Die Wilden - Brüder und Feinde - Sabri Louatah - E-Book

Die Wilden - Brüder und Feinde E-Book

Sabri Louatah

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Beschreibung

Modern, politisch und knallhart - ein Roman für unsere Zeit

Nach dem Anschlag auf Präsidentschaftskandidat Idder Chaouch steht Frankreich Kopf. Der Kandidat hat knapp überlebt, doch es ist nicht sicher, ob er sein Amt jemals ausüben wird. Währenddessen erklären die Behörden Nazir Nerrouche zum Staatsfeind Nr. 1, wohl wissend, dass er nicht allein hinter dem Attentat stecken kann. Die Familie Nerrouche steht vor einer Zerreißprobe und wird von allen Seiten angefeindet. Bis Nazir, der seinen Häschern stets einen Schritt voraus ist, unvermittelt anbietet, sich zu stellen und die Hintermänner zu benennen. Er hat nur eine einzige Bedingung: ein persönliches Treffen mit Idder Chaouch.

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Seitenzahl: 562

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Zum Buch

Nach dem Anschlag auf Präsidentschaftskandidat Idder Chaouch steht Frankreich Kopf. Der Kandidat hat knapp überlebt, doch es ist nicht sicher, ob er sein Amt jemals ausüben wird. Währenddessen erklären die Behörden Nazir Nerrouche zum Staatsfeind Nr. 1, wohl wissend, dass er nicht allein hinter dem Attentat stecken kann. Die Familie Nerrouche steht vor einer Zerreißprobe und wird von allen Seiten angefeindet. Bis Nazir, der seinen Häschern stets einen Schritt voraus ist, unvermittelt anbietet, sich zu stellen und die Hintermänner zu benennen. Er hat nur eine einzige Bedingung: ein persönliches Treffen mit Idder Chaouch.

Zum Autor

Sabri Louatah, 1983 in Saint-Étienne als Sohn eines Holzfällers und einer Hausfrau geboren, lebt heute mit seiner Frau in den USA. Die Unruhen in der Pariser Banlieu Anfang der 2000er Jahre inspirierten ihn zu seinem Roman-Zyklus »Die Wilden«, der in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Zurzeit arbeitet Louatah an der TV-Adaption der Serie.

Lieferbare Titel

978-3-453-27119-7 - Die Wilden - Eine französische Hochzeit

SABRI LOUATAH

Die Wilden

Brüder und Feinde

Roman

Aus dem Französischen von Bernd Stratthaus

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Les Sauvages bei Flammarion, Paris

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2013 by Sabri Louatah

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Les Sauvages – Tome 3

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München Umschlagabbildung: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (PHOTOCREO Michael Bednarek, Nik Merkulov)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20770-0V001

www.heyne-encore.de

Ich danke der Fondation Jean-Luc Lagardère für das Stipendium, das mir im Jahr 2012 gewährt wurde.

Die Figuren des Romans

Saint-Étienne

Familie Nerrouche

Khalida, die Großmutter, Matriarchin des Nerrouche-Klans; behandelt alle Menschen schlecht, sobald sie die Pubertät hinter sich haben; fragt andere Menschen grundsätzlich nicht nach ihrer Meinung.

Zoulikha, unverheiratete Tochter Khalidas, deren Lebensinhalt darin besteht, zu kochen und den Haushalt zu führen; ihr Lebensmotto: »Lieber fett als faltig.«

Ferhat, ihr Cousin, um dessen Haushalt sich Zoulikha seit dem Tod seiner Frau kümmert; begeisterter Musiker, inzwischen etwas kauzig.

Moussa, Lieblingssohn Khalidas, lebt in Algerien, blond und attraktiv; die jüngeren Schwestern Dounia und Rabia haben ihn in ihrer Jugend ebenso sehr geliebt, wie heute alle auf Fouad stehen; musste Frankreich aus totgeschwiegenen Gründen verlassen.

Dounia, Tochter Khalidas, verwitwet, Mutter von Nazir, Fouad und Slim, arbeitet als Krankenschwester, lebt dank Nazirs Zuwendungen auf verhältnismäßig großem Fuß, hat gesundheitliche Probleme.

Bouzid, unverheirateter Sohn Khalidas, hat immer wieder Verhältnisse mit Französinnen, Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben von Saint-Étienne.

Rabia, Tochter Khalidas, verwitwet, Mutter von Krim und Luna, arbeitet in einer Kindertagesstätte; ist seit dem Tod ihres Mannes Single, hat aber auf Slims Hochzeit ein Date mit einem geheimnisvollen Mann namens »Omar«, den sie über eine Datingseite kennengelernt hat; Rabia und Dounia sind die besten Freundinnen, auch weil sie das Schicksal teilen, früh ihre Ehemänner verloren zu haben.

Rachida, jüngste Tochter Khalidas, verheiratet mit Mathieu, Mutter von Myriam und Rayanne; reizbar und schwierig, immer beleidigt, ihr Verhältnis zu ihren älteren Schwestern ist kompliziert.

Krim, eigentlich Abdelkrim, Sohn Rabias, absolutes Gehör, musikalisches Wunderkind, der aber von der französischen Gesellschaft ausgebremst wird; bewundert seinen Cousin Fouad, den Schauspieler, und hat eine geheime Verbindung zu dessen verhasstem Bruder Nazir.

Luna, seine Schwester, begabte Turnerin, steht kurz davor, in die französische Jugendnationalmannschaft aufgenommen zu werden; war als Kind Krims Ein und Alles, ist inzwischen aber mustergültig integriert und hat ebenso viel Glück im Leben, wie er Pech hat.

Nazir, ältester Sohn Dounias; die Familie schwankt zwischen Dankbarkeit und Bewunderung für seine guten Taten für seine Verwandtschaft und die maghrebinische Gemeinschaft von Saint-Étienne einerseits und totaler Ablehnung seines fanatischen Wesens andererseits.

Fouad, zweiter Sohn Dounias, lebt in Paris, Schauspieler in einer sehr erfolgreichen Daily Soap; Freund von Jasmine Chaouch, der Tochter des Präsidentschaftskandidaten und dann Präsidenten; wird von seiner gesamten Verwandtschaft geliebt, liegt jedoch seit Jahren im Clinch mit seinem Bruder Nazir und ist in fast allem sein Gegenteil.

Slim, jüngster Sohn Dounias, schwul (allerdings nicht offen), heiratet im ersten Band Kenza, mit der er allerdings noch nie Sex hatte; naiv und ein wenig weltfremd.

Kamelia, Cousine von Krim und den anderen, lebt in Paris, arbeitet als Flugbegleiterin, stets gut gelaunt und bei allen beliebt.

Kenza, Slims Braut.

Sofiane, ihr Bruder.

Mohammed Belaïdi, der »dicke Momo«, Krims bester Freund; sie zocken gemeinsam und lernen gemeinsam mit Waffen, die Nazir ihnen verschafft, schießen; groß, breit und sanftmütig; wird nach der Präsidentschaftswahl zum Spielball der Ereignisse.

Mouloud Benbaraka, »Pate« der Halbwelt von Saint-Étienne, hat eine offene Rechnung mit Krim, Geschäftspartner von Nazir.

Paris

Familie Wagner

Henri Wagner, Untersuchungsrichter in der Abteilung für Terrorismusbekämpfung, wird zunächst mit den Ermittlungen zum Attentat betraut.

Paola Ferris, Pianistin, seine Frau, schwierige Ehe, fühlt sich von ihrem Mann vernachlässigt.

Aurélie, seine Tochter, Urlaubsliebe von Krim.

Xavier Putéoli, Betreiber der sehr erfolgreichen rechtskonservativen Webseite Avernus.fr, ehemaliger Kommilitone Henri Wagners; haben allerdings inzwischen kein allzu gutes Verhältnis mehr zueinander.

Marieke Vandervroom, investigative freie Journalistin, die unter anderem für Putéoli arbeitet und einen Enthüllungsartikel über die Zustände im französischen Geheimdienst plant.

Guillaume Poussin, Untersuchungsrichter, treuer Kollege von Wagner, wirkt schüchtern und unsicher, hat aber eine steile Karriere in der Justiz hingelegt, 38 Jahre alt und damit mit Abstand der jüngste Richter in der Galerie Saint-Éloi.

Rotrou, Untersuchungsrichter und Gegenspieler von Wagner; der »Menschenfresser von Saint-Éloi«; fettleibig, trägt stets Hosenträger; ist für seine harte Vorgehensweise berüchtigt.

Timothée Chicon, sein Mitarbeiter, schütteres Haar, alterslos; wirkt wie der traurigste Mensch der Welt.

Familie Chaouch

Idder Chaouch, Präsidentschaftskandidat des Parti Socialiste gegen Sarkozy, erster arabischstämmiger Präsidentschaftskandidat und dann Präsident der französischen Geschichte, weltgewandt und charmant.

Esther, seine Frau.

Jasmine, seine Tochter, Opernsängerin, Freundin von Fouad Nerrouche; hat mit ihrem Ruhm zu kämpfen, da er nicht ausschließlich auf ihren Fähigkeiten zu gründen scheint, sondern darauf, dass sie die Tochter ihres Vaters ist; liebt ihn allerdings abgöttisch.

Valérie Simonetti, Chefin der Leibgarde Chaouchs, ein Muster an Disziplin und Integrität.

Aurélien Coûteaux, Leibwächter Chaouchs, später mit dem Personenschutz für Jasmine betraut.

Jean-Sébastien Vogel, Chaouchs Wahlkampfmanager, designierter Premierminister.

Serge Habib, Chaouchs Kommunikationsberater, hat bei einem Autounfall eine Hand verloren; versucht das Handicap durch besonderen Arbeitseifer zu kompensieren.

Professor Saint-Samat, Chefarzt des Krankenhauses Val-de-Grâce; Chaouchs behandelnder Arzt.

