Die Zecke - Bernd Wieland - E-Book

Die Zecke E-Book

Bernd Wieland

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Beschreibung

Die Zecke - Jagdverhalten eines Finanzbeamten Die Zecke ist ein satirischer Roman über das Leben des kleinen Finanzbeamten Hartmut Schminke, der Tag für Tag in seinem Büro hinter der Besuchertoilette hockt und auf seine „Opfer“ wartet. Selbst kleinere Störungen können Hartmuts Tagesform dabei erheblich beeinflussen. Sein Leben gerät vollends aus den Fugen, als seine Frau beschließt, sich aus ihrem langweiligen Leben zu befreien: Raus aus dem häuslichen Betonbunker, eine schicke Eigentumswohnung muss her! Dieser ganz normale Spießerwunsch ist für Hartmut der bislang verwegenste Schritt seines Lebens. Strategisch plant er einen unfehlbaren 10-Jahresplan mit einer bombensicheren Finanzierung. Doch nicht nur der drängende Kinderwunsch seiner Frau sabotiert Hartmuts Plan. Um nicht in der Schuldenfalle zu enden, muss sich selbst eine 'Zecke' wie Hartmut mit berufsmäßigem Sitzfleisch ungewöhnliche Maßnahmen einfallen lassen und erfährt, was es heißt, von den eigenen Kollegen der Betriebsprüfung seziert zu werden.

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Seitenzahl: 398

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NWB Verlag GmbH & Co. KG, Herne

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Zum Buch:
„Die Zecke” ist ein satirischer Roman über das Leben des kleinen Finanzbeamten Hartmut Schminke, der in seinem Büro hinter der Besuchertoilette hockt und auf seine „Opfer” wartet. Selbst kleinere Störungen können Hartmuts Tagesform dabei erheblich beeinflussen. Sein Leben gerät vollends aus den Fugen, als seine Frau beschließt, sich aus diesem langweiligen Dasein zu befreien: Raus aus dem häuslichen Betonbunker, eine schicke Eigentumswohnung muss her! Dieser ganz normale Spießerwunsch ist für Hartmut der bislang verwegenste Schritt seines Lebens.
Strategisch plant er einen unfehlbaren 10-Jahresplan mit einer bombensicheren Finanzierung. Doch die nicht einkalkulierte Geburt von Zwillingen lässt die Schminkes rasch in die Schuldenfalle ab gleiten und als auch noch Hartmuts Beförderung scheitert, droht die Bank mit der Versteigerung der Eigentumswohnung.
Der Rettungsanker für ihr desolates Konto ist ein Imbiss, den Hartmut unter dem Namen seiner Frau eröffnet und der Dank skrupelloser Buchführung Bombengewinne abwirft.
Ein Kollege wittert jedoch Ungereimtheiten und ordnet eine Betriebsprüfung an, in der von beiden Seiten nach dem Motto verfahren wird: Bei Betriebsprüfungen und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt…
Zum Autor:
Bernd Wieland, Jahrgang 1966, ist seit 1996 als Betriebsprüfer tätig. Er ist zudem Verfasser von humoristischen Kurzgeschichten und Sketchen. Nebenberuflich verdingt er sich als Kabarettist mit eigenem Programm und Darsteller beim Fernsehen.

1. Morgens nach dem Einchecken

Piep! Das Zeiterfassungsgerät des Finanzamts hatte unwiderruflich die Uhrzeit erfasst. 6:01 Uhr – das war richtig gut! Das schafften nicht alle Kollegen. Das mussten die anderen mir, Hartmut Schminke, erst einmal nachmachen. Keine Uhr tickte mehr wie eine Zeitbombe gegen mich. Die Uhr, die jetzt lief, lief auf meiner Seite, denn sie lief auf meinen wohlverdienten Feierabend zu.
Die Tasse Kaffee, die ich zu Hause noch auf die Schnelle viel zu heiß getrunken hatte, gehörte zu dem anderen Leben, zu einer anderen Daseinsform. Sie war nichts anderes, als ein missratener Starthilfeversuch. Jetzt trank ich den Bürokaffee, den ich Schluck für Schluck wirklich genoss.
Wer das Verhalten eines Beamten begreifen will, zum Beispiel, weil er mit ihm verheiratet ist oder eine Betriebsprüfung im Hause hat, muss sich immer über eines im Klaren sein: Nicht nur Gottes Mühlen mahlen langsam. Viele Dinge kann man mit dem Verstand nicht erfassen, man muss sie so annehmen wie sie sind. Erst dann findet man wieder Ruhe für seine Seele.
Dieser geregelte Ablauf hatte allerdings auch einen Nachteil: Ich hatte mich in 16 Beamtenjahren so sehr daran gewöhnt, dass kleinere Störungen meine Tagesform erheblich beeinflussten. Neulich zum Beispiel wurde die BILD-Zeitung eine halbe Stunde später als gewohnt in mein Büro gereicht. Ich war so irritiert, dass ich gar nicht wusste, was ich so früh überhaupt machen sollte. In meiner Verwirrung hatte ich bis 7:00 Uhr bereits drei Steuererklärungen bearbeitet! Normalerweise holte Frau Stöhr die Zeitung um 5:55 Uhr vom Kiosk. Sie brachte die Zeitung dann zu Herrn Goller. Er las sie 23 Minuten. Auf dem Papier konnte ich immer sehen, wo er gerade seine Kaffeetasse abgestellt oder sein Leberwurstfettfinger die Seiten gestreift hatte. Anschließend wurde die Zeitung in mein Büro an meinen Kollegen Horst weitergereicht.
Anfangs, als ich neu in Horsts Büro war, hatte ich die Zeitung nicht gelesen. Irgendwann begann ich jedoch, sie morgens, halb aus Neugier und halb aus Langeweile, heimlich nach dem Wetterbericht und den Titten zu durchforsten, um sie dann wieder wie unberührt zurückzulegen. Erst seitdem mich Horst beim Lesen ertappt hatte, gehörte ich mit zu dem Kreislauf.
