Die Zecke auf Abwegen - Bernd Wieland - E-Book

Die Zecke auf Abwegen E-Book

Bernd Wieland

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Beschreibung

Die „Zecke“ ist zurück! Auch in seinem zweiten satirischen Roman über Hartmut „Die Zecke“ Schminke spielt Bernd Wieland, im Hauptberuf Betriebsprüfer beim Finanzamt, souverän mit gängigen Klischees. Der kleine Finanzbeamte Hartmut Schminke steckt in großen Schwierigkeiten. Sein Sachgebiet wird umstrukturiert und ehe er sich versieht ist er als „Teamfürst“ dafür verantwortlich, aus behäbigen Beamten hocheffiziente Dienstleister zu machen. Diese Herkulesaufgabe setzt ihm gehörig zu und auch privat kommt er ins Schwitzen, denn seine ambitionierte Frau Britta will hoch hinaus: Ein eigenes Haus muss her! „Nur Deppen lassen bauen“ verheißt die Bau-doch-selbst GmbH und ködert Hartmut mit der „Muskelhypothek“. Um den Hausbau zu finanzieren, entwickelt Hartmut sein ganz eigenes Steuersparmodell ... Dann überschlagen sich die Ereignisse. Schminke, von Natur aus eher arbeitsscheu, wird zum Betriebsprüfer befördert. Er nistet sich in der renommierten Steuerberatungssozietät Dr. Plunse ein und erhält dort einmalige Einblicke in die Machenschaften einer Familiensozietät auf der Jagd nach potenten Mandanten. Über allem schwebt die Finanzkrise, die auch bei Familie Schminke ihre Spuren hinterlässt. Was tun, wenn sich das Schwarzgeld-Depot bei Payman-Brothers in Luft auflöst und der Fiskus mit einer Steuersünder-CD droht?

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NWB Verlag GmbH & Co. KG, Herne

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Dieses Buch und alle in ihm enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahmen der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung des Verlages unzulässig.

Zum Buch:
Die „Zecke” ist zurück! Der kleine Finanzbeamte Hartmut Schminke steckt in großen Schwierigkeiten. Sein Sachgebiet wird umstrukturiert und ehe er sich versieht, ist er als „Teamfürst” dafür verantwortlich, aus behäbigen Beamten hocheffi ziente Dienstleister zu machen. Diese Herkulesaufgabe setzt ihm gehörig zu und auch privat kommt er ins Schwitzen, denn seine ambitionierte Frau Britta will hoch hinaus: Ein eigenes Haus muss her! „Nur Deppen lassen bauen” verheißt die Bau-doch-selbst GmbH und ködert Hartmut mit der „Muskelhypothek”. Um den Hausbau zu fi nanzieren, entwickelt Hartmut sein ganz eigenes Steuersparmodell…
Die Ereignisse überschlagen sich: Hartmut, von Natur aus eher arbeitsscheu, wird zum Betriebsprüfer befördert. Er nistet sich in der renommierten Steuerberatungssozietät Dr. Plunse ein und erhält dort einmalige Einblicke in die Machenschaften einer Familiensozietät auf der Jagd nach potenten Mandanten.
Über allem schwebt die Finanzkrise, die auch bei Familie Schminke ihre Spuren hinterlässt. Was tun, wenn sich das Schwarzgeld-Depot bei Payman-Brothers in Luft aufl öst und der Fiskus mit einer Steuersünder-CD droht? Hartmut muss sich etwas einfallen lassen…
Zum Autor:
Bernd Wieland, Jahrgang 1966, ist seit 1996 als Betriebsprüfer tätig. Er ist zudem Verfasser von humoristischen Kurzgeschichten und Sketchen. Nebenberufl ich verdingt er sich als Kabarettist mit eigenem Programm und Darsteller beim Fernsehen.