Politik und Öffentlichkeit

Michel de Dieuleveult, Polizeipräsident, »der Kardinal«; Gesicht ohne Mimik, trägt ständig eine Brille, die so sehr spiegelt, dass man auch seine Augen nicht erkennen kann.

Charles Boulimier, Präsident des Inlandsgeheimdienstes DCRI, Vertrauter Sarkozys.

Jean-Yves Lamiel, Oberstaatsanwalt von Paris, redet gern viel und ein bisschen manieriert; gefällt sich in der Rolle als Stachel im Fleisch der amtierenden konservativen Regierung.

Marie-France Vermorel, Innenministerin, die einzige Politikerin, vor der Sarkozy so etwas wie Respekt hat.

Pierre-Jean Corbin de Montesquiou, Stabschef der Ministerin, Absolvent einer Eliteschule, eitel und überzeugt von sich selbst, ist nie ohne seinen Gehstock unterwegs.

Victoria de Montesquiou, seine Schwester, Wahlkampfmanagerin der Rechtsextremen.

Franck Lamoureux, ihr Liebhaber, gewaltbereiter Rechtsextremist.

Mansourd, Kommandant der SDAT (Antiterroreinheit bei der Kriminalpolizei); ist von einem inneren Drang angetrieben, Gerechtigkeit herzustellen, dafür beugt er manchmal auch das ein oder andere Gesetz.

Capitaine Tellier, Polizist mit Lippenspalte, der Krim zuerst verhört.

Thomas Maheut, Polizist, Vertrauter und gelegentlicher Liebhaber Valérie Simonettis; pflegt eine sehr schimpfwortlastige Sprache.

Sonstige

Waldstein, Nazirs Kontaktmann in Zürich mit einem Gesicht, das man nicht beschreiben kann, sobald man es nicht mehr vor sich sieht.

Susanna, »die Reiterin«, Amerikanerin.

Florence/Fleur, Nazirs Freundin, Schwester Montesquious.

Romain Gaillac, der Rothaarige, Komplize Nazirs.

Djinn, Momos Cousin.

Maître Szafran, Anwalt der Familie Nerrouche mit großbürgerlichem Habitus.

Amina, seine Praktikantin.

Was vorher geschah

Es schneite bereits seit dem Vortag. Der Raureif malte Eisblumen auf die beschlagenen Fensterscheiben. Es war Weihnachten, Heiligabend. Krim rauchte im Innenhof zwischen seinem Wohnblock und demjenigen gegenüber, der gerade erst renoviert worden war. Der Schnee bedeckte schon den gesamten Boden und fiel weiterhin in dicken Flocken vom Himmel. Zwischen den Mülltonnen stand ein aufgeplatztes Sofa. Die Armlehnen waren weiß, doch die Flocken, die in die Wunde des zerrissenen Polsters fielen, schmolzen dort sofort wie heilsame Blütenblätter.

An die verglaste Eingangstür gelehnt, beschützt vom Schirm seiner Kappe, sah Krim zum Himmel hinauf. Schnee war eine Belohnung, Regen eine Strafe. Regen wurde stets von einem grollenden Hämmern angekündigt. Schnee hingegen löste sich mit einem gedämpften und wohlwollenden Zittern aus den Wolken.

Krim zog, ohne es richtig zu merken, ein paar letzte Male an dem großen Joint, den er sich in weiser Voraussicht auf den Abend, der ihn erwartete, aus drei extralangen Papers gebaut hatte. Weihnachten bei den Nerrouches. Heiligabend bei den Kameltreibern. Auf jeden Fall würde irgendetwas dem Abend eine katastrophale Wendung geben. Ihnen würde es sogar gelingen, Weihnachten zu verderben.

Ein Hubschrauber durchschnitt den Himmel; er flog so nah an den Dächern vorbei, dass die Fenster erzitterten. Sein Motor stieß ein Gebrüll wie die Bestie Mensch aus; in seiner Bugwelle bildete sich ein Zickzackmuster auf der Schneeschicht, die Krim vom Windfang des gegenüberliegenden Gebäudes trennte. Und dann war da ein schwarzer Schatten, der sich ihm nicht in gerader Linie näherte. Ein Mensch. Er senkte den Regenschirm.

»Aaaach? Nazir?«

Zehn Sekunden nachdem dieser monströse Apparat knapp über den Dächern aufgetaucht war, hing noch ein Brummen in der perlmuttschimmernden Luft, ein Geräusch wie Pulverdampf.

»In Los Angeles heißen die Dinger Ghetto Birds. Sie kreisen über den gefährlichen Stadtvierteln. Tag und Nacht. Gehen wir nach oben?«

Krim hatte seinen Joint fallen lassen. Als er sich bückte, um ihn auszutreten und die Kippe unter die Fußmatte zu schieben, bemerkte er, dass Nazir keine Spuren auf der schönen weißen Decke des Innenhofs hinterlassen hatte. Die dicken Flocken, die noch immer herniederrieselten, hatten sie wohl schon wieder zugedeckt.

Sein Lächeln war auf Autopilot, Kinn und Mund zeigten identische Fältchen. Mit finsterem Blick musterte er das Wohnzimmer und hinterließ in jedem Eckchen das stumme Gift seines Sarkasmus: auf den Regalen voller albernem Nippes, den schwarz-weißen Familienfotos, Krims Kinderzeichnungen und Lunas Lieblingskuscheltier, das inmitten der wenigen Bücher auf dem Regalbrett thronte.

Bei den Büchern handelte es sich um eine mehrbändige Enzyklopädie mit weinrotem Einband, die allerdings nur bis Band acht vorhanden war, so fanden sich hier die Erklärungen aller Begriffe von A bis Aphyllisch (Band 1), von Aphytikum bis Baronisieren (Band 2), von Barothermograf bis Bulbös (Band 3), von Bulbus bis Chelat (Band 4), von Chelčický bis Contradictio in adjecto (Band 5), von Contra legem bis Denier (Band 6), von Denim bis Elektromyogramm (Band 7) und von Elektron bis Fair Play (Band 8) – aber von keinem Wort mehr.

Nach einer Weile wurde Rabia wegen Nazirs Schweigen unruhig. Schließlich war er es, der Heiligabend hier hatte verbringen wollen. Wahrscheinlich hatte er sich ein großes Familientreffen vorgestellt, spontan und chaotisch, so wie früher. Er hatte ihr heimlich fünf Hunderteuroscheine zugesteckt, damit sie nach Herzenslust einkaufen und ein Festessen wie die Franzosen vorbereiten konnte: Lachs und Gänsestopfleber, Pute mit Kastanienfüllung, Schnecken – und sogar Kaviar.

Während die Kinder mit Rabia die Toasts butterten und dabei ganz aufgeregt über den Preis dieser kleinen schwarzen Eier diskutierten, rauchte Dounia am Fenster der Wohnung ihrer Schwester, dasselbe Fenster, das fünf Monate später mit gelbem Siegelband versehen würde, sobald die Familie Nerrouche für die ganze Welt zum Inbegriff des »hausgemachten« islamistischen Terrorismus geworden wäre. Doch an jenem Abend musste Dounia sich keine Sorgen um Journalisten machen, die unten vor dem Wohnblock auf der Lauer lagen, oder um bis an die Zähne bewaffnete Polizisten. Von der dritten Etage dieser kleinen gemütlichen und überheizten Dreizimmerwohnung aus atmete sie die Abendluft ein, die die Rue de l’Éternité durchwehte. Sie roch nach Schnee, es war allerdings noch nicht so kalt, dass er liegen geblieben wäre. Eine weiße Schicht bedeckte schüchtern die Autodächer und die Fenstersimse; der kleinste Windstoß fegte ganze Fetzen davon hinweg, die nicht ersetzt wurden.

Dounia suchte nach einem Vorwand, um ihren Blick von diesem Schauspiel der Vergänglichkeit abzuwenden. Sie hatte eine weitere Nachricht von Fouad, ihrem zweiten Sohn, erhalten. Er drehte über die gesamten Feiertage in Marokko. Doch während die Nachricht sie von der düsteren Szenerie ablenkte, wurde sie zugleich umso brutaler mit der Nase auf eine traurige, eiskalte Wahrheit gestoßen: Nazir war nur deshalb nach Saint-Étienne gekommen, weil sein kleiner Bruder, der Fernsehstar, nicht hier war.

Als sie ins Esszimmer zurückkehrte, sah Dounia ihn mit einer Hand auf dem Rücken vor dem blinkenden Weihnachtsbaum stehen. Er trug einen schwarzen Samtanzug und ein bis oben hin zugeknöpftes weißes Hemd. Mit seiner fahlen Haut und den hohlen Wangen wirkte er wie ein russischer Prinz, der aus dem Exil heimgekehrt war. Seit dem Begräbnis seines Vaters vor drei Jahren war er verschwunden gewesen. Einmal pro Monat hatte er Dounia eine Postkarte geschrieben, zu besonderen Anlässen hatte er sogar angerufen. Nun war er zurückgekehrt, und Dounia fragte sich, warum sie sich darüber nicht mehr freute.

Vor dem Fernseher, in dem ein Weihnachtsfilm lief, saß der alte Ferhat in Strümpfen und unterhielt sich mit Slim, riet ihm davon ab, zuerst Gitarre zu lernen, wenn er eigentlich Mandoline spielen wollte. »Fang gleich damit an«, wiederholte er jedes Mal, wenn er an der Reihe war, etwas zu sagen, in seinem starken Akzent, als wäre das der einzige französische Satz, den er wirklich beherrschte.

