschätzungen ganzer Länder sind, sondern darum, wie die Ergebnisse von den Menschen dort selbst beeinflusst werden können: Soziale Einstellungen wie Vertrauen, Solidarität oder Hilfsbereitschaft kann man fördern. Die Lizenz zur BIP-Steigerung durch Gelddrucken besitzen aber nur wenige Staaten.
Ein Kind, das in der Schule immer nur schlechte Noten erhält, wird sich damit schwertun, Selbstbewusstsein zu gewinnen und seine Stärken zu entdecken. Mehrere Abschnitte in diesem Buch beschäftigen sich daher mit der Grundlage von Bewertungssystemen. Wem nützen die gängigen Bewertungssysteme? Wer wird dabei benachteiligt?
In weiteren Kapiteln, etwa in »Unter Weltbewertern« und »Die Bewertungstricks der internationalen Indizes«, biete ich Einblicke in die kleine Szene der Weltbewerter. Dabei wird erstmals auch eine »Bewertung der Bewertung« vorgestellt, die zum Erscheinen dieses Buches auch als Onlinedatei veröffentlicht wird: www.commons.ch/deutsch/dieweltneubewerten.
So kritisch man die bisherigen Bewertungen sehen mag – was sind die Alternativen? Grundsätzlich wird an Beispielen aus Ergebnissen des UN-SDG-Projektes World Social Capital Monitor gezeigt, dass Städte, Regionen und Länder unterschiedliche Stärken haben, weshalb diese in den Vordergrund gerückt werden sollten. Rechenbeispiele beweisen, wie wenig ein direkter Geldtransfer zu den Ärmsten kosten würde. Bereits die Hälfte der jährlichen deutschen Neuverschuldung würde ausreichen, um in ganz Afrika das Einkommen der Ärmsten über den Satz von 1,90 Dollar pro Tag zu heben.
Sind Sie Deutscher, Skandinavier, Amerikaner oder Schweizer? Dann können Sie die Lektüre dieses Buches ohne Sorge beginnen. Ihre Länder sind nämlich nicht nur im UN-Index im Bereich »menschliche Entwicklung« ganz weit oben, sondern auch in allen anderen. Sie sind also offiziell beglaubigtes Mitglied eines Winning Team.
Weniger erb aulich fällt die Lektüre für Afghanen, Russen, Syrer, Chinesen und die Bewohner von 140 weiteren der etwa 193 Staaten aus. Diese leben angeblich in Ländern und Kulturen, denen von den Bewertern – die übrigens ausnahmslos aus den Siegerländern USA, Kanada, Australien, Großbritannien, Deutschland und der Schweiz stammen – »geringer sozialer Fortschritt« bescheinigt wird, wie beispielsweise im Social Progress Index angeführt.
Wie ist es möglich, dass Riesenreiche wie China und Indien und der ganze Kontinent Afrika in der Schulklasse der Weltbewerter zu Sitzenbleibern werden?
Wir werden uns hier mit Bewertungssystemen, ihrer Geschichte und ihren Auswirkungen beschäftigen. Dabei entstehen einige teilweise unangenehme Fragen:
Wem nützen Schulnoten, Umweltplaketten, Energieausweise und Bilanzierungsstandards? Wer sind die Player in der Bewertung der Länder dieser Welt? Wie biased (verzerrt) sind unsere eigenen Wertmaßstäbe?
Im Nachtrag zu Thesen verschiedener Kollegen wie Sloterdijk, Graebner, Sedláček, Stiglitz und Piketti, die die Bedeutung von Schulden für Politik und Wirtschaft untersuchten, werden erstmals neue Bewertungen von Städten und Ländern vorgestellt. Diese stammen aus dem UN-Projekt World Social Capital Monitor, mit dem in 35 Sprachen weltweit sogenanntes Sozialkapital bewertet wird. Damit sind lokale soziale Güter wie Solidarität, Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Gastfreundschaft gemeint. Diese sind auch in Regionen mit Armut und Krieg zu finden – die bisher fast ausschließlich aufgrund ihres Pro-Kopf-Einkommens bewertet und ans Ende der Tabelle verbannt werden.
Wie sollen aber die UN-Nachhaltigkeitsziele zur Überwindung von Armut (Ziel 1) und Krieg (Ziel 16) erreicht werden, wenn alle Faktoren der Nachhaltigkeit von einem fiktiven Bruttosozialprodukt abhängen, das seit der Finanzkrise mit der Ausgabe von Staatsanleihen beliebig gesteigert werden kann – zumindest für die reichen Nationen?