1. Veränderungen

06:03 Uhr. Wie konnte das passieren? Ich, Hartmut Schminke, war unpünktlich. Hartmut Schminke kam immer um 06:01 Uhr! Aber war es ein Wunder? Herr Axthammer, mein Sachgebietsleiter, hatte uns schon vorgewarnt: Wenn die Controlling-Tante von der Oberfinanzdirektion kommt, wird nichts mehr sein wie es war.
Tatsächlich begann es im Oktober Schlag auf Schlag. In der Kantine wurde eine dritte Wurstsorte eingeführt und im Foyer des Finanzamts eine „Langeweile-Insel” mit drei kuscheligen Plüschsofas und einem ähnlich üppigen Zeitschriftenangebot wie am Bahnhofskiosk aufgestellt. Am beliebtesten waren die beiden Spielekonsolen, die eigentlich immer besetzt waren.
Frau Stöhr und Herr Goller, mit denen ich immer in der Kantine frühstückte, hätten beinahe eine Abmahnung bekommen. Sie hatten auf der Insel täglich gut und gerne zwei Stunden rumgehangen, ohne sich auszustempeln. Frau Stöhr reagierte immer noch gereizt, wenn man sie darauf ansprach: „Das hätte die Amtsleitung aber eindeutig sagen müssen, dass man sich vorher ausstempeln muss!” Da wussten wir, das war erst der Anfang, jetzt wurde es wirklich ernst.
Seit sechs Wochen saß ich jetzt mit Herrn Goller in einem Büro zusammen. Mein Kollege hatte die Hosen randvoll: „Hartmut, ich sag dir, die wollen uns fertig machen!”, jammerte er in jedem zweiten Satz wie ein Waschweib. Irgendwann glaubte man es selbst. Mit einem Mal streckte er seine Hand nach dem gerahmten Gruppenbild aus, das wir an der verlausten Palme vor dem Fahrstuhl als Abschiedsgeschenk für Frau Hoppe-Reitemüller geschossen hatten: „Ja, unser Hoppe-Hoppe-Reiterle, die hat’s richtig gemacht! Haut im seligen Alter von 58 Jahren einfach in den Sack.”
Mit Frau Hoppe-Reitemüller hatte ich volle sieben Jahre eine Büro-Ehe geführt. Es war eine gute Ehe gewesen. Wir hatten uns sogar zu Nikolaus gegenseitig überrascht. Einmal schenkte sie mirOblaten, die ich aber nur im Büro essen durfte, weil sie meiner Frau Britta zu laut knackten.
Und dann verließ sie mich so Hals über Kopf von heute auf morgen. Ihre Kündigung war der Skandal. Sie hätte ja auch einen auf krank machen können, ab und zu mal schrille Schreie ausstoßen oder Steuerbescheide vor dem Finanzamt an Passanten verteilen können. Aber nein, sie verließ ihren Norbert und brannte mit einem Ami durch nach Amerika.
Mir war das gleich verdächtig vorgekommen, dass sie plötzlich dreimal in der Woche tanzen ging. Aber wo war sie wirklich? Beim Wohnmobil-Clubtreffen! Und da hat sie ihren Mc Donald – oder wie der Knabe heißt – kennengelernt.
Mc Donald hatte natürlich eine Concorde – wenn schon, denn schon. Concorde: Das waren diese Luxusappartements auf Rädern. Wie Frau Hoppe-Reitemüller zu diesen Clubtreffen gekommen war, ließ sich nur erahnen. Wahrscheinlich brauchten sie noch ein Bunny-Girl. In der Altersklasse, in der man sich eine Concorde leisten kann, durfte man nicht mehr so wählerisch sein. Da tat es dann auch eine gutgelaunte 58-Jährige, die nicht nur aus Ersatzteilen bestand.
Goller ging mir jetzt schon auf die Nerven. Ich dachte ja immer, der Goller sei so ein ganz Lieber. Jetzt, sechs Wochen später, wusste ich: er war bekloppt. Sogar eine noch beklopptere Zecke als ich.
Wenn Goller kam, zog er erstmal seine Gesundheitstreter aus. Neben seinem Schreibtisch standen in Pole-Position vier Puschenmodelle, in die er je nach Ansage des Wetterberichts und Konstitution seiner Hühneraugen spontan umrüsten konnte. Die geschlossene Variante eines Birkenstockplagiats von ALDI war mir noch die Liebste, weil die Ausdünstungen nur langsam entweichen konnten.
Dann öffnete er so bedächtig, als wolle er eine Bombe entschärfen, seine Schreibtischschublade, holte Kuli, Lineal und die übrigen Büro-Utensilien hervor und ordnete sie immer nach dem gleichen Muster auf seinem Schreibtisch an. Abends wurde alles wiedereingepackt und ein Schreibtischschoner wie ein XXL-Kondom über die Tischplatte gezogen.
Ich hatte mir einmal einen Spaß daraus gemacht und jede Minute notiert, in der er an einem Arbeitstag produktiv tätig war: es waren 41 Minuten. Ein verblüffendes Ergebnis. Ich hatte mit erheblich weniger gerechnet. Meine Zeit lag bei einer Stunde und 33 Minuten. Ich weiß, das war Wahnsinn! Meine Mutter hatte mich auch schon gewarnt: „Junge, wenn du im Dienst so weitermachst, fällst du eines Tages tot vom Stuhl.”
Die Tür wurde aufgestoßen. „Die Pfuhl ist jetzt beim Axthammer!” Frau Stöhr keuchte, ihre Neurodermitis am Hals stand in voller Blüte. „Nächste Woche will sie in unserem Sachgebiet Teams einführen, hat Herr Brettler erzählt.”
Goller versuchte einen Angstfurz zu vertuschen, indem er grundlos in ein Taschentuch schnaubte.
Wenn Brettler es sagte, musste es stimmen. Brettler, der Personalratsvorsitzende, sorgte schon dafür, dass auch der verpeilteste Willi mit vertraulichen Informationen versorgt wurde.