Slim hatte sich gerade frisch verlobt, und Onkel Ferhat hatte keine Mütze nötig, um seinen zu diesem Zeitpunkt noch vollen Haarschopf zu bedecken. Es war hübsch anzusehen, wie sich die Lockenköpfe der beiden im Schein von Rabias alter Stehlampe bewegten. Diese stammte noch aus den 1970er-Jahren und war das einzige Verlobungsgeschenk der Großmutter gewesen. Ihr Schirm aus vergilbtem Stoff hatte Fransen mit kleinen Samtschleifchen daran, die aussahen wie die Zöpfe kleiner Mädchen. Wie ihre Besitzerin strahlte auch Rabias Lampe ein warmes und ehrliches Licht aus, eine goldene, menschliche Wärme, genau wie ein offener Kamin. Wie zum Beweis dafür versammelten sich alle Anwesenden um sie, entfernten sich vom Wohnzimmertisch, der doch bald gedeckt werden müsste.

In der Küche war der Startschuss nämlich bereits gefallen. Die tüchtige älteste der Nerrouche-Schwestern führte das Kommando. Wenn die Großmutter sich in Algerien aufhielt – wie etwa an den Tagen, an denen sie sich um ihre geheimnisvollen Immobilienangelegenheiten kümmerte –, blühte Tante Zoulikha sofort auf. Die arme alte Jungfer fristete ihr Dasein im Schatten ihrer unzerstörbaren Mutter. Ansonsten tyrannisierte die Großmutter sie ohne Unterlass, goss ständig Kübel voller unverdienter Beleidigungen und Demütigungen über ihr aus, ja, schlimmer noch, sobald sie auch nur das geringste Fünkchen Widerstand spürte, unterstellte sie ihr sofort muttermörderische Hintergedanken. Immer wenn die Großmutter  – und sei es auch nur vorübergehend – in ihr Heimatdorf reiste, nahmen Zoulikhas freundliche Hängebacken eine rosige Farbe an. Sie nahm gleichzeitig die Zubereitung der Pute und der Kastanienfüllung in Angriff und rief dabei der im Wohnzimmer vor sich hin schnatternden Rabia zu: »Wallah, die kann man auch zehnmal bitten herzukommen, sie reagiert einfach nicht! Sie verquasselt und verquasselt sich einfach immer weiter!«

Rabia musste losprusten, wenn sie ihre analphabetische Schwester so daherreden hörte. Daraufhin warf sie sich Dounia, von einem Lachanfall geschüttelt, in die Arme.

»Jetzt hör aber mal auf, dich über deine große Schwester lustig zu machen!«, tadelte Dounia sie daraufhin. »Mal ehrlich, du bist ja ein tolles Vorbild für die Kleinen!«

Rabia streckte ihr die Zunge raus, hüpfte in die Küche und gab Tante Zoulikha einen dicken Schmatzer auf den rosigen Nacken – sogar ihre Schwestern sprachen sie mit »Tante« an, seit sie bei Ferhat eingezogen war.

Bouzid traf als Letzter ein. Er brachte die Geschenke der Großmutter für die Kleinen mit: einen Umschlag mit zwei Scheinen, die vom Geldautomaten noch ganz warm waren, und ein Säckchen aus perlgrauer Kunstseide mit Zuckerzeug. Bouzid musste als Mittelsmann herhalten, denn die Großmutter weigerte sich, das Fest der Franzosen zu feiern.

Als er die Wohnung betrat, wirkte der Weihnachtsmann nicht sehr zufrieden, sondern bedachte Krim mit langen vorwurfsvollen Blicken. Krims Augen waren stark gerötet. Der große kahle Schädel seines Onkels reizte ihn geradezu unwiderstehlich dazu, lauthals loszulachen. Also verschwand er grußlos in sein Zimmer, wo er sich auf dem Rücken ausstreckte. Er versuchte abzuschätzen, wie bekifft er war, während er sich selbst dabei beobachtete, wie er die Arme hob, und sich dann in die duftende Bettdecke seiner Mutter einrollte. An den Weichspüler seiner Mutter, ein Duft von Vanille und Orangenblüten, würde er sich einige Monate später erinnern, um den Geruch nach Schweiß, Scheiße und Pisse zu überdecken, der seine Zelle im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Fresnes niemals ganz verließ.

An diesem Abend lag er mit selig geöffnetem Mund und halb geschlossenen Augen da und stellte sich vor, er säße rittlings auf einem zahmen Drachen und glitte mit ihm durch einen seidenweichen Himmel. Der Sattel war bequem, die Zügel waren leicht zu handhaben, und das lebendige Gefährt ließ sich geschmeidig lenken. Ganz weit weg, in der wirklichen Welt war derweil das Durcheinander der Stimmen seiner Verwandten zu hören, und Krim wusste, dass er sich irgendwann würde zu ihnen gesellen müssen. Aber er wartete darauf, dass man ihn holte, wartete auf die Rufe seiner Mutter. Dem zehnten würde er Folge leisten, und es erfüllte ihn mit unfassbarer Freude, dass das erste »Kriiiiiim!« seiner Mutter noch nicht durch die Wohnung geschallt war, in der ein Gewusel herrschte wie in einer Bahnhofshalle.

Tänzelnd erhob er sich und blickte auf die leicht verschneiten Dächer und die Scheibe des Mondes, der sich nur für ihn und seine wolkigen Träume zu interessieren schien. Als er gerade die Vorhänge beiseiteziehen und sein E-Piano anschalten wollte, um eine romantische Melodie anzustimmen, die er früher am Tag irgendwo gehört hatte, drückte jemand die Klinke der Zimmertür herunter, trat aber nicht sofort ein. Seiner Mutter hatte er schon tausend Mal gesagt, sie solle anklopfen, bevor sie hereinplatzte, doch etwas hielt ihn jetzt davon ab, sie zusammenzustauchen: Er war sich nicht sicher, dass sie es war. Seine Mutter kannte er auswendig – ihre stets eiligen Schritte, das Rascheln des algerischen Gewands, das sie anzog, sobald sie von der Arbeit nach Hause kam und sich aufs Sofa fallen ließ. Er erkannte sie sogar dann, wenn sie gar kein Geräusch machte. Also wusste er auch, dass sie die Klinke beim Öffnen der Tür niemals bis ganz nach unten drückte.

»Mama?«, fragte er unsicher.

Doch er hörte seine Mutter in der Küche lautstark über das Kopftuch streiten, das die jungen Mädchen heute wieder freiwillig anlegten, während die vorangegangenen Generationen alles dafür getan hatten, um sich davon zu befreien.

Die Tür öffnete sich nur einen Spaltbreit, und ein paar Sekunden später begriff Krim, dass sein Besucher unbemerkt bleiben wollte.

»Nazir!«, rief er erleichtert, als er die hochgewachsene Gestalt seines älteren Cousins erkannte. »Wesh, Cousin, alles klar bei dir?«

Nazir streckte ihm die Faust entgegen, und Krim tat es ihm gleich; ihre Fäuste berührten sich.

Während sie im Halbdunkel von Krims Zimmer miteinander sprachen, passierte im Wohnzimmer Folgendes: Slim war töricht genug gewesen, seine kleine Cousine Luna zum Armdrücken herauszufordern. Sie hatten den Tellerstapel beiseitegeschoben, den sie eigentlich auf dem Tisch hätten verteilen sollen, und stemmten ihre Unterarme gegeneinander. Dounia massierte der kleinen Turnerin die muskulösen Schultern, und Bouzid coachte Slim, das heißt, er brüllte ihn an, bevor der Zweikampf überhaupt begonnen hatte.

»Du solltest besser nicht verlieren, Slim! Du bist jetzt ein Mann! Bist du ein Mann oder etwa nicht?«

Er war vier Jahre älter als Luna, doch sobald er die kräftige Hand seiner kleinen Cousine in seiner spürte, wusste er, dass er verlieren würde. Luna beherrschte ihn so spielend, dass sie bis zum letzten Moment so tun konnte, als verlöre sie. Sie ließ sich den Handrücken bis wenige Zentimeter über das Tischtuch herunterdrücken und gähnte dabei demonstrativ. Dann kehrte sie die Richtung mit unglaublicher Leichtigkeit um und verkürzte so Slims Leiden, der vor Anstrengung schon scharlachrot angelaufen war. Die folgende Revanche dauerte ungefähr drei Sekunden. Slim war kein Spielverderber. Wenn Luna es mit ihrem Bruder Krim zu tun gehabt hätte, wäre das Ganze völlig anders abgelaufen. Doch Krim hätte eine solche Herausforderung gar nicht erst angenommen.

»Kriiiiiim!«

Es war der erste Ruf. Krim hörte ihn nicht einmal. Nazir und er saßen auf der Bettkante dem Fenster gegenüber. Sie betrachteten den Himmel, an dem sich graue Schemen auflösten. Nazir sprach auch über den Himmel, er behauptete, der Himmel sei genau wie Geld ein offenes Versprechen.

»Wenn du den Himmel betrachtest, hast du den Eindruck, dass sich all die Ereignisse deines Lebens an seiner beunruhigenden Erhabenheit abzeichnen. Der Himmel scheint dir mitteilen zu wollen: Du wirst ein großartiges Leben haben, du musst nur aufstehen und etwas dafür tun. Mit Geld ist es genauso, es verspricht dir Dinge, es verspricht dir, dass du dir das großartige Leben kaufen kannst. Die ganze Menschheitsgeschichte, mein kleiner Cousin, ist eine Geschichte von gebrochenen Versprechen, schlimmer noch: von falschen Versprechungen – so als ob dein Lieblingsonkel dir sagt, dass er mit dir ans Meer fährt, die Monate dann aber ins Land gehen, ohne dass er dich jemals abholt …«

Krim sah nicht wirklich den Zusammenhang, doch er gab sich Mühe, Mühe, nicht albern loszukichern, und Mühe, die Gedanken miteinander zu verbinden.

»Denk daran, wenn du in den Himmel blickst, denk daran, dass der Himmel ein Lügner ist. Und daran, dass das einzig Vernünftige ist, nicht auf die Lügner zu hören, sobald klar ist, dass sie lügen. Es ist vernünftig, nicht mehr nach oben zu schauen, sondern den Blick auf die Wirklichkeit hier unten zu lenken. Sei auf der Hut vor dem Himmel und den großen Versprechungen, in Ordnung, Krim?«

»In Ordnung«, antwortete der Jugendliche und fuhr sich mit der Zunge über den trockenen und pelzigen Gaumen.

