Die zweite Sintflut - Clive Cussler - E-Book

Die zweite Sintflut E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Mit dem Wissen der Vergangenheit will er die Zukunft beherrschen.

Der Großindustrielle Walter Han ist der führende Produzent von Robotern weltweit. Nun hat er einen Plan gefasst, wie er die von ihm gefertigten Kampfroboter nahezu unzerstörbar machen kann. Er will das legendäre Golden Adamant verwenden, dass der Sage nach bereits die japanischen Schwertschmiede für ihre berühmtesten Arbeiten verwendet hatten. Doch Golden Adamant ist in großen Mengen schwer abzubauen. Für die Förderung riskiert Walter Han nicht nur einen Krieg zwischen Japan und China, er löst auch eine globale Umweltkatastrophe aus. Nur ein Mann kann ihn noch stoppen: Kurt Austin von der NUMA.

Jeder Band ein Bestseller und einzeln lesbar. Lassen Sie sich die anderen Abenteuer von Kurt Austin nicht entgehen!

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Seitenzahl: 643

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Autoren

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein »New-York-Times«-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Der leidenschaftliche Pilot Graham Brown hält Abschlüsse in Aeronautik und Rechtswissenschaften. In den USA gilt er bereits als der neue Shootingstar des intelligenten Thrillers in der Tradition von Michael Crichton. Wie keinem zweiten Autor gelingt es Graham Brown, verblüffende wissenschaftliche Aspekte mit rasanter Nonstop-Action zu einem unwiderstehlichen Hochspannungscocktail zu vermischen.

Die Kurt-Austin-Romane bei Blanvalet

1. Tödliche Beute

2. Brennendes Wasser

3. Das Todeswrack

4. Killeralgen

5. Packeis

6. Höllenschlund

7. Flammendes Eis

8. Eiskalte Brandung

9. Teufelstor

10. Höllensturm

11. Codename Tartarus

12. Todeshandel

13. Das Osiris-Komplott

14. Projekt Nighthawk

15. Die zweite Sintflut

Weitere Bände in Vorbereitung

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Clive Cussler

& Graham Brown

DIE ZWEITE SINTFLUT

Ein Kurt-Austin-Roman

Aus dem Englischen

von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Rising Sea« bei Putnam, New York.

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Copyright © 2018 by Sandecker RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176 – 0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Wilqkuku; Snaprender; Mike H; sdecoret; Dmitriy Rybin; Dmitriy Rybin; Ethan Daniels)

Redaktion: Jörn Rauser

HK· Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-24233-6V004

www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

JAPAN (HISTORISCH)

Yoshiro Shimezu – Samurai. Anführer einer Rebellion gegen den herrschenden Shogun.

Kasimoto – Shogun. Feudaler Herrscher über weite Gebiete Zentraljapans.

Goro Masamune – Japans berühmtester Waffenschmied. Er schuf das Honjo Masamune, das beste japanische Schwert, das je geschmiedet wurde.

Sengo Muramasa – Masamunes Konkurrent. Es gibt Hinweise, dass er Masamunes Schüler war, was jedoch nicht gesichert ist. Er schmiedete die Purpurne Klinge.

CHINA

Wen Li – Mächtige und undurchsichtige Persönlichkeit innerhalb der chinesischen Regierung und der Kommunistischen Partei. Er gilt als gewiefter Stratege und trägt den Ehrentitel Lao-Shi, was so viel heißt wie Gelehrter Meister.

Walter Han – Halb Japaner, halb Chinese; reicher Industrieller; ist Wen Li gelegentlich bei der Durchführung seiner Pläne behilflich.

Gao-zhin – Walter Hans’ Chefingenieur; Roboter- und Computerexperte.

General Zhang – Wichtiger und einflussreicher Angehöriger des chinesischen Geheimdienstes; Chef des Ministeriums für Staatssicherheit.

NATIONAL UNDERWATER AND MARINE AGENCY (NUMA)

Rudi Gunn – Stellvertretender Direktor der NUMA; Absolvent der United States Naval Academy.

James Sandecker – Ehemaliger Chef der NUMA; mittlerweile Vizepräsident der Vereinigten Staaten.

Kurt Austin – Chef der Special Projects Division der NUMA; hervorragender Taucher und Bergungsfachmann; arbeitete für die CIA, ehe er zur NUMA kam.

Joe Zavala – Kurt Austins Freund und rechte Hand; als genialer Techniker und Ingenieur spezialisiert auf die Entwicklung von Maschinen aller Art und die Konstruktion von Unterwasserfahrzeugen; außerdem erfahrener Hubschrauberpilot und Amateurboxer.

Paul Trout – Führender Geologe der NUMA und mit zwei Metern Körpergröße der Riese des Special Projects Teams; verheiratet mit Gamay Trout.

Gamay Trout – Meeresbiologin und mit Paul Trout verheiratet; Fitnessfanatikerin und erfahrene und furchtlose Taucherin.

Priya Kashmir – Vielseitige Expertin und seinerzeit kurz davor, einem Einsatz-Team der NUMA zugeteilt zu werden, ehe sie bei einem Autounfall derart schwer verletzt wurde, dass sie seitdem an einen Rollstuhl gefesselt ist; Angehörige des Rising Seas Project.

Robert Henley – Geologe bei der NUMA und während Paul Trouts Abwesenheit dem Rising Seas Project zugeteilt.

JAPAN (GEGENWART)

Kenzo Fujihara – Einsiedlerisch auf einer Burg lebender Wissenschaftler, der als Geologe in der Forschung tätig war; mittlerweile Führer einer antitechnologischen Sekte; entwickelte unter anderem eine Methode zur Identifikation und Messung seismischer Z-Wellen.

Akiko – Verantwortlich für die Sicherheit Kenzo Fujiharas; unterhielt früher enge Verbindungen mit der Unterwelt; tritt als seine persönliche Beschützerin in Erscheinung.

Ogata – Mitglied von Kenzo Fujiharas technologiefeindlicher Sekte.

Kriminalkommissar Nagano – Hochrangiger Beamter der japanischen nationalen Polizeibehörde Keisatsu-chō und Experte für die Yakuza und das organisierte Verbrechen; leitet die Ermittlungen im Fujihara-Fall.

Ushi-Oni – Ehemaliger Auftragsmörder der Yakuza; »arbeitet« mittlerweile auf eigene Rechnung; wird in einschlägigen Kreisen »Dämon« genannt; entfernter Verwandter und gelegentlicher Geschäftspartner von Walter Han.

Hideki Kashimora – Unterführer der Yakuza und Manager des Sento, eines illegalen Spielcasinos und Fight Club in einem Vorort Tokios.

BLUT UND STAHL

ZENTRALJAPAN

WINTER 1573

Als zwei Armeen auf einem weiten Feld im japanischen Hochland aufeinandertrafen, mischte sich das helle Klirren gezückter Schwerter in den dumpfen Donner der heranstürmenden Pferde.

Als wäre er mit dem Sattel seines Pferdes verwachsen, kämpfte Yoshiro Shimezu mit einer sorgfältig ausgewogenen Kombination aus Kraft und Eleganz. Während er das Kampfgetümmel ringsum wachsam im Auge behielt, lenkte er sein Reittier mit sparsamem Schenkeldruck, ohne seine hakusha einzusetzen – wie die Sporen genannt wurden, die zu einer traditionellen Rüstung gehörten. Gewöhnlich benutzte der Samurai sie nicht.

Auffällig an Yoshiros bunt lackierter Rüstung waren die breiten Schulterplatten, die schweren Handschuhe und ein Helm, der mit einem Hirschgeweih verziert war. Seine Waffe, die er ausgezeichnet beherrschte, war ein glänzendes katana, dessen Klinge jeden Lichtstrahl reflektierte, wenn sie mit weit ausholenden Schwüngen durch die Luft schnitt.