Sozialkapital ist eine Antwort auf die Frage, ob und wie die Welt anders bewertet werden kann. Bereits drei Nobelpreisträger, Amartya Sen, Joseph Stiglitz und Elinor Ostrom, haben versucht, in UN, EU und Weltbank eine Berücksichtigung von Sozialkapital zu erreichen. Während der Bewertungsmaßstab »Bruttosozialprodukt« es wenigen Staaten ermöglicht, immer höhere Schuldenberge aufzuhäufen, sind viele Krisen- und Konfliktländer von den Segnungen der Nullzinsen abgeschnitten. Dabei böten gerade Nullzinsen die Möglichkeit, den Ärmsten zu Grundeinkommen, Sicherheit und regionaler Wertschöpfung zu verhelfen.
Instrumente zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele – etwa innovative regenerative Energietechnik und Nullzinsen – sind längst vorhanden. Bisher werden sie aber vor allem dafür verwendet, den Reichtum der Reichen zu erhöhen. Nicht das System ist ineffektiv: Es wird falsch angewendet. Mit Blick auf das Sozialkapital der unterschiedlichen Kulturen, Länder, Regionen und Städte wird deutlich, dass die großen Probleme der Gegenwart nur mit sozialen Gütern wie Vertrauen, Solidarität und Hilfsbereitschaft gelöst werden können. Deren Aufwertung ist das Anliegen dieses Buches.
Wie Sie nun die Lektüre des Buches angehen, ob klassisch von vorne nach hinten oder ob Sie von Kapitel zu Kapitel springen (was möglich ist, weil jedes für sich selbst funktioniert), sich von der einen oder anderen Überschrift neugierig machen lassen, sei ganz Ihnen überlassen. Mit anderen Worten: Mit der Lektüre des Buches kann man im Grunde genau das machen, was hier auch für die Beurteilung von Ländern vorgeschlagen wird: Man orientiert sich an den Stärken. Die Schwächen wird man trotzdem sehen.

EinleitungMaterielle Maßstäbe überwinden

»Ich stimme jeder Bewertung gerne zu – wenn ich dabei selbst gut abschneide« – diese heimliche Devise gilt für alle Formen der Bewertung, seien sie rein privat, geschäftlich, politisch oder eben »wissenschaftlich« motiviert.
Es ist deshalb verständlich, dass bisher selbst in scheinbar wissenschaftlich fundierten Länderbewertungen die Staaten an der Spitze liegen, aus denen diese Bewertungen stammen. Der Wunsch nach einer gerechten, objektiven Bewertung begleitet alle Bewertungssysteme, findet jedoch nur selten Berücksichtigung.
Die meisten, einst als objektive Maßstäbe konzipierten Bewertungskriterien wurden im Laufe ihrer Einführung umgangen und manipuliert. Olympische Spiele, 1880 von Pierre de Coubertin der Völkerverständigung gewidmet, gerieten zur Werbefläche von Sponsoren. Die meisten Sieger verdanken ihre Medaillen von Sponsoren finanzierten legalen und illegalen Dopingsystemen. Abgasnormen wurden durch Softwareprogramme umgangen, CO2-Bilanzen durch Hinzufügen und Weglassen von CO2-Quellen geschönt. Ratingagenturen bewerteten bankrotte Unternehmen und Staaten mit der Höchstbewertung AAA. Das Völkerrecht, aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges 1945 in der UN-Charta vereinbart, gilt nicht, wenn Mitglieder des Weltsicherheitsrates ihr Veto einlegen oder selbst der Verletzung überführt werden. Es ist deshalb keine Überraschung, dass auch die hier vorgestellten Bewertungssysteme für Länder nach Kriterien erfolgen, die manche Länder immer und grundsätzlich bevorzugen, andere benachteiligen.
2016 haben die 193 Mitgliedsstaaten der UN einen neuen Anlauf gestartet, 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, abgekürzt SDG) zu erreichen, unter ihnen die Überwindung von Armut, Umweltzerstörung und Krieg. Da der Stand der Erreichung dieser Ziele erstmals in einem umfangreichen Audit gemessen werden soll, stellt sich weltweit eine nie gekannte Frage: Wie sollen künftig Staaten und Regionen bewertet werden?
Mit dem von mir geleiteten UN-Partnerschaftsprojekt mit der Nummer 11706 in den Nachhaltigkeitszielen der UN stehe ich buchstäblich an der Front im Kampf um die Bewertung, denn der World Social Capital Monitor erlaubt erstmals den Bürgern selbst, ohne Beschränkung und anonym ihre Orte, Regionen und Länder zu bewerten. Open Access (offener Zugang) – das ist in der hermetisch geschlossenen Welt der Bewertungslobbyisten eine nicht anerkannte und damit auch nicht zugelassene Form der Länderbewertung. Die berechtigte Befürchtung: Länder, die bisher in allen Indizes an der Spitze stehen, könnten unerlaubt schlecht bewertet werden, denn im World Social Capital Monitor werden nur acht Punkte bewertet: das lokale soziale Klima, Vertrauen unter den Menschen, die Bereitschaft zur Mitfinanzierung öffentlicher Güter (zweimal), die Bereitschaft zur Investition in lokale Genossenschaften und kleine Unternehmen, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Gastfreundschaft.