Nazir sagte jetzt nichts mehr, sondern betrachtete eindringlich und ein wenig belustigt den Himmel. Sein Haar wirkte weniger dunkel als gewöhnlich, der Mond verlieh ihm einen stählernen Glanz. Krim wusste nicht, ob er reden oder schweigen sollte, ob er zusammen mit diesem seltsamen Typen in den Himmel schauen oder vorschlagen sollte, zu den anderen zu gehen, um zu Abend zu essen. Doch bevor er sich noch entschieden hatte, platzten die anderen ins Zimmer herein.

»Habt ihr’s schon mitgekriegt. Ach, nein, ihr habt ja das Licht nicht angeschaltet, oder?«

»Nein«, entgegnete Nazir, »wieso?«

»Es ist Stromausfall«, antwortete Rabia und versuchte, Krims Nachttischlampe anzuknipsen. »Überall, alles ist aus!«

Hinter ihr im dunklen Wohnzimmer waren ein paar blinde Schatten zu erahnen, die Handys tanzten einen Reigen aus bläulichem Leuchten. Krim rieb sich die Augen, um sicherzugehen, dass dieser Stromausfall nicht seinem Bekifftsein geschuldet war und seiner Einbildung entsprang. Im Wohnzimmer hatte Bouzid inzwischen die Sache in die Hand genommen. Er hatte den Sicherungskasten gefunden und bat Dounia, ihm mit ihrem Feuerzeug zu leuchten. Bald hatte er die betroffene Sicherung ausfindig gemacht und gab Anweisung, auch das letzte elektrische Gerät auszuschalten, das noch daran hing. Doch die Sicherung blieb trotzdem nicht drin. Schweren Herzens und voller Scham darüber, nicht zum Helden des Abends avancieren zu können, verkündete Bouzid, dass sie einen Elektriker rufen müssten.

»Zarma, ein Elektriker«, übersetzte Rabia für ihre alte Tante.

»Ein Elektriker an Heiligabend? Na, das wird nicht billig, das kann ich euch gleich sagen!«

Es herrschte allseits große Aufregung, nur der alte Ferhat blieb ruhig auf seinem Posten neben der Stehlampe, mucksmäuschenstill, und lächelte milde in der Finsternis.

»Sonst können wir auch einfach zu mir gehen«, schlug Dounia vor.

Zunächst protestierte die versammelte Gesellschaft – sämtliche Mägen knurrten, und wenn sie jetzt aufbrächen, würde es frühestens in einer Stunde Essen geben. Ganz abgesehen davon, dass die Pute zur Hälfte gar war und die Toasts sich auf den Tellern türmten. Schließlich nahmen alle Vernunft an. Die Toasts konnten eingepackt, die Pute am nächsten Tag fertiggegart und gegessen werden. Und mit zwei Autos dauerte der Umzug nur eine gute Viertelstunde. Krim fuhr in Dounias Twingo mit, der nach kaltem Rauch und dem Deo roch, das ihn nicht zu überdecken vermochte. Von der plötzlich hereingebrochenen Wirklichkeit war ihm ein bisschen schwindlig geworden: Schuhe anziehen, Haus verlassen, durch die Stadt sausen … Er wandte sich an Nazir, der sehr aufrecht auf dem Rücksitz saß.

»Warst du das, Nazir?«

Nazir lächelte linkisch.

»Warst du das mit dem Kurzschluss?«

Was für eine seltsame Frage, dachte Krim. Doch er hatte schon vergessen, dass er sie überhaupt gestellt hatte, als sie an einer roten Ampel anhielten und er sich plötzlich fragte, warum ihn die Farbe Rot unausweichlich an die Tonlage A-Dur denken ließ. Darüber vergaß er auch, dass Nazir ihm noch keine Antwort gegeben hatte. An den Spitzen von Daumen und Zeigefinger spürte er das Cannabisharz, das genau auf seinen Fingerabdrücken Krusten bildete.

Neben ihrem Auto hatte ein weiteres gehalten. Krim bemerkte, dass der Fahrer Onkel Ferhat anstarrte, der auf dem Beifahrersitz einige Bruchstücke orientalischer Lieder vor sich hinsummte. Wahrscheinlich war nur der Shit schuld, aber er hatte den Eindruck, als wollte der Fahrer in der weißen Daunenjacke – ein blasser Koloss mit raspelkurzem Haar – die Rotphase nutzen, um aus dem Auto zu springen und sich mit ihnen anzulegen. Die Ampel schaltete auf Grün, und das Auto folgte ihnen tatsächlich bis zur Rue du Cimetière, doch kurze Zeit später machte Krim sich deswegen schon keine Sorgen mehr.

Die Siedlung, in der Dounias Häuschen stand, war üppig in weihnachtlichen Farben geschmückt. In den Fenstern Teelichte, Wichtel an der Einfahrt zu den Parkplätzen, an den Fensterläden in den oberen Stockwerken waren einige Weihnachtsmänner angebracht, Girlanden und Lichterketten schimmerten in der kalten Nacht. Überall, nur nicht bei Dounia. Das letzte Häuschen in der Siedlung feierte kein Weihnachten. Die rosa verputzten Mauern waren blass und nackt. Drin angekommen wurden die Tupperware-Behälter auf dem Couchtisch im Wohnzimmer abgestellt, und keine fünf Minuten später waren alle Toasts bereit. In ihrer bunten Vielfalt sahen sie so hübsch aus, dass niemand sie anrühren wollte. Schwarzer Kaviar, beige Gänseleber, rosa Tarama, garniert mit weißer Gurke, rotem Seehasenrogen und sogar einer grün-gräulichen Anchoviscreme, die auf den ersten Blick nicht allzu vertrauenerweckend wirkte.

Onkel Bouzid öffnete seine zwei mitgebrachten Flaschen alkoholfreien Sekt, wobei es ihm nicht gelang, die Korken knallen zu lassen. Dounia holte ein Bodentuch, um die schäumende Flüssigkeit von den Fliesen aufzuwischen.

Allein das Erdgeschoss war bei Dounia größer und weiträumiger als die gesamte Wohnung ihrer Schwester. Bei Rabia fühlte man sich zwar beengt, aber behaglich, hier bei Dounia bekam man den Eindruck einer misslungenen Feier, weil sich die wenigen Gäste in alle Ecken verteilten und wie nutzlose Goldfische in einem viel zu großen Aquarium umhertrieben. Immerhin hatte Rabia die Eingebung, den Fernseher einzuschalten und alle, die sie noch immer gut gelaunt als ihre Tischgesellschaft bezeichnete, um den Couchtisch zu versammeln. Dounia hatte nur noch Couscous im Kühlschrank. Sie ertrug die Festtage nur noch schwer, seit ihr Mann ausgerechnet an einem Silvesterabend seinen letzten Atemzug getan hatte.

»Na toll!«, rief Rabia, »da wollen wir schon Heiligabend wie die Franzosen feiern und essen schlussendlich doch wieder Couscous! Wallah, nächstes Mal sagen wir Zouzou gleich, dass sie den Grieß vorbereiten soll! Ganz ehrlich, das kommt mir vor wie ein Zeichen, zarma, Gott macht sich über uns lustig und will uns zu verstehen geben: Ihr könnt machen, was ihr wollt, ihr bleibt trotzdem immer Kameltreiber …«

»Wal-lah!«, stimmte Tante Zoulikha ihr zu, während sie den Anchovistoast wieder hinlegte, den sie gerade misstrauisch mit gerümpfter Nase beschnuppert hatte.

Das Gespräch setzte sich auf diesem holprigen Gelände fort: Frankreich, die Immigranten. Rabia brachte sich am leidenschaftlichsten ein. Sie wandte sich an die versammelte Gemeinde.

»Für die sind wir doch nur Gäste, und Gäste sollen die Schnauze halten, sich ordentlich benehmen. Aber wir sind jetzt schon fünfzig Jahre lang Gäste und müssen den anderen dabei zusehen, wie sie uns und den gesunden Menschenverstand mit Füßen treten, verstehst du, was ich meine?«

Sobald Rabia, »verstehst du, was ich meine?« sagte, konnte man sicher sein, dass sie selbst nicht den blassesten Schimmer hatte, wovon sie sprach.

Jeder steuerte nun seinen eigenen kleinen Kommentar bei, schrie ihn über das Stimmengewirr hinweg in die Runde, selbst die Jüngsten hoben den Blick von ihren Telefonen, um ihre Meinung kundzutun. Als Nazir Rabia aufforderte, ihre Rede von den Gästen zu erklären, ließ sie sich nicht lange bitten. Sie war glücklich, dass auch ihr Neffe endlich am Gespräch teilnahm. Der unterbrach sie allerdings umgehend mit einem Satz, den er so neutral und monoton vortrug, als hätte er ihn bereits viel zu oft wiederholt.

»Das Problem ist ja nicht, ob man Gast oder vollwertiger Einwohner ist. Das Problem besteht darin, dass es keine Feier gibt, kein Festessen.«

»Wal-lah!«, meldete sich Tante Zoulikha erneut zu Wort, weil sie glaubte, dass Nazirs Einlassung bereits zu Ende wäre.

»Frankreich ist wie ein Empfangstresen, an dem man in vollem Sonntagsstaat eintrifft. Doch dann bemerkt man, dass keiner da ist, kein Fest stattfindet. Das Haus ist gar nicht mal ungastlich, es ist einfach nur leer. Die Bewohner sind Geister, die sich davon zu überzeugen versuchen, dass ihnen alles gehört, doch die wahren Besitzer sind unauffindbar, man hört nur noch das Echo ihrer Stimmen, das uns dazu auffordert abzuhauen.«

Der Beitrag des Familienintellektuellen traf nur auf zurückhaltende Zustimmung, denn niemand wollte zugeben, dass er die Analogie nicht wirklich verstanden hatte. Onkel Ferhat fing an zu gähnen. Er hob die Hand und begann, von seinem neuen Lieblingsthema zu sprechen – dem Mond, über den er sich in seinem starken Akzent verbreitete.