Die Frau auf der Titelseite konnte man heute abhaken – Fiberglasgestänge waren nicht mein Ding. Aber auf Seite 4 war ein Beitrag, der sofort meine Aufmerksamkeit erregte: In einem Wohnsilo etwa fünf Blöcke entfernt von unserem Hochhaus, war eine verweste Leiche aufgefunden worden. Die Nachbarn hatten monatelang nichts bemerkt. Selbst als es schon durch alle Ritzen stank, wurde niemand stutzig. Alle dachten, es läge an der Grünen Tonne. Und die Maden, die unter der Tür durch ins Treppenhaus liefen, kämen auch aus der Grünen Tonne. Irgendwann war einem Mieter die Sache aber doch suspekt vorgekommen und er verständigte das Ordnungsamt. Als sie die Leiche fanden, war das natürlich besonders für die gelangweilten Arbeitslosen und Asylbewerber in Warteschleife ein richtiges Happening. Zu aller Überraschung handelte es sich bei dem Toten nicht um Tüten-Gandhi, der tagsüber immer vor dem Aldi-Laden abhing und seit einiger Zeit nicht mehr gesehen wurde. Nein, es war ein Betriebsprüfer oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war! Da der Prüfer im Betrieb aus Platzmangel nicht hatte prüfen können, hatte der Betriebsinhaber ihm eine von seinen leer stehenden Mietwohnungen für die Betriebsprüfung zur Verfügung gestellt. Der Prüfer war einfach über einem Karton voll Belegen eingeschlafen – was an und für sich noch nicht ungewöhnlich ist, würde mir sicherlich auch ab und zu passieren. Wirklich tragisch war nur, dass er nicht wieder aufgewacht ist. Dabei war er erst 44 Jahre alt! Der Betriebsinhaber hatte nichts bemerkt. Er war nur froh gewesen, dass keine unangenehmen Rückfragen kamen. Mit seiner Frau lebte der Prüfer in Scheidung und sein Chef hatte ihm gerade eine schlechte Beurteilung übergebraten und wollte ihn ein bisschen in Ruhelassen, damit er sich wieder berappeln konnte. Mit der Ruhe hatte er zumindest recht behalten. Ich markierte den Artikel mit Textmarker, damit ihn Horst gleich fand.
Um 8:05 Uhr kam Horst. Horst kam immer um 8:05 Uhr. Wenn er um 8:05 Uhr nicht im Amt war, konnte ich ihn krank melden – hatten wir so geregelt, sparte Telefonkosten.
Horst holte seine Tupperdose mit dem Pausenbrot aus seiner Aktentasche und las dann bis zur Öffnung der Kantine Zeitung. Horst war eigentlich ein richtiger Philosoph. Er las eine Weile, bis er sich an einem Thema festgebissen hatte. Dann blickte er gedankenvoll auf und es folgte der Morgenkommentar. Heute: Nicht der verweste Betriebsprüfer sondern die Araber! Das wäre so ein blutrünstiges, hinterhältiges Volk! Vorne immer schön lächeln und von morgens bis abends sich die Knie wund beten, aber wenn du dich umdrehst, hast du schon ein Messer im Rücken. Und dann hörte ich noch so einiges über ihre bestialischen Foltermethoden, über ihre Frauen und ihre Tricks im Bett und auf dem Sozialamt.
Während Horst seinen Morgenkommentar sprach, bearbeitete ich nebenbei eine Steuererklärung. Es handelte sich um die Steuererklärung eines gewissen Dr. Wagner. Namen sind für mich Schall und Rauch. Wenn der Wagner mich heute Nachmittag anrufen würde um zu fragen, ob ich seine Steuererklärung schon bearbeitet hätte, könnte ich ihm darauf keine Antwort geben. Und wenn man mich schlagen würde, den Namen hätte ich nie gehört. Selbst wenn bei mir die Steuererklärung eines Nachbarn auf dem Schreibtisch gelegen hätte, wäre es mir nicht einmal aufgefallen.
Anfangs hatte es mich schon gereizt nachzuschauen, was die Nachbarn so verdienen und wie viele uneheliche Kinder sie haben (konnte man hin und wieder wirkungsvoll als Joker ausspielen). Über jede Gehaltserhöhung war ich im Bilde. Aber das interessierte mich nicht mehr im Geringsten – sie verdienten meistens sowieso mehr als ich und dann war ich erst recht unzufrieden. Wenn nur Britta nicht so neugierig wäre! Sie gab mir immer einen Zettel mit Hausaufgaben mit, bei wem ich nachgucken sollte.
Ich gab die Anschrift von Dr. Wagner in den PC ein. Plötzlich stutzte ich: Bramwaldstraße 1b – hatten Britta und ich das Haus nicht vor gut einem Jahr im Rohbau gesehen? Richtig! Das war doch das schicke Einfamilienhaus ganz in unserer Nähe!
Eigentlich wollte ich mit der Steuererklärung noch vor der Öffnung der Kantine fertig sein, aber jetzt begann die Sache doch spannend zu werden. Warum erscheint denn bei den Werbungskosten aus Vermietung und Verpachtung eine neue Heizungsanlage? Und was ist das hier? Eine Rechnung über sieben neue Fenster! Irgendetwas stimmte da doch nicht.
Ich rief diesen Wagner an. Es meldete sich niemand. Aber das bekam ich schon heraus: Ich würde mir heute Abend den Hund von Frankes aus unserem Block ausleihen und eine Runde durch die Bramwaldstraße laufen. Frankes besaßen einen Pitbull, mit Stammbaum! Ich konnte das Vieh nicht ausstehen. Ich fürchtete ihn genauso, wie andere Leute die Steuerfahndung fürchten. Ich traute mich erst in seine Nähe, wenn er drei Pansen verspeist hatte und sein Bauch über den Bürgersteig schleifte wie eine Kehrmaschine. Aber wie jedes Übel in der Welt hatte Harry eben auch seine guten Seiten. Wenn ich mit ihm irgendwo langging, hatte ich garantiert die Straße für mich und Kinder und Gebrechliche wurden schnell ins Haus geholt. Wie ein ordinärer Straßenköter pinkelte er an jeden Rasenkantenstein und es bereitete ihm ein unbändiges Vergnügen, seine Schnauze in jeden stinkigen Haufen hineinzustecken – darin war er uns Finanzbeamten sehr ähnlich – und in der Bramwaldstraße 1b würde er ganz plötzlich im Garten verschwunden sein…