Mit diesen Bewertungskriterien ist natürlich die Annahme verbunden, diese sozialen Güter könnten bei der Umsetzung der UN-Ziele helfen, sind sie doch Indikatoren für jede Art von sozialem Fortschritt. Dies sah auch eine Arbeitsgruppe für Sozialkapital in der Weltbank von 1997 bis zum Jahre 2004 so. In diesem Jahr wurde sie allerdings aufgelöst. »Wir hatten einfach das Gefühl, genug getan zu haben«, teilte mir Michael Woolcock, der Leiter der Arbeitsgruppe, kürzlich mit. Heute stemmen sich die Weltbanker energisch gegen diese, nein, gegen jede neue Art der Bewertung.
Wer die damaligen Papiere von Nobelpreisträgern wie Amartya Sen (84), Elinor Ostrom (gestorben 2012) und Joseph Stiglitz (73) liest, die in der Arbeitsgruppe mitwirkten, könnte den Eindruck gewinnen, es habe eine Debatte um die Bewertung der Welt gegeben. Tatsächlich handelte es sich aber nur um Gutachten und Arbeitspapiere, die die sogenannten Entscheider in der Weltbank, der UN, der OECD, dem IWF, der EU und in den nationalen Regierungen nie erreicht haben. Weltbewertung wird bis heute als ein Expertenthema angesehen, eine wirkliche Relevanz wird ihr nicht beigemessen.
Dabei hängen die großen internationalen Probleme sehr weitgehend von der Bewertung ab: Wie soll etwa eine Energiewende finanziert werden, wenn nur wenige Staaten Kredite zu Nullzinsen aufnehmen dürfen? Wie soll Frieden herrschen, wenn die Vertriebenen und Besetzten nicht auf die Solidarität anderer Völker bauen können? Die Externalitäten – das sind insbesondere Kosten für Krieg und Umweltzerstörung – in Billionenhöhe betragen ein Vielfaches der jährlichen Welt-Entwicklungshilfe in Höhe von lächerlichen 137 Milliarden Dollar. Auch die viel geschmähte Weltbank verleiht pro Jahr gerade einmal 47 Milliarden Dollar – dies ist nicht einmal ein Viertel dessen, was alleine Deutschland jedes Jahr an neuen Krediten aufnimmt.
Es geht bei der Bewertung von Ländern bislang in erster Linie um den Zugang zu Finanzen – diese Einsicht zeige ich am Beispiel der dafür erfundenen Bewertungsform, dem Bruttosozialprodukt.
Es ist eine sportliche Aufgabe und Leistung, andere Kriterien als die angebliche Wirtschaftsleistung zu finden und anzuwenden. Da wir alle am Küchentisch Weltbewerter sind, können wir uns spielerisch in der Neubewertung üben. An Beispielen wie Tansania, Russland, Afghanistan und Syrien zeige ich, dass Länder oft zu Unrecht abgewertet werden, während gleich zwölf Steueroasen noch immer internationale Ranglisten anführen. So leicht es ist, Länder moralisch zu bewerten – was zu der oft völlig verzerrten Bewertung von islamischen und afrikanischen Ländern führt, denen man pauschal Korruption und Gewalttätigkeit unterstellt –, so schwer ist es, Länder von den eigenen Bewohnern bewerten zu lassen. Der Satz »Jeder Mensch ist ein Künstler«, den Joseph Beuys auf der documenta 1972 aussprach und der heute den Kunstbegriff in vielen Ländern prägt, lässt sich auch auf die Weltbewertung anwenden: »Jeder Mensch ist ein Weltbewerter.«
Die Organisationen und Staaten, die sich gegen solche Bewertungen stemmen, verteidigen ihre Bewertungskriterien nicht mit Argumenten, warum etwa Freundlichkeit und Solidarität keine ernst zu nehmenden Indikatoren sind, sondern ausschließlich damit, dass diese Bewertung »nicht vorgesehen« sei. Es funktioniert deshalb auch keine Überzeugungsarbeit. Der Status quo ist heilig und unantastbar – nur so lässt sich erklären, dass selbst Nobelpreisträger abgewimmelt und abgeschoben wurden.

Kapitel 1Einblicke in die Geschichte der Weltbewertung

Die Welt wird bewertet, seitdem sie als Welt erkannt wurde: »Und siehe da, es war sehr gut«, lobt Gott selbst seine im ersten Buch Mose geschilderte Schöpfung. Das umfassende und uneingeschränkte Lob der Welt und ihrer Schöpfer war wesentlicher Inhalt der frühen Naturreligionen. Man dankte Sonne und Mond, den Meeres- und Fruchtbarkeitsgöttern und den Sternen.