»Ganz ehrlich, die Amerikaner waren doch gar nicht auf dem Mond. Sie behaupten es zwar, aber in Wirklichkeit stimmt das nicht.«

Bouzid glaubte, es ginge ihm um die berühmten Bilder der Fahne und des Windes … Doch Onkel Ferhat hatte ganz andere Gründe, aus denen er die offizielle Version der Geschehnisse anzweifelte.

»Der Mond«, erklärte er untermalt von sehr langsamen Gesten, »der Mond ist ein Klumpen. Ein Klumpen. Man kann auf einem Klumpen doch nicht herumspazieren, t’famet?«

Er hielt mit einer Geste inne, wie sie sonst unverstandene Dichter machen.

Krim spürte, dass er die Aufmerksamkeit auf sich lenken würde, wenn er weiter nur dümmlich und mit halb geschlossenen Augen vor sich hingrinste. Also versuchte er sich an sechs verschiedenen Grimassen, um die Augen weit aufzureißen. Als es ihm schließlich gelang, sie länger als zehn Sekunden offen zu halten, hatte er die exakt gegenteilige Wirkung erzielt: Alle sahen ihn komisch an.

Onkel Bouzid ergriff vor versammelter Mannschaft das Wort: »Also, Krim, was willst du denn jetzt anfangen? Hm? Hast du schon Pläne? Rab’ hat mir gesagt, dass du manchmal im Haushalt ein bisschen bastelst. Interessierst du dich für Handwerkliches?«

»Aber was erzählst du denn da?«, stieß Krim empört aus und drehte sich zu seiner Mutter. »Seit wann bastle ich denn hier? Seit wann?«

Rabia hatte ihrem großen Bruder allerdings die Wahrheit gesagt. An guten Tagen vollbrachte Krim auch viele gute Taten. Er erfand eine neue Konstruktion, um die Wäsche aufzuhängen, er reparierte den wackligen Fuß einer Kommode, er brachte im Schlafzimmer seiner Mutter ein zusätzliches Bücherregal an. Wenn Rabia dann zu ihm kam, um ihn mit einem überraschenden dicken Kuss zu belohnen, wischte er sich die Wange ab, protestierte mit einer abwehrenden Geste und gab Geräusche der Abscheu von sich. Rabia klammerte sich an diese »guten Tage« ihres Babys, das zu einem problematischen Jugendlichen herangewachsen war. In den Augen seiner Mutter bedeutete jede seiner kleinen Erfindungen nur eines: dass er sie liebte, dass er Luna liebte, dass er nicht wusste, wie er diese Liebe anders zum Ausdruck bringen sollte, dass eines Tages aber alles besser würde, dass er eines Tages keinen neuen Duschvorhang und keinen platzsparenderen Wäscheständer mehr brauchte, um seine Liebe zu zeigen.

Nach dem Aperitif verlagerte sich die Gesellschaft ins Wohnzimmer, um nun richtig zu Abend zu essen. Nazir hatte sich neben Krim gesetzt. Er hatte für niemanden sonst Augen. Nachdem sie die einfallsreich von Tante Zoulikha verdünnte Suppe aufgetragen hatte, sah Dounia erleichtert, dass der Couscous für alle Gäste reichte. Während das Tischgespräch auf politische Themen gelenkt wurde – Chaouch führte nämlich alle Umfragen mit weitem Vorsprung an –, überließ sich Dounia ihren eigenen Gedanken. Doch nicht für sehr lange. Als sie bemerkte, dass ihr ältester Sohn sie mit seinen großen dunklen Augen fixierte, spannte sie die Gesichtsmuskeln in ihren Wangen an und machte sich zu einem Lächeln bereit, um ihrer Haut einen anständigen rosigen Glanz zu verleihen. Doch noch immer war ihre Stirn durch die Grübeleien gerunzelt; und mit ihren seitlich herabgezogenen Augenwinkeln wirkte sie selbst beim Lächeln ein wenig traurig.

Nachdem die Diskussion auf dem vertrauten Terrain des Einwandererschicksals wieder aufgeflammt war, gelangte sie alsbald an einen toten Punkt. Man hatte eingeschlagen – diese ewige Geste zwischen den Nerrouche-Schwestern, mitunter leicht abgewandelt, etwa wenn Rabia Dounias Hand nahm und sie küsste, um so die Gemeinsamkeit ihrer Standpunkte zu besiegeln. Ja, über das Wichtigste war man sich einig: Die Situation war skandalös, doch da der Skandal nun ausgesprochen, bestätigt und anerkannt worden war, hatte er seine Bedrohlichkeit verloren. Es gab keine Opfer mehr, seit man ihre Existenz unbestreitbar erklärt hatte.

Das war der Punkt, an dem Dounias Herz die Angst ergriff. Die Angst, dass Nazir, der alle Anwesenden musterte und die Finger aneinanderrieb, den Mund öffnen und damit den Konsens zerstören würde. Nazir schien zu spüren, dass seine Mutter dunklen Gedanken nachhing. Er legte seine Hand auf ihre, wagte es aber nicht, ihr länger in die Augen zu sehen, als wollte er ihr nicht die Zukunft enthüllen, die in seinem eigenen Blick brannte. Fünf Monate später sollte es zur Verhaftung noch vor Sonnenaufgang kommen, zur Hausdurchsuchung unter dem Geschrei der Kinder, in der Nacht darauf zu landesweitem Aufruhr, wobei er als Staatsfeind Nummer eins zum Hauptverantwortlichen erklärt werden würde.

Dounia stand auf, zündete sich am Küchenfenster eine Zigarette an, wie sie es stets mitten beim Essen tat, und rauchte sie bis auf den Filter herunter. Nazir trat zu ihr. Er war kein sehr berührungsfreudiger Mensch, nicht so herzlich wie Fouad, dessen Pressefotos die gesamte Kühlschrankoberfläche bedeckten. Nazir war kalt wie der Kühlschrank, er war ein Verstandesmensch, tragisch und fatalistisch – genau wie ihre Mutter, der er in einem noch nicht da gewesenen Ton ins Ohr flüsterte: »Es tut mir leid, Mama.«

In diesem Satz hörte Dounia noch einen anderen: »Ich habe keine Wahl.« In diesem Augenblick begriff sie verwirrt, dass er sie nicht für eine bereits begangene Verfehlung um Verzeihung bat, sondern für eine noch ausstehende Katastrophe – gigantisch, brutal und unausweichlich.

Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und lauschte zerstreut Rabias neuesten Hirngespinsten. Inmitten seiner Familie blieb er ernst und schweigsam. Er verhielt sich wie ein Hohepriester. Er lachte nicht, mischte sich nicht ein, vermied es, die verrückten Gedanken, die ihm niemals aus dem Kopf gingen, auszusprechen.

Eine Kinderstimme riss ihn aus seinen Grübeleien.

»Sag mal, ganz ehrlich, du warst in Los Angeles? Wie war’s da so?«

Nazir fixierte seinen kleinen Cousin mit dem härtesten, durchdringendsten Blick.

»Da ist es wie im Videospiel Grand Theft Auto, das spielt ja in LA. Man fährt stundenlang herum. An allen Straßen stehen Palmen, Kokospalmen. Und es hört nie auf, man fährt und fährt, es ist die Hölle.«

Er fragte ihn nach seiner Telefonnummer, wollte von Zeit zu Zeit mal eine Nachricht schicken und in Ruhe quatschen, wie man es unter Cousins eben tut.

Onkel Bouzid schnappte diesen Gesprächsfetzen auf und legte nach: »Ja, hör nur auf deinen großen Cousin, Krim, hör ihm zu, er hat recht: Du kannst auf dieser Welt, in diesem Jammertal niemandem trauen, außer der Familie. Stimmt’s nicht, Nazir? Hm? Oder? Nazir? He! Nazir? Hallo, hallo, Erde an Mond …«

Doch Nazir hatte sein Lächeln noch immer auf Autopilot geschaltet, Kinn und Mund waren auf identische Weise verzogen. Es war die Art von Lächeln, die man einem Unbekannten schenkt, einem Fremden, dem man mehrmals am Tag begegnet und den man grüßen muss, um nicht unhöflich zu wirken.

Er wandte sich seinem Onkel zu und sah ihn mit einem schwer zu entschlüsselnden Blick an. Dann erklärte er plötzlich an Krim gerichtet: »Sie ist schon komisch, oder? Diese Idee, Weihnachten zu feiern?«

ERSTER TEIL

Was Nazir betrifft

1.

Er war ein Alleskönner. Er konnte jonglieren, auf den Händen laufen, auf Kommando weinen, mitten in den Sätzen in Gelächter ausbrechen. Er konnte einen Kieselstein viermal über die Oberfläche eines Sees springen lassen, er konnte ungefähr zwanzig bekannte Stimmen nachahmen und kannte um die hundert Liedtexte auswendig, darunter sogar einige Opernarien. Jasmine behauptete, dass er einen respektablen Tenor abgegeben hätte. Doch respektabel war nicht genug. Als Schauspieler war Fouad geradezu brillant. Die Videos, die er sich an diesem Morgen seit inzwischen zwei Stunden ansah, riefen ihm ins Bewusstsein, dass seine jüngst erworbene Berühmtheit nicht unverdient war. Er schaute sich die Kurzfilme noch einmal an, in denen er mitgespielt hatte, die Nebenrollen in Filmen, in denen man nur Augen für ihn hatte, und schließlich die Erfolgsserie aus dem sechsten Programm, in der er den jungen Fußballtrainer einer Amateurmannschaft spielte, die in das Haifischbecken der ersten Liga geworfen worden war.

