Die Wilden - Familientreffen - Sabri Louatah - E-Book

Die Wilden - Familientreffen E-Book

Sabri Louatah

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Beschreibung

Was darf der Staat in Zeiten des Terrors?

Frankreich ist in Aufruhr. Noch immer ist es den Anti-Terror-Einheiten nicht gelungen, Nazir Nerrouche dingfest zu machen. Überdies zeigen die Ermittlungen, dass seine Verbindungen bis in die höchsten Regierungskreise reichen. Unterdessen wird der Druck auf die Familie Nerrouche erhöht und Nazirs Bruder Fouad, bislang Liebling der Pariser Gesellschaft, zum Prügelknaben der Nation. Um die Öffentlichkeit zu besänftigen, verschärft Präsident Chaouch die Sicherheitsmaßnahmen, was von den liberalen Kreisen argwöhnisch beäugt wird. Als schließlich Hinweise auf ein erneutes Attentat auftauchen, steht die Republik vor einem Kollaps

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Zum Buch

Die französische Republik steht vor dem Kollaps. Noch immer ist es den Anti-Terror-Einheiten nicht gelungen, den mutmaßlichen Attentäter Nazir Nerrouche dingfest zu machen. Überdies verdichten sich die Hinweise, dass seine Verbindungen tatsächlich bis in die höchsten Regierungskreise reichen. Unterdessen wird der Druck auf die Familie Nerrouche erhöht und Nazirs Bruder Fouad, bislang erklärter Liebling der Pariser Gesellschaft, zum Prügelknaben der Nation. Um die Öffentlichkeit zu besänftigen, verschärft Präsident Chaouch die Sicherheitsmaßnahmen, was von den liberalen Kreisen skeptisch beäugt wird. Ein Zerwürfnis droht. Als es schließlich Hinweise auf ein erneutes Attentat gibt, ist die Katastrophe kaum mehr abzuwenden.

Zum Autor

Sabri Louatah, 1983 in Saint-Étienne als Sohn eines Holzfällers und einer Hausfrau geboren, lebt heute mit seiner Frau in den USA. Die Unruhen in der Pariser Banlieu Anfang der 2000er Jahre inspirierten ihn zu seinem Roman-Zyklus »Die Wilden«, der in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Zurzeit arbeitet Louatah an der TV-Adaption der Serie.

Lieferbare Titel

978-3-453-27119-7 - Die Wilden - Eine französische Hochzeit

978-3-453-27121-0 - Die Wilden - Brüder und Feinde

Sabri Louatah

Die Wilden

Familientreffen

Roman

Aus dem Französischen von Bernd Stratthaus

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Les Sauvages bei Flammarion, Paris

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Unter www.heyne-encore.de finden Sie das komplette Encore-Programm.

Weitere News unter http://www.heyne-encore.de/facebookwww.heyne-encore.de/facebook

Copyright © 2013 by Sabri Louatah

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Les Sauvages - Tome 4

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (PhotocreO Michal Bednarek, Nik Merkulov)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20771-7V001

www.heyne-encore.de

Ich danke der Fondation Jean-Luc Lagardère für das Stipendium, das mir im Jahr 2012 gewährt wurde.

Die Figuren des Romans

Saint-Étienne

Familie Nerrouche

Khalida, die Großmutter, reizbare Matriarchin des Nerrouche-Klans; behandelt alle Menschen schlecht, sobald sie die Pubertät einmal hinter sich haben; fragt andere Menschen grundsätzlich nicht nach ihrer Meinung.

Zoulikha, unverheiratete Tochter Khalidas, deren Lebensinhalt darin besteht, zu kochen und den Haushalt zu führen; ihr Lebensmotto: »Lieber fett als faltig.«

Ferhat, ihr Cousin, um dessen Haushalt sich Zoulikha seit dem Tod seiner Frau kümmert; begeisterter Musiker, inzwischen etwas kauzig.

Bekhi, Tochter Khalidas, verheiratet mit Ayoub, Mutter von Toufik, Kamelia, Inès und Dalia.

Ouarda, Tochter Khalidas, Mutter von Raouf.

Idir, ihr Mann, Vater von Raouf.

Moussa, Lieblingssohn Khalidas, lebt in Algerien, blond und attraktiv; die jüngeren Schwestern Dounia und Rabia haben ihn in ihrer Jugend ebenso sehr geliebt, wie heute alle auf Fouad stehen; musste Frankreich aus totgeschwiegenen Gründen verlassen.

Dounia, Tochter Khalidas, verwitwet, Mutter von Nazir, Fouad und Slim, arbeitet als Krankenschwester, lebt dank Nazirs Zuwendungen auf verhältnismäßig großem Fuß, hat gesundheitliche Probleme.

Bouzid, unverheirateter Sohn Khalidas, hat immer wieder Verhältnisse mit Französinnen, Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben von Saint-Étienne.

Rabia, Tochter Khalidas, verwitwet, Mutter von Krim und Luna, arbeitet in einer Kindertagesstätte; ist seit dem Tod ihres Mannes Single; Rabia und Dounia sind die besten Freundinnen, auch weil sie das Schicksal teilen, früh ihre Ehemänner verloren zu haben.

Rachida, jüngste Tochter Khalidas, verheiratet mit Mathieu, Mutter von Myriam und Rayanne; reizbar und schwierig, immer beleidigt, ihr Verhältnis zu ihren älteren Schwestern ist kompliziert.

Krim, eigentlich Abdelkrim, Sohn Rabias, absolutes Gehör, musikalisches Wunderkind, der aber von der französischen Gesellschaft ausgebremst wird; bewundert seinen Cousin Fouad, den Schauspieler, und hat eine geheime Verbindung zu dessen verhasstem Bruder Nazir.

Luna, seine Schwester, begabte Turnerin, steht kurz davor, in die französische Jugendnationalmannschaft aufgenommen zu werden; war als Kind Krims Ein und Alles.

Nazir, ältester Sohn Dounias; die Familie schwankt zwischen Dankbarkeit und Bewunderung für seine guten Taten für seine Verwandtschaft und die maghrebinische Gemeinschaft von Saint-Étienne einerseits und totaler Ablehnung seines fanatischen Wesens andererseits.

Fouad, zweiter Sohn Dounias, lebt in Paris, Schauspieler in einer sehr erfolgreichen Daily Soap; Freund von Jasmine Chaouch, der Tochter des neu gewählten Präsidenten; wird von seiner gesamten Verwandtschaft geliebt, liegt jedoch seit Jahren im Clinch mit seinem Bruder Nazir und ist in fast allem sein Gegenteil.

Slim, jüngster Sohn Dounias, schwul (allerdings nicht offen), heiratet im ersten Band Kenza, mit der er allerdings noch nie Sex hatte; naiv und ein wenig weltfremd.

Adnan, Slims Freund, syrischer Flüchtling, kahl rasiert wegen verfrühter Glatzenbildung.

Raouf, Cousin von Krim und den anderen, Geschäftsmann, hat in London einige Restaurants; prahlt gern und redet die ganze Zeit über Politik; glühender Anhänger von Chaouch.

Kamelia, Cousine von Krim und den anderen, lebt in Paris, arbeitet als Flugbegleiterin, stets gut gelaunt und bei allen beliebt.

Mohammed Belaïdi, der »dicke Momo«, Krims bester Freund; sie zocken gemeinsam und lernen gemeinsam mit Waffen, die Nazir ihnen verschafft, schießen; groß, breit und sanftmütig; wird nach der Präsidentschaftswahl zum Spielball der Ereignisse.

Paris

Familie Wagner

Henri Wagner, Untersuchungsrichter in der Abteilung für Terrorismusbekämpfung, wird zunächst mit den Ermittlungen in Bezug auf das Attentat betraut.

Paola Ferris, Pianistin, seine Frau, schwierige Ehe, fühlt sich von ihrem Mann vernachlässigt.