Bewertungsmaßstäbe ändern sich

Die Werthaltigkeit einzelner Weltgegenden änderte sich im Verlauf der Geschichte oft. Wer spricht heute noch vom einst gerühmten Reichtum des Zweistromlandes, früher Mesopotamien genannt? Heute ist es trotz (oder wegen?) großer Ölvorkommen eine verwüstete Kriegszone, aus der viele Menschen in den Norden Europas flüchten. In Südamerika vermuteten die Spanier und Portugiesen die sagenhaften Goldschätze des Eldorado. Und Bolivien, aus dem seinerzeit ein Großteil der jährlich etwa 220 Tonnen Silber nach Europa verschifft wurde, gilt aktuell als Entwicklungsland.
Wenn man Länder noch heute nach dem Umfang ihrer Goldförderung bewerten würde, läge die Volksrepublik China mit 450 Tonnen im Jahr auf Platz eins. Nennenswerte Goldvorkommen gibt es noch in Russland, den USA, Australien und Brasilien. Aber Gold insgesamt macht nur noch einen winzigen Teil des Weltreichtums aus. Seit den ersten Goldfunden in Bulgarien ca. 4500 vor Christi wurden insgesamt ca. 170 000 Tonnen Gold gefördert. Bei einem Kilogrammpreis von 30 000 Euro wäre das gesamte Gold der Welt somit 5,1 Billionen Euro wert – und damit weniger als das private Geld- und Grundvermögen der Deutschen.
Dennoch empfehlen Goldpropheten nach wie vor das private Horten von Gold mit der Begründung, im Krisenfall sei Gold immer wertvoll. In Japan wird ein erheblicher Teil der Altersversorgung im größten Pensionsfonds der Welt, dem Government Pension Investment Funds (GPIF), gebündelt. 200 Billionen Yen (830 Milliarden Euro) lagen 2014 in dem Fonds. Der Fonds investiert überwiegend in japanische Staatsanleihen. In vielen Statistiken wird Japan als das am höchsten verschuldete Land der Welt geführt. Aber die Anleihen gehören zu 90 Prozent den Japanern und ihren eigenen Pensionsfonds, Banken und Versicherungen.
Was sollen diese beiden Beispiele zeigen?
Buchstäblich alles Gold der Welt hat Spanien und Portugal im 17. Jahrhundert nicht dabei geholfen, ihre Vormachtstellung zu behalten. Am Ende verloren beide Länder ihre Kolonien und spielten global keine politische und wirtschaftliche Führungsrolle mehr. Heute sind sie hoch verschuldet, und viele junge Menschen verlassen ihr Land, um in reicheren Gegenden Europas Arbeit und Zukunft zu finden.
Ganz anders Japan: Obwohl Japan eine Naturkatastrophe und einen Atomunfall hinter sich hat, obwohl der digitale Strukturwandel die japanische Industrie empfindlich geschädigt und die japanische Börse nie wieder ihren Höchststand von 40 000 Punkten erreicht hat, konnten die Japaner ihre innere Stabilität bewahren und immer wieder erfolgreich alte Staatsanleihen durch neue ersetzen. Die Japaner haben nämlich ein eigenes System der Bewertung entwickelt, das sie von fremden Märkten und Währungen relativ unabhängig macht.
Das war nicht immer so: Bis 1971 war der Kurs eines Yen auf 360:1 zum Dollar festgelegt. Nachdem die USA 1971 den Goldstandard hatten aufgeben müssen, weil ihre Währung nicht mehr durch ausreichende Goldreserven gedeckt werden konnte, konnten die Japaner zunächst mit günstigen Preisen ihre Ausfuhr ankurbeln. Japanische Autos, Kameras und Elektrogeräte wurden zum ersten Symbol für fernöstliche Billigprodukte. Doch heute steht der Yen bei etwa 128:1 zum Euro. Japanische Produkte sind alles andere als Dumping-Produkte, sondern stehen inzwischen für Hochwertigkeit und Langlebigkeit. Die Immobilien und Aktien im rohstoffarmen und hoch verschuldeten Japan sind heute wertvoller als alle Immobilien Spaniens, Portugals, Mexikos und Boliviens zusammen.
Was ist geschehen? Die Bewertungsstandards haben sich verändert.
Die Geschichte der Völker und Nationen ist zugleich die Geschichte von sich ändernden Maßstäben für das, was als wertvoll angesehen wird. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass die schuldenfinanzierten Prunkbauten von Erzbischöfen, Königen und Kaisern ein paar Hundert Jahre später zu weltweit gefragten Tourismusmagneten werden würden? Dass scheinbar ertraglose Sümpfe, Berge und Wälder auf einmal Assets im Standortwettbewerb für Industrieansiedlung und Tourismus sein und die Alpen zum reichsten Gebiet der Erde machen würden? Dass die einst von den römischen Kolonisatoren belächelten Fluss- und Waldsiedlungen an Rhein und Donau, etwa Basel, Wien und Köln, seit Jahrzehnten die Spitzengruppe im Weltreichtum anführen? Im Winter ungenutzte Almen wurden zu Skigebieten, karge und unzugängliche Felsstrände, an denen kein Boot anlegen konnte, zu Badeparadiesen. Bergsteiger drängen auf Vulkane, Surfer zieht es zu entlegenen Stränden, Kajakfahrer in wilde Stromschnellen – all diese Vorlieben verändern die Bewertung.