Mit einer fließenden Handbewegung entwaffnete er den Gegner, der sich als Erster in die Reichweite seines Schwerts gewagt hatte. Mit einem Schwerthieb, der mit der Rückhand ausgeführt wurde, halbierte er die Klinge eines anderen Widersachers. Während dieser Soldat sein Heil in der Flucht suchte, griff ein dritter Yoshiro mit einer Lanze an. Ihre Spitze streifte klirrend seine Rippenregion, aber die Schuppen seines Brustpanzers bewahrten ihn vor einer tödlichen Verletzung. Yoshiro wirbelte herum und tötete den Mann mit einem mächtigen Schwerthieb, den er von oben nach unten ausführte.

Für einen kurzen Augenblick von seinen Gegnern unbehelligt, vollführte er mit seinem Pferd auf der Stelle eine Pirouette. Das Pferd, durch eine Rüstung in den gleichen Farben wie Yoshiros geschützt, bäumte sich auf, schlug mit den Vorderhufen aus und machte einen Satz vorwärts.

Seine mit Eisenplatten umhüllten Hufe krachten zwei Angreifern ins Gesicht und warfen sie blutend und bewusstlos zu Boden. Den Kopf eines dritten Mannes zertrümmerte das Pferd, aber nun drängten sich feindliche Soldaten von allen Seiten heran.

Auf der Suche nach weiteren Gegnern ließ Yoshiro den Blick über die Köpfe der feindlichen Soldaten schweifen, seien sie beritten oder zu Fuß. Er war auf dem Schlachtfeld gegen den Shogun in Stellung gegangen, dessen Armee nun in überwältigender Anzahl anrückte. Die Schlacht war wie erwartet verlaufen, und Yoshiros Niederlage schien unabwendbar.

Entschlossen, so viele Gegner wie möglich mit in den Tod zu nehmen, attackierte Yoshiro den Soldatentrupp, der sich am weitesten vorgewagt hatte. Aber die Männer wichen in geordneter Verteidigungsformation zurück und hoben abwehrbereit ihre Schilde und langen Lanzen. Er machte kehrt und galoppierte auf eine andere Truppenformation zu. Doch auch diese Krieger hielten unerschütterlich ihre Position und suchten hinter einem Wald von Speeren Schutz.

Vielleicht wollten sie ihn lebend gefangen nehmen. Könnte dies der Grund dafür sein, dass der Shogun von ihm verlangte, vor den Augen seines Hofstaats seppuku zu begehen? Ein solches Ende würde Yoshiro niemals hinnehmen.

Er trieb sein Pferd erst in die eine Richtung, dann in die andere. Doch bei jedem Vorrücken seines Reittiers wichen die Fußsoldaten zurück. Yoshiro zügelte sein Pferd und richtete sich im Sattel auf. Er wollte nicht, dass sein Reittier sinnlos geopfert wurde. Es war ein bildschönes Tier und sein einziger Vorteil gegenüber den Fußtruppen.

»Wehrt euch!«, verlangte er und musterte seine Gegner mit verächtlichen Blicken. »Stellt euch zum Kampf, wenn ihr noch einen Funken Ehre im Leib habt!«

Ein raubtierhaftes Knurren erregte seine Aufmerksamkeit, und dann wurde ein Speer in seine Richtung geschleudert. Mit blitzschnellen Reflexen parierte Yoshiro das Wurfgeschoss, durchtrennte seinen hölzernen Schaft mit seinem Schwert, lenkte es zugleich ab und zerteilte es. Beide Hälften des Speers landeten, ohne Schaden anzurichten, auf der Grasnarbe des Schlachtfelds.

»Niemand darf ihn angreifen!«, erklang eine Stimme. »Sein Kopf gehört mir!«

Beim Klang des Befehls nahmen die Soldaten eine ehrerbietige Haltung an, und ein Teil des Rings öffnete sich, um dem Reiter Platz zu machen.

Yoshiro erkannte die reich verzierte seidene Schabracke des Pferdes, die goldenen Lamellen des Brustpanzers seines Reiters und dessen geflügelten Helm. Der Shogun war persönlich erschienen, um sich zum Kampf zu stellen.

»Kasimoto!«, rief Yoshiro. »Ich kann nur staunen. Niemals hätte ich gedacht, dass du den Mut hast, die Klinge mit mir zu kreuzen.«

»Ich wollte es niemand anderem überlassen, einen Verbrecher gebührend zu bestrafen«, erwiderte Kasimoto und zückte ebenfalls sein Schwert. Zwar war auch dies ein katana – wie Yoshiros –, aber der Stahl dieser Waffe war dunkler und die Klinge dicker. »Du hast mir als Lehnsherr Treue geschworen. Jetzt jedoch rebellierst du und stellst dich gegen mich.«

»Und du hast geschworen, deine Untertanen zu beschützen, nicht sie zu töten und ihnen ihr Land wegzunehmen.«

»Ich verfüge über die absolute Macht«, brüllte der Shogun erbost. »Macht über sie und über dich. Ich kann ihnen nicht wegnehmen, was von Rechts wegen mir gehört. Aber wenn du für sie bittest, werde ich mich gnädig zeigen.«

Der Shogun stieß einen schrillen Pfiff aus, und eine kleine Gruppe Gefangener wurde aufs Schlachtfeld getrieben. Kinder. Zwei Jungen und zwei Mädchen. Ihnen wurde befohlen niederzuknien. Diener des Shoguns, mit Dolchen bewaffnet, bauten sich hinter ihnen auf.

»Ich habe mehr als eintausend Gefangene in meiner Gewalt«, verkündete der Shogun. »Und wenn deine Bande erst einmal besiegt ist, steht nichts mehr zwischen mir und dem Dorf. Wenn du dich ergibst und deinem Leben eigenhändig ein Ende setzt, werde ich nur die Hälfte der Gefangenen töten und das Dorf verschonen. Wenn du dich mir jedoch entgegenstellst, werde ich sie bis auf den letzten Mann, die letzte Frau und das letzte Kind hinschlachten und das Dorf niederbrennen.«

Yoshiro hatte gewusst, dass es so weit kommen würde. Aber er wusste auch, dass viele Gefolgsleute des Shogun seiner Brutalität überdrüssig waren und damit rechneten, dass sie sich schon bald auch gegen sie selbst richten würde. Das weckte einen Hoffnungsschimmer in ihm. Wenn es ihm gelänge, den Shogun hier und jetzt zu besiegen, bestünde die Möglichkeit, dass die Macht in die Hände weiserer Männer fiel. Und dass endlich der lang ersehnte Frieden geschlossen werden würde.

Yoshiro wog seine Chancen ab. Der Shogun war ein mächtiger und gefährlicher Krieger, stark und nach unzähligen Schlachten entsprechend kampferprobt. Aber er und sein Pferd waren weder mit Blut noch mit Schweiß oder Erdreich besudelt. Es war lange her, seit der Shogun das letzte Mal Mann gegen Mann um sein Leben hatte kämpfen müssen.

»Wie lautet deine Antwort?«

Yoshiro stieß seinem Pferd die Fersen in die Seiten, reckte sein funkelndes Schwert hoch in die Luft und griff voller Ungestüm an.

Der Shogun wurde von der unerwarteten Attacke überrumpelt und reagierte erst spät, schaffte es jedoch im letzten Augenblick, den Angriff abzuwehren, trieb sein Reittier an und passierte Yoshiro auf der linken Seite.

Die Kämpfer tauschten die Seiten und ritten erneut gegeneinander an. Diesmal kollidierten die durch leichte Panzer geschützten Pferde in der Mitte des Kreises. Beide Reittiere brachen bei dem Zusammenprall in die Knie und richteten sich ruckartig wieder auf. Dabei wurden ihre Reiter aus den Sätteln geworfen.

Yoshiro kam als Erster auf die Füße und führte sofort einen tödlichen Stoß gegen den Shogun.

Kasimoto parierte den Angriff und wich mit einem eleganten Sprung zur Seite aus, aber Yoshiro wirbelte herum und machte aus dem Stoß, der ins Leere ging, einen mächtigen Abwärtshieb.