Aurélie, seine Tochter, Urlaubsliebe von Krim, hat aber auch ein Techtelmechtel mit

Tristan Putéoli, Aurélies Freund (wäre er zumindest gern), Anhänger Sarkozys, Sohn von

Xavier Putéoli, Betreiber der sehr erfolgreichen rechtskonservativen Webseite Avernus.fr, ehemaliger Kommilitone Henri Wagners; haben allerdings inzwischen kein allzu gutes Verhältnis mehr zueinander.

Marieke Vandervroom, investigative freie Journalistin, die unter anderem für Putéoli arbeitet und einen Enthüllungsartikel über die Zustände im französischen Geheimdienst geschrieben hat.

Guillaume Poussin, Untersuchungsrichter, treuer Kollege von Wagner, wirkt schüchtern und unsicher, hat aber eine steile Karriere in der Justiz hingelegt, 38 Jahre alt und damit mit Abstand der jüngste Richter in der Galerie Saint-Éloi.

Rotrou, Untersuchungsrichter und Gegenspieler von Wagner; der »Menschenfresser von Saint-Éloi«; fettleibig, trägt stets Hosenträger; ist für seine harte Vorgehensweise berüchtigt.

Familie Chaouch

Idder Chaouch, erster arabischstämmiger Präsident der französischen Geschichte, weltgewandt und charmant.

Esther, seine Frau.

Jasmine, seine Tochter, Opernsängerin, Freundin von Fouad Nerrouche; hat mit ihrem Ruhm zu kämpfen, da er nicht ausschließlich auf ihren Fähigkeiten zu gründen scheint, sondern darauf, dass sie die Tochter ihres Vaters ist; liebt ihn allerdings abgöttisch.

Valérie Simonetti, Chefin der Leibgarde Chaouchs, ein Muster an Disziplin und Integrität.

Aurélien Coûteaux, Leibwächter Chaouchs, später mit dem Personenschutz für Jasmine betraut.

Jean-Sébastien Vogel, Chaouchs Wahlkampfmanager.

Serge Habib, Chaouchs Kommunikationsberater, hat bei einem Autounfall eine Hand verloren; versucht das Handicap durch besonderen Arbeitseifer zu kompensieren.

Politik und Öffentlichkeit

Michel de Dieuleveult, Polizeipräsident, dann Innenminister; »der Kardinal«; Gesicht ohne Mimik; trägt ständig eine Brille, die so sehr spiegelt, dass man auch seine Augen nicht erkennen kann.

Charles Boulimier, Präsident des Inlandsgeheimdienstes DCRI, Vertrauter Sarkozys.

Marie-France Vermorel, ehemalige Innenministerin, die einzige Politikerin, vor der Sarkozy so etwas wie Respekt hat.

Pierre-Jean Corbin de Montesquiou, Stabschef der Ministerin, Politiker der Rechtsnationalen Allianz ADN, Absolvent einer Eliteschule, eitel und überzeugt von sich selbst, ist nie ohne seinen Gehstock unterwegs.

Victoria de Montesquiou, seine Schwester, Wahlkampfmanagerin der Rechtsextremen.

Franck Lamoureux, ihr Liebhaber, gewaltbereiter Rechtsextremist.

Kevin & Dylan Sanchez, Rechtsextreme

Mansourd, Kommandant der SDAT (Antiterroreinheit bei der Kriminalpolizei); ist von einem inneren Drang angetrieben, Gerechtigkeit herzustellen, dafür beugt er manchmal auch das ein oder andere Gesetz.

Thomas Maheut, inzwischen stellvertretender Stabschef von Dieuleveult, Vertrauter und gelegentlicher Liebhaber Valérie Simonettis; pflegt eine sehr schimpfwortlastige Sprache.

Françoise Brisseau, Senatorin und unterlegene Konkurrentin Chaouchs in den Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatur des Parti Socialiste.

Apolline, Generalsekretärin des Parti Socialiste.

Sonstige

Yaël Zitoun, Fouads Agentin.

Florence/Fleur, Nazirs Freundin, Schwester Montesquious.

Romain Gaillac, der Rothaarige, Komplize Nazirs.

Maître Szafran, Anwalt der Familie Nerrouche mit großbürgerlichem Habitus.

Was bisher geschah

Der Romanzyklus Die Wilden beginnt am Tag vor dem zweiten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen, die vom unaufhaltsamen Aufstieg des Kandidaten der Sozialistischen Partei geprägt sind, einem Abgeordneten algerischer Herkunft namens Idder CHAOUCH. Chaouch ist der charismatische Bürgermeister im Département Seine-Saint-Denis, er ist modern, sehr beliebt und hat überall im Land große Hoffnung verbreitet, besonders auch bei der Familie Nerrouche, die auf einem der Hügel von Saint-Étienne wohnt.

Die Hochzeit des jungen Slimane, genannt SLIM, findet am Vortag der zweiten Runde der Wahlen statt, bei denen Chaouch der große Favorit ist. Doch dunkle Schatten legen sich über die Festlichkeiten. Slim heiratet nur, um die Gerüchte über seine Homosexualität zum Verstummen zu bringen. Er hat zwei ältere Brüder, die einander hassen: den strahlenden FOUAD und den düsteren NAZIR. Fouad ist ein erfolgreicher Fernsehschauspieler; er ist mit Chaouchs Tochter JASMINE zusammen und sorgt so für die Unterstützung des sozialistischen Kandidaten durch die Klatschpresse. Weitab von den hochstehenden Verbindungen seines Bruders spinnt Nazir im Verborgenen sein Netz. Niemand weiß, wie oder wo er lebt, noch worin genau seine politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten bestehen.

Über die letzten Monate sorgte sein Verhalten bei seiner Familie für Gesprächsstoff: Er hat die Nähe zu seinem Cousin KRIM gesucht, einem achtzehnjährigen Kleinkriminellen, der sein allseits anerkanntes außerordentliches musikalisches Talent hat brachliegen lassen. Seine Mutter RABIA und seine Tante DOUNIA – die Mutter von Nazir, Fouad und Slim –, beide seit einigen Jahren verwitwet, bilden das Herzstück der Familie. Dounia ist der nachdenkliche, manchmal schwermütige Typ, Rabia ist eine gut gelaunte Quasselstrippe. Die beiden Schwestern sind unzertrennlich. Die wahrscheinliche Wahl Chaouchs bereitet ihnen außerordentlich große Freude.

Doch plötzlich kippt die Stimmung, und das Leben der Familie Nerrouche wird zum Albtraum: Auf dem Hochzeitsfest bricht der alte Onkel FERHAT unvermittelt zusammen, wobei sichtbar wird, dass auf seinen Schädel ein Hakenkreuz und weitere Obszönitäten tätowiert wurden. Außerdem taucht ein Rom in Frauenkleidung namens ZORAN auf, der Slim erpresst. Gemessen an den Ereignissen des folgenden Tages ist das allerdings noch gar nichts: Als Chaouch unter dem Jubel der Menge aus seinem Wahllokal tritt, wird er durch einen Kopfschuss niedergestreckt. Schon wenig später ist das Gesicht des Attentäters auf sämtlichen Bildschirmen weltweit zu sehen: Es ist Krim.

Chaouchs Leben hängt am seidenen Faden; er wird mit 52,9 Prozent der Stimmen gewählt – ein gewählter Präsident im Koma: Für die Fünfte Republik ist das eine noch nie da gewesene Situation.

Das Attentat veranlasst die Regierung, den Antiterrorplan auf die höchste Alarmstufe zu setzen. Der Luftraum wird gesperrt und die Armee zur Verstärkung angefordert, um den öffentlichen Raum zu sichern. In sämtlichen Vorstädten des Landes kommt es zu Unruhen.

In diesem Bürgerkriegsklima verkündet das Verfassungsgericht Chaouchs Amtsverhinderung. Die Aufstände breiten sich bis ins Zentrum von Paris aus. Zwischen dem Polizeipräsidenten der Hauptstadt Michel de DIEULEVEULT und seiner Intimfeindin von der Place Beauvau, der Innenministerin Marie-France VERMOREL, die von ihrem diabolischen jungen Stabschef Pierre-Jean de MONTESQUIOU unterstützt wird, brennt die Luft.