Die deutschen, österreichischen, Schweizer und französischen Kurorte, in deren schattigen Parks mit angeschlossenen Inhalationsanlagen sich einst lungenkranke Großstädter tummelten, sind verwaist. Als wertvollste Wohngegenden in Deutschland gelten Grundstücke mit Seeblick an Nordsee, Elbe und Starnberger See, an denen noch vor hundert Jahren überwiegend Fischer und Seeleute ihr ärmliches Dasein fristeten.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche beobachtete Ende des 19. Jahrhunderts ein »Wertloswerden aller Werte«, das als Nihilismus und Verneinung aller überlieferten Werte nicht nur unter Intellektuellen diskutiert wurde.
Bewertungskriterien im Wandel der Geschichte
Quelle: Basel Institute of Commons and Economics 2016
Die großen Massenbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg, der Kommunismus in Lenins Russland, der Faschismus in Italien und Deutschland verstanden sich als Umwertungen aller Werte, als Aufstand gegen die aus damaliger Sicht überkommene Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts. Wirtschaftstheoretiker wie der 1939 in die USA emigrierte Wiener Joseph Schumpeter sahen die Chance für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt in einer »schöpferischen Zerstörung«. Damit meinte Schumpeter auch die Übernahme und Konzentration von Pionierbetrieben der Industrie. Tatsächlich blieb von den in Emile Zolas Roman Das Geld beschriebenen 150 börsennotierten französischen Eisenbahngesellschaften des 19. Jahrhunderts nur eine einzige übrig, nämlich die staatliche Société nationale des chemins de fer, abgekürzt SNCF. Die von Schumpeter beobachtete börsenfinanzierte Fusionierung von US-Unternehmen etwa zu US Steel und General Electric oder die IG Farben in Deutschland symbolisierten den ständigen Strukturwandel des Kapitalismus.
Als der deutsche Softwarepionier Andreas von Bechtolsheim 1998 als einer der Ersten 100 000 Dollar Kapital in Google investierte, gab es bereits mehrere konkurrierende Suchmaschinen wie Fireball, Lycos, Yahoo und Ask Jeeves. Dass Google einmal 90 Prozent der deutschen Suchanfragen beantworten würde, konnten damals weder die Google-Gründer noch ihr mutiger Investor wissen. Heute gilt Google als das wertvollste Unternehmen der Welt.
Ob Gold, Staatsanleihen oder Aktien – Bewertungen sind eine flüchtige und fragile Angelegenheit. Aus diesem Grunde möchten sowohl der Käufer als auch der Verkäufer eines Wertes die Bewertung in ihrem Sinne beeinflussen. Bei einem Gebrauchtwagen oder einer Immobilie können wir das täglich erleben. Für Gebrauchtwagen gibt es die sogenannte Schwacke-Liste, und Immobilienportale veröffentlichen die durchschnittlichen Preise pro Quadratmeter für jeden Ort. In der Verkaufsverhandlung versucht der Käufer, durch das Feststellen von vermeintlichen oder tatsächlichen Mängeln den Kaufpreis zu drücken. Der Verkäufer dagegen wählt oft eine andere Strategie: Er behauptet, es gebe bereits einen anderen Käufer, der bereit sei, den geforderten Preis oder mehr zu bezahlen.
Der US-Ökonom Joseph Stiglitz erhielt für die Erforschung und Beschreibung dieses Phänomens als »Asymmetrische Information« 1999 den Wirtschaftsnobelpreis. Der Kaufpreis sagt demnach nichts über die Eigenschaften, Risiken und Chancen eines Produktes aus. Er ist willkürlich. Stiglitz meinte damit überwiegend Finanzprodukte wie Aktien und Anleihen. Aber auch am Beispiel einer Biobutter einer regionalen Molkerei können wir das Phänomen erfassen: Wir sind so lange bereit, den höheren Preis von 2,50 Euro für 250 Gramm zu bezahlen, wie wir auf die Eigenschaften der Biobutter, also nachhaltige, schadstoffarme Produktion aus humaner Tierhaltung, vertrauen. Wenn wir erfahren, dass in Biobutter 15 Prozent Palmöl verarbeitet werden, streichen wir sie von unserer Einkaufsliste. Wir kaufen Biobutter, weil sie glaubwürdig einen Mehrwert verkörpert und bietet.

Territorien und Staaten im Wettbewerb

Die bisherigen Beispiele stammten v. a. aus Bereichen, wo die Bewertung direkt oder indirekt mit Finanzprodukten verknüpft ist, etwa mit Gold, Staatsanleihen und Aktien.