2. Teamfürst

Goller war den ganzen Tag schon so unruhig. Hatte immer nur Akten umsortiert und war damit beschäftigt, seine Büroutensilien auf dem Schreibtisch im rechten Winkel zur Tischplatte auszurichten. Wenn er zur Toilette ging, machte ich mir einen Spaß daraus und brachte irgendetwas durcheinander. Aber unbewusst bemerkte und korrigierte er es danach sofort.
Kurz vor der Mittagspause schaute er mich plötzlich mit einem merkwürdig glasigen Blick an, beugte sich über den Schreibtisch und sagte so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte: „Ich bin heute mit ihr Fahrstuhl gefahren.”
Er nannte nie ihren Namen. Seit Tagen ging das schon so. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen, sprach er von ihr: „Beim letzten Amt hat sie als erstes 24 Leute umgesetzt.” Oder: „Giesi Heine hat erzählt, die prüft, wie sich leistungsgerechte Bezahlung umsetzen lässt. Nach dem Grundsatz, wer nicht spurt, bekommt Abzüge.”
Goller sah nicht gesund aus. „Goller, was ist mit dir? Soll ich Gerda anrufen, dass sie dich abholt?”
Goller reagierte nicht. „Hartmut, die kam vorhin aus der Telefonzentrale, hatte die Telefonlisten über Privatgespräche und dienstliche Telefonate unterm Arm.” Seine Stimme versagte.
Mein Puls beschleunigte sich. Gerade letzten Monat hatte ich bestimmt vier Stunden mit Britta telefoniert, ohne die „3” für Privatgespräche vorweg zu wählen. Mama hatte ich auch dauernd zurückrufen müssen, weil sie sich wegen Papa und seiner Sauferei ausheulen wollte.
Mein Telefon klingelte: Axthammers Nummer! „Schminke, sofort in mein Büro!”
„Was, wieso?”, stotterte ich.
„Dienstliche Unterredung.”
Meine Hände zitterten. Konnte es sein, dass sie die Telefonlisten schon ausgewertet hatte und sie dem „Kopf” vorgelegt hatte? Regierungsdirektor Niemeier, der Finanzamtsvorsteher, wurdewegen seines abnorm großen quadratischen Schädels, der im Alter immer noch zu wachsen schien, von allen Bediensteten nur „Der Kopf” genannt.
Um mir Mut zusprechen zu lassen, rief ich Britta an: „Axthammer will mich wieder fertig machen!”, jammerte ich. Doch Britta war selbst schlecht drauf. Die fünfjährigen Zwillinge hatten gerade ihren Barbiepuppen die Haare geschnitten, sie im Waschbecken hinuntergespült und dadurch das Waschbecken verstopft.
„Stell dich nicht so an”, zickte Britta, „wirst schon überleben.” Aber das Weib war mit mir noch nicht fertig: „Und Hartmut!” – wenn Britta „und Hartmut!” sagte, wusste ich, dass ich den Zeitpunkt verpasst hatte, rechtzeitig aufzulegen.
„Du kannst ja wohl selbst mal auf die Idee kommen, deiner Mutter was zu Weihnachten zu besorgen! – Hartmut? Hörst du mir überhaupt zu?” – Ich würde ihr später erzählen, die empfindliche Telefonanlage im Finanzamt hätte wieder mal gesponnen.
Herr Axthammer saß angespannt vor seinem PC. Schweißflecken zeichneten sich unter den Achseln seines rosafarbenen Hemdes ab – dabei war es erst 09:30 Uhr. Unaufgefordert nahm ich vor seinem Schreibtisch Platz. Mit leicht nach vorn gebeugtem Kopf starrte er auf den Bildschirm, knabberte geistesabwesend an seinem Mittelfinger und murmelte: „Was soll’s, jetzt ist es eh zu spät.”
Erst jetzt bemerkte er mich und wandte sich ruckartig von seinem Bildschirm ab. Seinen Blick konnte ich nicht einordnen. Bei ihm wusste ich nie, was kam. „Herr Schminke, nun zu uns.” Er griff nach einer roten Umlaufmappe und klappte sie langsam auf. „Seit wann sind Sie Steuerhauptsekretär?”
Was sollte das jetzt? Eine ganz neue Taktik, um mich klein zu kriegen? Oder … – für den Bruchteil einer Sekunde schöpfte ich Hoffnung. Sollte ich es doch einmal erleben …? Seit Jahren rauschten alle an mir vorbei. Selbst der blöde Meyer war letzte Woche vor mir befördert worden.
Axthammer war aufgestanden und zum Fenster gegangen. „Herr Schminke, bestimmt ist es schon zu Ihnen vorgedrungen, dass ab April Frau Pfuhl unser Sachgebiet auf Teamarbeit umstellen wird.”
Also war es doch wahr, was Frau Stöhr gestern beim Frühstück mit vorgehaltener Hand erzählt hatte: „Die wollen, dass wir uns gegenseitig zerfleischen. Ein Team gegen das andere. Und sie brauchen nur zuzuschauen! Guck dir die Pfuhl an: Tut ganz unschuldig, aber in Wirklichkeit ist sie ’ne schwarze Mamba.”
Die Bürotür wurde energisch geöffnet. Herr Axthammer zuckte kurz zusammen und eilte untergeben auf Frau Pfuhl zu.
„Frau Pfuhl, ich habe bereits alles mit Herrn Schminke besprochen.”
„Das passt gut, ich habe nämlich in fünf Minuten schon die nächste Dienstbesprechung mit den Sachgebietsleitern der Betriebsprüfung.”
Frau Pfuhl gab mir die Hand. Fester Händedruck, fast wie bei Britta. Aber Britta war ja auch Fitnesstrainerin. Ein bisschen viel Schwarz hatte sie an. Am Auffälligsten waren ihre schwarzen, glänzenden Stiefel. Jetzt wusste ich, warum Frau Stöhr immer was von ‚schwarzer Mamba‘ gefaselt hatte.
„…Sie sind natürlich am Anfang nur MdWdGb.”
„Was bitte?” Konzentrier dich, Hartmut! Aus dem Fenster gucken kannst du immer noch den ganzen Tag. Fragend starrte ich Frau Pfuhl an.
Mit arrogantem Lächeln erklärte Axthammer schulmeisterhaft: „‚MdWdGb‘ – Mit der Wahrung der Geschäfte betraut – das müssten Sie aber wissen, Schminke, steht in jedem Geschäftsverteilungsplan.”
Der Geschäftsverteilungsplan war das Verzeichnis der einzelnen Schlafplätze im Finanzamt. Noch immer hatte ich nichts begriffen.
„Sie übernehmen zunächst die Vertretung für Herrn Döpke, bis seine Elternzeit vorbei ist”, ließ sich Frau Pfuhl zu einer Erklärung herab. „Außerdem wollen wir natürlich sehen, ob Sie als Team­leiter geeignet sind.” Ihre Miene nahm einen autoritären Zug an: „Herr Axthammer, haben Sie mit Herrn Schminke schon eine Zielvereinbarung abgeschlossen?”
„Das werden wir selbstverständlich noch tun”, beeilte sich Herr Axthammer zu sagen.
Auch am Rücken seines Hemdes: alles feucht.
Keine Verabschiedung, weg war sie. Herr Axthammer wirkte noch immer angespannt: „Schminke, mal unter uns, nur damit Sie wissen, wo Sie dran sind: Von mir ist der Vorschlag nicht gekommen, Sie zum Teamleiter zu ernennen – MdWdGb – versteht sich. Eigentlich wäre Ihnen ja Meurer vorgegangen, aber der Junge verbaut sich ja alles durch seine Sauferei.”
War mir egal, was Axthammer dachte. Auf dem Weg in mein Büro war mir danach „Freude schöner Götterfunken” zu summen.