Er wirkte in all seinen Rollen natürlich, fand instinktiv die richtigen Gesten und die angemessenen Blicke. Im wirklichen Leben mochte er keine Gauner, aber vor der Kamera verstand er ihr Wesen bis zur Vollkommenheit: Seine Stimme wurde rau, er öffnete seine Lippen einen Spaltbreit, um drohend die Zungenspitze hindurchzustrecken; wenn er seine vollautomatische Waffe schwang, musste man ihm nicht erklären, wie er sie zu halten hatte. Ein sehr angesagter Regisseur bezeichnete ihn als den vielversprechendsten Darsteller seiner Generation. Er konnte alles spielen, war zugleich flexibel und solide. Und natürlich sah er ausgesprochen gut aus. Seine Schönheit erinnerte eher an die eines Latinos als an einen Araber, sein Haar war eher wellig als lockig; seine Schönheit war kosmopolitisch, kam überall an, gefiel allen, verwandelte seine problematische arabische Herkunft in eine annehmbare Ästhetik, übte eine Anziehungskraft aus, die sich auch für Frauenzeitschriften eignete; die Nebel der Vergangenheit hatten sich verzogen, die alten Konflikte sich in zwei Fototerminen und ein paar freundlichen Interviews aufgelöst. Frankreich und Algerien waren dank eines telegenen Schauspielers wieder miteinander versöhnt.

Fouad erstarrte. Die Situation erschien ihm urplötzlich glasklar zu sein. Er war das gute Gewissen des Milieus, in dem er lebte: der Kurzfilmszene des Pariser Ostens. Er war das gute Gewissen eines avantgardistischen Zirkels.

Nazir hingegen war das schlechte Gewissen der ganzen französischen Nation.

Fouad begriff, dass er sich gerade den gesamten Vormittag lang selbst betrachtet hatte. Er hatte sich schön gefunden. Er war sich wie ein Monster vorgekommen. Die Folgen von L’Homme du match, die er sich angesehen hatte, waren noch nicht fertig abgemischt. Es waren Arbeitsfassungen, Bild und Ton waren furchtbar. Fouad nahm die DVD aus seinem Laptop und verstaute sie sorgfältig. Er stand auf und ging ein paar Mal unruhig in seiner Wohnung auf und ab. Noch immer trug er den Hoodie vom Vortag, in dem er die Nacht im Val-de-Grâce verbracht hatte. Er kratzte sich das Brusthaar und versuchte den Rauminhalt seiner Wohnung zu schätzen. Nur durch die Schlitze seiner elektrischen Rollläden drang Tageslicht in das große, hohe Zimmer ein.

Leise wiederholte er die ersten Worte des Briefes, den er zwei Stunden zuvor in Angriff genommen hatte.

»Liebe Jasmine, dir zu begegnen war eine der wichtigsten Erfahrungen der letzten Zeit …«

Nein, verbesserte er sich und machte auf dem Absatz kehrt, nicht »eine der wichtigsten«, »die wichtigste« … Und nicht »der letzten Zeit«, sondern »meines Lebens«. Verdammt …

Er räumte seinen Schreibtisch frei und schob den Computer beiseite, dessen Akku nach den zwei Stunden Videogucken fast leer war. Dann schnappte er sich einen neuen Notizblock und schrieb mit der roten Mine seines alten vielfarbigen Kugelschreibers: Liebe Jasmine …

Weiter kam er nicht. Ehe er sich nicht ein bisschen ausgeruht, sich erinnert und sich selbst vergewissert hätte, dass er wieder voll funktionstüchtig und optimistisch war, würde er nicht weiterschreiben.

Was war seit Samstag alles passiert? Er hatte nicht auf die Uhrzeit geachtet und deshalb überstürzt nach Saint-Étienne aufbrechen müssen. Er hatte seinen TGV verpasst, mit einer Kurzfilmregisseurin geflirtet, die ihm die Hauptrolle in ihrem nächsten Film und noch etwas mehr angeboten hatte. Krim war für ihn als Trauzeuge eingesprungen, Slim hatte Kenza auf die Wange geküsst, und der alte Onkel Ferhat war mitten auf der Tanzfläche zusammengebrochen. Schon bei der Ankunft seines TGV im Bahnhof von Châteaucreux hatte er das Desaster vorausgeahnt, doch er hatte nichts getan, um es zu verhindern.

Er kehrte an seinen Computer zurück, steckte das Kabel ein und ging ins Internet. Das Icon für seine empfangenen Mails war gefettet, die Anzahl der ungelesenen belief sich auf unerhörte siebenundneunzig.

Er traute sich nicht, sich weiter mit dem Mailprogramm zu beschäftigen, und wechselte wieder zu Google, wo er einer Eingebung folgend seinen Familiennamen eintippte. Jasmine hatte ihm zwei Wochen vorher gestanden, dass sie sich einen Google Alert einfach für das Wort Nerrouche eingerichtet hatte: Sobald irgendetwas zu Fouad im Internet erscheinen würde, bekäme sie eine Nachricht. Inzwischen ergab derselbe Name vierundfünzig Millionen Treffer, davon ein ganzer Haufen aktueller Nachrichten.

Bei den Optionen für die Suchergebnisse wählte er die »letzten 24 Stunden« aus. Es blieben immer noch etwas mehr als zehn Millionen Treffer. Dann klickte er auf »letzte Stunde«: neunzehntausend Seiten wurden in 0,11 Sekunden aufgefunden. Als er die F5-Taste drückte, konnte er dabei zusehen, wie sich diese Zahl in Echtzeit erhöhte. Irgendwelche Unbekannte in den furchtbaren unendlichen Weiten des Netzes waren gerade dabei, Informationen und Kommentare über seine Familie zu posten. Über seine Tante Rabia, seine Mutter, ihn selbst, über Nazir und vor allem über Krim. Als er auf einen Link klickte, der über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht war, fand er eine Umfrage, in der es darum ging, ob die Nerrouches eine Brutstätte für islamistischen Terrorismus seien oder nicht. Mit Ja hatten einundneunzig Prozent gestimmt. Tausende von Nutzern hatten teilgenommen. Tausende von Menschen, Tausende echte Menschen dachten, dass seine Familie ein terroristisches Netzwerk wäre.

Heftig klappte er den Bildschirm seines Laptops herunter und sah nach, ob Szafran, der Anwalt seiner Familie, ihn nicht angerufen hatte. In der Liste der verpassten Anrufe tauchten seine Agentin, ein paar Freunde, eine ganze Reihe von Bekannten, Szafran und – zu seiner Überraschung – seine Cousine Kamelia auf. Er legte sich aufs Bett, bevor er sie zurückrief. An der Decke wartete der Ventilator auf seine Reparatur. Fouad döste ein und träumte, dass die fünf reglosen Flügel die fünf Finger einer Hand wären, die sich ohne Gnade um sein Schicksal schloss, wobei aber noch nicht entschieden war, ob sie ihn zerquetschen würde oder nicht.

Zehn Minuten vergingen, und die Erinnerung an den wütenden Krim auf dem Parkplatz vor dem Festsaal ließ ihn aus seinem Nickerchen hochschrecken. Er fühlte sich nicht ausgeruht, und seine Wohnung kam ihm vor wie die Kabine eines Ozeandampfers, in der es spukte: Die Wände könnten sich zusammenschieben, die Decke könnte einstürzen; es bestand die Gefahr, dass aus den Fotoalben, die er irgendwo hinten in seine Schränke geräumt hatte, die Geister seines Vaters, seines Cousins und Nazirs aufstiegen. Die Toten, die Lebenden und die lebenden Toten.

Er entschloss sich, Kamelia anzurufen. Sie keuchte am anderen Ende der Leitung, grunzte, wirkte sehr beschäftigt. Er fragte sie, was los sei, und sie erklärte ihm, dass sie versuche, ihren Koffer zu schließen.

»Wo fährst du denn hin?«, fragte er.

»Na, zu dir, Fouad! Nach Saint-Étienne, mein ich. Wir werden Slim und Luna doch nicht mit all dem alleinlassen, oder?«

Fouad hatte gar keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Sein kleiner Bruder. Seine kleine Cousine. Seine kleine Familie.

Ein paar Stunden früher, als seine Mutter und seine Tante von der Antiterroreinheit abgeholt worden waren, hatte er sich vor einer Familie, die gar nicht seine eigene war, zum Affen gemacht, zwei Schritte entfernt vom am besten bewachten Patienten sämtlicher Krankenhäuser des ganzen Landes.

»Ich komme nach, Kamelia. Nicht heute, aber sobald ich mich mit unserem Anwalt getroffen habe, sobald ich ein bisschen mehr weiß …«

»Erledige, was du in Paris erledigen musst, ich kümmer mich solang um alles.«

»Danke, Kam«, wollte er zum Abschluss sagen, als er seinen Computer wieder anschaltete.

»Jetzt hör schon auf, dich dauernd zu bedanken!«, empörte sich seine Cousine, während laut scheppernd der Koffer runterfiel, der sich einfach nicht schließen ließ.

Fouad hörte diesen nicht ernst gemeinten Vorwurf gar nicht mehr. Denn in diesem Moment sah er, dass die Anzahl seiner ungelesenen Mails auf achtundneunzig gestiegen war. Achtundneunzig ungelesene Mails.

»… Ich fahr ja nicht nach Saint-Étienne, um dir einen Gefallen zu tun, sondern für uns alle, und natürlich für die kleine, unschuldige Luna.«

Dieser Anfall von Fürsorge rührte Fouad umso mehr, als er nicht im Geringsten darauf spekuliert hatte.

2.