Seit 22 Jahren, genau seit 1995, werden nun auch Staaten überwiegend wie Finanzprodukte bewertet. Seit diesem Jahr wurde international das System of National Accounts, abgekürzt SNA, zur Bewertung staatlicher Volkswirtschaften vorgeschrieben. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ist der bekannteste Messwert dieses Systems – und bereits dieser Messwert unterliegt zahlreichen Manipulationsmöglichkeiten. So befinden sich unter den ersten 20 Staaten mit dem höchsten Pro-Kopf-Umsatz gleich zehn Kleinstaaten, nämlich Katar, Liechtenstein, Luxemburg, Singapur, Bahrain, San Marino, Kuwait, Brunei, die Emirate Dubai und Abu Dhabi. Aus San Marino, der angeblich seit dem Jahre 301 bestehenden ältesten Republik der Welt, sind keinerlei Produkte oder Dienstleistungen bekannt, die ihren hervorragenden achten Platz erklären könnten. Aber noch 2010 hatten 29 158 Italiener ihren Steuersitz in dem kleinen Land. Erst am 15. Dezember 2015 unterzeichnete San Marino ein Steuerabkommen mit der Europäischen Union, also auch mit der Republik Italien. Man muss nicht investigativer Journalist sein, um zu erraten, dass das hohe Pro-Kopf-Einkommen vor allem aus der Verwaltung von Kapitalanlagen aus dem benachbarten Italien resultierte. Noch eindeutiger fällt die Bewertung des Pro-Kopf-Einkommens 2014 durch die Central Intelligence Agency (CIA) aus: Da finden sich unter den Top Ten auch die Isle of Man, Jersey, Bermuda, Monaco und das zum Königreich der Niederlande gehörende Eiland Sint Maarten.
Man könnte die Botschaft dieser Bewertungsmethode auch so formulieren: Am erfolgreichsten sind Staaten, die weder produzieren noch Rohstoffe besitzen, noch Patente anmelden, sondern die sich ausschließlich mit der Verwaltung der Vermögen von Bürgern anderer Staaten beschäftigen. Am besten läuft also eine Offshorebank. Erinnert das nicht ein bisschen an die kurze Boomzeit der großen Piraten im 18. Jahrhundert, die auf Kaperfahrten die aus den Kolonien zusammengerafften Schätze der Spanier, Franzosen und Briten plünderten? Aber ist es statthaft, gewachsene Kulturen, Völker und Länder auf diese Art zu bewerten?
Der Gedanke, Kulturen, Regionen oder Nationen überhaupt in Form einer Rangliste miteinander zu vergleichen, ist historisch sehr neu und eine Folge der neuen Nationalstaaten, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Die König- und Kaiserreiche, wie etwa das britische, russische, österreichisch-ungarische und preußische, stellten allenfalls Vergleiche über Ausrüstung und Umfang des gegnerischen Militärs an. Doch als Alleineigentümer des Landes war ein König oder Kaiser niemandem Rechenschaft schuldig. Seine Erfolge bestanden in gewonnenen Schlachten. So gab Kaiser Napoleon I. 1806 zur Verherrlichung seines Sieges in der Schlacht von Austerlitz den Arc de Triomphe in Auftrag. Es sollte 36 Jahre dauern, bis dieser fertiggestellt wurde. Nach seiner Vollendung wollten die Briten im Wettbewerb der Monumente nicht zurückstehen und setzten dem Sieger der gewonnenen Schlacht von Trafalgar von 1805, Admiral Nelson, ebenfalls ein Denkmal. Die Nelson’s Column am Trafalgar Square gilt seitdem als eine der Sehenswürdigkeiten Londons. Im Gegensatz dazu verkörperte die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, das einmal Friedenstor hieß, den Einzug des Friedens nach dem Krieg. Die siegreiche Armee Napoleons nahm die Quadriga 1806 einfach mit. Sie wurde erst 1814, mit dem Sieg über Napoleon, wieder nach Berlin zurückgebracht. Das Friedenstor im Zentrum der Stadt, das bis 1918 nur von der kaiserlichen Familie und deren Gästen genutzt werden durfte, hinderte die Berliner Regenten nicht daran, gleich dreimal, 1870, 1914 und 1940, erneut gegen den französischen Nachbarn in den Krieg zu ziehen.
Weitere beliebte Formen des Wettbewerbs zwischen Königreichen waren Schlösser. So bemühten sich zahlreiche Herrscher darum, Schloss und Garten des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. in Versailles zu kopieren, unter ihnen Friedrich II. von Preußen mit Schloss Charlottenburg.