3. Aktion Bockwurst

„Was war letzten Monat mit Ihnen los, Frau Stöhr? Wieder nur im Schnitt drei Fälle pro Tag!” Die Frage kam ärgerlicher raus, als ich es gewollt hatte. Wenn ich sie nicht gleich in Ruhe ließ, würde sie bestimmt wieder losflennen. Guckte schon so komisch auf ihre Fußspitzen.
„Olga hatte Durchfall. Da macht man sich halt Sorgen.”
Jetzt wurde ich sauer: „Frau Stöhr, auch wenn Ihre Siamkatze Durchfall hat: Team 3 erwartet von Ihnen nächsten Monat fünf Fälle am Tag. Ist das klar?”
Herr Goller sah Frau Stöhr entschuldigend an: „Hartmut, fünf Fälle ist ganz schön happig. Wie soll man das schaffen?”
„Das sagt der Richtige!” Mit dem Kuli tippte ich auf Gollers Namen. Alle Teammitglieder schauten angespannt auf die vor ihrer Nase aufgebaute Flipchart mit der monatlichen Rangliste.
„Goller, wieder mal die rote Laterne, nur 55 Fälle im Monat – das sind 2,5 am Tag! Und dabei sage und schreibe zwölf Einsprüche produziert. Das muss dir mal einer nachmachen!”
„Ich hatte letzten Monat dreimal Teamtelefon”, versuchte Goller sich zu rechtfertigen.
„Haben andere Kollegen auch und schaffen trotzdem ihre Arbeit”, zischte Meurer.
Lorenz, der Finanzanwärter, grinste schadenfroh. Goller lief rot an und duckte sich hinter Pitti Platsch. Tabea Pinne wurde von allen nur Pitti Platsch genannt. Passte auch viel besser zu ihrem Mickey-Mouse-Stimmchen und ihrer moppeligen Figur.
Noch war ich mit Goller nicht fertig. „Goller, einfach mal Haken dran und weg! Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte werden ab sofort nicht mehr mit dem Routenplaner abgecheckt. Ist das klar geworden?”
Nur Meurer nickte – es kam selten vor, dass er mir Recht gab. Meurer musste ich besonders im Auge behalten. Ständig zog er meine Anweisungen in den Teambesprechungen ins Lächerliche.Wahrscheinlich war er nur froh, dass Goller heute im Fokus stand. Seiner roten Birne nach zu urteilen, hatte er sein Blut bestimmt schon wieder zur Hälfte mit Mariacron verdünnt. Kaute ständig Kaugummi – als wenn er damit seine Fahne vertuschen wollte. Andererseits schaffte der Junge was weg, da konnte ich nicht meckern. Hauptsache seine Leber hielt noch ein paar Jahre durch und er wurde wegen seines Alkoholproblems nicht von ganz oben aus meinem Team entsorgt. Norbert Büschel, Teamfürst von Team 1, hatte seine Chance gewittert und letzten Monat Herrn Gümmersbach vom Präventionsrat eingeschaltet. Hinter meinem Rücken hatten sie Meurer bedrängt, sechs Wochen Kur einzureichen. Umstellung auf Jever alkoholfrei.
Aber da war ich gerade noch rechtzeitig dazwischen gegangen. Sechs Wochen Kur – das wäre das Ende von Team 3 gewesen. Büschel hatte sich schwarz geärgert.
Mit Frau Stöhr war ich auch noch nicht fertig: „Und Frau Stöhr, nicht ständig mit Frau Nullmeier aus Team 2 den Wohnweltkatalog durchstöbern. Kein Wunder, dass Ihre Schlagzahl nicht stimmt.”
Jetzt war ich zu weit gegangen. Erst zuckten ihre Mundwinkel, dann wurden ihre Augen feucht. Sie heulte von einer auf die andere Sekunde los: „Ich kann nicht mehr. Ich seh nur noch einen großen Berg!”
Die Männer sahen betreten zu Boden. Betroffen nahm Pitti Platsch Frau Stöhr in ihre dicken, weichen Arme: „Angie, was hast du denn? Ist doch alles nicht so schlimm.”
„Doch! Alles ist schlimm! Und es wird immer noch schlimmer”, schluchzte Frau Stöhr.
„Aber Frau Stöhr, wir sind doch ein Team!”, versuchte ich sie zu beruhigen.
Wieder brüllte sie los: „Nächste Woche ist Heiligabend, und …”
Pitti Platsch streichelte ihren Arm. „Und was? Du kannst es uns ruhig erzählen.”
Frau Stöhr nahm dankbar das ihr angebotene Taschentuch undsagte stockend: „Nun – ich hab’ doch erst drei Geschenke; und ich weiß nicht, ob ich es schaffe, noch die restlichen zu besorgen. Bei dem Stress habe ich einfach nicht den Kopf frei.” Erneuter Heulkrampf. Pitti Platsch nickte verständnisvoll. Sie setzte sich aufrecht hin und sah mich mit ihrer Pottschnitt-Dauerwelle pampig an: „Herr Schminke, so geht das nicht weiter! Wir müssen in unserem Team mal was machen – ’ne richtige Aktion meine ich.”
Alle nickten.