2. Nur raus aus der Gosse

Aus dem Ausflug mit Harry, dem Pitbull von Frankes, wurde leider nichts. Ich hatte den Pansen vergessen und ohne Pansen wagte ich mich nicht in seine Nähe. Am Ende verwechselte Harry mich noch damit! Die Sache war mir zu unsicher gewesen. Und gab es in meinem Leben etwas Wichtigeres als Sicherheit und vor allen Dingen Ruhe? Spannend durfte es schon ab und zu werden. Dann aber bitte schön wohl dosiert am Freitagabend um 20:15 Uhr zur Krimizeit auf dem zweiten Programm. Wenn mir überhaupt etwas heilig war, dann der Freitagskrimi im Zweiten. Aus Britta und mir wäre nichts geworden, wenn sie mir nicht freitags die Sendezeit zwischen 20:15 Uhr und 21:15 Uhr abgetreten hätte. Im Gegenzug musste ich ihr für das verbleibende Wochenende die Fernbedienung überlassen.
Manchmal kamen mir allerdings doch Zweifel, ob ich mich bei dem Deal nicht verspekuliert hatte. Wenn Britta am Wochenende nicht im Fitnessstudio jobbte, saß sie vor dem Fernseher, glotzte den letzten amerikanischen Quatsch und zappte alle zwei Minuten die 40 Programme gnadenlos rauf und wieder runter. Dann fragte ich mich, ob der Preis nicht zu hoch gewesen war. Vielleicht sollten wir uns doch lieber wieder trennen – oder wenigstens getrennt fernsehen. Aber was blieben dann noch für Gemeinsamkeiten?
Obwohl der Krimi diesmal wirklich spannend war und ich den Fernseher laut eingestellt hatte, ließ sich das Geschrei und Gewimmer über uns in der Wohnung nicht übertönen. Wir wohnten in einer gigantischen Wohnanlage mit 20 Stockwerken, Einkaufspassage, zwielichtigen Appartements und Lüftungsschächten, in denen die Kakerlaken zehnspurig ihre Runden drehten. Und es ging das Gerücht um, dass an Ramadan die türkischen Großfamilien ihre Lämmer in der Badewanne schlachteten.
Jetzt schrie eine Frauenstimme über uns gellend auf. Das war eigentlich nichts Besonderes, gehörte vielmehr zur gewohnten Geräuschkulisse in diesem Haus, genau wie die Klospülung unddas Geschnarche unseres Nachbarn. Es war nur die Polin, die sich Herr Schmolkowski letzten Sommer aus dem Internet runtergeladen hatte. Hoffentlich brachte er sie um. Dann kämen sie und holten ihn endlich ab und es wäre wieder Ruhe im Karton. Britta, die neben mir saß, griff wütend zum Telefonhörer und schrie: „Jetzt rufe ich wirklich die Polizei an!” – Das sagte sie immer. Und wie immer riss ich ihr den Hörer aus der Hand und entgegnete ruhig: „Du weißt doch, wie das abläuft: Er wird behaupten, es hätte ihr Spaß gemacht und dass sie das immer so machen. Und weil sie über 18 Jahre alt ist und eine Aufenthaltsgenehmigung hat, wär’s das gewesen.” Britta störte mal wieder – und natürlich zu meiner Sendezeit! Sie konnte sich so schlecht aufs Fernsehen konzentrieren. Wenn sie konzentrierter fern sähe, könnte es bei uns abends oft viel netter zugehen.
Mit Schmolkowski konnte ich leben. Schlimmer waren die fünf Jungs von der fetten Fiedler, die ich bisher nur im Bademantel zu Gesicht bekommen hatte. Es gab kaum einen Tag, an dem nicht die Feuerwehr mit Blaulicht anrückte, weil einer von der Fiedlerbrut auf die originelle Idee gekommen war, auf das Knöpfchen für den Feuermelder zu drücken. Aber auch mit den Jungs von der Fiedler musste ich nachsichtig sein. Sie hatten ihr letztes Quäntlein Hirn beim Kiffen in Rauch aufgehen lassen. Als wirklich lästig empfand ich es jedoch, dass ständig jemand aus dem 20. Stock sprang. Ich hätte dafür Verständnis gehabt, wenn es Mieter gewesen wären, die vor den Kakerlaken Reißaus genommen hätten. Aber zu allem Ärger waren es meistens Passanten, die schlichtweg zu bequem gewesen waren, die fünf Minuten bis zur nächsten Autobahnbrücke zu laufen. Das hatte mir ein Kandidat selbst einmal erzählt, nachdem ich ihn in letzter Sekunde davon abgehalten hatte, sich in die Tiefe zu stürzen. Neulich habe ich ganz unverhofft im Finanzamt mit ihm telefoniert. Zufällig hatte ich seine Steuererklärung bearbeitet. Er war zum zweiten Mal geschieden und sein Renault Twingo kam nicht mehr durch den TÜV. Selbst seine Freunde hatten zu ihm gesagt, er hätte vielleicht doch besser springen sollen.
Britta war heute besonders unruhig. „Ich ziehe hier aus, Hartmut, das verspreche ich dir!”, keifte sie. Frauen gaben ja ständig solch leere Versprechungen ab. Ich nahm ihre Androhung heute durchaus ernst, denn bei Britta hatte ich schon so manch unangenehme Überraschung erlebt.
Letzten Sonntag zum Beispiel, da hatten wir uns fürchterlich wegen einer Kleinigkeit gestritten. Als der Streit seinen Höhepunkt erreicht hatte, verkündete sie zornesrot, sie werde den leckeren Schweinebraten, den sie gerade für uns zubereitet hatte, in den Müllschlucker werfen. So aufgebracht hatte ich Britta selten erlebt. Ich wusste, in diesem Zustand war sie zu allem fähig. Und weil ich viel kleiner und schwächer war als Britta, schloss ich mich erst einmal auf dem Klo ein. Meistens beruhigte sich Britta ziemlich schnell wieder. So war es auch dieses Mal. Als ich sie nach einer Weile am Telefon mit ihrer Freundin Gundula herumgackern hörte, wagte ich mich wieder hervor und wir verbrachten den restlichen Vormittag, als wäre nie etwas Düsteres zwischen uns gewesen. Zum Mittagessen hatte ich dann einen lieblichen Rotwein geköpft und saß mit Lätzchen um den Hals und in seliger Vorfreude am Tisch. Dann kam Britta herein und servierte jedem von uns einen Teller mit Melonenscheiben!
Zunächst begriff ich überhaupt nicht, was vor sich ging. In der Aufregung stellte ich nur fest, dass ihre Portion größer war als meine. Aber bis ich begriffen hatte, dass das alles sein sollte, verging eine ganze Weile. „Wo ist der Braten?”, fragte ich bangend und steif.
„Na, im Müllschlucker”, entgegnete Britta mit einer Abgebrühtheit, die mich innerlich gefrieren ließ. Ich war fertig. Den nächsten Tag ließ ich mich krank schreiben. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit schlich ich mich heimlich zum Griechen und bestellte die üppige Mykonos-Platte. Dazu drei Gläser Samos und vier Ouzos. Tags darauf musste Britta mich krank melden, weil ich dazu selber nicht mehr in der Lage war.
Britta verfügte also über die penetrante Eigenschaft, ihr Wort zu halten. Deshalb wurde ich auch äußerst unruhig, als sie noch einmal betonte: „Hartmut, das eine will ich dir sagen: Noch in diesem Jahr ziehen wir hier aus!”
Schnell sagte ich zu ihrer Beruhigung: „Ich werde heute mal bei der Wohnungsgenossenschaft nachfragen, ob was Passendes für uns frei wird.” Mit einem Ruck setzte sich Britta kerzengerade hin. Auch im Sitzen war sie noch mindestens einen Kopf größer als ich. Ihre Augen glühten. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Man konnte noch so einfühlsam sein, immer sagte man das Falsche.