Bei jedem klirrenden Aufeinandertreffen der Klingen stob ein Funkenregen empor. Der Shogun variierte seine Taktik, und ein Schwertstreich fegte Yoshiro den Helm vom Kopf und hinterließ eine Schnittwunde in seiner Wange. Ein Konter Yoshiros kostete Kasimoto eine Schulterplatte seiner Rüstung.

Vor Wut und Schmerzen rasend, warf sich der Shogun seinem abtrünnigen Samurai entgegen und ließ sein Schwert in einer tödlichen Kombination von Finten und präzise gezielten Hieben hin und her fliegen.

Yoshiro wich vor dieser Attacke zurück, wobei er beinahe sein Gleichgewicht verlor und ins Straucheln geriet. Die Klinge des Shogun zielte nach seiner Kehle und beschrieb einen weiten Bogen, der Kopf und Körper voneinander trennen sollte. Aber dann gelang es Yoshiro mit einer geschickten Handbewegung, den mörderischen Schlag mit der Breitseite seines Schwerts abzulenken.

Der wuchtige Zusammenprall hätte zum Bruch seiner Klinge führen müssen, doch Yoshiros Waffe hielt dem Schwert des Shogun stand, federte es mit einem weithin schallenden Klirren ab und ließ den Hieb des Shogun ins Leere gehen.

Yoshiro erwiderte den Angriff mit einem vertikal kreiselnden Gegenhieb, der Kasimotos Leibesmitte erreichte. Die Schwertschneide war so scharf und der Hieb derart kraftvoll, dass die Schwertspitze die bunt bemalte Stahlplatte und das aus gehärtetem Leder genähte Hemd darunter durchschnitt und den Brustkorb des Shogun aufschlitzte. Blut quoll aus der nicht besonders tiefen Wunde und sickerte über Kasimotos Rüstung.

Ein erschreckter Seufzer ging durch die Reihen der Soldaten, die sich um den Kampfplatz scharten. Kasimoto taumelte einen Schritt rückwärts und fasste sich an die Seite. Er schaute Yoshiro verblüfft an. »Deine Klinge bleibt unversehrt, während meine Rüstung von ihr durchschnitten wird … wie nasse Leinwand. Dafür gibt es nur eine einzige Erklärung. Die Gerüchte treffen zu, dass du die Klinge des berühmten Waffenschmieds Masamune führst. Dein Schwert stammt aus seiner Werkstatt.«

Yoshiro reckte die funkelnde Waffe hoch in die Luft. »Dieses Schwert wurde mir von meinem Vater hinterlassen, und er hatte es von seinem Vater geerbt. Es ist die edelste Klinge, die der Meister je schuf. Und sie wird deinem nichtswürdigen Leben ein Ende setzen.«

Der Shogun nahm seinen Helm ab, um leichter atmen und besser sehen zu können. »In der Tat, eine mächtige und wirkungsvolle Waffe«, sagte er. »Ich werde sie wie einen Schatz hüten, wenn ich sie dir nach deinem Tod aus der Hand nehme – aber mein Schwert ist das bessere, das stärkere der beiden. Es ist die Waffe, die nach Blut dürstet.«

Yoshiro erkannte das katana in der Hand des Shogun. Es war das Werk eines anderen berühmten Waffenschmieds Japans: Muramasa, Schüler und einstiger Günstling des berühmten Meisters.

Es hieß, die beiden hätten in ständigem Wettstreit miteinander gelebt, und dass Muramasa den Neid, den Hass und die Verachtung, die er für denjenigen empfand, der ihn das Handwerk gelehrt hatte, auf die von ihm geschaffenen Schwerter übertragen habe. Es waren Waffen der Unterdrückung, der Zerstörung und des Todes, während Masamunes Schwerter allein benutzt wurden, um die Rechtschaffenen zu schützen und Frieden zu stiften und ihn zu erhalten.

Gewiss waren das Legenden, aber in jeder steckte stets auch ein wenig Wahrheit.

»Wenn du dich dieses dunklen Schwerts bedienst, wird es deinen Untergang besiegeln«, warnte Yoshiro.

»Bestimmt nicht, wenn es dich einen Kopf kürzer macht.«

Die beiden Kämpfer umkreisten einander, beide verwundet, beide mühsam nach Atem ringend und beide ihre Kräfte für den letzten Waffengang sammelnd. Yoshiro humpelte schwerfällig, und Kasimoto blutete heftig. Einer von ihnen würde schon bald zu Boden sinken.

Yoshiro müsste die Entscheidung herbeiführen und dürfte sich keinen Fehler leisten. Wenn er blindlings losstürmte und sein Ziel verfehlte, würde Kasimoto ihn töten. Wenn er ihn aber lediglich erneut verwundete, würde sich der Shogun aus Furcht zurückziehen und seinen Männern befehlen, Yoshiro anzugreifen. Käme es so weit, würde ihn sogar die glorreiche Klinge, die er führte, nicht retten können.

Sein entscheidender Schwerthieb müsste sein wie ein Blitz. Er müsste den Shogun auf der Stelle töten.

Nachdem er sich deutlich schwerfälliger bewegt hatte, blieb Yoshiro stehen. Er wählte die klassische Samuraiposition – einen Fuß zurückgesetzt, den anderen vorgestreckt, während beide Hände das Schwert neben der hinteren Hüfte bereithielten.

»Du siehst erschöpft aus«, stellte der Shogun fest.

»Du kannst jederzeit prüfen, ob es zutrifft.«

Der Shogun reagierte, indem er die ebenfalls klassische Verteidigungshaltung einnahm. Er war nicht bereit, nach diesem Köder zu schnappen.

Yoshiro musste handeln, ehe Kasimoto sicheren Stand gefunden hatte. Überraschend schnell startete er zu seinem Sturmlauf, sodass sich die Schulterplatten seiner Rüstung wie Vogelschwingen aufstellten, während er angriff.

Er hatte sein katana zum Stoß gegen den Hals des Shogun erhoben, aber Kasimoto blockte die Attacke mit einem gepanzerten Handschuh ab und führte mit seinem eigenen Schwert einen Hieb aus.

Die Klinge schlitzte Yoshiros Arm auf. Der Schmerz mochte unerträglich sein, aber Yoshiro ignorierte ihn. Er bremste seinen Lauf, wirbelte herum und startete zu einem zweiten Angriff.

Unter der Wucht des Ansturms taumelte der Shogun zurück. Er wich nach rechts aus, dann nach links und schließlich wieder nach rechts. Seine Beine drohten unter dem Gewicht der Rüstung nachzugeben. Sein Atem kam in kurzen abgehackten Stößen.

Überwältigt von dem Angriff, geriet er ins Stolpern und stürzte dicht neben einem der jungen Gefangenen zu Boden. Während Yoshiro zu einem neuen tödlichen Schwerthieb ausholte, ergriff der Shogun einen Arm des Kindes und zog es als Schutzschild vor sich.

Yoshiro war bereits im Begriff, den Hieb auszuführen, aber sein Schwert traf weder den Kopf des Shogun noch den des Kindes. Es zuckte abwärts, streifte den gepanzerten Fuß des Shogun und grub sich mit der Spitze tief in das weiche – von Füßen und Pferdehufen zertrampelte – Erdreich.

Yoshiro zerrte am Schwertgriff, aber die Klinge blieb für einen kurzen Augenblick in der Erde stecken. Diese kurze Verzögerung war für Kasimoto genug. Er fegte das Kind beiseite, packte sein Schwert mit beiden Händen, visierte Yoshiro an, holte aus und schlug zu.

Seine Klinge schnitt glatt durch Yoshiros Kehle und beendete sein Leben augenblicklich. Der kopflose Körper des Samurai sackte zusammen. Aber der Tod war mit seiner Ernte noch nicht zufrieden.

Kasimoto hatte sich zu seinem tödlichen Schwertstreich aus einer kauernden Haltung erhoben. Als er einen Schritt machen wollte, gab sein Fußknöchel, den Yoshiros letzter Hieb getroffen hatte, nach und knickte um. Der Shogun taumelte vorwärts, streckte beide Arme aus, um seinen drohenden Sturz abzufangen, und drehte dabei sein Schwert herum, sodass die Spitze aufwärtsragte.