Im Polizeigewahrsam gesteht Krim, von seinem Cousin Nazir manipuliert worden zu sein. Die Ermittlungen der Antiterroreinheit der Polizei richten sich fortan auf die Familie Nerrouche, die von den Medien zu einem Nest radikaler Islamisten stilisiert wird. Das reißt die Familie auseinander: Die »Unschuldigen« werfen Dounia und Rabia vor, Monster geboren zu haben. Nazir ergreift die Flucht. Schon seit Wochen wurde er vom Inlandsgeheimdienst DCRI beschattet, doch nun wird er zum Staatsfeind Nummer 1: Die französische Terrorabwehr muss sich wegen dieses unfassbaren Versäumnisses, ihn nicht früher festgenommen zu haben, erklären. Die Treibjagd beginnt und erfasst die Polizei, den Geheimdienst, das Gericht, die Staatsanwaltschaft, den Anwalt der Familie Nerrouche (Maître SZAFRAN) und die Medien.

Zu den offiziellen Ermittlungen, die sich die DCRI (um den Präfekten BOULIMIER, einen Freund des scheidenden Präsidenten) und die SDAT, die Unterabteilung für Terrorabwehr der Kriminalpolizei (unter Kommandant MANSOURD, einem hartgesottenen Superbullen), untereinander aufteilen, kommen noch die Recherchen einer furchtlosen Journalistin, die sich mit Fouad anfreundet: MARIEKE.

Während die Polizei in ganz Europa nach seinem Bruder fahndet, gerät Fouad unter Verdacht, sich mit Chaouchs Tochter eingelassen zu haben, um das Attentat vorzubereiten. Weitere Spuren tauchen auf, die das Komplott mit Auftraggebern von al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) und mit rechtsextremen Splittergruppen in Verbindung bringen. Das Duo Infernale aus Vermorel und Montesquiou, die der härtesten Fraktion innerhalb der Rechten angehören, eine Strömung, die als rechtsnational bekannt ist, begleitet aus der Nähe – aus zu großer Nähe – die Arbeit des für Terrorabwehr zuständigen Untersuchungsrichters WAGNER. Den Richter treibt das zur Verzweiflung. Integer und unabhängig, weigert er sich, seine Untersuchung nur in eine Richtung zu lenken, und er geht auch dem Verdacht nach, es könnte im Herzen des Innenministeriums eine Verschwörung gegeben haben. Als er erfährt, dass zwischen seiner Tochter AURÉLIE und Krim eine Verbindung besteht, muss er die Untersuchung abgeben. An seine Stelle tritt Richter ROTROU, der für sein brutales Vorgehen bekannt ist und dem eine übergroße Nähe zur Macht nachgesagt wird.

Während ein Bereitschaftspolizist bei den Unruhen zu Tode kommt, erwacht Chaouch im Krankenhaus Val-de-Grâce. Unter dem Druck der Öffentlichkeit, dem es sich nicht widersetzen kann, revidiert das Verfassungsgericht seine Entscheidung: Chaouch wird offiziell zum Sieger der Präsidentschaftswahl erklärt. Zur gleichen Zeit entkommt Nazir dem Zugriff, den das Innenministerium angeordnet hatte. Was die Nerrouche-Schwestern betrifft, so haben sie nicht lange Gelegenheit, sich über Chaouchs Wahl zu freuen. Sie werden auf Anweisung Richter Rotrous verhaftet, und zwar auf der Grundlage neuer Beweise über eine angebliche Verbindung ihres in Algerien lebenden Bruders MOUSSA mit den islamistischen Netzwerken, die im Norden Afrikas ununterbrochen an Einfluss gewinnen.

Chaouch wird zum Präsidenten vereidigt, doch natürlich reißen die Gerüchte nicht ab, dass er nicht fit für das Amt ist. Und tatsächlich scheint sich sein ganzes Wesen verändert zu haben, er ist viel ernster und nachdenklicher, hat Aussetzer, spricht mit roboterhafter Stimme und hat all sein Charisma verloren. Trotz seines nach wie vor schlechten Gesundheitszustands entschließt sich Chaouch, als erste Amtshandlung am G-8-Gipfel in New York teilzunehmen.

Nazir ist zusammen mit Montesquious abtrünniger Schwester FLEUR nach Genua entkommen und wartet dort auf ein Schiff, das die beiden außer Landes schaffen soll. Doch er hintergeht Fleur, sie wird entführt und als Geisel nach Algerien gebracht, wo sie als politisches Unterpfand dem Islamistenführer Scheich OTMAN übergeben wird.

Maître Szafran heckt inzwischen zu Hause in Frankreich einen Verfahrenstrick aus, mit dem er die Freilassung Dounias und Rabias erzwingt. Bei Dounia wird zuvor im Gefängniskrankenhaus allerdings noch eine Krebserkrankung im Endstadium festgestellt.

Montesquiou schmiedet weiter seine Ränke. Gemeinsam mit seiner zweiten Schwester VICTORIA, die den Wahlkampf für die rechtsextreme Partei organisiert hat, landet er einen politischen Coup: Sie bilden für die anstehenden Parlamentswahlen eine Allianz aus Rechten und Rechtsextremen. Montesquiou tritt persönlich in Chaouchs Wahlkreis als Kandidat an.

Die Journalistin Marieke sucht derweil weiter Fouads Nähe, zwischen den beiden entwickelt sich eine erotische Anziehung, die schließlich in eine Affäre mündet, was Fouads Leben auch deshalb auf den Kopf stellt, weil er unmittelbar danach erfährt, dass Jasmine ein Kind von ihm erwartet.

Marieke ist weiter davon überzeugt, dass es im Herzen des Innenministeriums eine Verschwörung gegeben hat, die mit dem Attentat auf Chaouch in Verbindung steht. Nazir macht in einer auf verschlungenem Weg überbrachten Nachricht Andeutungen, die diesen Verdacht erhärten, und versucht, Fouad nach New York zu locken, wo er ihm entscheidende Enthüllungen verspricht. Fouad entschließt sich tatsächlich, als Teil der offiziellen Delegation Präsident Chaouch zum G-8-Gipfel zu begleiten. Auf dem Flug weiht dieser Fouad in einen Traum ein, den er während seines Komas hatte, eine surreale Parabel über politische Macht und Ohnmacht.

Erster Teil

»Verbannen wir Trübsal und Angst«

1.

An diesem Nachmittag Ende Mai raste ein Zug mit großer Geschwindigkeit durch die kahlen Hügel des algerischen Hinterlandes. Nachdem er von der Strandpromenade, an der sich der Bahnhof von Algier erhob, ausgehend an der Küste entlanggefahren war, war der Triebwagen Richtung Bejaïa in eine Gegend abgebogen, die aus Schluchten und Wadis bestand und in einer für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze dahinschmachtete. An der Eingangstür jedes der klimatisierten Waggons zeigten die Skalen der Thermometer eine Temperatur zwischen 37 und 39°C an; nur als sie aus der Hauptstadt herausgefahren waren, hatten sie im lärmenden Viertel von El-Harach die Marke von 40°C überschritten, während Horden barfüßiger Kinder eine Lawine aus Müll und Steinen auf die Lok hatten niederregnen lassen. Ungefähr drei Stunden später legte sich ein Schatten über den mächtigen Rumpf des TGV, der mit einem grünen und einem weißen Streifen überzogen war und so an die Nationalflagge denken ließ: Aus einem Gebirgsausläufer aus Kalkstein war ein Adler wie aus einer Parallelwelt aufgestiegen und richtete seine schwarz-gelben Augen auf die glühenden Gleise dieser Bahnstrecke, auf der gerade zweihundert Seelen dahinrasten.