„Ich will keine Wohnung von Genossen, sondern Eigentum!”, zischte Britta böse.
„Eigentum!”, wiederholte ich entgeistert. Jetzt drehte sie wirklich durch. Schade, eigentlich war Britta immer ganz patent gewesen. Aber nun war nichts mehr mit ihr anzufangen. Ich sollte sie so schnell wie möglich ins Internet einstellen und mit Schmolkowski virtuell Kontakt aufnehmen. Der würde sicher bald Nachschub brauchen.
In Wirklichkeit würde Britta allerdings eher mich verschachern als umgekehrt. Deshalb schluckte ich meine Gegenargumente zähneknirschend herunter. Britta betonte noch einmal ihre Forderung: „Ich will ein Haus oder mindestens eine Eigentumswohnung – und Menschen als Nachbarn, keine Genossen!”
Ein paar Tage später traten wir unseren Urlaub an. Wie jedes Jahr, seit wir verheiratet waren, fuhren wir mit dem Fahrrad und ausgerüstet mit einem Igluzelt irgendwohin. Britta liebte diese Art von „Urlaub” und ich wagte nicht, ihr zu widersprechen. Diesmal trieb es Britta in die Eifel. Britta radelte trotz schweren Gepäcks immer vorneweg. Ich blieb weit abgeschlagen zurück. Es nützte auch wenig, dass ich zwischendurch heimlich an meinem „Red Bull” nippte. Brittas Laune wuchs zusehends und das war ja auch die Hauptsache. Die letzten Tage freute ich mich nur noch auf mein kleines, kuscheliges Büro im Finanzamt. Und als wir zu Hause an­gekommen waren, war die Idee mit der Eigentumswohnung schon wieder vergessen.
Erst Ingo weckte wieder die Erinnerung daran. Ingo, der genau wie ich jeden Samstagmorgen sein Auto in der Selbstwaschanlage wusch, der musste es nämlich wissen. Ingo verkaufte so dieses und jenes, vor allen Dingen Konservendosen. Nicht die kleinen Dosen, die bei Aldi neben dem Klopapier aufgestapelt sind. Nein, Ingo machte die ganz großen Geschäfte. Das erzählte er mir so nebenbei, während er seinen dunkelblauen Mercedes hingebungsvoll mit einer edlen Milch massierte. Das Mittelchen war teurer als die Lotion, die ich Britta zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte. Im Gegensatz zu mir wusch Ingo sein Auto nicht deshalb bei der Selbstwaschanlage, weil er die paar Euro für die Automatikwaschanlage sparen wollte. Nein, er wusch selbst, weil er so drei volle Stunden Gelegenheit hatte, seinen Liebling zu streicheln.
Welche Art Geschäfte er genau machte, hat er mir nie genau erzählt. Aber ich glaube, er wusste Bescheid. Er flog zweimal im Jahr in die Karibik. Nicht nur Last-Minute-Flüge! „Schweineteuer, diese Inselaffen!”, stöhnte er jedes Mal, wenn er braungebrannt zurückkehrte. Darüber hinaus hatte Ingo alles, was man hat, wenn man es hat. Natürlich auch eine Eigentumswohnung. Was heißt eine Eigentumswohnung! Er hatte drei: eine zum Wohnen und wegen der steuerlichen Abschreibung, die zweite für die Momente, in denen er einfach mal raus und abhängen musste und die dritte für den Familien-Winterurlaub zwischen den Jahren in St. Moritz. „Des Wichtigschde im Leben is: schaffe und genieße!”, sagte er immer und outete sich damit als bekennender Schwabe. Wenn ich ihn dann staunend und mit bewundernden Blicken ansah, war das Balsam für seine von der Steuer geschröpfte Seele.
Während ich Ingo von der aktuellen Mieterhöhung vorjammerte und mich bitter darüber beklagte, dass die Genossenschaft nicht bereit war, den zerbrochenen Klodeckel zu bezahlen, klopfte er mir väterlich auf die Schulter und sagte: „Mensch, Hartmut, rechne doch mal!” Und dann rechneten wir.
Ich weiß ja, so etwas macht man nicht, aber ich zeigte Ingo trotzdem meine Lohnsteuerkarte. Er war sichtlich betroffen. Bilder einer indischen Hungersnot hätten ihn wahrscheinlich nicht stärker gerührt. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und er stammelte, nachdem er sich wieder ein wenig gefangen hatte: „Was! Das ist alles? Meine Güte, das kannst du doch keinem erzählen, dass man davon leben kann!” Als Finanzbeamter im mittleren Dienst orientierte sich mein Gehalt nun mal am Existenzminimum. Das war eine Tatsache, die Ingo neu zu sein schien. Sicher, ab und zu war mir schon der Gedanke gekommen, mich zum Beispiel als Buchhalter bei einem Steuerberater zu bewerben. Aber mein Chef, der Herr Axthammer, sagte in den Mitarbeiter-Vorgesetzten-Gesprächen mit einem fürsorglichen Augenzwinkern immer zu mir, dass ich da draußen nicht mehr zurecht käme. „Da draußen”, das war die freie Wirtschaft. Wenn Herr Axthammer von „da draußen” sprach, dann spürte ich einen eisigen Luftzug und es war so, als würde mir eine unsichtbare Hand die Kehle langsam zudrücken. So hatte ich mich bemüht, immer schön unauffällig zu bleiben und war bereits seit 16 Jahren zusammen mit meinem Kollegen Horst gefesselt an mein kleines Büro im Finanzamt neben der Besuchertoilette.
In einem Anfall von Mitleid lud mich Ingo spontan zu „seinem” schicken Italiener ein. Das Lokal war so exklusiv, dass auf der Speisekarte weder Pizza noch Makkaroni zu finden waren. So etwas Ordinäres wurde hier nur ausnahmsweise Kindern unter 14 Jahren an uneinsehbaren Tischen serviert.
Die Teller wurden gerade abgeräumt. Ingo saß regungslos da und starrte auf seinen Cognac. Seine Gehirnwindungen glühten wie ein Toaster in der Röststufe 6. Gedankenverloren murmelte er: „Da muss sich doch irgendetwas bei dir machen lassen!”
„Britta arbeitet übrigens neben ihrem Studium im Fitness-Studio. Das bringt im Monat bestimmt 400 Euro netto”, ergänzte ich um Entspannung der Lage bemüht. Seine Miene hellte sich ein wenig auf. „Na, also”, grunzte er schon etwas zufriedener. Dannverdunkelten sich seine Gesichtszüge wieder beunruhigend und meine aufkeimende Hoffnung war wieder zunichte.
Mit einer Wendung des Schicksals zum Guten hatte ich gar nicht mehr gerechnet, da begannen plötzlich seine Augen zu leuchten. Ingo erhob triumphierend sein Glas und sagte euphorisch: „Junge, wir kaufen! Wir müssen einfach kaufen!”
„Was kaufen?”, fragte ich begriffsstutzig zurück.
„Na, eine Eigentumswohnung!”, raunte Ingo mir ungeduldig zu.
„Mit den paar Kröten, die ihr verdient, kann man vielleicht existieren, aber nicht leben. Deine Miete wird dir über kurz oder lang den Garaus machen. Deshalb müssen wir jetzt kaufen. Bei den niedrigen Zinsen müssen wir jetzt einfach kaufen! Und glaub mir, solche Hasen wie deine Britta sind es nicht gewohnt, ewig in der Gosse zu leben. Wenn du sie halten willst, musst du einmal in deinem Leben wirklich aktiv werden.”
Da hatte ich endlich begriffen.