Sie drang dort, wo Yoshiro eine Panzerplatte abgerissen hatte, in seine Brust, durchbohrte sein Herz und hielt seinen Fall auf, sodass sein Körper dicht über dem Boden in der Schwebe verharrte.

Kasimoto riss den Mund auf, um einen Schrei auszustoßen, aber kein Laut drang über seine Lippen. Er lag dort, aufgespießt von seiner eigenen Waffe, an deren gekrümmter Klinge sein Blut hinabrann und im Boden versickerte.

Damit endete die Schlacht. Aber nicht nur sie, sondern auch der Krieg zwischen den Truppen des Shogun und Yoshiros Getreuen.

Die Männer des Shogun waren müde, erschöpft und nun auch führerlos. Sie befanden sich mehrere Wochenmärsche von ihrer Heimat entfernt. Anstatt weiterzuziehen und das Vorhaben des Shogun, das Dorf niederzubrennen, auszuführen, sammelten sie ihre Toten ein und verließen das Schlachtfeld. Das funkelnde Schwert Masamunes und die bluttriefende Waffe seines Lehrlings nahmen sie mit.

Beschreibungen der Schlacht gingen von diesem Tag an von Mund zu Mund und wurden immer weiter ausgeschmückt, bis das angebliche Geschehen jede Vorstellungskraft sprengte.

Yoshiros katana erhielt schließlich den Namen Honjo Masamune und wurde als die grandioseste Schöpfung des besten und berühmtesten japanischen Waffenschmieds betrachtet. Es galt als unzerbrechlich und derart biegsam, dass es sich bei jedem Streich wie eine Peitsche verhielt. Eine Legende berichtete, dass es von innen her leuchtete und hell genug war, um die Gegner seines Besitzers zu blenden. Laut zahlreicher anderer Legenden sollte es so vollkommen geschliffen sein, dass seine Schneide, wenn Yoshiro es vor sich in die Höhe hielt, das Licht in einen Regenbogen zerteilte und ihn für seine Gegner unsichtbar machte.

Das dunkle Schwert des Shogun stand dem Ruhm des Honjo Masamune nur wenig nach. Zunächst einmal war es schwarz wie Kohle und sollte sich verdunkelt und rot gefärbt haben, nachdem es mit Kasimotos Blut bedeckt gewesen war. Es wurde als Purpurne Klinge im Laufe der Jahrhunderte ebenfalls zu einem Objekt zahlreicher Legenden. Viele, die es besaßen und benutzten, gelangten zu bemerkenswertem Reichtum und großer Macht. Aber die meisten fanden auch ein tragisches Ende.

Beide Waffen wurden von Samurai zu Samurai und von Lehnsherr zu Lehnsherr weitervererbt und damit zu einem nationalen Schatz des japanischen Volkes. Sie befanden sich im Besitz zweier mächtiger Familien und wurden von den Menschen wie Heiligtümer verehrt, bis sie in den Wirren der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs spurlos verschwanden.

THE SERPENT’S JAW

OSTCHINESISCHES MEER, EINHUNDERTZWANZIG KILOMETER VON SHANGHAI ENTFERNT

VOR EINEM JAHR

Das graue Unterseeboot glitt behäbig durch ein ozeanisches Paradies. Sonnenlicht von oben erzeugte in dieser türkisfarbenen Welt irisierende Reflexe. Dichte Seetangwälder wiegten sich in der Strömung. Fische aller Arten, Größen, Farben und Formen flitzten hin und her. In einiger Entfernung war in der blaugrünen Unendlichkeit ein drohender dunkler Schatten zu erkennen. Er gehörte zu einem riesigen, aber harmlosen Walhai, dessen Maul weit offen stand, während er das Wasser in Massen ansaugte und durch die Kiemen hinauspresste, um das nahrhafte Plankton herauszufiltern.

Von seinem Kommandosessel in der Nase des Unterseeboots aus betrachtete Dr. Chen staunend die Vielfalt der Meeresfauna und -flora ringsum.

»Wir nähern uns dem Maul der Schlange«, meldete eine weibliche Stimme neben ihm.

Chen nahm die Information mit einem Kopfnicken zur Kenntnis und behielt den Blick auf die Unterwasserwelt jenseits des Cockpitfensters gerichtet. Dies wäre das letzte Mal für einen ganzen Monat, dass er Tageslicht zu sehen bekam, darum wollte er diesen Augenblick auskosten.

Das Unterseeboot nahm Kurs über das Seetangfeld bis zu dem Punkt, wo es von einer Korallenbarriere unterbrochen wurde, hinter der eine V-förmige Schlucht begann. Anfangs war es nicht mehr als eine schmale Spalte, doch diese weitete sich nach und nach, während sie sich in ihrem Verlauf in der Dunkelheit verlor und von oben wie die Öffnung eines Schlunds aussah.

Das Schlangenmaul.

Während sie der Schlucht folgten, sackte der Meeresboden steil ab.

»Bring uns hinunter«, befahl Chen.

Die Pilotin des U-Boots bediente die Kontrollen mit äußerster Präzision, und das U-Boot, hauptsächlich mit technischen Versorgungsgütern gefüllt, neigte die Nase abwärts und sank zwischen nahezu lotrechten Steilwänden in die Schlucht hinab.

Nach einhundertsiebzig Metern war jegliches Licht in ihrer Umgebung verschwunden. Dreihundert Meter tiefer fanden sie es wieder. Nur war es diesmal künstlichen Ursprungs und rührte von einem Habitat her, das an einer Steilwand der Schlucht verankert war.

Chen konnte die vergleichsweise winzige Wohnzelle erkennen. Weitere Module waren dahinter wie die Perlen einer Halskette aufgereiht. Durch schlanke Röhren miteinander verbunden, reichten sie bis auf den Grund der Schlucht hinab, wo sich ein Bündel Rohrleitungen und Schläuche über den Meeresboden schlängelte und dann von einem Bohrloch verschluckt wurde.

»Ich hoffe, du bekommst das Andocken problemlos hin«, sagte Chen mit einem Anflug von gutmütigem Spott in der Stimme.

»Natürlich. Einen Moment.«

Chen drehte sich zum ersten Mal während ihrer Tauchfahrt zu der Pilotin um und betrachtete sie eingehend. Sie hatte große ausdrucksvolle Augen, glatte Haut und volle rote Lippen. Es war ein hübsches Gesicht, aber ihre Schöpfer hatten ihr keine Haare bewilligt, und an einigen Stellen hatte der Betrachter einen ungehinderten Blick auf einzelne Elemente ihrer komplexen Antriebstechnik.

Er konnte Knochen aus Titan und chromblitzende Getriebeelemente erkennen, wo die Schultergelenke der Arme mit dem Oberkörper verbunden waren; die Gliedmaßen selbst waren mit winzigen Hydraulikpumpen und Servomotoren bestückt. Drahtbündel erschienen wie Blutgefäße, die sich von den mechanischen Händen bis zu den Schultergelenken schlängelten, wo sie unter weißen Kunststoffplatten verschwanden, deren Form menschlichen Körperkonturen nachempfunden war.

Die Körperplatten bedeckten ihre Brust, den Bauchbereich und die Oberschenkel. Ähnliche Platten verkleidetenauch die Arme, sparten jedoch wiederum die Handgelenke aus. Die Finger waren mechanische Konstruktionen – kräftig und präzise zugreifend. Sie bestanden ebenfalls aus Edelstahl und waren mit Endkappen aus Kautschuk versehen, um die Greiffähigkeit der »Hände« zu optimieren. Als Ingenieur konnte Chen die Mechanik ihrer Arme nur bewundern. Und als Mann hatte er durchaus Gefallen an dem Versuch, menschliche Schönheit zu simulieren. Nichtsdestotrotz fragte er sich, weshalb man ihr ein so hübsches Gesicht, eine einschmeichelnde weiche Stimme und einen reizvollen Körper geschenkt hatte, ohne ihre Erscheinung zu vervollständigen. Man hatte sie in einem scheinbar unfertigen Zustand – halb Mensch, halb Maschine – belassen.