Die unruhigste Person in diesem Zug war, wie es sich gehört, auch die aufmerksamste. Marieke fielen Baumstümpfe zu beiden Seiten des Korridors auf, durch den die Gleise verliefen. Es kam ihr so vor, als beeilte sich der Zug, als wollte der Lokführer nicht länger auf diesem anonymen Friedhof verweilen, in diesem zerstörten Unterholz, das von einem Bürgerkrieg zeugte, von dem sich das Land noch immer nicht erholt hatte. Um Anschläge zu verhindern, räumte man die Umgebung von Gleisanlagen frei. Vorher hatte es wöchentlich Hinterhalte gegeben. Seit einiger Zeit versteckten sich maghrebinische al-Qaida-Kommandos bei den kabylischen Rebellen. Marieke hatte sich über das Thema im Zuge einer lang andauernden Recherche informiert, die nie zu einem greifbaren Ergebnis geführt hatte, ganz wie – das musste sie einräumen – der Großteil ihrer Recherchen. Sie verbog sich, um in einer Ecke der Scheibe ein Stückchen Himmel zu sehen. So begriff sie als Erste, dass der Adler sich nicht damit begnügte, von Zeit zu Zeit aufzutauchen, sondern dass er ihnen folgte, ganz absichtlich über ihrem Zug dahinglitt, als wollte er dessen Kurs überwachen.

Marieke entschied, dass es sich um ein böses Omen handelte. Ein Seitenstechen ließ sie das Gesicht verziehen, ihr Herz verkrampfte sich. Sie schloss die Augen, um ihre Atmung zu beruhigen, träumte davon einzuschlafen, merkte jedoch sofort, dass ihr das niemals gelingen würde. Ein Geräusch hinter ihr lenkte sie ab. Sie ließ sich den Gegenstand des Streits live übersetzen. Ein aufgebrachter Mann warf einem greisen Ehepaar vor, in einer Tasche Wegzehrung dabeizuhaben, die nach faulen Eiern und verschimmeltem Käse roch. Die alten Leute beschuldigten ihn, auf der Toilette geraucht zu haben. Der Kontrolleur plauderte im Mittelgang, statt den Passagieren mit Sitzplatzreservierung Erfrischungen von seinem Wagen anzubieten. Er wischte sich die Stirn ab und näherte sich ohne große Überzeugung dem Ort des Aufruhrs, wobei er beschwichtigende Worte vor sich hinmurmelte. Als er an Marieke vorbeiging, schloss sie die Augen. Ein Bild formte sich vor ihrem inneren Auge: Ihre unbekannten Sitznachbarn wurden leicht im Rhythmus des Zuges hin und her geschaukelt, doch sie waren bei lebendigem Leib verbrannt, verkohlt, mit offenem Mund, wie man es von Toten kennt, doch in ihren Augen sah man noch Bewegung, ein Feuer, den Abglanz des Schreckens, den sie durchlebt hatten.

Marieke drehte sich zu den Mitreisenden um, die sich an der Nase kratzten, schnarchten, furzten und dabei so taten, als wehte der unangenehme Geruch von irgendwo zu ihnen heran. Sie waren also erkennbar am Leben, und ihre Schultern bewegten sich nicht, obwohl der Zug die Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Wollte der Kontrolleur etwa die Nachricht verbreiten, dass sie ihr Ziel erreichen würden, dass es nichts zu befürchten gab? Wenn das der Fall war, glaubte Marieke ihm kein Wort. Sie fühlte, dass es besser war, die Augen offen zu halten, doch die Landschaft, die sie in hoher Geschwindigkeit durchquerten, verschmolz zu einem verschwommenen, gleißenden, kaleidoskopartigen Bild, das ihr – wie dumm – den Tod ins Gedächtnis rief, dem sie gerade noch einmal entronnen war, bevor sie diese Reise angetreten hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass sie ihrem eigenen Tod um ein Haar entkommen war, doch diesmal war es anders. Verwirrende Gefühle quälten sie, raubten ihr den Atem und verursachten ihr Schwindel. Sie hatte der Angst nachgegeben. Ihr gesamtes System drohte zu kollabieren, denn es erforderte Unwissenheit: Üblicherweise leugnete sie einfach die ungleichen Machtpositionen in den Kämpfen, in die sie sich mit Haut und Haaren und immer mit dem Kopf voran stürzte. Ihre Stärke war nicht die des biegsamen Schilfs, sondern die des Sandkorns im Räderwerk einer Maschine. Nur hatte dieses Sandkorn seit dem vergangenen Tag Risse bekommen, ähnelte einem Atom, das kurz davor stand, sich zu spalten und dabei seine große radioaktive Frage abzustrahlen: wozu?

Marieke hatte ihre Grenzen immer weiter verschoben und ihre goldene Regel missachtet: Sie hatte mit einem Mann geschlafen, der ihr nicht gleichgültig war. Um sich den Kopf durchzupusten, und vielleicht auch als eine Art Selbstgeißelung, hatte sie sich nachts zu einem Kletterfelsen im Wald von Fontainebleau begeben, wo sie auch sonst kletterte. Doch ihre Erfahrung hatte ihr nichts genutzt. Sie war abgerutscht. Ohne das Seil, das ihr von der Klippe herunter zugeworfen worden war, hätte sie zehn Meter tiefer auf dem Boden zerschmettert gelegen.

Als sie dann schließlich gerettet war, hatte sich die Schattengestalt, die ihr Hilfe geleistet hatte, in Luft aufgelöst. Mariekes Hände waren blutig zerschrammt gewesen; sie war einige Meter vorangestolpert und hatte gesehen, wie eine weibliche Gestalt über einen weiter unten gelegenen Pfad davongelaufen war. Ihr Gesicht war hinter einem Schleier verborgen gewesen. Sie hatte für Marieke eine nachlässig gefälschte Louis-Vuitton-Tasche zurückgelassen, was man am fehlenden zweiten T der Beschriftung ablesen konnte. In der Tasche fand Marieke ein Flugticket, einen gefälschten Pass mit einem echten Foto von ihr und einem gültigen Visum sowie eine auf ein Post-it gekritzelte Adresse in Algerien: »18 Uhr, Place du 1er Novembre, Bejaïa. Kommen Sie allein.«

Die darauffolgende Nacht war dann eine Abfolge anstrengender Wegstrecken gewesen: mit dem Motorrad von Fontainebleau nach Paris, mit dem Auto von Paris nach Orly, im Flugzeug bis nach Algier. Marieke gestattete sich zwei Stunden Ruhe in einem schäbigen Hotel in der Nähe des Flugplatzes Boumédiène, ohne dabei ein Auge zuzumachen. Schließlich war sie in diesen Zug gestiegen, mit einer Tasche als einzigem Gepäckstück. In sie hatte sie hastig eine Zahnbürste, ein Handy, das sie im Duty-free-Shop erstanden hatte, und eine Brieftasche mit 500 Euro gestopft. Noch einmal denselben Betrag in algerischen Dinar hatte sie im Futter der Tasche versteckt. Schließlich und vor allem hatte sie noch einen leeren Notizblock und mehrere Kugelschreiber dabei, falls das Geständnis, das sie zu hören erwartete, ausführlicher werden sollte. Sie hatte sich vorgenommen, jedes Wort, jeden Seufzer und jedes Zögern festzuhalten, denn es war unwahrscheinlich, dass ihr Gesprächspartner ihr erlauben würde, das Ganze aufzunehmen …

Der Zug bremste, als er sich der Endstation näherte. Marieke konnte die Ankunft kaum noch erwarten. Ihr Sitznachbar machte sie mit einer Geste auf sich aufmerksam, bevor er zum Himmel deutete: »Sehen Sie ihn? Haben Sie ihn gesehen? Er folgt uns schon seit Blida, vielleicht sogar schon länger …«

Marieke hatte nicht die geringste Lust, sich zu unterhalten. Glücklicherweise fuhr der Zug bereits in den Bahnhof von Bejaïa ein. Die Fahrgäste bildeten schon eine lange, ungeduldige Schlange im Mittelgang. Marieke setzte die Schultern ein, um sich ihren Platz darin zu erkämpfen. Die Schleuse leerte sich dann rascher als erwartet. Noch ein letztes Hindernis trennte sie vom lichtdurchfluteten Bahnsteig: ein fettleibiger Mann, der sich langsam umwandte und ihr direkt in die Augen sah. Er war ein Muslimbruder, bartlos bis auf ein spärliches Band rötlicher Haare, die er sicherlich über mehrere Jahre hinweg hatte hegen und pflegen müssen. Er ließ seine Bifokalbrille auf die Nasenspitze rutschen, um die Ungläubige besser taxieren zu können. Seine salbeigrünen Augen wiesen einen Tick auf, der auf den ersten Blick gar nicht auffiel: eine schnelle, asynchrone Seitwärtsbewegung der Pupillen zum Augenwinkel hin, die seine Hässlichkeit aggressiv und geradezu monströs erscheinen ließ.