3. Der Zehnjahresplan

„Nur Eigentum macht frei!” Beglückt und überzeugt von dieser Erkenntnis schlief ich an diesem Abend voller Tatendrang ein.
In der Nacht hatte ich kühne Träume: Ich lebte als Landgraf in einem mittelalterlichen Schloss. Bei meinem letzten Ausritt schwängerte ich 15 Mägde und setzte so manches Dorf in Brand. Was durfte man nicht alles tun, wenn man frei war! Ich wachte gerade noch rechtzeitig auf, ehe es dem Pöbel gelang, mein adeliges Haupt aufzuspießen.
Es war Samstagmorgen. Ingo hatte mir die Augen geöffnet, ich hatte wirklich begriffen: Der Weg aus der Gosse führte nur über Eigentum. Teileigentum war das Zauberwort! Und um an Teileigentum zu gelangen brauchte ich einen Plan. Und um diesen Plan zu erstellen, zunächst einmal Ruhe zum Nachdenken. Eigentlich war heute ein ungünstiger Tag, um Pläne zu schmieden. Denn wirklich Zeit und Ruhe zum Nachdenken hatte ich nur in meinem Büro im Finanzamt. Aber bis Montag konnte und wollte ich nicht warten. Keinen Tag mehr würde ich zögern, uns aus der stinkenden Kloake mittelständischen Beamtentums zu befreien!
Also musste ich Britta heute Morgen irgendwie abschieben. Sie kam mir allerdings zuvor. Während sie an ihrem klumpigen Körnermüsli herumpickte, sagte sie, sie müsse unbedingt noch ein paar Dinge in der Stadt erledigen. Und außerdem würde sie heute Mittag im Fitness-Studio noch einen Aerobic-Kurs geben. Als Britta endlich Anstalten machte, sich zu verdünnisieren, maulte ich hinter ihr her: „Kauf bloß keine Schuhe!”
Britta würde Schuhe kaufen, sie kaufte immer Schuhe. Manchmal versäumte sie es jedoch, die Spuren ihrer Streifzüge zu verwischen. Und wenn ich richtig Glück hatte, fand ich in einer Plastiktüte noch den Bon. Zweimal war es mir bereits gelungen, Schuhe ohne Brittas Wissen wieder umzutauschen. Das Unglaublichste daran: Sie hatte es nicht einmal bemerkt.
Wenigstens hatte ich jetzt meine Ruhe. Feierlich legte ich „Die vier Jahreszeiten” von Vivaldi auf und nahm einen neuen Schreibblock zur Hand. Der Titel meines Werkes lautete: „Der Zehnjahresplan des Hartmut Schminke”. Darunter schrieb ich mit Textmarker: „Was ich will, das schaffe ich auch!” Diesen Satz hatte ich einmal in einem von Brittas Positiv-Büchern gelesen. Britta war nach diesen Büchern süchtig, sie lagen bei uns in jeder Ecke herum, nur ihre Fitnessbibeln hatten sie noch nicht verdrängt.
Jetzt ging es aber ans Eingemachte. Die wichtigste Frage lautete: Wie viel Schotter ließ sich für den Kauf einer Wohnung locker machen? Ersparnisse hatten wir natürlich keine – wovon auch? Die Fünf-Euro-Scheine, die ich hin und wieder in Sofaritzen und hinter Teppichleisten versteckte, um sie vor Brittas Streifzügen durch die Boutiquen zu retten, konnte man als Ersparnis kaum bezeichnen. Unser Konto war eigentlich nur dann nicht überzogen, wenn ich neues Geld bekam. Dann zog ich immer ganz schnell einen Auszug, um wenigstens einmal im Monat in der Illusion zu leben, noch nicht in der Gosse gestrandet zu sein. Es konnte also nur darum gehen, der Bank so viel Kohle wie möglich für eine Finanzierung aus den Rippen zu leiern.
Ich begann damit, auf der einen Seite des Blattes unsere Einnahmen aufzuschreiben. Ob sich die Bank von den großzügigen Schmerzensgeldzahlungen meines Arbeitgebers blenden ließ? Lähmende Zweifel stiegen in mir hoch, aber im Geiste hörte ich Britta meckern: „Ich will aber eine Eigentumswohnung!” Und was Britta wollte, bekam sie auch. Unter würdigen Umständen konnte man von diesem Gehalt nicht einmal einen Kaninchenwurf durchbringen, geschweige denn eine deutsche Beamtenfamilie – und dabei standen wir noch am Anfang unserer Familienplanung.
Auf der anderen Seite des Blattes listete ich tapfer unsere Ausgaben auf. Die Aufstellung wollte gar nicht mehr enden. Immer wieder fiel mir etwas ein, was ich bislang noch nicht berücksichtigt hatte: Frisör, ADAC-Mitgliedsbeitrag, Staubsaugerbeutel, Kondo­me. Hinter „Kondome” vermerkte ich als Randnotiz: Kondome nur bis zum sechsten Jahr. Im siebten Jahr sollte Stufe II der Familienplanung in Kraft treten. Spätestens dann würde – nein, musste – der kleine Schminke kommen. Wieder hörte ich Britta im Geiste meckern: „In sieben Jahren soll die Familienplanung aber schon abgeschlossen sein.” Mir war bewusst, dass sie hierbei nicht nur an einen Schminke-Junior dachte, sondern an mindestens drei.
Die Summe auf der Ausgabenseite war noch erschreckender als ich erwartet hatte: Meinem Auge bot sich das Bild eines typischen Staatshaushaltes, bei dessen Betrachtung die Frage berechtigt ist, wovon in der Vergangenheit alle Kosten bestritten wurden.
Es half nichts. Wenn wir bei der Bank nicht hochkant hinausfliegen wollten, musste drastisch gekürzt werden. Eines war klar: Britta, das Weib, verschuldete mich! Als erstes warf ich den Otto- und den Quelle-Katalog in den Müllschlucker. Beinahe hätte ich den Sonderkatalog mit der Spätübergangsmode von Hess übersehen. In diesem Katalog fand ich eine ausgefüllte Sammelbestellung von sage und schreibe 467,50 Euro!
Im Grunde ging es nicht um die Frage, ob ich mir eine Eigentumswohnung leisten konnte: Es ging darum, ob ich mir diese Frau weiterhin leisten konnte! Britta musste diese Verschwendungssucht von ihrer Mutter geerbt haben. Schwiegermutter Margot hatte schon in den 60er Jahren, also in einer Zeit, in der andere Familien samt Schwiegermutter und Erbtante einmal in der Woche am Samstag durch die Wanne geschleust wurden, zweimal am Tag geduscht! Verschwendung pur! Seit Margot plötzlich mit 56 an Krebs gestorben war, fand Schwiegervater Gerhard Gefallen am gnadenlosen Geldhorten. Bei Britta hatte sich durch den Tod ihrer Mutter und das Verhalten ihres Vaters ihre Verschwendungssucht sogar noch verstärkt.
Warum hatte ich mich nicht in eine einfache, biedere, graue Maus verguckt mit einer Lkw-Ladung Aussteuer und einem kleinen Depot in der Schweiz? Aber graue Mäuse sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Herr Hupe, unser Treppenterrier, der im Finanz­amt die Post in die einzelnen Zimmer verteilt, erzählte mir neulich von seiner Elisabeth. Elisabeth war eine reinrassige graue Maus und im seligen Alter von 47 Jahren, als er sie heiratete. Nach fünf Jahren Ehe sah sie ihn nach dem Abendbrot plötzlich komisch an und sagte, sie wolle jetzt reiten lernen. Und zwar ein richtiges Pferd mit Sattel und allem drum und dran. Als er begriffen hatte, dass sie es wirklich ernst damit meinte, flehte er sie an, schrie sie an, aber es nützte nichts. Sie blieb stur. Wozu will eine graue Maus reiten lernen? Es gibt eben Frauen, die sich als graue Mäuse verkleidet haben…
Nachdem ich von Brittas Budget noch ein paar Kosmetikartikel gestrichen und den teuren Kurzhaarschnitt gegen eine wild wachsende Langhaarmatte ausgetauscht hatte, sah die Ausgabenseite schon viel freundlicher aus. Ihren monatlichen Gang zu Coiffeur Monique musste ich ihr natürlich auch noch abgewöhnen. Wenn aus unserer Finanzierung etwas werden sollte, musste Britta sich in Zukunft von Elwine die Haare schneiden lassen. Anspruchsvollere Gemüter hätten sich von Elwine nicht einmal ihre Ligusterhecke schneiden lassen, aber dafür war Elwine mit ihren Dumpingpreisen für Familien mit einer knappen Finanzierung immer eine gute Empfehlung.
Selbstverständlich war auch ich bereit, bemerkenswerte Opfer zu bringen. Obwohl es mich wirklich Überwindung kostete, strich ich bei der Position „Autopflege” die Softhäutchen für die Lackoberflächenmassage und das zweite Ei morgens in der Kantine.
Mit der Besoldungstabelle berechnete ich nun meine Einkommensentwicklung für die nächsten zehn Jahre. Bislang konnte man sich immer darauf verlassen, dass sich in einem Beamtenleben in einem Zeitraum von zehn Jahren keine gravierenden Änderungen ergaben. Meiner Erinnerung nach bestanden die bemerkenswertesten Veränderungen der letzten Jahre in der Einführung einer dritten Wurstsorte in der Kantine – das musste vor ungefähr vier Jahren gewesen sein – und der Abschaffung des Vordruck EST 12 WB. Vordruck EST 12 WB wurde endgültig aus dem Verkehr gezo­gen, weil selbst die mit „gut” beurteilten Kollegen ihn nicht verstanden hatten. Aber wenn man die Pressemitteilungen über geplante Einsparungen in jüngster Zeit verfolgte, konnte einem schon schwindelig werden und selbst dem unbekümmertesten Idioten war klar, dass sich da ein verheerendes Unwetter zusammenbraute und meine kleine Oase stark bedroht wurde.
Ein gesunder Optimismus setzte sich dann aber doch bei mir durch und ich plante für das sechste Jahr eine Beförderung ein. Zum Glück ging es bei den Beförderungen nicht um die erbrachte Leistung. Befördert wurde, wer lange genug abgehangen war. Sicher, in den letzten Jahren hatte die Leistungsbeurteilung immer mehr Gewicht bekommen. Aber ich war mittlerweile nicht nur abgehangen, ich hatte bereits schon Moos angesetzt. Mein Optimismus war somit durchaus begründet.
Weniger berechenbar war Brittas Einkommensentwicklung. Wer sagte mir, dass sich Britta nicht beim Sport so unglücklich verletzte, dass sie keine Fitnesskurse mehr geben konnte? Oder noch schlimmer: Britta wurde unverhofft schwanger! Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Vielleicht sollte ich vorsorglich beginnen, ihr die Pille ins Müsli zu mixen! Selbstverständlich mochte ich Kinder. Aber Stufe II ein paar Jahre vorzuziehen wäre Wahnsinn!
Im neunten Jahr konnte es noch einmal richtig eng werden. Zur Not könnten wir unser Auto verkaufen. Und wenn ich öfter die Fahrgemeinschaft für die Fahrten ins Büro wechselte, brauchte ich nicht mal Spritgeld zu zahlen. Da gab es sicherlich noch Einsparpotenzial. Im zehnten Jahr plante ich endlich den Abschluss von Brittas Studium ein und ihren Einstieg ins Arbeitsleben. Britta studierte Sozialwissenschaften mit den Nebenfächern Sport und Freizeitpädagogik. Irgendwann war vielleicht doch damit zu rechnen, dass sie richtiges Geld nach Hause brachte – wobei ich bei dieser Fächerkombination durchaus meine Zweifel hegte.
Am Ende war ich von meinem Plan hellauf begeistert. Nächstes Wochenende konnte also die Suche nach einer Eigentumswohnung beginnen.
Aus dem Bücherschrank nahm ich Brittas Lieblingsbuch zur Hand: Leitfaden für positive Transformationsformeln. Verschwörerisch murmelte ich die Transformationsformel für eine abgeschlossene Ziel-Imagination: „Das habe ich gemacht. Das habe ich gut gemacht. Das habe ich sehr gut gemacht. Ich bin eins mit meinem Plan und was ich will, das schaffe ich auch!”