Eigentlich schade, dachte er.

Er wandte sich wiederum dem Sichtfenster um, während sich das Tauchboot an den Andockkragen heranschob, leicht mit ihm kollidierte und einen soliden Kontakt herstellte. Nachdem der erfolgreiche Vollzug des Manövers und die Verbindung als sicher und dicht gemeldet worden waren, vergeudete Chen keine Zeit. Er erhob sich, ergriff sein Gepäck und entriegelte die Innentür des Tauchboots. Weder sah die Pilotin ihn an, noch zeigte sie irgendeine andere Reaktion. Sie saß regungslos auf ihrem Platz und blickte mit starrem Gesichtsausdruck geradeaus.

Nein, dachte er, nicht einmal halb menschlich. Ganz und gar nicht.

Auf seinem Weg in das Habitat traf Chen auf andere Maschinen, die sich auf Gleisketten langsam vorwärtsbewegten. Allesamt entfernte Verwandte der U-Boot-Pilotin, dachte er. Allerdings sehr entfernt.

Diese Maschinen wirkten eher wie Kreuzungen aus fahrbaren motorisierten Paletten und kleinen Gabelstaplern. Sie hatten die Aufgabe, den Proviant und die technischen Nachschubgüter aus dem U-Boot auszuladen und auf die entsprechenden Lagerräume zu verteilen, und dies ohne ausdrücklichen Befehl von irgendjemandem innerhalb der Station.

Zur gleichen Zeit beluden andere Automaten das Tauchboot mit dem Erz, das aus einem tiefen Spalt im Meeresboden heraufgeholt wurde.

Was für ein schlichtes Wort. Erz. In Wahrheit unterschied sich das Material grundlegend von allem, das je zutage gefördert worden war. Es war ein Mineral, das aus dem Innern der Erde einen Weg in die oberen Schichten gefunden hatte, widerstandsfähiger als Titan, um zwei Drittel leichter und mit spezifischen Eigenschaften, die kein anderes Mineral oder Polymer vorweisen konnte.

Er und die anderen – und es gab nur wenige, die von der Existenz dieses besonderen Stoffes wussten – nannten das Mineral Goldenes Adamant oder kurz GA. Dieses Unterwasserbergwerk war unter höchster Geheimhaltung geplant und eingerichtet worden, um das Mineral zu gewinnen.

Um die Geheimhaltung zu gewährleisten und die Leistungsfähigkeit der Station zu steigern, arbeitete sie nahezu vollautomatisch. Nur ein einziger menschlicher Mitarbeiter war dort über einen längeren Zeitraum stationiert, um die Arbeit von zweihundert automatisierten Sklaven zu organisieren.

Maschinen in allen Größen und Formen kamen zum Einsatz. Einige hatten eine humanoide Gestalt wie die Unterseebootpilotin, und andere wurden als Meerjungfrauen bezeichnet, da bei ihnen menschenähnliche Greifarme und ein mit Kameras ausgestatteter runder »Kopf« sowie ein Druckstrahlantrieb, wo eigentlich Beine hätten sein müssen, miteinander kombiniert waren.

Andere sahen wie die klassischen ROVs ozeanografischer Forschungsprojekte aus oder wie schweres Gerät, das auf klassischen überirdischen Baustellen verwendet wurde. Die meisten der Modelle jüngeren Datums verrichteten ihre Arbeit auf dem Meeresboden oder innerhalb des tiefen Bohrlochs. Sie alle wurden von Batterien angetrieben, die regelmäßig an einen kompakten Kernreaktor angeschlossen und aufgeladen wurden. Dieser Reaktor stammte aus einem stillgelegten chinesischen Angriffs-U-Boot und war im tiefsten Bergwerksmodul auf dem Meeresgrund installiert worden.

Bei seinem ersten Besuch war Chen von der Station vollkommen überwältigt gewesen. Er hatte jeden Winkel und jede Nische untersucht. Seinen zweiten Aufenthalt hatte er als genauso aufregend empfunden. Aber nun verließ er während seines Dienstes nur selten die obere Ebene, wo sich der Teil des Habitats befand, dessen Einrichtungen auf menschliche Bedürfnisse zugeschnitten waren.

Er erreichte das »Büro«, das für die nächsten dreißig Tage sein Zuhause sein würde. Dort traf er auch den Mann an, den er ablösen sollte. Commander Hon Yi von der Marine der Volksbefreiungsarmee.

Hon Yi hatte seine Siebensachen längst gepackt und wartete schon. Seine Reisetasche stand neben der Tür.

»Wie ich sehe, haben Sie es offenbar eilig, von hier wegzukommen.«

»Ihnen wird es genauso gehen, wenn Sie mal wieder einen ganzen Monat mit keiner anderen Gesellschaft als ein paar Maschinen hier unten verbracht haben.«

»Ich finde einige dieser Apparate recht interessant«, erwiderte Chen. »Vor allem unsere U-Boot-Fahrerin. Und einige der Tauchroboter haben erstaunlich ausdrucksvolle Gesichtszüge. Wenn ich es richtig verstehe, wird zurzeit an der Perfektionierung eines möglichst menschlich erscheinenden Roboters gearbeitet, der uns in Zukunft Gesellschaft leisten soll.«

Hon Yi lachte. »Wenn sie zu echt aussieht, wird es am Ende noch so weit kommen, dass Sie mit ihr darüber in Streit geraten, wer das Abendessen zubereiten soll.«

Chen stimmte in Hon Yis Gelächter ein, aber tatsächlich hätte er gar nichts gegen Robotergesellschaft gehabt, die ein wenig menschlicher aussah, vorausgesetzt, ihre Entwickler könnten diesen starren Todesblick eliminieren, den die Maschinen annahmen, wenn sie in den Ruhezustand wechselten.

»Wie lautet unser augenblicklicher Status?«, brach er das launige Wortgeplänkel ab und kam zur Sache.

»Ich fürchte, die Ausbeute lässt allmählich nach«, antwortete Hon Yi. »Sie ist schlechter als im vergangenen Monat. Und diese war, wie Sie sicher wissen, geringer als im Monat davor.«

»Und im Monat vor diesem«, fügte Chen hinzu und verzog skeptisch das Gesicht. »Es scheint so, als ginge die Ergiebigkeit der Fundstelle nach und nach gegen null.«

Hon Yi nickte. »Mir ist vollkommen klar, wie wertvoll dieses Erz ist. Ich weiß auch, was es laut Ihnen und den Ingenieuren zu leisten vermag und wie einmalig und unersetzlich es ist, aber wenn wir keine effizientere Methode finden, um es ans Tageslicht zu bringen, wird irgendjemand im Ministerium dafür geradestehen müssen, diese enormen Geldsummen vergeudet zu haben.«

Chen bezweifelte, dass es so weit kommen würde. Das Ministerium verfügte über unerschöpfliche Geldquellen. Und in diesem Fall waren sie eine Partnerschaft mit dem Milliarden schweren Industriellen eingegangen, der die Roboter entwickelt hatte und bereitstellte. Chen konnte einfach nicht glauben, dass die an diesem Projekt Beteiligten sich die Köpfe über den Gewinn oder Verlust zerbrachen, aber als die Zahlen für die Fördermenge und das gewonnene Metall auf dem Computermonitor erschienen, war er überrascht, wie gering die Ausbeute an Goldenem Adamant ausgefallen war. »Einhundert Kilo? Ist das alles?«

»Die Ader ist nahezu erschöpft«, sagte Hon Yi. »Aber glauben Sie bloß nicht, dass ich zu unseren Chefs auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lasse.«

Die interne Sprechanlage erwachte mit einem Knistern. Eine menschlich klingende Stimme, diesmal männlich, meldete sich. »GS-1 Statusmeldung. Tiefsee-Injektoren in Position und startbereit. Harmonische Schwingungsgeber kalibriert. Stoßwellenreichweite Z minus einhundertdreißig.«

Tief unter der Station trafen die Roboter Vorbereitungen für den nächsten Abbau-Zyklus: das Lockern des Gesteins. Dabei drangen sie, wie der Ankündigung zu entnehmen war, zum Endabschnitt der Erdspalte vor.