Die elektrische Tür glitt auf. Marieke beeilte sich, auf den Bahnsteig hinauszukommen, ohne sich noch einmal zu dem Muslimbruder umzudrehen, der sie gerade hatte ansprechen wollen.

2.

Auf den Schildern stand Bejaïa – Vgayet – in drei Alphabeten arabisch, lateinisch und amazigh.

Marieke sprang in das erstbeste Taxi: »Place du 1er Novembre.«

»Place Gueydon«, verbesserte sie der Fahrer spöttisch, bevor er träge am Lenkrad drehte.

Eine halbe Stunde später teilte er ihr mit, dass er sich weigere, den letzten Rest des Anstiegs hochzufahren. Marieke fragte nicht weiter nach. Sie hatte gespürt, dass er jedes Mal, wenn der Verkehr auf diesen abgenutzten Straßen ins Stocken kam, am Rande eines Herzinfarkts stand. Vor ihnen erhoben sich Staubwolken, und sie mussten Schlaglöcher und Rüttelschwellen umkurven und ständig wegen irgendwelcher Fußgängertrauben Vollbremsungen hinlegen, die auf vollkommen anarchische Weise die Straße überquerten, wobei sie die Autofahrer mit unerklärlich herausfordernden Blicken bedachten.

Entlang der verstopften Straße, in der sie gestrandet waren und die sich simultan zu den Arterien des »Taxlers« – so lautete die Firmenbezeichnung auf seiner Visitenkarte – zusammenzuziehen schien, existierten keine Gehwege mehr. Er verlangte eine Bezahlung in Euro. Marieke seufzte, schüttelte den Kopf und drückte ihm ein Bündel Dinar in die feucht-fettige Hand. Während er den Rückwärtsgang einlegte, murmelte er eine komplizierte Verwünschung vor sich hin. Nachdem sie einmal ausgestiegen war, zerriss die Journalistin die Visitenkarte und sah zu den verfallenen Gebäuden der Altstadt auf. In diesem ehemaligen Kolonialviertel waren die Fassaden weiß, die Fensterläden blau und die Balkongeländer schmiedeeisern, ganz wie in jedem beliebigen Zentrum einer südfranzösischen Provinzhauptstadt. Marieke ging in Richtung des hoch gelegenen Platzes, an dem sie verabredet war. Dabei ignorierte sie die Horden junger Männer, die an den abblätternden Hauswänden lehnten und einen Blick über ihre Europäerinnengestalt schweifen ließen, in dem sich sexuelle Frustration, der Hass auf Frauen im Allgemeinen sowie die Verblüffung über das betont lässige Outfit dieses Exemplars im Besonderen miteinander mischten: Stiefel mit klappernden Absätzen, eine enge Jeans, die ihren wohlgeformten Hintern in Szene setzte, ein rotes Spaghettiträgertop, kein BH, ihre festen und prallen Brüste hatten keinen nötig.

Trotz der späten Stunde war die Hitze noch immer nicht abgeklungen, und die Luft stand feucht und drückend. Mit den Fingerspitzen zupfte Marieke sich den Stoff ihres schweißdurchtränkten Oberteils von der Haut und fächelte sich vor einem großen Tollpatsch mit winzigem Gesicht und Wangen voller Aknenarben kräftig Luft zu. Sie nahm die Sonnenbrille ab, ihre arktischen Augen ertrugen nur schwer den Angriff des zu grellen Lichts.

Ihr Nacken und ihre Unterarme machten ihr zu schaffen. Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf und streckte sich. Ihre kräftigen Kletterchampionschultern knackten.

Der junge Mann hatte ansonsten nichts zu tun, traute sich inzwischen aber nicht mehr, sie anzusehen. Vor ihm lag eine Zeitung, die sie sich schnappte. Liberté war die beliebteste kabylische Tageszeitung, die in Bejaïa viel gelesen wurde – »Bougie« hatte die Stadt zur Kolonialzeit geheißen, »das Juwel der algerischen Küste« hatte der Taxler es genannt. Ein Foto von Chaouch im Rollstuhl auf der Vortreppe des Élysée nahm einen prominenten Platz auf der Titelseite ein. Der französische Präsident würde am G-8-Gipfel in Amerika teilnehmen, und der Leitartikel erweckte den Eindruck, dass die Algerier sich dafür interessierten, als ob er nicht in Frankreich, sondern an die Spitze der demokratischen Volksrepublik gewählt worden wäre. »Zwei Wörter, zwei Lügen«, auch das hatte der Taxler gesagt und hinzugefügt: »Denn beim Volk beliebt ist sie auch nicht«. Auf Seite 3 zeigte eine Karikatur von Ali Dilem, wie die große Nase und die Augen ganz Algeriens über den Atlantik gerichtet wurden, auf die New Yorker Wolkenkratzer, auf deren Spitze der »Spross des Landes« mit stark verlängerten Armen das Victory-Zeichen formte – wahrscheinlich eine Anspielung auf Richard Nixon.

Marieke hatte ganz vergessen, dass Chaouch aus der Kabylei stammte, fast hätte sie den pickligen Einfaltspinsel nach seiner Meinung gefragt, doch der schaute noch immer weg, und sein Mund war demonstrativ angeekelt verzogen. Also warf sie ihm die Zeitung lieber wieder hin und legte dann das letzte Stück des Anstiegs zurück.

Oben angekommen erreichte sie einen Platz, der vom welligen Laub einer Vielzahl von Bäumen geradezu erstickt wurde. Ein paar Jungs kickten mit einem kaputten Ball inmitten der Hunde und der Arbeitslosen jeden Alters, die auf Plastikstühlen herumfläzten und ihren fünfzehnten Kaffee hintereinander mit geschürzten Lippen schlürften, wie man sie von erschöpften Denkern kennt. Am Horizont betonte ein rotorangefarbenes Band die Klippen. Die vor Anker liegenden Boote schaukelten in einem blauen Strahlenkranz wie schwerelos dahin. Marieke beugte sich vor. Zehn Meter weiter unten, am Fuß der Stadtmauer, lagen einige Blumensträuße auf dem Gehweg inmitten des hysterischen Balletts der Autos und Mofas, die so frisiert worden waren, dass sie noch lauter knatterten.

»Das ist der Lieblingsplatz für junge Selbstmörder in der Gegend.«

Obwohl sie sie noch nie vernommen hatte, erkannte Marieke umgehend Nazir Nerrouches Stimme, die von derselben Färbung wie die Fouads war, seines Bruders, den sie seit gestern oder vorgestern auf eine sehr intime Weise kannte. In der Gluthitze hatte sich ihr Zeitgefühl aufgelöst. Beim Gedanken an ihre erst kürzlich vollführten Liebesspiele stieg eine Wärme aus ihrem Bauch empor, für die sie sich schämte und die sich in eine eisige Kaskade verwandelte, als der meistgesuchte Mann der Nordhalbkugel neben sie ans Geländer trat.

Sie gab sich Mühe, den Kopf nicht umzuwenden. Ein üppiger schwarzer Vollbart, rechteckig gestutzt, erschien am Rand ihres Blickfelds. Die hoch aufgeschossene Gestalt seines Besitzers war in ein langes Gewand gehüllt, die Dschellaba der Salafisten, die bis an die Knöchel reicht. Ein weißes Käppchen bedeckte den anscheinend kahlen Kopf. Die Augen waren hinter einer schmalen Sonnenbrille verborgen, über der dennoch keine Augenbrauen zu sehen waren. Marieke fragte sich, ob sie außergewöhnlich tief saßen oder ob er sie zusammen mit seinem Haupthaar abrasiert hatte.