Erst mit der ersten Weltausstellung, die der englische Prinz Albert 1851 in London veranstaltete, verlagerte sich der Wettbewerb zwischen Königreichen und Staaten auf die Felder Wirtschaft und Technologie. Der damals im Hyde Park aufgebaute Crystal Palace aus Glas und Eisen, der später bei der Pariser Weltausstellung 1889 errichtete Eiffelturm und das 1958 in Brüssel vorgestellte Atomium verkörperten den Wunsch, mit einem außergewöhnlichen Bauwerk weltweit Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis zu stellen – ein Prinzip, das sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzen sollte, etwa in der Weltraumfahrt.

Kapitel 2Kennen Sie Jamhuri ya Muungano wa?

Fast 50 Millionen Menschen leben in einem Land namens Jamhuri ya Muungano wa. Das Land wurde erst 1961 unabhängig und ist mit 945 087 Quadratkilometern so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen. Wahrscheinlich wird kein Zuschauer der Abendnachrichten je von diesem Land oder seinen Bewohnern hören. Mir begegnete einer: an einem sonnigen Frühlingstag im oberbayerischen Städtchen Dießen am Ammersee. Dort sprach er mich auf dem weiten gepflasterten Platz vor dem beeindruckenden barocken Marienmünster an. Er wollte wissen, wo denn die Bewohner dieses Ortes seien. Ich erklärte ihm, dass die Bewohner diesen und andere Orte nur an seltenen Festtagen aufsuchen würden. Ansonsten seien sie in der Schule, vor dem Fernseher oder bei der Arbeit. »Bei uns«, sagte der überraschte Gast, »würden hier lauter Stände und Cafés sein. Alle Leute würden sich hier treffen.«
»Was machen Sie hier?«, fragte ich den Fremden. »Urlaub«, antwortete er und machte mit seiner Digitalkamera einige Fotos von dem seltsamen archäologischen Ort, der von seinen Bewohnern verlassen worden war. Wie er mir erzählte, arbeitete er in Tansania auf dem Land – als IT-Fachmann.

Von der Fehlbewertung eines Landes

Tansania, so der uns geläufigere Name des Landes, wird in einem Index der UNO, der den Namen »Index der menschlichen Entwicklung« (Human Development Index) trägt, unter 181 Ländern auf Platz 151 geführt. Hinter dem von Überschwemmungen bedrohten Bangladesch und dem von Erdbeben gebeutelten Nepal, weit hinter den Kriegsstaaten Syrien, Ukraine und Irak.
Warum schneidet das Land, das weder durch Kriege noch durch Hungersnöte und Naturkatastrophen den Weg in unsere Nachrichten findet, derart schlecht ab? Der Human Development Index misst nur drei Faktoren: die Lebenserwartung, die tatsächliche und voraussichtliche Schulzeit sowie das Pro-Kopf-Einkommen der Einwohner. In Tansania wird man im Schnitt 65,1 Jahre alt, geht neun Jahre lang zur Schule und verdient 2411 Dollar im Jahr. Dick steht auf dem Balken, der über Ländern wie Tansania schwebt, ein verheerendes Urteil »LOW HUMAN DEVELOPMENT«.
Was machen die Tansanier gegenüber Syrern, Irakern und Ukrainern falsch? Im angeblich menschlich viel höher entwickelten Südafrika werden dreimal mehr Menschen ermordet als in Tansania. 1998 kostete das einzige in Tansania je verzeichnete Attentat elf Menschen vor der US-Botschaft das Leben. Als im Juni 2012 bei einem Überfall auf ein Camp in der Serengeti neben dem Camp-Manager auch ein holländischer Tourist getötet wurde, fuhr der zuständige Minister zum Tatort und sprach der Familie des Opfers sein Beileid aus. Dorfälteste der umliegenden Dörfer wurden eingeladen, um die Schuldigen zu finden. Der Mord wurde als nationale Tragödie behandelt. Das US-Außenministerium erwähnt in seinen Sicherheitshinweisen, dass keine amerikafeindliche Gruppe in Tansania bekannt sei und es auch keine anti-amerikanischen Ressentiments gebe. Das deutsche Außenministerium warnt vor Taschendieben und betrügerischen Taxifahrern in großen Städten. Offensichtlich scheinen die jeweils 40 Prozent der Tansanier, die der christlichen bzw. der muslimischen Religion nahestehen, keine Konflikte zu haben, zu deren Austragung sie Gewalt als nötig erachten. Über 100 000 Flüchtlinge kamen laut UNHCR im Jahre 2015 aus den Nachbarländern Kongo und Burundi nach Tansania. Von Brandanschlägen gegen Flüchtlingslager, in denen bereits über 200 000 Flüchtlinge leben, von Demonstrationen gegen Überfremdung ist nichts bekannt.