Chen sah Hon Yi mit einem Ausdruck von Besorgnis an. »Bisher haben wir uns noch nie so tief hinunter gewagt.«

»Die von Bodenradar und Tiefensonar ermittelten Daten lassen darauf schließen, dass die letzte verbliebene Erzader senkrecht abwärts verläuft. Wenn der Betrieb hier weitergehen soll, müssen wir dieser Erzader folgen. Sonst bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Station stillzulegen.«

Chen war sich nicht sicher, ob dies die richtige Entscheidung war. Der Bergbau in solchen Tiefen war bekanntermaßen mit hohen Risken verbunden.

»Soll ich den entsprechenden Befehl geben?«, fragte Hon Yi. »Oder soll ich die Ehre Ihnen überlassen?«

Chen hob abwehrend eine Hand. »Ich bitte Sie – da Sie die nötigen Vorarbeiten geleistet haben, liegt das Befehlsrecht auf jeden Fall bei Ihnen.«

Hon Yi drückte auf den Mikrofonknopf der Sprechanlage und formulierte die Anweisung auf die ganz besondere Weise, die man sie gelehrt hatte, um mit den Robotern zu kommunizieren. »Fortfahren wie geplant. Primäres Ziel: maximaler Erzabbau im Express-Modus. Operation fortsetzen, bis Erzausbeute auf eine Unze pro Tonne absinkt, solange keine neue Anweisung erfolgt.«

»Befehl verstanden und bestätigt«, erwiderte GS-1 mit mechanisch gleichmütiger Stimme.

Ein leises Summen, das anscheinend aus großer Entfernung zu ihnen drang, erfüllte Sekunden später die Station. Es begleitete den Abraumprozess. Wenn die Bergwerkstation im Dauerbetrieb arbeitete, war das Summen bereits so allgegenwärtig, dass Chen es schon nach einem oder zwei Tagen nicht mehr bewusst wahrnahm und stets erst dann an seine Existenz erinnert wurde, wenn es verstummte, weil die Maschinen eine Pause einlegten, um wichtige Eigenreparaturen durchzuführen, die Fördermenge neu zu berechnen oder Batterien zu wechseln.

»Die Station gehört Ihnen«, sagte Hon Yi. Er reichte seinem Nachfolger die Kladde mit den Kommando-Codes und ein Tablet.

»Genießen Sie Ihren Aufstieg ans Tageslicht«, sagte Chen. »Als ich herunterkam, schien die Sonne.«

Hon Yi konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er sich vorstellte, die Wärme der Sonnenstrahlen wieder auf seiner Haut zu spüren. Er griff nach seiner Reisetasche und eilte zum Ausgang. »Wir sehen uns in einem Monat.«

Nun war Chen sich selbst überlassen. Er hielt sofort nach einer Beschäftigung Ausschau. Natürlich warteten eine Menge Berichte darauf, gelesen zu werden, und es gab einen Wust Papierkram zu erledigen – ein Roboter, der solche Aufgaben übernahm, musste erst noch konstruiert und gebaut werden –, aber er hätte später ausreichend Zeit für all das und empfand momentan nicht das geringste Bedürfnis, sich schon jetzt der Monotonie seiner soeben erst begonnenen Dienstperiode auszuliefern.

Er legte das Tablet auf den Tisch und ging zum Aquarium hinüber. Mehrere verschiedene Arten Goldfische teilten sich den Glasbehälter: Fächerschwänze, Blasenaugen und ein Holländischer Löwenkopf. Hon Yi hatte vorgeschlagen, einen Siamesischen Kampffisch anzuschaffen und in einem separaten Aquarium zu halten, da sich Siamesische Kampffische mit anderen Fischen nicht vertrugen. Aber Chen hatte ihm diese Idee mit dem Argument ausgeredet, für die Bewohner der Station gebe es schon genug Einsamkeit zu bewältigen.

Als er ins Becken blickte, konnte Chen feststellen, dass die Fische aufgescheucht hin und her flitzten. Sie reagierten immer aufgeregt, wenn die Abraumarbeiten nach einer Unterbrechung von Neuem begannen. Um sie zu beruhigen, ergriff Chen die mit Trockenfutter gefüllte Streudose und genehmigte den Fischen eine reichliche Portion. Sobald die Futterflocken auf die Wasseroberfläche herabrieselten, schossen die Fische zur Wasseroberfläche, um gierig danach zu schnappen.

Chen konnte nicht umhin, amüsiert zu schmunzeln, als ihm die Ironie der Situation bewusst wurde. Er hatte es mit einem Aquarium in einem Aquarium zu tun. In dem einen wurden Fische in einer von Luft erfüllten Umgebung am Leben erhalten, und das andere ermöglichte ihm und Hon Yi das Überleben in der Tiefsee. Beide Gemeinschaften hatten im Grunde nichts anderes zu tun, als aus den Fenstern ihrer Behausungen zu starren und zu essen. Sofern nichts Besonderes vorfiele, würde er zehn Pfund schwerer sein, wenn er zur Meeresoberfläche zurückkehrte.

Chen streute mehr Futter ins Becken, aber die Fische hörten auf zu fressen und verhielten sich plötzlich vollkommen ruhig. Und zwar alles gleichzeitig. So etwas hatte Chen noch nie beobachtet.

Sie sanken nach unten. Ihre Flossen bewegten sich nicht, ihre Kiemen stellten sich nicht auf, sondern blieben vollkommen flach. Es sah aus, als wären sie betäubt oder als wäre dem Aquariumswasser ein Gift hinzugefügt worden, dessen Wirkung sich in diesem Augenblick bemerkbar machte.

Er tippte mit einer Fingerspitze gegen den Glasbehälter. Sofort begannen die Fische, hektisch hin und her zu schwimmen.

Sie wirkten wie in Panik, als sie von einem Ende des Aquariums zum anderen jagten. Mehrere prallten gegen die Glaswände – so wie Bienen, die versuchten, ein geschlossenes Fenster zu überwinden. Ein Fisch tauchte auf den Grund des Aquariums hinab und begann, sich kopfüber in die Schlickschicht zu wühlen.

Die Wasseroberfläche im Aquarium geriet in Wallung, und das Sandbett auf seinem Grund erbebte und hüpfte. Feinste Schwebeteilchen wurden aufgewirbelt und trübten das Wasser. Auch die Wände des gesamten Habitats vibrierten plötzlich.

Chen wich von dem Fischbecken zurück. Der Lärm der Abraumarbeiten nahm stetig zu. Er war lauter, als er unter den herrschenden Bedingungen eigentlich hätte sein dürfen. Lauter als Chen es je zuvor gehört hatte. Bücher und Korallenschnitzereien, die ein kleines Regal füllten, gerieten ins Schwanken. Das Fischbecken kippte über den Rand des Regalbretts, auf dem es stand, und zerschellte neben Chen auf dem Fußboden.

Er drückte auf den Einschaltknopf der Sprechanlage. »GS-1«, rief er den Zentralroboter, der die Station steuerte, »Abraumaktivitäten sofort einstellen.«

GS-1 antwortete vollkommen ruhig und sofort. »Erbitte Autorisierung.«

»Hier spricht Dr. Chen.«

»Befehlscode unbekannt«, erwiderte der Roboter. »Autorisierung erforderlich.«

Chen erkannte augenblicklich, dass die Roboter noch auf die Stimme Hon Yis programmiert waren. Er musste erst den Computer einschalten und Hon Yis Autorisierung durch seine eigene ersetzen.

Er angelte sich das Tablet vom Tisch und tippte hektisch auf den Bildschirm. Während er die notwendigen Befehle eingab, drang ein dumpfes Rumpeln wie von Felsbrocken, die aneinander entlangscheuerten, aus der Tiefe herauf. Das Dröhnen wurde lauter und kam mit atemberaubender Geschwindigkeit näher, bis etwas die Station traf.