Nazir bemerkte, dass sie ihn unauffällig taxierte und dass ihre Überraschung größer war als ihr Entschluss, sich nichts davon anmerken zu lassen. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen lehnte auch er sich nach vorn und betrachtete das Getümmel weiter unten, dessen Lautstärke in diesem Moment abzunehmen schien. Es gab kaum Ampeln in algerischen Städten: Nichts vermochte die Stille zu erklären, die sich auf einmal über die Uferpromenade gesenkt hatte. Nazir stellte sich auf die Zehenspitzen. Er war ungefähr 1,90 groß, schätzte die Journalistin, dabei war er schmal und sehnig, die Finger, mit denen er schließlich den Stein berührte, wirkten lang und beweglich, als wären sie mit einem Eigenleben ausgestattet. Es waren die Finger eines Hypnotiseurs. Um den Bann zu brechen, stellte Marieke sich vor, dass, sollte es zu Handgreiflichkeiten kommen, ihre eigenen vom Klettern kräftigen und gestählten nützlicher wären.

Vögel hatten begonnen, im Geäst der Bäume zu zwitschern, und Nazir atmete die abendliche Luft ein, um diese Kakofonie in sich aufzunehmen, die eines tropischen Urwalds würdig gewesen wäre und in ihm uralte Erinnerungen wachrief.

3.

»Sie haben recht, vor ein paar Jahren hätte ich mit dieser Verkleidung noch sämtliche Blicke auf mich gezogen. Vor allem hier.«

»Verkleidung?«, rief die Journalistin mit der Reibeisenstimme erstaunt aus.

Nazir machte eine Pause und drehte sich dann um. Seine Bewegungen waren flink, scharf, vor allem hinterließen sie keinen Sinneseindruck. Sein Körper wechselte von einem unbewegten Zustand in den nächsten und verwischte dabei jede Spur des Übergangs und zwar so gut, dass es so schien, als hätte er Stunden wie versteinert in der Position zugebracht – aufrecht, aber ohne steif zu wirken –, in der man ihn dann schließlich erblickte.

»Seien Sie versichert, ich riskiere nichts. Außerdem mache ich keinen Schritt ohne meinen Schutzengel.«

Marieke drehte sich nun ihrerseits um, um Bekanntschaft mit seinem Gorilla zu machen. Doch statt eines Gorillas handelte es sich dabei um einen wirklichen Affen mit wildem Fell und ohne Schwanz, der auf den Sitzen der benachbarten Terrasse Angst und Schrecken verbreitete, indem er ein beträchtliches Geschrei ausstieß.

»Das ist ein Magot oder Berberaffe, die einheimische Variante, sehr aggressiv, wie Sie sehen können.«

Eine seltsame Müdigkeit hatte von der jungen Frau Besitz ergriffen; sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu gähnen. Im Gegensatz zu der seines Bruders war Nazirs Stimme weder süß noch weich. Er artikulierte deutlich, sprach dabei jedoch leise – oder nicht wirklich leise, eher distanziert, als stünde er einige Meter von ihr entfernt, wobei er ihr doch in Wirklichkeit so nahe war, dass sie ihn hätte ohrfeigen können. Marieke wollte ihm nicht die Hoheit über den Small Talk überlassen. Sie musste sich vor allem den rauen Klang ihrer eigenen Stimme sowie ihren Kampfgeist ins Gedächtnis rufen, dessen Effekt auf ihre Gesprächspartner sie unter normalen Umständen sehr genoss.

»Wie heißt er denn, der Affe?«

In einem Lidschlag hatte Nazir sein Käppchen abgenommen und war sich mit der Hand über den kahlen Schädel gefahren. Seine Blässe erstaunte Marieke, die noch immer den Geschmack der dunklen und süßen Haut seines kleinen Bruders auf der Zunge hatte.

»Mein eigener Name ist vor fünfzig Jahren von der Kolonialverwaltung erfunden worden. Letzten Endes bin ich nicht überzeugt, dass es eine so gute Idee ist, den Lebenden Namen zu geben. Primaten, Menschen … Aber ich parke in dritter Reihe, wir sollten uns beeilen.«

Der Affe hatte eine spontane Abneigung gegen Marieke entwickelt. Das teilte er ihr mit, indem er ins Auto sprang und versuchte, ihr Gesicht zu zerkratzen. Nazir scherte sich nicht darum. Er manövrierte seinen grauen Logan durch die Gassen der verstopften Altstadt, benutzte erstaunliche Abkürzungen mit ruhiger Gewissheit, die sie schließlich auf eine breite, von Palmen gesäumte Allee Richtung Osten führte. Sie durchquerten die »Neustadt«, die sich wie ein Krebsgeschwür von der Altstadt her ausbreitete und dabei jeden verfügbaren Winkel der Erhebungen mit Meerblick auffraß.

Auf dem imposantesten dieser Hügel war der Namen BEJAÏA in Leuchtbuchstaben aufgebaut und parodierte somit das Hollywoodzeichen in Los Angeles. Doch von sechs Buchstaben blieben drei dunkel: Es waren nur die drei Buchstaben B, E und A zu lesen – bienvenue en Algérie, willkommen in Algerien.

Als der Makak endlich von ihr abgelassen hatte, hatte Marieke alle Zeit der Welt, um die nachlässig zusammengezimmerten Bauten und die Fronten zu betrachten, die wie Kulissen ohne Tiefe wirkten, Schaufenster von Internetcafés und Läden, die Krimskrams oder Billigklamotten feilboten. Es wimmelte von Häuserblocks, die sich in alle Richtungen aneinanderquetschten. In ihnen wohnten schon Menschen, bevor sie überhaupt fertiggestellt waren, sie bestanden aus nackten Betonfassaden, Parabolantennen, die nach Frankreich hin ausgerichtet waren, und halb fertigen Balkons, die ohne Geländer über dem Nichts hingen.

Am Stadtausgang hatte eine Militärkontrolle einen Stau von beträchtlichem Ausmaß erzeugt. Marieke musterte unauffällig ihren neuen Chauffeur und hoffte, bei ihm irgendeine Spur von Furcht auszumachen. Nazirs Augen waren starr auf die Windschutzscheibe des Autos gerichtet, das ihnen den Weg versperrte. Ein dicker, frommer Finger hatte in die Staubschicht darauf Allahs Namen geschrieben.

»Schauen Sie mal auf dem Rücksitz nach«, sagte er plötzlich mit seiner fremdartigen, distanzierten Stimme, »da finden Sie ein Kopftuch und ein Jäckchen, mit dem Sie sich die Arme bedecken können.«

Marieke leistete der Aufforderung Folge und seufzte dabei, um ihrem Widerwillen Ausdruck zu verleihen. Die Soldaten warfen immer wieder kurze Blicke in ihre Richtung, während sie Nazirs Pass studierten, in dem ein gefalteter Brief lag. Der Offizier verbeugte sich respektvoll und bellte einen Befehl, man möge sie passieren lassen.

Nazir fuhr wortlos weiter. Nach einer Minute drehte er sich um. Die Sonne war inzwischen hinter den Klippen versunken. Am Rand der Rückbank hatte sich der Affe wie tot auf der Seite ausgestreckt.

»Mögen Sie Sardinen? Ich nehme an, Sie sterben nach den ganzen Abenteuern vor Hunger.«

»Darf ich erfahren, wo Sie mich hinbringen?«, fragte Marieke, während sie sich das Kopftuch wieder herunterriss.

Nazir nickte. Dabei machte er den Eindruck, als führte er parallel ein Selbstgespräch.

»Sie werden mit diesem Interview berühmt werden. Von einem Tag auf den anderen.«

Aus seinem Ton konnte man schließen, dass er davon ausging, dass Marieke darauf nicht vorbereitet war. Sie wollte gerade etwas erwidern, als Nazir etwas ganz Erstaunliches tat: Er hielt am Straßenrand, öffnete die Tür und ließ den Affen hinaus, der im Halbdunkel der Böschung verschwand. Dann schloss Nazir die Tür wieder, packte das Lenkrad und fuhr weiter.

»Keinen Schutzengel mehr?«, wagte Marieke sich vor, auf der das Schweigen unangenehm zu lasten begann.