Damit stellt sich die verwunderte Frage: Was gilt denn als gelungene menschliche Entwicklung, wenn nicht Frieden, Sicherheit und ein kleiner Broterwerb? Rechtfertigen ein kürzerer Schulbesuch und ein niedriges Einkommen tatsächlich die Herabstufung eines Landes? Im Nahen und Mittleren Osten haben weder ein gewisser Wohlstand noch Bildung verhindert, dass die Menschen seit Jahrzehnten in schrecklichen Kriegen ihre Länder zerstörten und Millionen fliehen mussten. Laut der Welternährungsorganisation FAO waren 2015 gleich 94 Prozent der Bevölkerung von Tansania im informellen Agrarsektor beschäftigt – und dies auch nur saisonal und in Teilzeit. Wenn man nur das Geldeinkommen betrachtet, kommt man auf die Unterschreitung des von der Weltbank gesetzten Einkommens von 1,25 Dollar pro Tag. Darunter gilt ein Land als niedrig entwickelt.

Irrungen und Wirrungen der Entwicklungshilfe

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, abgekürzt OECD, in der 35 sich selbst für »entwickelt« einstufende Staaten organisiert sind, gab kürzlich Empfehlungen heraus, um die menschliche Entwicklung in Tansania in höhere Sphären zu lenken.
Rintaro Tamaki, stellvertretender Generalsekretär der OECD, übermittelte dem tansanischen Premierminister Mizengo Pinda die Ergebnisse einer OECD-Studie. Tansania, so die Fachleute, sollte das Investitionsklima verbessern. Dies sei zwar bereits seit 1990 immer besser geworden, aber man müsse mehr Foreign Investment für die Landwirtschaft und Infrastruktur gewinnen. Zur Unterstreichung dieser Forderung erwähnte die OECD, dass die »Geber-Gemeinschaft« und die »private Wirtschaft« dies so sähen. Das friedliche, allerdings inzwischen mit 14 Milliarden Dollar verschuldete Tansania soll nun also durch Entwicklungskredite dazu gezwungen werden, seine Ländereien und Infrastruktur an fremde Investoren zu verkaufen.
In Tansania leben bereits 94 Prozent der Bevölkerung privatwirtschaftlich von den Produkten ihrer Erde – doch bedeutet »private Wirtschaft« für die OECD offensichtlich etwas anderes. »Privat« – das sind nicht die Kleinbauern, die oft ohne jeglichen Rechtstitel ihren Grund und oft nur eine Allmende bewirtschaften, sondern das sind Investoren, die in Grund investieren und »effektiveren« Anbau betreiben. So wie in Brasilien, wo Millionen Kleinbauern von ihrem Grund vertrieben wurden, damit Agrarinvestoren und Oligarchen auf ihren Ländereien Soja anbauen und Rinder züchten können. Brasilien steht unter anderem dadurch am Rande des Bankrotts, was aber die OECD nicht hindert, Tansania diesen potenziell katastrophalen Weg zu empfehlen. 2011 veröffentlichte die aus Sambia stammende Wirtschaftswissenschaftlerin Dambisa Moyo ein Buch mit dem Titel Dead Aid, in dem sie viele Formen der Entwicklungshilfe als zerstörerisch für die heimische Ökonomie beschrieb. So führe etwa die Lieferung von kostenlosen Nahrungsmitteln und Bekleidung zum Zusammenbruch der regionalen agrarischen und textilen Produktion. Afrikanische Produzenten müssen ja mit ihren Produkten zunächst in Afrika Erlöse erzielen. Mit den Geschenken der »philanthropischen« Geberstaaten werden sie jedoch verdrängt und/oder ruiniert. Ihr Buch wurde zwar auch unter dem Titel Dead Aid. Warum Entwicklungshilfe nicht funktioniert und was Afrika besser machen kann ins Deutsche übersetzt, jedoch kaum wahrgenommen und rezensiert – und das, obwohl Deutschland in der Entwicklungshilfe für afrikanische Länder hinter den USA auf Platz zwei liegt.
In den Jahren 2007 und 2008 gingen die Geldgeber dazu über, die Entwicklungshilfe für Tansania direkt in den Staatshaushalt einzuzahlen. Aufgrund der demokratischen Reformen erfolgte der Einsatz der Entwicklungshilfe nun so, dass damit Wählerstimmen gewonnen werden konnten. Warum sollte die Demokratie in Tansania anders verlaufen als bei den demokratischen »Vorbildern« USA und Großbritannien? Die durch Entwicklungshilfe geschaffenen Anreizsysteme mit der Auflage »Demokratie« führen zu einem merkwürdigen Effekt, den anglo-amerikanische Entwicklungsspezialisten als eigentlich unbeabsichtigt einstufen: 95 Prozent der Gelder für die lokalen Verwaltungen stammen nun entweder von der Zentralregierung oder von den »donors«, womit USAID und andere Entwicklungsministerien gemeint sind. Diese wiederum verbinden mit ihrer finanziellen Hilfe Forderungen nach Demokratisierung und Rechtssicherheit für ausländische Investoren sowie den Abbau von Handelshindernissen wie Zöllen, Steuern, Gebühren und Joint-Venture-Auflagen.