4. Die Frauenbeauftragte

Kurz vor 14:00 Uhr klingelte Frau Hoppe-Reitemüllers Telefon. Es war Frau Doggenfuß, die Vorzimmerdame des Finanzamt-Vorstehers. Sie solle sofort zum Vorsteher kommen. Ausschließlich Frau Doggenfuß benutzte den Titel „Vorsteher” wenn sie vom Finanzamts-Vorsteher sprach. Für alle anderen war er „Der Kopf”. Nicht nur im übertragenen Sinne war Regierungsdirektor Niemeier der Kopf des Finanzamtes. Er hatte einen beinahe schon als abnorm zu bezeichnenden riesigen Schädel, dessen kantiges Profil durch eine eckige Goldrandbrille noch verstärkt wurde.
Frau Doggenfuß redete stets in einem Befehlston, der unbedingten Gehorsam forderte und jede noch so höfliche Nachfrage scharf unterband. Frau Hoppe-Reitemüller ließ deshalb sofort die gerade angebissene Nussecke fallen und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl.
Auf dem Flur kam ihr Hartmut Schminke mit einer Tasse Kaffee entgegen. Es ist schon auffällig, dachte Frau Hoppe-Reitemüller, immer wenn ich den Schminke sehe, holt er Kaffee oder bringt ihn gerade zur Toilette. Beim Frühstück in der Kantine ist er auch immer der Erste und der Letzte, genau wie sein Vater. Warum sie den Sohn überhaupt eingestellt haben, ist mir ein Rätsel! Bei dem Bockmist, den der alte Schminke verzapft hat. Ab mittags hing Kalle Schminke doch nur noch am Getränkeautomaten im Keller und hat sich eine Pulle nach der anderen genehmigt. Und wenn er abgefüllt war, hörte man das Geschnarche aus seiner Akten-Registratur noch drei Zimmer weiter.
Sie sah dem kleinen, rundlichen Mann hinterher. Etwas weniger Bauch und mehr Hintern würden ihm gut stehen, überlegte sie und dachte an Norberts Hintern. Norberts Hintern gehörte zu Norberts wirklichen Qualitäten. Nicht, dass Frau Hoppe-Reitemüller Norbert nur wegen seines Hinterns geheiratet hätte, aber in dem Sympathiepaket, welches für Norbert den Ausschlag gegeben hatte, war sein Hintern sicherlich kein zu vernachlässigender Pos­ten gewesen. Es hatte auf sie schon immer einen unwiderstehlichen Reiz ausgeübt, ihrem Norbert mit Daumen und Zeigefinger in seinen fleischigen Hintern zu kneifen. Aber seitdem Norbert bei seiner Versicherung seinen Stuhl für die junge Hauptsachbearbeiterin hatte räumen müssen und in den vorzeitigen Ruhestand enthoben worden war, hatte er sich stark verändert. Irgendwann hatte er sich die Kneiferei verbeten. Und als ihr dann doch einmal die Finger ausrutschten, hatte er ihr sogar angedroht, sich von ihr scheiden zu lassen. Und sie wusste, er meinte es damit ernst.
Seitdem ging es mit Norbert immer weiter bergab. Von morgens bis abends saß er nur schlecht gelaunt und lustlos herum. Frau Hoppe-Reitemüller war manchmal froh, dass sie wenigstens tagsüber seinem Anblick entfliehen konnte. Schade nur, dass sich im Finanzamt nicht ihr Telefon abstellen ließ. Mindestens viermal am Tag rief er an, um sie anzuschnauzen oder Bestellungen für den Supermarkt aufzugeben.
Der Weg zum Kopf führte über das Zimmer von Frau Doggenfuß. Es gab natürlich auch einen direkten Zugang zum Büro des Kopfes. Aber die Klinke von Zimmer Nr. 333 in die Hand zu nehmen, wäre eine genauso unmögliche Vorstellung gewesen, wie an der Panzersicherung im Keller herumzufummeln.
Ohne Frau Hoppe-Reitemüller eines Blickes zu würdigen, meldete Frau Doggenfuß sie telefonisch im Vorsteherzimmer an. Nicht-Personen wie der Hausmeister, die Putzfrau und Amtsinspektorinnen aus dem mittleren Dienst wurden von Frau Doggenfuß nur dann persönlich angesprochen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Mit einem Blick über die Halbrandbrille deutete sie an, dass nun der Weg ins Allerheiligste für Frau Hoppe-Reitemüller offen stand. Ihr Herz begann zu rasen.
In seinem Büro wartete der Kopf hinter seinem drei Quadratmeter großen Schreibtisch. Der Schreibtisch war lediglich mit einem kleinen Notizblock und einem Telefon bestückt. Vor dem Schreibtisch saß ihr Chef, Herr Axthammer. Frau Hoppe-Reitemüller wur­de es noch mulmiger zumute. Herr Axthammer war nämlich nicht nur ihr Sachgebietsleiter, sondern zudem auch der Personalratsvorsitzende des Finanzamtes. Nervös fuhr sie sich durch ihr kurzes graues Haar und wie ein Film spulten sich vor ihren Augen die Sünden der vergangenen Tage ab: Volle zwei Stunden hatte sie mit Sybille in Berlin telefoniert ohne die „drei” für Privatgespräche vorweg zu wählen. Dann hatte sie die EDV-Prüfhinweise für die eingegebenen Steuererklärungen ausnahmslos vernichtet, weil sie mit ihnen nichts anzufangen wusste. Schweiß schoss ihr wie von Einspritzdüsen in die Achseln ihrer Bluse, als ihr einfiel, dass sie gerade gestern erst wieder im Internet unter www.knackigehintern.de unermüdlich gesurft hatte. Dabei wurde in der letzten Amtsverfügung noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Nutzung des Internets nur zu dienstlichen Zwecken gestattet sei und ein Vergehen disziplinarisch verfolgt würde. Es würde schwer werden, einen dienstlichen Bezug herzustellen. Oder war jemandem aufgefallen, dass sie fünf Locher aus der Materialausgabe herausgeschmuggelt hatte? Vielleicht Betriebsprüfer Glockemüller, so richtig war dem auch nicht zu trauen.
Der Kopf gab ihr ein Zeichen, sich ihm zu nähern. Er erhob sich nie, um seine Besucher zu begrüßen. Seine Körpergröße war nur öffentlichen Geheimnisträgern und seiner Mutter bekannt. Frau Stöhr hatte einmal behauptet, er wäre keine 1,50 m. Sie wüsste das ganz genau, weil er zu ihrem 25-jährigen Dienstjubiläum in ihrem Büro gewesen sei und nicht einmal so groß wie der Aktenbock in ihrem Zimmer gewesen wäre. Aktenbock A 102 C hätte aber garantiert eine normierte Höhe von 1,50 m.
Frau Hoppe-Reitemüllers Nervosität legte sich ein wenig, als ihr der Kopf die Hand reichte. Er hatte tellergroße, warme fleischige Hände, die bei einem Händedruck ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten. Seine Stimme war tief und voll und seine kleinen ewig lächelnden Augen hinter dem kantigen Goldrahmen machten es einem so leicht, Vertrauliches aus dem Kollegenkreis so ganz nebenbei auszuplaudern.