Chen wurde zu Boden geschleudert und dann gegen eine Wand geworfen. Alles geriet in Bewegung und stürzte auf den Fußboden. Ein messerscharfer Wasserstrahl drang durch eine geborstene Schweißnaht ins Innere des Habitats. Er entwickelte mehr Druck als ein Feuerwehrschlauch. Er brach Knochen, schnitt ins Fleisch und rammte ihn gegen die Wand wie ein steuerlos dahinrasender Truck.

Innerhalb von Sekunden füllte sich das Wohnmodul mit Wasser, aber Chen war bereits tot, ehe er ertrinken konnte.

Außerhalb des Habitats hatte sich das Unterseeboot soeben vom Andockkragen gelöst, als die Erschütterungen einsetzten.

Hon Yi vernahm das Rumpeln durch die stählerne Hülle des U-Boots. Das Werk der Zerstörung musste über seinem Kopf im Gange sein, da mächtige Felsbrocken durch den grellen Lichtschein der höher positionierten Arbeitslampen in die Tiefe sanken. Gleichzeitig wurden dichte Sedimentwolken explosionsartig vom Meeresboden hochgewirbelt.

»Tempo«, sagte Hon Yi zu der Pilotin. »Bring uns schnellstens von hier weg.«

Die Pilotin reagierte mit mechanischer Effizienz, aber ohne ein Anzeichen erhöhter Dringlichkeit. Die Gesteinslawine traf die oberste Ebene der Station und trennte sie von der Basis. Ein wahrer Trümmerregen prasselte auf das Unterseeboot herab.

Anstatt abzuwarten, bis der Roboter die drohende tödliche Gefahr registrierte, die ihm aufgrund mangelnder Sensoren prinzipiell verborgen blieb, beugte sich Hon Yi vor und legte die Hände auf die Kontrollen. Er versuchte, den Antriebregler in die Position »Volle Kraft Voraus« zu schieben, doch der Roboter behielt den Regler eisern im Griff.

»Kommandofunktion freigeben.«

Der Roboter ließ die Kontrollen los und lehnte sich mit teilnahmsloser Miene zurück. Hon Yi schob den Antriebsregler bis zum Anschlag und öffnete das Ventil, um die Ballasttanks auszublasen. Das U-Boot erhöhte das Tempo und begann aufzusteigen.

»Komm schon«, feuerte er es an. »Zeig, was du kannst!«

Das U-Boot nahm allmählich Fahrt auf. Steine trommelten auf die Außenhülle. Es klang wie ein Hagelschauer. Faustgroße Gesteinsbrocken prallten auf die Cockpitkuppel und sprengten Glassplitter ab. Größere Felsbrocken trafen die stählerne Hülle und hinterließen tiefe Dellen im Propellergehäuse.

Hon Yi versuchte, das U-Boot aus dem Gefahrenbereich zu lenken, aber mit dem verbogenen Propellergehäuse ließ sich das Boot nicht auf geradem Kurs halten. Während es weiterhin beschleunigte, beschrieb es einen weiten Bogen und kehrte in die Gefahrenzone zurück.

»Nein!«, stieß Hon Yi einen verzweifelten Schrei aus.

Eine zweite Trümmerlawine, die sich aus der Steilwand der Schlucht löste, traf das U-Boot in seiner gesamten Länge. Ein Felsbrocken zerdrückte den Rumpf wie eine Blechdose, und die Gesteinsmasse ergoss sich über das Boot und begrub es auf dem Grund des Schlangenmauls.

1

AM STADTRAND VON PEKING

EINEN MONAT SPÄTER

Auf den ersten Blick sah es wie die Szene aus einer bukolischen Idylle aus: zwei alte Männer, die in einem Park saßen und in ein Strategiespiel vertieft waren. Aber der Park mit seinen Bäumen und sorgfältig gestutzten Büschen und einem Schwarzwasserteich in der Mitte war in Wirklichkeit der private Garten des zweitmächtigsten Mannes in der chinesischen Regierung. In dem aufwendig angelegten Garten waren Überwachungskameras versteckt, und üppig blühende Klettergewächse bedeckten eine in regelmäßigen Abständen mit Bewegungssensoren bestückte vier Meter hohe Mauer, die das gesamte Anwesen umgab. Rasierklingendraht kräuselte sich auf ihrer Krone, und kontrolliert wurde sie außerdem rund um die Uhr von bewaffneten Wachtposten für den Fall, dass jemand töricht genug war, ihr zu nahe zu kommen.

Außerhalb der Mauer tobte das hektische, laute und von Menschen wimmelnde Chaos der chinesischen Hauptstadt. Innerhalb der Mauer aber herrschte die andächtige Stille einer religiösen Kultstätte.

Walter Han war schon oft an diesem Ort zu Gast gewesen. Niemals zuvor hatte er sich hier so lange aufgehalten und so wenig mit seinem Gönner und Mentor gesprochen wie bei dieser Gelegenheit. Einstweilen zum Schweigen verurteilt, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf das Spielbrett zu konzentrieren, das zwischen ihnen lag. Darauf befand sich ein Gitter aus neunzehn mal neunzehn Quadraten, das teilweise mit schwarzen und weißen Steinen gefüllt war.

Sie spielten das traditionelle und am weitesten verbreitete Brettspiel Ostasiens. Es war älter als Schach und unendlich komplexer, was die Zahl seiner Spielvarianten betraf, die die Möglichkeiten des Schachspiels um ganze Größenordnungen überstieg. Andererseits reichten zur Beherrschung des Spiels nur vier einfache Grundregeln aus, nach denen der Spieler sich richten musste. In China Weiqui genannt, erhielt es in Japan die Bezeichnung Igo, während es in Korea Baduk hieß. In der westlichen Welt war und ist es als Go bekannt.

Eine Schwachstelle in der Grenzlinie seiner Gegners, mit der dieser sein Gebiet sicherte, erahnend, fischte Han mit klassischem Zweifingergriff einen kleinen weißen linsenförmigen Stein aus einem Becher auf seiner Seite des Spielbretts und legte ihn auf die ausgewählte Position. Zufrieden mit seinem Zug, lehnte er sich zurück und ließ einen bewundernden Blick durch den Garten schweifen. »Wann immer ich hierherkomme, fällt es mir schwer zu glauben, dass wir uns hier praktisch mitten in der Stadt befinden.«

Walter Han war Ende vierzig. Erheblich größer als die meisten Chinesen, war er außerdem schlank und drahtig. Man konnte ihn sogar fast als spindeldürr bezeichnen. Als Kind eines chinesischen Vaters und einer japanischen Mutter in Hongkong geboren, hatte er einen westlichen Vornamen bekommen, weil seine Eltern der Auffassung gewesen waren, dass es damit für ihn einfacher wäre, Geschäfte mit den europäischen und amerikanischen Firmen zu machen, die Niederlassungen in diesem Teil der Welt unterhielten.

Als Han geboren wurde, besaß sein Vater bereits eine kleine Firma für elektronische Produkte. Im Gegensatz zu zahlreichen Unternehmern in Hongkong hatte sich sein Vater entschieden, mit der Festlandregierung zusammenzuarbeiten, anstatt einen aussichtlosen Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit zu führen. Diese Entscheidung zahlte sich in jeder Hinsicht gewinnbringend aus. Als die Briten in diesem Teil der Welt ihre Zelte abbrachen, waren die Hans bereits Millionäre. Und während der darauffolgenden Jahrzehnte hatten Walter Han und sein Vater das größte chinesische Firmenimperium aufgebaut: die Industrial Technology, Inc. Oder kurz ITI.

Seit dem Tod seines Vaters vor zehn Jahren leitete Han die Firma nun ganz allein. Er erhielt nicht nur die engen Verbindungen mit der Regierung in Peking, sondern baute sie auch weiter aus und festigte sie. Bei vielen galt er sogar als eine Säule der Volksrepublik China. Das Geld, die Macht und sein Prestige ließen ihn zu einem Faktor werden, mit dem jederzeit gerechnet werden musste. Trotzdem stimmte er sich in seinen Entscheidungen stets mit seinem momentanen Gegenüber entsprechend ab.