Als er auflegte, durchströmte ihn neue Kraft. Er zog die Rollläden hoch und öffnete die gläserne Balkontür. Die Geräusche des geschäftigen Treibens auf dem Platz ließen ihn die Augen schließen. Für einen kurzen Moment sog er die Pariser Luft ein, dann kehrte er in seine Wohnung zurück.

Der Akku seines Telefons war leer; er schloss es an und stellte den Klingelton lauter, falls irgendwer versuchen sollte, ihn zu erreichen. Dann duschte er. Das lauwarme Wasser wusch ihn zwar, reinigte ihn aber nicht. In seinem Kopf herrschte ein unauflösbares Gedankenwirrwarr. Es gelang ihm nicht mehr, einzelne Gedanken von anderen zu trennen, und auf einmal fiel ihm der herabwürdigende Blick von Jasmines Mutter wieder ein, mit dem sie ihn einige Stunden zuvor im Wartesaal des Val-de-Grâce bedacht hatte. Dabei hatte sich die Geringschätzung, die einem Klassenunterschied geschuldet war, mit einem Mangel an Respekt für seinen Beruf vermischt (»dein Schauspielerfreund«). Und das war noch gar nicht das Schlimmste: Esther Chaouch schien ihn zu verdächtigen, ihre Tochter benutzt zu haben, um an ihren Vater heranzukommen.

Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein – wenigstens was diesen letzten Punkt betraf. Vielleicht sogar bezüglich der anderen. So verrückt waren die Menschen doch nicht.

Während des Wahlkampfs hatte Fouad für Chaouch die Werbetrommel bei prominenten Unterstützern gerührt. Manchmal schnappte er hier und da ein gezwungenes Lächeln auf oder bekam ein paar böse und hämische Blicke von den echten Mitgliedern des Wahlkampfteams ab, die sich mit ernsthaften Dingen beschäftigten, lange Studienzeiten hinter sich hatten und unzählige Kompromisse eingegangen waren, um ihren Platz in den oberen Sphären der Politik zu ergattern. Fouad schützte sich gegen ihre Missgunst, indem er ganz besonders freundlich tat. Aber er war auch kein Trottel: Für die große Mehrheit dieser Haie war Jasmine Chaouchs Boyfriend nichts als ein dahergelaufener, hirnloser Naivling, dessen Augen zu leuchten begannen, sobald er den zukünftigen Präsidenten über die Gleichheit sprechen hörte, die Frankreichs Seele sei, oder über die Geländeverluste der Republik, als ginge es um eine aufregende »New Frontier«, gesellschaftliches Neuland, das es zu erobern galt.

Chaouchs lautes und unverstelltes Lachen war zu seinem besten Schutzschild geworden. Und um seine andere Flanke zu decken, gab es die Liebe Jasmines. Doch böse Gedanken können brutaler sein als Schläge. Was all diese Menschen wirklich von ihm dachten, lähmte Fouad. Und als wäre das alles noch nicht genug, legte sich, während er wieder zur Vernunft zu kommen versuchte, Jasmines Gebrüll aus der vergangenen Nacht wie eine Tonspur über Esther Chaouchs furchtbar zweideutige Blicke: die Erinnerung daran, wie seine Freundin im Hof mit dem Fuß aufgestampft und lautstark die Erlaubnis eingefordert hatte, dass Fouad mit auf die Station kommen dürfe, auf der ihr Vater lag.

Aufgewühlt, wie er war, merkte Fouad, dass er Stunden damit verbringen würde, diese unerträgliche Situation wiederzukäuen, in der er sich wie ein totaler Nichtsnutz vorgekommen war, wie ein Hofnarr, der eng mit einem bekannten Mörder verwandt ist und der nur dank der Launen einer halb verrückten Infantin in den inneren königlichen Zirkel vorgelassen wird.

Also griff er zu einer drakonischen Maßnahme: Er masturbierte.

Seine Gedanken dabei nicht von Jasmine zu lösen erforderte eine beachtliche geistige Anstrengung. Bilder anderer Körper drängten sich ihm auf, Dekolletés von Frauen, die er auf der Straße gesehen hatte, Brüste von der Seite, Brüste von vorn, rosa Nippel, schwarze, große und kleine, außerdem Hintern, die sich nur für ihn zu bewegen schienen, die Stimme einer Rechtsanwältin, ihr Mund, der das Wort »Recht« auf so sinnliche Weise aussprach … Und auf einmal, mitten in diesem erotischen Zapping, erklang die Reibeisenstimme der Journalistin, die ihm am Vortag einen Besuch abgestattet hatte, Marieke. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie sie ihre Hand auf seine legte, ihren außergewöhnlich robusten Knochenbau, die hervorspringenden Schlüsselbeine, die kräftigen Knöchel und schließlich ihr schönes, großes, klares Gesicht, das Gesicht eines flämischen Bauernmädchens, allerdings mit zwei durchdringenden stahlblauen Augen.

Normalerweise bevorzugte er einladende, weiche und konkave Körper, die parfümierten Rundungen der Jasmines dieser Welt. Warum also erregte ihn die Erinnerung an diese Marieke Vanderirgendwas so sehr, die nur aus Robustheit, feindlichen Blicken und Konvexität zu bestehen schien?

»Nein«, murmelte er und drehte den Kaltwasserhahn bis zum Anschlag auf.

Er stieg, ohne sich erleichtert zu haben, aus der Dusche.

Er rasierte sich, zog sich an und trat auf den Balkon, um das Treiben auf der Place d’Aligre zu beobachten. Fast niemand saß auf den Bänken oder den Terrassen der Cafés. Einige Händler mit Schürzen umrundeten den überdachten Marktplatz, entluden die Kastenwägen, liefen hin und her und stiegen dabei mit dieser energischen und beinahe fröhlichen schlechten Laune, die so typisch für die einfachen Pariser Marktleute war, über die mit Planen bespannten Absperrungen.

Fouad erkannte den Marktvorsteher, einen abweisenden Menschen, der stets wie aus dem Ei gepellt war, die Hände hinter dem Rücken verschränkte, mit argwöhnischem Gesichtsausdruck und herausgestreckter Brust. Im Bewusstsein seiner eigenen Wichtigkeit diskutierte er mit einer Gruppe arabischer Verkäufer, die einen besseren Platz für ihren Stand am nächsten Tag aushandeln wollten, ohne sie jemals direkt anzusehen. Als er vor ein paar Jahren in Paris angekommen war, hatte Fouad auf dem Markt am Rathaus von Clichy gearbeitet. Er hatte das Aufstehen vor Sonnenaufgang kennengelernt, die Espressi und Croissants zum Freundschaftspreis im Café am Eck, den Geruch nach Brathähnchen, der ihm in die Nase stieg, während er versuchte, BHs von minderer Qualität an irgendwelche Matronen mit Migrationshintergrund loszuwerden, die Witze über ihre Körbchengröße machten, während sie sich um seine Auslage scharten. Fouad hatte keinen Geschäftssinn. Er war zu großzügig, schwatzte zu viel, und vor allem ertrug er es nicht, wenn eine Kundin nicht ordentlich was für ihr Geld bekam, bevor sie wieder abzog. Aber sein Chef konnte und wollte ihn nicht rausschmeißen, er war zu beliebt. Sein gutes Aussehen, seine Jugend und seine Lebensfreude zogen mehr Kundschaft an als das folkloristische Geschrei Enricos (der darauf bestand, dass sein Name französisch ausgesprochen wurde), des »BH-Königs«, dessen Entthronung Fouad seinem Boss ermöglicht hatte.

Nach der Beschäftigung auf dem Markt hatte Fouad in einem Nachtklub bedient, war Platzanweiser im Theater und ehrenamtlicher Leiter eines Werkstatttheaters in einem Jugendzentrum gewesen. Bis zu dem denkwürdigen Casting, zu dem er eigentlich nur zufällig gekommen war, als er eine hübsche Brünette begleitet hatte; sie war ihm noch heute böse, weil er ihr das Rampenlicht streitig gemacht hatte. Dann war alles sehr schnell gegangen. Er hatte Geschmack an den Kameras gefunden, an der Atmosphäre bei Dreharbeiten. Wenn er keine Sprechrolle ergattern konnte, bemühte er sich um eine als Statist. So häuften sich die Partys zum Abschluss der Dreharbeiten, die Abende, die er mit Leuten aus dem Filmbusiness verbrachte. Sein Naturell kam dort außerordentlich gut an, er verzauberte wortlos, einfach nur durch die Anmut seiner fremdartigen Ausstrahlung aus Milde und Zugewandtheit.

Geld und Erfolg ließen nicht lange auf sich warten. Und sie übertrafen alle Hoffnungen seiner Unterstützer. Man wollte ihn für sämtliche guten Projekte haben, er konnte sie sich sogar aussuchen, zum großen Leidwesen seiner Agentin, die ihm vorwarf, seine Karriere ruinieren zu wollen, indem er Rollen in jedem erstbesten Autorenfilm ohne Reichweite und Sichtbarkeit annahm. Fouad war gar nicht auf eine Karriere aus. Er war zufällig ins Filmgeschäft geraten, es hatte ihn interessiert und ihm Freude bereitet, doch er wollte sich seine Unabhängigkeit bewahren. Was seinen kometenhaften sozialen Aufstieg anging, war er sicher der ganze Stolz seiner Familie (ein zweischneidiger Stolz, das wusste er, zu dem sich ein Gefühl der gelungenen Revanche gesellte, das ihm für sein Teil absolut fremd war). Doch für ihn bedeutete er nur, dass er, statt unten auf der Place d’Aligre mitten im Käsedunst Kisten voller Secondhandklamotten aufeinanderzustapeln, das ganze Spektakel von der obersten Etage seines Wohnhauses aus beobachten konnte, während er in aller Seelenruhe seinen Kaffee trank.