Bei so viel Väterlichkeit war es ihm überhaupt nicht zuzutrauen, dass er auch seine Todesurteile fällte. Da war zum Beispiel der junge Steuersekretär, der im Finanzamt die Steuererklärungen seiner „Privatkunden” selbst bearbeitet und ihnen durch großzügige Ermessensentscheidungen zu üppigen Steuererstattungen verholfen hatte. Kaum zu glauben, dass so etwas wirklich vorkam!
Als Frau Hoppe-Reitemüller davon erfuhr, war ihr zuerst Hartmut Schminke in den Sinn gekommen. Schminke wäre der Einzige gewesen, dem sie das zugetraut hätte. Aber als dieser ihr einige Tage später, nachdem das Urteil gefällt worden war, mit seiner Kaffeetasse und diesem unverwechselbar idiotischen „Mahlzeit”-Grinsen entgegengekommen war, hatte sie gewusst, dass er es nicht gewesen sein konnte. Besagter Kollege war nämlich fristlos entlassen und disziplinarisch belangt worden. Wahrscheinlich arbeitete er jetzt als Handlanger Steuerberater Pfannengaul zu, der dafür bekannt war, seine Arbeit an gestrandete Existenzen aus der Gattung der steuerberatenden Berufe zu delegieren, während er sich auf dem Golfplatz vergnügte.
Frau Hoppe-Reitemüller hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was jetzt kam. Der Kopf hatte bereits eine ganze Weile mit ihr gesprochen, ehe sie überhaupt realisierte, was er eigentlich von ihr wollte: „…und so habe ich mich im Einvernehmen mit dem Personalrat dazu entschieden, Sie als Frauenbeauftragte zu benennen.”
Die Nachricht brauchte eine Weile, um auf Frau Hoppe-Reitemüllers Hirnrinde anzukommen. Das Einzige, was sie begriff, war die Anmerkung von Herrn Axthammer, sie wäre nun aufgrund dieser neuen Aufgabe zu 33 % von ihrer bisherigen Tätigkeit freigestellt. 33 %! Das waren mehr als eineinhalb Tage in der Woche! Dafür hätte sie fast alles gemacht.
„Sie können es sich noch in Ruhe überlegen”, meinte der Kopf abschließend – aber Frau Hoppe-Reitemüller nahm das Amt ohne eine Sekunde zu zögern an.
Von nun an gab es dienstags und donnerstags von 9:00 Uhr bis 12:00 Uhr eine Sprechstunde für weibliche Bedienstete. Dann zog sie sich ins Personalratszimmer zurück und wartete. Ihr fiel es nicht schwer, gut und gerne zwei Stunden und auch länger in dem bequemen Sessel mit Armlehne zu sitzen und auf das Ende der Sprechstunde zu warten. Die Zeit verbrachte sie damit, sich wie eine Raupe durch das Aldi-Süßigkeiten-Angebot regalweise durchzufressen. Mittlerweile war sie im letzten Regaldrittel bei der Prinzenrolle angelangt.
Von Tag zu Tag wurde sie unvorsichtiger. Irgendwann geschah es: Ausgerechnet als ihre Lieblingsillustrierte mit der Titelstory: Was bringen Frauen mit 50 noch im Bett? Offen auf ihrem Schreibtisch lag, kam Frau Stöhr in ihr Büro gefegt. Sie schaffte es nicht einmal mehr, die Illustrierte rechtzeitig verschwinden zu lassen. Frau Stöhr stierte auf die Zeitschrift und schnappte hörbar nach Luft. Noch bevor sie wieder zu Besinnung kam, sagte Frau Hoppe-Reitemüller geistesgegenwärtig: „Angelika, was sagst du denn dazu: Egal, was ich lese, ich habe immer mehr den Eindruck, wir Frauen sind in den Augen der Männer nur ein willenloses Stück Fleisch. Ich wollte im Namen aller weiblichen Amtsangehörigen gerade einen offenen Brief an die Redaktion dieses verkappten Macho-Blattes schreiben. Allein dieser Titel… Das ist doch pervers!”
Frau Stöhrs Zweifel waren augenblicklich verflogen. Sie sah Frau Hoppe-Reitemüller zufrieden an und blökte: „Rita, ich hab gleich gewusst: Die Rita wird den Männern mal richtig Feuer unterm Hintern machen!”
Frau Hoppe-Reitemüller winkte mit aufgesetzter Bescheidenheit ab: „Lass nur, Angelika!”, sagte sie.
„Aber was ich heute in der Kantine gehört habe, ist wirklich ein dicker Hund!”, fuhr Frau Stöhr mit empörter Stimme fort. „Ich habe ganz genau gehört, wie der Schminke heute in der Kantine zu Herrn Goller gesagt hat, Frau Graugans würde jedem Iltis noch Konkurrenz machen. Und wenn er an ihrer Stelle wäre, würde er sich sämtliche Schweißdrüsen wegoperieren lassen. Und ihrenBusen kann sie sich auch gleich mitmachen lassen, wenn sie schon mal am Schnippeln sind. Das ist doch ein starkes Stück, oder? Wenn ich Frauenbeauftragte wäre, würde ich sofort Schritte gegen den Schminke einleiten!”
Erst heute Morgen war Frau Hoppe-Reitemüller am Büro von Frau Graugans vorbeigekommen. Um den penetranten Schweißgeruch aus der Nase zu bekommen, musste sie erst einmal eine Zigarette rauchen und drei Mandarinen pellen. Sie wandte deshalb zögernd ein: „Angelika, findest du nicht auch, dass Frau Graugans immer ein bisschen streng riecht?”
Frau Stöhr war über den Einwand verärgert: „Aber Rita! Das ist schon viel besser geworden. Diese Bemerkung ist jedenfalls unerhört!”
Frau Hoppe-Reitemüller versuchte abzulenken: „Und das mit dem Busen hat er tatsächlich gesagt?”, hakte sie nach.
Frau Stöhr wich plötzlich aus: „Nun ja, jedenfalls sinngemäß. Zumindest ging es um irgendwelche Schönheits-OPs. Ich werde ihn jedenfalls weiter beobachten!”
Pikiert zog sie ab. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie Schminke sofort abgeführt hätten. Aber noch war nicht aller Tage Abend.
Frau Hoppe-Reitemüller schauderte jetzt noch bei dem Gedanken, dass sie um ein Haar in dem Büro von Frau Graugans gestrandet wäre. Sechs Jahre war der zweite Platz in Graugans Büro leer geblieben, bis die Geschäftsstelle mit Hinweis auf Sparmaßnahmen mit Nachdruck darauf bestanden hatte, das Büro voll zu besetzen. Aber einmal in ihrem Amtsleben hatte sich Frau Hoppe-Reitemüller wirklich durchgesetzt und zu Herrn Axthammer gesagt, wenn er das wirklich von ihr verlangte, würde sie ab morgen mit Wäscheklammern auf der Nase erscheinen, und: Sie wäre nicht so privilegiert wie er und hätte ständig Schnupfen! Schminke gehörte sicherlich nicht zu den Männern, die sie gerne in Schutz nahm, aber in diesem Falle hatte er wirklich recht.