Die Kollegen hatten Recht. Die Luft war einfach raus. Mir kam eine Idee: „Ich könnte uns zu einer Einkommensteuer-Fachtagung anmelden. Jetzt wird gerade von der Oberfinanzdirektion ‚Neues vom Sonderausgabenabzug‘ angeboten.”
Entsetzt starrte mich Goller an. Pitti Platsch schüttelte energisch den Kopf: „Wir könnten doch mittags mal ’ne schöne Bockwurst essen. Ich könnte den Einkocher von Oma mitbringen.”
Alle waren begeistert! „Aktion Bockwurst” wurde einstimmig beschlossen und sollte am 23.12. stattfinden.
Vielleicht war ich wirklich ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen. „Ich bezahle Senf und Ketchup”, bot ich mich großzügig an, „Herr Meurer, Sie sind für den Einkauf zuständig. Lorenz fragt ab, wie viele Würste jeder essen möchte und Tina kümmert sich darum, die Würstchen heiß zu machen.” Tina rümpfte die Nase: „Die Dinger fasse ich nicht an! Ich hole mir lieber einen Salat von Mc Donald’s.”
Das fing ja gut an! Ich wollte schon auf Tina losgehen, aber Goller kam mir zuvor: „Ist schon okay, Hartmut. Ich kümmere mich um die Bockwürste. Hab zwar so was noch nie gemacht, aber wozu gibt’s denn Chefkoch.de.”
Uns blieb nur noch etwa eine Woche. Ich ahnte, dass wir als Team an unsere Grenzen stoßen würden.
Meurer kam am Mittwoch aufgeregt in mein Büro und beschwerte sich über Lorenz: „Hartmut, glaubst du es denn, der Bengel hat mir immer noch nicht durchgegeben, wie viele Bockwürste ich besor­gen soll! Diese Handy-Generation kriegt nichts mehr gebacken.” Meurer hatte Recht. Na, der konnte was erleben!
Geladen öffnete ich die Tür zum Anwärterbüro. Lorenz saß auf der Fensterbank und löffelte in aller Seelenruhe einen Joghurt. Sein Schreibtisch war blank. Nichts! Nicht mal ein aufgeschlagenes Steuergesetz lag dort. Drei Jahre Ausbildung – und was kam dabei heraus? Wir hatten früher immer zur Tarnung die Eingeweide einer Steuererklärung auf dem Schreibtisch liegen. War Pflicht. Lernte man in der ersten Woche. Da konnte selbst der Vorsteher jederzeit unangekündigt ins Büro schneien.
„Sag mal, Junge”, fuhr ich ihn an, „das sind ja schöne Sachen, die ich da von dir höre!” Lorenz glotzte mich gleichmütig an und leckte genüsslich den Löffel ab. Frechheit!
„Herr Meurer hat mir gerade erzählt, dass du bei ihm noch nicht die Bestell-Liste für die Bockwürste abgeben hast”, blaffte ich.
„’Tschuldigung, Herr Schminke, aber die Kollegen können sich nicht entscheiden. Frau Stöhr hat von Frau Nullmeier gehört, die Grobe ist zu grob. Da ist sie jetzt unsicher geworden. Und Pitti Platsch weiß nicht, ob sie eine mit Kräutern oder eine ohne alles nehmen soll.”
„Wir nehmen ohne alles und für alle das Gleiche”, entschied ich und trieb damit das Projekt entscheidend voran.
Mittwoch, 23.12. Ich traf Meurer in der Teeküche. „Hartmut, stell dir vor: Goller will die Würste schon eine Stunde vorher in den Einkocher legen! Er meint, sie werden sonst nicht heiß. Aber da mache ich nicht mit!”
Die Tür flog auf. Goller kam aufgebracht mit einer weißen Plastiktüte herein, durch die sich die Bockwürste abzeichneten.
„Hartmut, misch dich ja nicht ein, sonst spül ich die Dinger eigenhändig in der Toilette runter!”
Da gehörte schon was dazu, wenn Goller sich so aufregte. Selbst als seine Gerda zwei Wochen zu ihrer Mutter abgehauen war, hatte er sich nichts anmerken lassen.
Nach einer halben Stunde war es mir gelungen, einen Kompromiss auszuhandeln: Meurer sollte seine Wurst in den letzten neun Minuten in den Topf legen. „Und wie wollen Sie Ihre Wurst im Auge behalten?”, fragte Goller Herrn Meurer skeptisch. „Kein Problem”, meinte Meurer, „ich bringe hinten am Zippel eine Büroklammer an.”
Konnte ich mir zwar nicht vorstellen, dass das klappen sollte, aber egal. War jetzt sein Problem.
Um 12:30 Uhr sollte gegessen werden. Bereits eine Stunde vorher saßen alle um den Einkocher herum, ein monströses Teil, fast so groß wie eine Gulaschkanone. Gespannt verfolgten wir, wie Goller Wurst für Wurst vorsichtig ins Wasser ließ. Er ging dabei so bedächtig vor, als handelte es sich um Neutronenbomben. Meurer saß vor seiner präparierten Bockwurst und prüfte den Sitz der Büroklammer. Gebannt schaute er auf die Uhr. Um Punkt 12:21 Uhr ließ er seine Bockwurst eigenhändig zu Wasser. Goller grunzte verächtlich.