»Sie sind ab jetzt mein Schutzengel. Beziehungsweise meine Lebensversicherung, wenn Ihnen das lieber ist.«

Marieke blickte zum noch blauen Himmel auf, der sich am Horizont, wo sich Meer und Berge trafen, bereits verfinsterte. Und mitten am Himmel bemerkte sie dann einen Schatten, der wie eine Warnung über ihrem Fahrzeug schwebte. Der Adler war zurück. Marieke änderte ihre Position und klammerte sich an der Armlehne der Beifahrertür fest.

»Ich bin nur gekommen, um Sie zu interviewen. Es ist nicht meine Art, Partei zu ergreifen.«

»Sie haben einen ganzen Haufen Leute nach New York geschickt, obwohl Sie genau wussten, dass es eine falsche Fährte war. Sie sind jetzt meine Komplizin geworden. Ob Sie es wollen oder nicht, Sie haben Partei ergriffen.«

»Was denn, für Ihre Sache?«, entgegnete Marieke mit einem kurzen spöttischen Lachen.

»Genau«, antwortete Nazir daraufhin geheimnisvoll.

Doch Marieke ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Wie würden Sie diese Sache denn beschreiben?«

»In Worten, wie sie die Strafprozessordnung verwendet: als Wahrheitsfindung.«

Während er sich einer Kreuzung näherte, an der drei Männer auf ihren Mofas saßen und rauchten, wurde der Logan langsamer. Nazir wendete und bog in eine Seitenstraße ein, die er kurz zuvor verpasst hatte. Auf der linken Spur kroch eine Autoschlange langsam voran. Die Fahrzeuge kamen vom Strand, die Insassen wirkten müde. Alle hatten die Scheiben geschlossen. Die Straße führte nämlich an der offenen Mülldeponie von Boulimate vorbei. Beim Verbrennen verströmte der Abfall einen endzeitlichen Gestank. Eine Rauchsäule schaukelte schwer in der Abendluft. Marieke war kurz davor, sich zu übergeben, als die Straße eine Kurve beschrieb und unterhalb einer zwar ebenfalls müllbedeckten, aber immerhin windgeschützten Düne entlangführte.

»Wissen Sie, das ist übel, wie sie ihren Müll einfach an den Straßenrand schmeißen. Ich bin in den letzten Jahren viel rumgekommen, aber ich habe nirgends einen Selbsthass erlebt, der dem der Algerier gleichkommt. Außer vielleicht in Frankreich, wo allerdings – das muss man anerkennen – die Müllabfuhr immer noch einen guten Job macht.«

Die Journalistin schüttelte den Kopf. »Können wir loslegen? Ich habe meinen Notizblock und meine Fragen. Wohin bringen Sie mich denn nun?«

Unter normalen Umständen war ihr Akzent für den unaufmerksamen Hörer nicht zu erkennen. Sie war in einem kleinen Dorf in Flandern aufgewachsen, ihre Mutter stammte aus Gent, der Vater aus Antwerpen, er war allerdings französischer Muttersprachler. Ihre Studienjahre in Lüttich (dessen Namen sie immer noch im örtlichen Dialekt aussprach) hatten ihr jedweden belgischen Akzent so unangenehm und deprimierend werden lassen wie ihre Erinnerung an den Bauernhof, auf dem sich in ganz durchschnittlicher Weise ihre wilde Kindheit abgespielt hatte, am Strand der Nordsee, deren Farbe sich täglich änderte. Es war ein schlechtes Zeichen, wenn ihre germanischen R wieder durchbrachen wie ein Fluss, der über seine Ufer tritt. Damit ging nämlich einher, dass sie zu viele Fragen in zu kurzer Zeit stellte. Nazir antwortete ihr im Übrigen auch mit erkennbarem Missfallen.

»Ich muss Sie noch um ein paar Minuten Geduld bitten.«

Marieke kaute auf dem Pflaster herum, das sie sich von ihrem verletzten Finger abgepult hatte, um sich davon abzuhalten, ihn auf Flämisch zu beschimpfen.

Die Stolperschwellen vervielfachten sich, während sie Richtung Meer hinabfuhren, dessen phosphoreszierende Oberfläche inzwischen in einem Winkel ihrer Scheibe aufgetaucht war. Sie begann, das Salz der Gischt auf ihren nackten Armen zu spüren.

4.

Nazir parkte auf einem Plateau, das durch große Felsen begrenzt wurde, mit ordentlichem Abstand zu den anderen beiden dort abgestellten Autos. Da es in Algerien keinen Tourismus von außerhalb Nordafrikas gab, blieb eine der schönsten Mittelmeerküsten von den Betonriegeln verschont, die ihre nördlichen Pendants entstellten. Das »Restaurant«, in das Nazir sie brachte, bestand nur aus ein paar am Wasser hingeworfenen Brettern, drei Tischen und ungefähr zehn Plastikstühlen, einem Rost, einem Feuer und ein paar langen Fackeln, die an allen vier Ecken der Terrasse aufgestellt worden waren.

Marieke hatte die Schuhe ausgezogen. Der Sand war kühl und mit Glasscherben und leeren Heineken-Flaschen übersät. Um die Bucht herum zog sich eine Küstenstraße an den Klippen entlang, auf denen Sträucher wucherten, deren Spitzen die letzten Sonnenstrahlen aufflackern ließen. Sie setzten sich einander gegenüber. Marieke steckte ihre Sonnenbrille ein und zückte den Notizblock. Das Geräusch der Brandung irritierte sie wie das Pendel einer Uhr, dessen Ticken man nicht mehr ausblenden kann, wenn man unglücklicherweise erst einmal darauf aufmerksam geworden ist.

Ein junges Paar aß am Nebentisch zu Abend. Sie hatten ihr Baby dabei, das in seinem Kinderwagen wimmerte. Die Frau war locker verhüllt und offenbar erneut schwanger, sie hatte blondiertes Haar und gezupfte schwarze Augenbrauen, zu sehr gezupft für Mariekes Geschmack. Ihre großen, spitzen Brüste zeichneten sich unter einer schwarzen Spitzenbluse ab. Ihr Ehemann trug ein bedrucktes T-Shirt, eine Jogginghose und Nike-Turnschuhe. Sein Haar war sehr kurz geschnitten und an den Seiten gestuft, seine Brust wirkte eingefallen, und der gelbe Riemen einer Lacoste-Tasche lief quer darüber.

Sie sprachen nicht, sahen einander noch nicht einmal an. Die Frau wirkte bedrückt.

Ein kleiner Mann deckte ihren Tisch. Er pfiff und hatte einen dicken Schnurrbart, dessen Farbe an Rohrohrzucker erinnerte. Einige Minuten später wurden ihnen die besten gegrillten Sardinen des gesamten Maghreb zusammen mit einer Flasche Selecto – der algerischen Cola – serviert. Marieke würdigte ihren Teller keines Blickes. Mit dem Stift in der Hand stürzte sie sich ins Gespräch.

»Nazir Nerrouche, Sie werden beschuldigt, das Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten Idder Chaouch in Auftrag gegeben zu haben. Ihr Cousin Abdelkrim Nerrouche hat am 6. Mai dieses Jahres aus kurzer Distanz auf ihn geschossen. Seit dem Attentat sind nun vierzehn Tage vergangen, und Sie haben sich noch immer nicht dazu bekannt. Meine erste Frage ist ganz einfach: warum?«

Nazir biss den gegrillten Kopf der ersten Sardine ab. Marieke blinzelte. Sie sah ihren Gesprächspartner im Profil, er blickte aufs Meer hinaus, in Richtung des allmählich immer dunkler werdenden Horizonts und Richtung Frankreich, das unsichtbar dahinter lag.