5. Der Kennenlerntag

8:06 Uhr. Horst war noch nicht im Büro. Er würde also heute nicht mehr kommen. Um 8:09 Uhr rief Horst vom Flughafen aus an. In 10 Minuten wäre Einchecken und ich könnte jetzt die Krankmeldung an Frau Doggenfuß weiterleiten. Gestern hatte er die Krankmeldung schon vorbereitet, nachdem er mit Schrecken festgestellt hatte, dass ihm drei Urlaubstage fehlten. Der Last-Minute-Flug nach Kenia war allerdings bereits gebucht – ohne Reiserücktrittsversicherung – und der Flieger stand schon mit laufendem Motor auf dem Flughafen. Zum Glück war wenigstens auf seinen Hausarzt Verlass, der hatte die Krankmeldung gleich für vier Wochen ausgestellt. Kompetenter Mann, sollte ich auch mal ausprobieren.
„Wenn dir drei Wochen die Sonne auf die Festplatte brät, brauchst du anschließend einfach noch ein paar Tage, um dich wieder zu akklimatisieren”, hatte Horst zu mir gesagt und dabei seine Vollglatze massiert. „Und außerdem muss ich noch die Terrasse pflastern. Komm´ ich ja sonst auch nicht zu.”
Es war richtig entspannend, so allein in seinem Büro zu sitzen. Heute hatte ich wenigstens genügend Zeit, ungestört meine aufgestauten Privatgespräche abzuarbeiten. Und ich dachte die ganze Zeit nur an das Eine: eine Eigentumswohnung! Der Gedanke daran hatte sich bei mir regelrecht eingebrannt.
Zuerst rief ich Britta an: „Du, Britta, wir sollten uns den ganzen Samstag einmal Zeit nehmen, um uns Eigentumswohnungen anzusehen.”, schlug ich Britta vor.
„Am Samstag?!” – mehr sagte sie nicht, aber ihr Tonfall löste in mir augenblicklich eine Sirene aus. Da kannten wir uns bereits seit sieben Jahren und waren von diesen sieben Jahren fünf Jahre verheiratet und dennoch ließen sich gewisse Eskalationen nicht vermeiden. Zumindest begriff man eines mit der Zeit schneller: dass es mal wieder zu spät war und die einzige Lösung darin bestand, zügig den Rückzug anzutreten.
Doch ich beging einen Kardinalfehler: Ich versuchte mich herauszuwinden. Als wenn das einem Mann in meiner Situation jemals gelungen wäre – und bei Britta schon gar nicht. Ich sagte jetzt in einem wie ich fand sehr beruhigenden Tonfall: „Naja, es muss ja nicht diesen Samstag sein.” Aber es ließ sich nichts mehr retten.
„Sagtest du Samstag?”, wiederholte Britta und in ihrer Stimme schwang ein Giftcocktail aus Empörung, Wut und verletzter Eitelkeit mit. Schweiß stand auf meiner Stirn. Was konnte an einem gewöhnlichen Samstag, dem siebten Juni gewesen sein? Wie in einer Suchmaschine spulten sich vor meinen Augen sämtliche Geburts- und Todestage näherer Angehöriger und ihrer Haustiere ab. Nichts! Am siebten Juni war einfach nichts gewesen. Man hätte diesen Tag glatt vom Kalender streichen können und kein Mensch hätte davon Kenntnis genommen. Ich jedenfalls nicht.
Da kam mir eine Idee: Brittas Führerschein! Am siebten Juni vor sieben Jahren hatte Britta ihren Führerschein gemacht! Jetzt musste ich nur noch die Kurve kriegen. „Glaubst du etwa, ich hätte deinen Führerschein vergessen! Siebter Juni! Sieben Jahre Führerschein!”, säuselte ich.
„Wenn du noch einmal das Wort Führerschein in den Mund nimmst, lasse ich mich auf der Stelle von dir scheiden!” Britta hatte aufgelegt. Stimmt ja! Auch das war mir leider entfallen: Das Wort „Führerschein” sollte ich auch besser meiden. Britta hatte ihren Führerschein erst im dritten Anlauf geschafft. Einer psychologischen Untersuchung war sie nur knapp entgangen.
Jetzt gab es nur noch eine Rettung: Gundula! Brittas Studienfreundin Gundula! Sie war mir einiges schuldig. Mehr noch: Wenn es in der Welt so etwas wie Gerechtigkeit gäbe, wäre Gundula meine Leibeigene. Sie war schuld daran, dass mir Britta nicht mehr gehorchte. Als Britta und ich uns kennenlernten, hatte Britta sich gerade von Tommy getrennt. Sie fraß mir aus der Hand. Sie kochte für mich, manchmal sogar zwei Mal am Tag warm. Und wir schlie­fen sogar drei Mal am Tag miteinander – manchmal jedenfalls. Aber Gundulas Einfluss war nicht zu übersehen gewesen. Ich muss sogar eingestehen, dass sich unsere Rollen immer mehr vertauscht hatten. Neulich sagte Britta zum Beispiel, sie hätte keine Lust mehr zum Kochen. Und ich wusste ganz genau, da steckte Gundula dahinter. Gundula war auch schuld daran, dass Britta mittlerweile im 15. Semester studierte und noch lange kein Ende in Sicht war. Korrekterweise muss ich dazu sagen, dass Britta drei Semester nicht mitgezählt hatte, weil sie eine Auszeit brauchte, um die Trennung von Tommy, auch Scheißkerl genannt, zu verarbeiten.
Gundula gähnte unerzogen laut in den Hörer. Anscheinend hatte ich sie gerade aus dem Bett geschmissen. Tschuldige, Gundula – es war ja auch erst 10 Uhr. Ich schilderte ihr kurz mein Problem.
„Siebter Juni”, murmelte sie gedankenverloren. „Ich gehe davon aus, dass du die Geburts- und Hochzeitstage schon abgecheckt hast. Wann hat sie sich von dem Scheißkerl getrennt?”
„Am sechsten Juni”, antwortete ich.
„Und wann habt ihr euch kennengelernt?”, forschte Gundula weiter nach. „Am siebten Juni! – Gundula, du bist einfach genial!”
„Tja, Hartmut, wenn du mich nicht hättest!!!”, sagte Gundula und die drei Ausrufungszeichen hingen wie Atompilze in der Luft. So überschwänglich hätte ich Gundula nie loben dürfen. Hoffentlich war das jemals wieder gut zu machen. Während sie noch einmal unappetitlich in den Hörer gähnte, schaltete ich das Telefon auf Rufumleitung um und legte das Gespräch in den Aktenkeller K 40. Das war reine Notwehr, denn wenn Gundula erstmal am Hörer hing, musste man ihr schon die Ohren abschneiden, um sie zum Auflegen zu bewegen.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, leichte Steuererklärungen zu bearbeiten und mir den Kopf zu zermartern, wie ich Britta wieder milde stimmen konnte – und mir fiel tatsächlich etwas ein!
Als ich mit knurrendem Magen nach Hause kam, saß Britta mit einem Schälchen Müslikekse aus dem Reformhaus vor dem Fernseher. Ich war mir sicher, diese Kekse neulich bei Zoo-Warnecke in dem Hunde-Candyshop gesehen zu haben.
Britta schrie aus dem Wohnzimmer: „Wehe, du gehst in die frisch gewischte Küche!”
Sie war also immer noch sauer und ich hatte wirklich riesigen Hunger – und ich beging trotzdem nicht die Todsünde, die frisch gewischte Küche zu betreten. Das war wahres Märtyrertum!
Notgedrungen setzte ich mich zu Britta vor den Fernseher. Volle 42 Minuten wurden wir über die Vorzüge einer WC-Ente mit Saugfüßen und dem patentierten Superflex-Hals aufgeklärt, der in der Lage war, mit einem einzigen Sprühstoß den gefährlichen Urinstein zu eliminieren. Nachdem Britta unser neues Familienmitglied bestellt hatte, fragte ich beiläufig: „Wie wäre es, wenn wir unseren diesjährigen Kennenlerntag einmal ganz anders feiern als sonst?”
Britta schaute mich überrascht an: „Wie? Nicht zum Griechen und dann ins Kino?”
Sie hatte also tatsächlich angebissen. „Nein”, sagte ich, „einmal ganz anders.”
„Also erst zum Chinesen?”, fragte Britta irritiert.
„Nein, ganz, ganz anders! Da kommst du nie drauf: Wir spielen den Tag einfach nach, und zwar genau so, wie wir uns vor sieben Jahren kennen gelernt haben!”
Die Reaktion darauf übertraf alle meine Erwartungen: Britta war hellauf begeistert.
„Ich habe übrigens noch die Popeye-Unterhose”, bemerkte ich und fügte hinzu: „Und du, du hast doch noch dieses süße, gelbe Nachthemd mit dem Biene-Maja-Motiv!”
„Moment mal”, unterbrach mich Britta, „an unserem Kennenlerntag haben wir aber noch nicht miteinander geschlafen! Soviel ich weiß, haben wir uns noch nicht mal geküsst. Da lief noch überhaupt nichts! Ich bin ja schließlich kein Flittchen.”
„Zumindest habe ich dich am Arm gestreichelt”, sagte ich bestimmt.
„Na ja, von mir aus kannst du mich ja mal am Arm streicheln”, erlaubte mir Britta großzügig, „aber ansonsten halten wir uns an die Fakten!”