12:30 Uhr. Meurers Funkuhr piepte dreimal. Sofort sprang er auf, stellte sich neben den Topf und stierte hinein, als sei gerade ein Nichtschwimmer hineingesprungen. Auffordernd schaute er Goller an: „Nehmen Sie jetzt die Würste aus dem Topf!” Goller blieb sitzen. „Noch zwei Minuten.”
Jetzt zitterte Meurers Stimme: „Herr Goller, geben Sie mir jetzt meine Wurst!” Alle hielten die Luft an. Goller blickte immer noch trotzig in den Topf. Der Knabe konnte verdammt bockig sein.
War es meine Aufgabe als Teamfürst einzugreifen? Zum ersten Mal hatte ich Mitleid mit Axthammer, der täglich genötigt war, Personalentscheidungen zu treffen. Von mir hing jetzt alles ab. Beschwörend sagte ich: „Goller, gib Meurer sofort seine Bockwurst.”
Er rührte sich immer noch nicht. Dann – unendlich langsam und so, als wolle er es sich noch einmal anders überlegen – griff Goller mit der Zange in den Topf und angelte nach der Wurst mit der Büroklammer. Dann die Katastrophe! Noch über dem Topf glittihm die Bockwurst aus der Zange und flutschte wie ein Goldfisch zurück ins Wasser.
Alle waren aufgesprungen und starrten ins heiße Wasser, in dem sich ein gutes Dutzend Brühwürste tummelte. Auf dem Grund des Topfes schwamm die Büroklammer.
„Goller, jetzt tun Sie doch endlich was, Sie Nulpe!”, schrie Meurer Goller an.
„Da!”, Meurer deutete auf eine Bockwurst, die auf dem Grund des Einkochers schwamm.
„Nee, nee, die ist das nicht.” Goller in seiner drögen Art machte keine Anstalten nach der Wurst zu angeln.
„Doch! Ganz bestimmt. Meine Wurst hatte in der Mitte Pigmentstörungen.” Goller rührte mit der Zange im Wasser herum. „Da oben!” Lorenz deutete belustigt auf eine Wurst, die gerade Auftrieb bekommen hatte: „Voilá! Die Wurst mit den Pigmentstörungen.”
„Goller, Zugriff”, schrie ich ihn an. Jetzt hatte er sie, hielt sie triumphierend über unsere Köpfe und legte sie auf einen Pappteller. Meurer nahm die Wurst in die Hand. Alle starrten ihn an. Er biss in die Wurst. Sie knackte nicht. Meurer nickte zufrieden und log: „Genau richtig.”
Kurz vor 17:00 Uhr war endlich alles wieder aufgeräumt. Nun konnte es weihnachtlich werden. In meinem Büro zündete ich eine Kerze an, hörte Radio und packte meine Aktentasche. Der Wiener Knabenchor sang gerade: „Oh du Fröhliche”. Feierlich stimmte ich in den Refrain ein: „Freue dich, oh Christenheit.” – ‚Aktion Bockwurst‘ war ein voller Erfolg!
Jetzt noch schnell den Computer herunterfahren. Vorher ein schneller Blick in die Monatsstatistik – was war denn das? Bearbeitungsstand der erledigten Steuererklärungen am 23.12.: 75,3 Prozent. Das konnte nicht sein! Alle übrigen Teams hatten ein besseres Ergebnis. Selbst Team 1 hatte es auf 83,5 Prozent gebracht! Und die hatten wirklich die letzten Schnecken an Bord. Musstensogar Herrn Wellhausen mit durchziehen, der montags und freitags immer krank machte.
Wie konnte das passieren? Hektisch sah ich bei Goller nach. Gerade mal acht Fälle hatte er in den letzten zwei Wochen erledigt. Der Einlauf neulich hatte überhaupt nichts gebracht. Goller hatte stundenlang im Internet gesurft, um auch ja alles richtig zu machen. Mit Johann Lafer persönlich hätte er telefoniert, um noch einen Tipp für die perfekte Bockwurst zu bekommen, hat er irgendwann in der Kaffeerunde stolz erzählt.
Meurer, die Rakete, hatte auch nur 14 Fälle abgegeben. Kein Wunder, wenn man von sieben Schlachtern Vergleichsangebote einholt und alle Betriebsprüfungsakten von geprüften Imbissbuden nach Wiegeprotokollen durchsucht. Die dicksten Bockwürste verkaufte sowieso meine Frau Britta in unserem Imbiss. Hätte ich ihm gleich sagen können.
Es gab nur noch eine Möglichkeit die Statistik zu retten: Aus dem Auto holte ich zwei Faltboxen und packte sie randvoll mit unbearbeiteten Steuererklärungen. Über Weihnachten würde ich sie zu Hause eingabegerecht vorbereiten und am 30.12. kurz vor Statistikschluss im Amt in den PC hacken. Noch gab ich mich nicht geschlagen.