»Ich dachte, Sie hätten Ihre Hausaufgaben gemacht. Ich habe mich nicht dazu bekannt, weil ich es nicht in Auftrag gegeben habe, und Sie wissen sehr genau, wer es in Auftrag gegeben hat.«

»Geben Sie denn wenigstens zu, es organisiert zu haben?«

»Okay. Als ich Sie hierher gerufen habe, habe ich damit gerechnet, dass Sie Erklärungen hören wollen würden. Doch in Ihrer Stimme schwingt nach meinem Dafürhalten eine andere Forderung mit.«

Marieke schrieb all das wortwörtlich auf. Während sie Nazir anblickte, sah er weiter aufs Meer hinaus, seine Hände ruhten flach auf seinen Knien.

»Sie wollen ein Geständnis.«

»Was ist der Unterschied? Ein Geständnis, Erklärungen. Ich möchte jedenfalls Ihre Version der Tatsachen hören.«

»Nein, die Tatsachen interessieren Sie doch nicht. Sie wollen, dass die Verbrecher bestraft werden, dass die Schuldigen das Übel anerkennen, das sie angerichtet haben. Aber ich glaube nicht an Gut und Böse, ich bin kein Christ, wissen Sie. Ich bin versucht zu sagen: Das Gegenteil ist der Fall … Ich glaube weder an die Sünde noch an Vergebung, noch an … wie nennen sie es noch gleich? Ach ja, genau: an die Absolution.«

»Ich weiß, dass Sie gedeckt wurden, so wie Sie offenbar auch hier gedeckt werden. Meine Recherchen haben ergeben, dass Sie beim Geheimdienst angestellt waren. Können Sie mir denn wenigstens bestätigen, dass Sie als Spitzel für die DCRI gearbeitet haben?«

Unter seinem Bart nahm Marieke einen Tick war, der sie wieder an Fouad erinnerte. Die Elastizität ihrer beiden Münder war die gleiche, Marieke ertappte sich bei der Frage, ob seine Lippen wohl genauso schmeckten und dieselbe Textur hatten wie die des Mannes, mit dem sie zuletzt geschlafen hatte.

Am Nachbartisch hatte das junge Paar begonnen, auf Französisch miteinander zu sprechen, im Akzent von Toulouse. Nazir senkte leicht den Kopf, und Marieke sah den dunklen Winkel seines rechten Auges hinter einem der Brillengläser.

»Sie behaupten, das Attentat nicht in Auftrag gegeben zu haben, das Ihr Cousin Abdelkrim verübt hat. Die Antiterroreinheit der Polizei hat letzte Woche eine Splittergruppe ausgehoben, die das Attentat für sich beansprucht. Bis auf sehr wenige Ausnahmen waren sie alle gleich alt und Ihrem Cousin nicht unähnlich. Sie standen alle auf die ein oder andere Weise mit Ihnen in Verbindung.«

»Und hat denn ein Einziger von ihnen im Polizeigewahrsam vorgegeben, dass ich ihn bewaffnet oder finanziert hätte? Was ist mit Krim selbst, hat er mich wegen irgendetwas beschuldigt?«

Marieke rutschte unruhig auf ihrem Plastikstuhl herum. »Und dennoch haben die gerichtlichen Ermittlungen Sie als den Drahtzieher hinter dem Attentat und den Spiritus Rector hinter dem Netzwerk ausgemacht, das seine Vorbereitung ermöglicht hat. Wie erklären Sie das?«

»Bah, die Republik hat sich schon immer Kontrastfolien bedient, Staatsfeinden, teuflischer Gegner. Die ideologische Färbung des Dämons variiert über die Zeit hinweg. Ich stelle fest, dass heute die Religion als wichtigstes Auswahlkriterium dient, eine bestimmte Religion, das haben Sie schon verstanden.«

Marieke nickte, sie war zufrieden, nicht so sehr mit dem Inhalt seiner Antworten als vielmehr damit, dass er sich überhaupt dazu herabließ, welche zu geben.

»Ihren Cousin Krim haben Sie also nicht ferngesteuert, damit er dieses Attentat begeht? Sie haben nicht mit ihm gesprochen? Sie haben sich ihm gegenüber nie feindselig gegenüber Chaouch geäußert?«

»Nein, ich habe nicht mit ihm gesprochen. Ich habe ihm zugehört.«

Marieke machte eine kurze Pause. »Würden Sie sagen, dass Sie Angst haben?«

Mit einem Zungenschnalzen signalisierte Nazir ihr, dass er ihr dieselbe Frage stellen könnte. »Ich weiß, was Sie glauben. Sie glauben, Sie hätten ihn für Ihre Zwecke benutzt, um an mich heranzukommen. Aber Sie sind seinem Zauber erlegen.«

»Kommen wir zu Ihren heimlichen Aktivitäten zurück. Wenn meine Informationen stimmen, sind Sie vor drei Jahren im Rahmen einer Mission rekrutiert worden, die …«

»Ich habe sehr früh verstanden, worin die Natur seiner Verführungskraft besteht. Schon im familiären Rahmen ist er der Liebling aller gewesen, wie eine dieser Fernbedienungen, die es früher gab, erinnern Sie sich? Mit der man alle Fernseher kontrollieren konnte. Niemand konnte seinen zusammengekniffenen Augen widerstehen, seinem Lockenkopf, seiner Lebendigkeit, seinem kristallklar dahinplätschernden Lachen, seinem unzerstörbaren Optimismus, dieser … Güte, die ihm alle unterstellten.«

Marieke ließ ihren Stift los und blies auf ihre Sardinen. »Zu Unrecht?«, warf sie provokant ein.

»Jedem seine Art der Rache, wissen Sie. Bei ihm besteht sie darin, so viele weiße Frauen wie möglich zu vögeln, erst im katholischen Gymnasium für Besserverdienende, später dann irgendwelche Möchtegerns aus der Kulturszene, Schauspielerinnen, Journalistinnen … Sie mussten nur weiß sein, sehr weiß, und sie mussten helle Augen haben, so hell wie möglich …«

Es ging kaum heller als das Blau von Mariekes Augen. Sie ähnelten denen einer sibirischen Wölfin. Da sie begriff, dass er auf sie zielte, wand sie sich.

»Jasmine Chaouch sieht aber ganz anders aus …«

»Ah, das … das ist etwas anderes. Bei Jasmine geht es um die Staatsräson.«

Das schiefe Lächeln, das seinen Bart verzog, konnte Marieke sich nicht an Fouad vorstellen. Fouad hatte sie noch nie abstoßend gefunden.

Sie gähnte, die Augen fielen ihr von ganz alleine zu, ihr Kopf wurde schwer. Konnte es sein, dass er ihr etwas eingeflößt hatte? Dabei hatte sie sich davor gehütet, etwas zu essen oder zu trinken, seit sie sich in seiner Gegenwart befand. Es war genau diese Gegenwart, die sie anzweifelte, vor allem seine Stimme – maßvoll, außerirdisch –, die ihre Muskeln entspannte und sie in eine rätselhafte Lethargie versetzte.

»Und Sie, was ist denn Ihr Typ?«

Sein Nasenrücken erzitterte. Sollte es ihr tatsächlich gelungen sein, seinen Panzer aufzubrechen?

»Er fehlt Ihnen, nicht wahr? Ich spüre ihn an Ihnen. Ich muss nur schnuppern, um zu begreifen, dass Sie ihn unter Ihre Haut gelassen haben.«

»Und Sie«, versuchte Marieke abzulenken, »auf welche Art rächen Sie sich?«

»Ich hatte immer nur ein Ziel, und das hat nichts mit Rache zu tun.«

»Die Wahrheitsfindung, stimmt, ich vergaß.«

Die Flammen an der Spitze der Fackeln züngelten, die Temperatur war dabei abzufallen. Zu ihrer Linken hörte Marieke die junge Frau schluchzen und mit einer Stimme voller Bitterkeit, die so geschwollen war wie ihre verweinten Lider, sagen: »Flitterwochen? Scheißflitterwochen …«

5.

Nazir löste den Blick vom Horizont, nahm die Brille ab und sah die Journalistin direkt an. Er hatte sich tatsächlich die Augenbrauen abrasiert, und sein Blick war derselbe wie auf dem Fahndungsfoto, das der Staatsanwalt von Paris am Tag nach dem Attentat präsentiert hatte: Man sah nichts vom Augapfel, alles war schwarz wie eine Ölpest. Unerträglich.