»Pff.«

Ihn überkam ein Gefühl des Abscheus, wenn er an die Rolle dachte, die ihm seinen Ruhm eingebracht hatte. Die Figur hieß ebenfalls Fouad. Irgendein Drehbuchautor musste sich in seiner Not eine Liste mit arabischen Vornamen mitsamt ihrer Bedeutung beschafft haben. »Herz« hatte ihm wohl gut gefallen. Wie durch Zauberei trug dann auch die Entdeckung des Castings den Namen Fouad.

Für die Werbemaßnahmen lieferte das ein paar hübsche Anekdoten. Die Produzenten rieben sich die Hände, sie luden Fouad in erstklassige Restaurants ein, und er profitierte von ihren Kontakten. Alles schien ohne Gegenleistung zu erfolgen, ganz selbstverständlich. Er hatte Talent, und es gab Leute, die bereit waren, viel Geld dafür auszugeben, um ihn der Öffentlichkeit zu präsentieren. Als er dann offiziell mit Jasmine Chaouch liiert war, waren die Produzenten im siebten Himmel. Die Erfolgsstory, deren Co-Autoren und Financiers sie waren, machte landesweit Furore. Es gab in Frankreich in diesem Jahr keinen größeren Glamourfaktor als den Namen Chaouch.

»Das reicht«, entschied er plötzlich.

Er würde nicht im Abseits stehen bleiben und sich willenlos den widrigen Winden überlassen. Er musste die Sache selbst in die Hand nehmen. Alle Nummern in seinem Adressbuch anrufen. Seine Kontakte zu den höchsten Kreisen nutzen, die er während des Wahlkampfs angesprochen hatte, damit sie Chaouchs Kandidatur unterstützten. Das war ein großer Erfolg gewesen – vielleicht sogar ein etwas zu großer, denn Chaouchs Gegner hatte reagiert: Er hatte bald jede Gelegenheit ergriffen, Sympathiebekundungen angesagter Komiker und Chansonniers medial zu nutzen, um seinen Konkurrenten als den Kandidaten des Jetsets hinzustellen.

Doch Fouad hatte es verstanden, mit diesen eitlen Stars zu sprechen, die davon träumten, der Politik »ihren Zauber zurückzugeben«, und sie auf seine Seite zu ziehen. Um ihnen zu schmeicheln, hatte der junge Schauspieler seinen Tonfall verändert, im richtigen Moment gelächelt – sein offenes und unverstelltes Wesen verbogen, sich selbst verraten, alles für einen guten Zweck. Sein Lächeln wirkte Wunder. Die halb geschlossenen Lider verfehlten niemals ihre Wirkung. Wenn er schon so schrecklich schön war, dann sollte das doch wenigstens zu etwas nütze sein.

Er stand auf, verließ den Balkon und widmete sich wieder seinem E-Mail-Account, angetrieben von einem Luftzug, dessen Kühle er im Nacken spürte. Es war wie eine große Verheißung. Doch derartige Verheißungen erzeugen für sich selbst ein Glück, das größer ist als dasjenige, das sie ankündigen: Fouad wurde jäh auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als ihm bewusst wurde, dass der Absender der letzten seiner achtundneunzig ungelesenen E-Mails »Nazir Nerrouche« hieß.

3.

So war die alte Jasmine Chaouch: Sie hörte eine gute Nachricht, ihr Herz schlug schneller, und sie fing vor Glück an zu tanzen, bevor sie sich erinnerte, dass sie gar nicht tanzen konnte, dass sie sich wie ein Roboter bewegte, ganz anders als all die sinnlichen und freigeistigen Schauspielerinnen, die Fouad gewöhnlich umschwirrten. Also hielt sie inne und setzte wieder ihre Maske stolzer Traurigkeit auf.

Seitdem ihre Gebete erhört worden waren, seit ihr Vater wiederauferstanden war, hatte Jasmine ihre Dosis an Antidepressiva um die Hälfte reduziert. Es waren erst wenige Stunden vergangen, und doch schien es ihr bereits, als spürte sie die ersten Auswirkungen ihrer veränderten Medikamentierung.

Das war die neue Jasmine.

Sie flatterte durch die weiß getünchten Gänge, in die dank der großflächigen Glasfronten das Sonnenlicht in großen Wellen hereinströmte. Sie träumte, dass sie durch den Gang tanzte wie eine Ballerina, umweht von Volants und Sternenstaub – und nun genügte es ihr auch, davon zu träumen. Sie war selig, beglückt. Sie schenkte allen, denen sie begegnete, ein herzliches Lächeln. Alles um sie herum bestand nur aus Licht, nichts warf mehr einen Schatten, nicht einmal die – gleichwohl beeindruckende – Gestalt der Leibwächterin, die ihren Vater nicht hatte beschützen können.

»Valérie! Wie schön, Sie zu sehen! Haben Sie schon mit Papa sprechen können? Haben Sie gesehen, wie gut es ihm geht?«

Die Kommandantin Simonetti hatte nichts dergleichen gesehen und auch mit niemandem geredet. Ihr Blick war verschleiert, als wäre sie gerade aus einem Mittagsschlaf aufgewacht. Ihre Lider wirkten, als wären sie auf doppelten Umfang angeschwollen.

Jasmine überging das alles. Sie sah ihrer Gesprächspartnerin fest und eindringlich in die Augen, um ihr so direkt in die Seele blicken zu können. Dabei entgingen ihr alle Zeichen, die nicht über die Augen zum Ausdruck kamen: die Gesten, die Haltung, die Mimik. Die Lippen der Leibwächterin zitterten, als sie sprach.

»Ich soll noch mal von der Dienstaufsicht vernommen werden, Mademoiselle Chaouch. Die wahrscheinlichste Konsequenz ist die Suspendierung. Für wie lange? Es ist noch zu früh, um das zu sagen … Aber ich will Ihnen nicht mit meinen kleinen … bürokratischen Sorgen auf die Nerven fallen.«

Das Adjektiv klang in Anbetracht der Lage, in der sie sich befand, geradezu lächerlich harmlos. Es führte Jasmine – der neuen Jasmine – unvermittelt vor Augen, dass sie in einer Blase steckte, einer Blase aus egoistischem Glück, die ganz mit sonnenhellen Postern tapeziert war. Richtig schlimm wurde es, als die Kommandantin versuchte, das Thema zu wechseln und eine unbeschwerte, fröhliche Miene aufzusetzen.

»Und sonst? Wie ist es so als erste Tochter im Staat? Das muss Sie doch sehr stolz machen …«

Jasmine wandte den Blick ab. Das Kristallglas ihrer Glückseligkeit war gerade in tausend Scherben zersprungen.

»Sagen Sie mir, was ich tun kann«, erwiderte sie, während sie die letzte Spur ihres seligen Lächelns tilgte.

»Was Sie tun können«, entgegnete die Kommandantin sanft, »ist, Ihr Glück zu genießen.«

Jasmine ergriff ihre Hände. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Wissen Sie, Valérie, er hat Sie immer als eine seiner guten Feen betrachtet. Früher hat er immer gesagt: die drei Frauen meines Lebens – meine Ehegattin, meine Tochter, meine Leibwächterin …«

»Danke, Mademoiselle. Ich bin … Ihre Worte berühren mich sehr. Ich bin … überglücklich für Sie …«

Dann begann die Polizistin zu weinen. Sie weinte wie Menschen, die das sonst nie tun: stoßweise, fast als spuckte sie die Tränen aus.

Jasmine stellte sich auf die Zehenspitzen, um sie richtig in den Arm nehmen zu können.

»Ich bin sicher, dass alles gut geht«, versuchte sie sie zu trösten und musste plötzlich daran denken, dass sie Fouad, seit er von hier aufgebrochen war, noch nicht angerufen hatte. »Ich bin sicher, Papa wird mit ein paar Leuten reden, damit man Sie in Ruhe lässt.«

Habibs Stimme drängte sich in ihre Umarmung. Der Kommunikationschef von Chaouchs Wahlkampfteam blökte quer durchs Krankenhaus. Jasmine schüttelte den Kopf. Seit dem Wahlkampf war ihr Verhältnis zu Serge Habib angespannt; schon vorher war es ihr allerdings gar nicht recht gewesen, wenn der Gast zum Abendessen ausgerechnet dieser kleine, drahtige Mann war, der wie ein Kesselflicker fluchte. Seine Anzüge waren stets grau, und sobald sein Stumpf aus dem Ärmel seines Blazers hervorschaute, wusste Jasmine, dass sich bald etwas ebenso Wichtiges wie Schreckliches ereignen würde. Auch Jasmines Mutter gefiel er nicht, denn Madame Chaouch war eine feinsinnige und bedachtsame Intellektuelle. Ein weiterer Grund war, dass die Besuche dieses neureichen Schreihalses meistens befürchten ließen, dass ihr Privatleben fortan beachtlichen Umwälzungen unterworfen sein würde. Und das war auch immer genauso eingetreten. Bis hin zur letzten und extremsten Umwälzung. Chaouch lag im Koma. Und Serge Habibs kämpferische Stimme dröhnte weiter, erfüllte den Raum und ließ die Wände des Kokons der Familie Chaouch wackeln.

Jasmine schloss die Augen und setzte wieder ihr Lächeln auf, ihr neues Lächeln. Und sie erinnerte sich daran, dass Coûteaux sie aus der Ferne überwachte, ohne zu sehr in Erscheinung zu treten. Auch fiel ihr ein, dass Coûteaux nicht gerade zu Valéries Favoriten gehörte; und umgekehrt: Der junge Leibwächter vermied es tunlichst, seiner ehemaligen Chefin in die Augen zu sehen; sie war zu einer Art Aussätzigen geworden.

Die beiden Frauen fassten sich bei den Händen wie zwei alte Freundinnen. Die Prinzessin und die Chefin der Leibgarde.

Und ganz unvermittelt rief die Prinzessin aus: »Valérie, Sie haben wirklich die Hände einer Mörderin!«

Dann biss sie sich auf die Lippe und ließ den Kopf hängen.