4. Weihnachten bei Familie Schminke

Heiligabend, 07:14 Uhr. Ich war in Topform, hatte bereits elf Steuererklärungen bearbeitet. Die Faltboxen wurden trotzdem kaum leerer. Für jeden Steuerpflichtigen hatte ich mir ein kleines Weihnachtsgeschenk überlegt: Lehrer bekamen ihre Arbeitszimmer anerkannt, auch wenn sie mit Whirlpool ausgestattet waren, und einem Klempner gestattete ich den Roman Feuchtgebiete als Fachliteratur abzusetzen. Dazu gesellten sich großzügige Zahlendreher und imaginäre Pauschalen. Ein Rentner hatte der Steuererklärung eine Weihnachtskarte beigefügt und darauf vermerkt: „Sehr geehrtes Finanzamt! Tut mir leid, wenn ich nicht alles richtig eingetragen habe. Ich weiß leider nicht, wo was reinkommt.” – Ein klarer Fall von Hilflos im Sinne des § 33b Absatz 6 Einkommensteuergesetz. In Zeile 33 ein Kreuz und der Herr Büttner konnte sich zusätzlich zum Schwerbehinderten-Pauschbetrag auf einen Weihnachtsbonus von 3.700 Euro freuen.
Ganz uneigennützig waren meine Weihnachtsgeschenke allerdings nicht. Ich wollte vermeiden, dass es nach Weihnachten Einsprüche regnete, die unser Team völlig lahm legten.
Die Zwillinge waren auch schon seit 06:30 Uhr auf. Sie fegten über den Flur und waren jetzt schon völlig durch den Wind. Mit roten Wangen sangen sie „Leise rieselt der Schnee”. Draußen hatten wir 12 Grad mit leichtem Nieselregen – also typisches Heiligabend-Wetter.
Britta verbreitete Hektik. „Hartmut, ich sauge und wische jetzt noch die Wohnung und dann stellst du den Baum auf”, befahl sie, und schon hatte ich den Staubsauger zwischen meinen Füßen.
Um 12:00 Uhr klingelte es. Papa stand mit dem Vogel vor der Tür. Papa hatte mir noch gefehlt! Eigentlich war ich gerade so schön im Fluss.
Noch völlig außer Atem setzte er die schwere Wanne vor mir ab. „Hier guck mal, Hartmut!” Er zog das Handtuch von der Wanneund zeigte mir stolz seinen Gänsebraten. „Echt Öko! 90 Euro wollte der olle Flachsbart dafür haben – Wucher!”
Bei dem Anblick der frisch aufgetauten goldgelben Gans mit den dicken Keulen lief mir schon das Wasser im Mund zusammen. Seit unserer Hochzeit war es Tradition, dass Papa die Weihnachtsgans bei uns zubereitete – für Papa das größte Weihnachtsgeschenk. Mama wollte den tagelangen Gestank nicht in ihrer Wohnung haben.
Papa legte sich Einmalhandschuhe an und breitete auf der Anrichte chirurgisches Werkzeug aus. Spätestens wenn er seine grüne Schürze anlegte, strahlte er eine Fachkompetenz aus, dass man ihm die Durchführung einer spektakuläre Gehirntransplantation zutraute. Während Britta um ihn herumwischte, setzte er die letzte Spritze unter die Haut und dozierte: „Britta, wusstest du, dass der Ananassaft die molekulare Struktur vom Eiweiß im Muskel zerstört und das Fleisch dadurch besonders zart wird?” Noch hatte Papa wenig getrunken und brachte so einen komplizierten Satz fließend über die Lippen. Britta hatte im Moment keinen Sinn für die molekulare Zerstörung von Eiweißstrukturen und trieb Papa an: „Kalle, jetzt schick endlich den Vogel auf seine letzte Reise, sonst müssen wir Heiligabend ohne ihn feiern.”
Wieder bekam ich einen Einlauf: „Hartmut, jetzt reicht’s! Leg endlich die Steuererklärungen zur Seite. Du musst dringend den Baum aufstellen!”
Widerstrebend packte ich die noch nicht bearbeiteten Steuererklärungen in die Box zurück und trollte mich auf den Balkon, um den Tannenbaum ins Wohnzimmer zu schleppen – die Zwillinge „Alle Jahre wieder” singend hinterher.
Was hatte Britta sich denn da für einen Strunk andrehen lassen? Ein erbärmliches grünes Gerippe wurde von einem Plastiknetz notdürftig zusammengehalten. Braune Nadeln rieselten heraus, wenn man den Baum nur schief ansah. Das Schlimmste aber war der Fuß: krumm wie ein Regenschirm.
Auf dem Weg vom Balkon ins Wohnzimmer hinterließen das Gerippe und ich eine Spur brauner Nadeln und kleiner Käfer, die schnell hinter die Fußleiste huschten. Lucy schnitt mit einer Schere das Plastiknetz auf: „Papa, warum hat denn der Baum so wenig Nadeln?”
„Lucy, die Tannenbäume haben heute nicht mehr so viele Nadeln – liegt am Waldsterben.”
„Ist der Baum auch schon tot?”, fragte Luisa mich mit besorgtem Blick.
Mir war jetzt nicht danach, philosophische Kinderfragen zu beantworten. „Nein, der wird jetzt von euch ganz toll geschmückt und dann geht es ihm wieder gut”, lautete meine pädagogisch inkorrekte Antwort.
Ich versuchte, den Baum mit Gewalt in den Tannenbaumständer zu zwängen, aber sein Fuß war einfach zu krumm. Als er endlich in der Halterung steckte, schwebte der Baum in einem 60 Grad-Winkel.
Der Baum hatte sich noch nicht ganz entschieden, ob er stehen bleiben wollte, da hing bereits die erste Glaskugel, ein mundgeblasenes Einzelstück für 34 Euro.
„Lucy, warte noch!” Keine zehn Sekunden später – süßer die Glocken nie klingen! Die Scherben lagen sogar in der Yuccapalme.
Britta rief vom Flur aus: „Na, Harti, alles okay? Ich geh mal eben rüber zu LiDL.”
„Ja, lass dir Zeit”, flötete ich in Richtung Flur. Wenigstens war Britta aus der Schusslinie. Aber da kam Papa und latschte wie blind durch Nadeln und Scherben in Richtung Backofen. Er riss die Backofentür auf und schwärmte: „Mein Gott, wird die Haut heute wieder knusprig!”
Es half nichts: Wollte ich den Baum nicht in der Horizontalen schmücken, musste ich den Fuß der Tanne radikal kürzen. Im Keller fand ich den elektrischen Fuchsschwanz aus dem Nachlass von Onkel Lothar. Das Ding war mir nicht ganz geheuer. Noch waren alle Finger dran – bei meinem Talent wahrscheinlich eine Fragevon Minuten. Ich rief nach Papa, aber Papa klebte am Fernseher: Richterin Barbara Salesch. Ich schickte Luisa vor: „Luisa, geh doch mal zum Opa. Der Opa soll ganz schnell kommen.”
Nur widerwillig und mit ständigen Blicken zum Bildschirm ließ sich Papa von Luisa abführen.
„Beeil dich, Hartmut, ich muss mich noch um die Gans kümmern! Wie viel soll denn ab?”
„Zehn Zentimeter müssten reichen.”
Papa schmiss die Höllensäge an. Noch bevor ich „Halt” schreien konnte, hatte er bereits die Spitze um 20 Zentimeter gekürzt.
Luisa plärrte los und hielt mir heulend die kahle Spitze vor die Nase: „Wieder ankleben!”, schluchzte sie. Lucy stimmte solidarisch in ihr Geheule ein.
Papa hatte mit der Säge schon wieder Gas gegeben und malträtierte nun den Fuß des Baumes. Langsam kamen mir Bedenken. Vier Bier hatte Papa schon getrunken – vielleicht war es doch besser, die Aktion abzublasen.
„Papa!” Papa hörte nichts.
Die Sägespäne stoben nach allen Seiten, hingen in der Gardine, im Obstkorb und zwischen Brittas Dekoplunder, der in jeder Ecke herumstand.
„Aufhören, Papa!”, schrie ich.
„Bin gleich durch!”, schrie Papa zurück. Rums! Eine tiefe Schramme war im Parkett.
Papa versuchte sie unsinnigerweise wegzureiben und murmelte: „Ach, das kriegt man schon wieder weg.” Dann stürmte er Richtung Backofen: „Muss nur mal eben die Haut pflegen. Mein Gott, wird die Haut wieder … Scheiße!” Er hatte die Fettpfanne mit zu viel Schwung aus dem Backofen gezogen. Plötzlich war sie aus der Führung geraten und landete auf dem Fußboden. Die Sägespäne saugten sich voll Fett und wurden unter den Esstisch geschwemmt.
In dem Moment hörte ich den Schlüssel im Haustürschloss – Britta. „Bin wieder da!” Schon stand sie in der Tür. Auch Lucy undLuisa hatten mit ihren fünf Jahren die Lage bereits begriffen und heulten wie die Sirenen los. Britta zitterte, war bleich vor Zorn. „Raus!”, sagte sie leise.
Wir mussten die Treppe nehmen, weil der Fahrstuhl mal wieder ausgefallen war. In jeder Etage hörte man kreischende Kinder und meckernde Frauen. Und immer wieder aus dem Radio „Oh du Fröhliche”. Aus Kochs Wohnung drang eine schrille Frauenstimme: „Wenn der Backofen nicht in einer Stunde wieder läuft … Weihnachten ohne mich!”
Dann standen wir an der frischen Luft.
„Ist Britta immer so schnell auf 180?” – Papa war wirklich so verpeilt, wie Mama es immer beklagte.
Schweigend gingen wir eine Weile nebeneinander her. Der Regen war stärker geworden.
„Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Tag?”
„Wenn deine Mutter mich Heiligabend rausgeschmissen hat, bin ich immer zum ‚Lustigen Johannes‘ gegangen – zum Leberzirrhose-Stammtisch.”
„Dann gehen wir da jetzt auch hin.”
Papa schien allen bekannt zu sein. Der lustige Johannes brachte sofort für jeden ein Helles und einen Korn und klopfte Papa aufmunternd auf die Schulter: „Kalle, Heiligabend geht auch mal vorbei.”
Dann musste ich mir eine Stunde lang Papas Finanzamtsgeschichten anhören: Von den Lochkarten in der Finanzkasse, von Regierungsdirekter Bölke, der um 07:30 Uhr jeden Bediensteten, der sich verspätet hatte, per Handschlag an der Eingangstür begrüßte. Immer wieder die gleiche Story: „Junge, einmal in der Woche sind wir mit ’nem Benzinkanister in die Garage zu unserem Dienstwagen gegangen. Die Anwärter mussten immer mit dem Mund den Sprit ansaugen und jeder bekam zwei Liter.” Papa hatte Tränen in den Augen vor Lachen.
Plötzlich sah er auf die Uhr und fuhr nervös mit der Hand über seine sorgsam quer über die Glatze gekämmten Haarsträhnen:”Hartmut, wir müssen nach Hause. Die Gans ist noch im Ofen!”
Wie durch ein Wunder hatte sich Britta beruhigt und war dabei, mit den Mädchen den Baum zu schmücken. Papa wollte schon mit Schuhen zum Backofen stürmen, doch Britta hielt ihn resolut zurück: „Kalle, Hartmut: erst Schuhe ausziehen!”
„Die Gans, die Gans!”, jammerte Papa. Panisch zerrte er an seinen Schuhen, die Socken blieben stecken, aber egal. Er wetzte Richtung Küche, riss den Backofen auf und starrte auf den Gänsebraten – und dann lächelte er glücklich: „Mein Gott, ist die Haut dieses Jahr knusprig!”
Schließlich kam Mama mit dem Christstollen und der Schwarzwälder Kirschtorte. Der Tölzer Knabenchor sang „Es ist ein Ros entsprungen” und die Zwillinge standen hinter der Gardine und warteten auf den Weihnachtsmann.
Es klingelte. Endlich mal ein pünktlicher Weihnachtsmann! Erwartungsvoll öffnete ich die Haustür, die Mädchen in einem Sicherheitsabstand hinter mir. Kein Mann mit rotem Kittel und Rauschebart, sondern Herr Speer, der Vorsitzende der Eigentümerversammlung.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, Herr Schminke, aber es ist wirklich dringend: Wir müssen leider eine außerordentliche Eigentümerversammlung einberufen. Übermorgen um 19:00 Uhr in unserer Wohnung.”
„Übermorgen?” Ungläubig starrte ich ihn an. „Übermorgen ist der zweite Weihnachtstag.”
Herr Speer zuckte nur mit den Achseln. „Ich weiß. Der Termin ist etwas unglücklich, aber es ist wirklich dringend!”
Schon war er einen Treppenabsatz tiefer bei Familie Koch.
Wir hatten die Nachricht noch nicht verarbeitet, da klingelte es erneut. „Jetzt! Jetzt ist er da!”, rief Luisa aufgeregt und sprang im Flur umher.
Frau Koch stand zitternd vor mir, war vollkommen aufgelöst: „Haben Sie schon gehört, wir sind pleite!”
„Kommen Sie doch herein.” Britta schob Frau Koch in unseren Flur. Betroffen blickte ich sie an. Sie hatte geheult. Ihr schwarzer Kajal war an ihren Krähenfüßen heruntergelaufen.
So lange war es auch noch nicht her gewesen, dass die Bank uns die Versteigerung der Eigentumswohnung angedroht hatte. Nur meine geniale Idee, einen Imbiss auf Brittas Namen zu eröffnen, hatte uns vor dem Ruin gerettet.
„Eine Privatinsolvenz kann auch ein neuer Anfang sein”, versuchte ich Frau Koch zu trösten.
Frau Koch sah mich entrüstet an: „Aber Herr Schminke, was denken Sie eigentlich von uns! Nicht wir sind pleite, sondern die Eigentümergemeinschaft! Wir alle sind pleite! Weiß ich von Herrn Higgins. Soll was ganz Schlimmes passiert sein.”
Britta und ich schauten uns erschrocken an.
„Was ist denn passiert?”, fragte Britta besorgt.
„Wenn ich das wüsste! Aus dem Speer ist nichts rauszukriegen. Er will uns erst am zweiten Weihnachtstag genauer informieren.”
Und endlich kam dann doch noch der Weihnachtsmann. Er brachte die beiden Dackel mit der Zwei-Kanal-Funkfernsteuerung, die wir ihm tags zuvor in seinem Lager neben dem Reifencenter vorbeigebracht hatten. Mit ruckartigen Bewegungen stapften die Hunde um den Tannenbaum und krächzten mechanisch: „Füttere mich, sonst beiß ich dich.”
Papa knabberte selig das Gerippe des Gänsebratens ab und strahlte: „Mein Gott, ist die Haut dieses Jahr wieder knusprig.”

5. Krisensitzung