»Ein Ort der Ruhe und der Einsamkeit ist lebenswichtig. Man braucht ihn, weil man bei dem herrschenden Lärm nicht denken kann.« Die Worte klangen fast poetisch, und sie kamen aus dem Mund Wen Lis, eines Chinesen von auffällig zierlichem Wuchs, mit schütteren weißen Locken auf beiden Seiten seines Kopfes. Er hatte fleckige Haut, und seine rechte Gesichtshälfte war von einer teilweisen Lähmung gezeichnet und hing schlaff herab.

Als gewiefter Stratege hatte Wen die Parteiführer durch sechs von ständigen Kämpfen und Unruhen geprägte Jahrzehnte gelotst. Er war Soldat, Staatsmann und Taktiker in einem gewesen. Hinter vorgehaltener Hand wurde davon gesprochen, dass er persönlich den Befehl zur blutigen Niederschlagung der Protestkundgebung auf dem Tiananmen-Platz – dem berüchtigten Tiananmen-Massaker – gegeben und anschließend den Kapitalismus in China salonfähig gemacht habe, ohne die Macht der Partei auch nur im Mindesten einzuschränken.

Er hatte verschiedene Ämter innerhalb der Parteiführung inne, aber sein inoffizieller Titel verlieh ihm eine Aura der Unantastbarkeit. Sie nannten ihn Lao-Shi. Wörtlich übersetzt hieß es alte Person mit großen Fähigkeiten, aber auf Wen angewendet, klang es eher wie ein Ehrentitel und bedeutete Gelehrter Meister.

Wen machte einen Zug auf dem Brett und platzierte einen schwarzen Stein neben einen von Hans weißen Steinen. Damit schnitt er ihn von seinen restlichen Steinen ab. »Sie kommen ohne Freude im Herzen zu mir«, sagte er. »Sind die Neuigkeiten so schlecht?«

Han hatte den richtigen Moment abwarten wollen, um den Grund seines Besuchs anzusprechen. Er konnte nicht länger schweigen. »Leider ja. Die Untersuchung der Förderstätte wurde abgeschlossen. Unsere schlimmsten Befürchtungen sind bestätigt worden. Der Erdrutsch hat die meisten Oberflächenmodule zerstört, weite Abschnitte der Schlucht aufgefüllt und das Schlangenmaul mit Geröll teilweise zugeschüttet. Der Reaktor wurde zwar nicht beschädigt, aber das gesamte Projekt kann ohne massive Anstrengungen nicht wieder aufgenommen werden. Außerdem wären die Kosten enorm hoch.«

»Wie hoch?«

Han kannte die Zahlen auswendig. »Allein den Schutt und die Trümmer zu entfernen, würde einhundert Milliarden Yuan kosten. Den Förderbetrieb anlaufen zu lassen und die Station wieder aufzubauen … dazu müssten mindestens weitere fünfhundert Milliarden aufgewendet werden. Außerdem müssten wir mit einem langen Produktionsausfall rechnen. Vor allem deshalb, weil die gesamte Operation absolut geheim bleiben muss.«

»Das sollte sie unbedingt«, bekräftigte Wen Li.

»In diesem Fall würde es mindestens drei Jahre dauern, bis der Erzabbau effizient und im bisherigen Umfang fortgesetzt werden kann.«

»Drei Jahre«, sagte Wen.

Der alte Mann lehnte sich zurück und ließ sich mit seinen Gedanken treiben.

»Mindestens drei Jahre«, wiederholte Han.

Wen kehrte aus seinem Tagtraum zurück in die Gegenwart. »Wie viel Erz ist zum Zeitpunkt der Katastrophe gefördert worden?«

»Weniger als eine halbe Tonne im Monat. Tendenz nachlassend.«

»War seinerzeit damit zu rechnen, dass die Ausbeute zunehmen würde?«

»Kaum.«

Wen gab ein unwilliges Knurren von sich. »Wenn das der Fall ist, weshalb sollen wir so viele Milliarden ausgeben und so viel Zeit damit vergeuden, weitere Löcher in den Meeresboden zu bohren? Warum verschwenden wir auch nur einen Gedanken daran?«

Han atmete tief durch. Er hatte erwartet, dass Wen auf seiner Seite war. Immerhin war der alte Mann von Anfang an der leidenschaftlichste Befürworter des geheimen Bergbauunternehmens gewesen. Er hatte die strategische Bedeutung des Minerals auf Anhieb erkannt.

»Weil man den Wert des Erzes nicht in aufgewendeten Yuan oder vergeudeter Zeit messen kann«, erklärte er. »Wie Sie wissen, ist das Goldene Adamant mit nichts auf der ganzen Welt zu vergleichen. Es ist ein einzigartiger Stoff, ein Metamaterial sozusagen. Es ist um das Fünffache widerstandsfähiger als Titan und zeichnet sich durch Eigenschaften aus, an die kein anderer Stoff, ganz gleich ob aus der Erde ans Tageslicht geholt oder in einem Labor erschaffen, auch nur entfernt heranreicht. Damit können wir eine vollkommen neuartige Generation von Flugzeugen, Schiffen und Raketen bauen, die praktisch unzerstörbar sind. Ganz zu schweigen von tausend weiteren Anwendungen, die unseren Ingenieuren einfallen dürften. Diese Mine – unsere Mine – ist der einzige Ort auf der ganzen Welt, an dem dieses Metall je gefunden wurde. Das wissen Sie natürlich genauso gut wie ich. Die Kosten, um es aus der Erde zu holen, sind irrelevant. Wir müssen den Bergbaubetrieb wieder aufnehmen.«

Der alte Mann hob den Kopf und sah seinen Gast mit einem zornigen Funkeln in den Augen an, sodass Han sich schon fragte, ob er nicht zu weit gegangen war.

»Belehren Sie mich nicht darüber, was getan werden muss«, sagte Wen leise, aber der drohende Unterton in seiner Stimme war keineswegs zu überhören.

Han deutete eine unterwürfige Verbeugung an. »Ich bitte um Verzeihung, Lao-Shi.«

Wen löste den Blick von Walter Han und konzentrierte sich wieder auf das Go-Brett. »Zum Teil haben Sie recht«, räumte er ein und setzte einen weiteren schwarzen Spielstein. »Das Erz, wie wir es so respektlos nennen, ist der Schlüssel zur Zukunft. Genauso war es, als seinerzeit Bronze über Kupfer triumphierte und später Eisen über Bronze. In der Menschheitsgeschichte ging es im Wesentlichen immer darum, wer das schärfste und stabilste Schwert besaß und die leichteste und zugleich widerstandsfähigste Rüstung trug. Die Nation, die über das Goldene Adamant verfügt und es kontrolliert, wird unbesiegbar sein. Aber Sie machen einen Fehler, wenn Sie empfehlen, dass wir am gleichen nahezu vollständig ausgebeuteten Ort weitergraben sollen.«

Han legte den Kopf schief und zuckte die Achseln. »Aber es gibt keine anderen Vorkommen.«

»Jedenfalls keine, die bisher gefunden wurden«, erwiderte Wen.

»Mit allem gebührenden Respekt, Lao-Shi, wir lassen seit Jahren unsere Leute auf der ganzen Welt suchen und haben bisher nicht die geringste Spur des Minerals aufspüren können. Nicht in Afrika, nicht in Südamerika und auch nicht im Mittleren Osten. Und ebenso wenig auf unserem eigenem Territorium oder auf den Vulkaninseln im Südpazifik. Also an keinem Ort, wo wir mit einem Vorkommen hätten rechnen können. Wir haben an die zehntausend Bohrproben aus der Tiefsee heraufgeholt und sind an keiner Stelle fündig geworden – außer an dieser einzigen.«

»All das weiß ich«, sagte Wen. »Nichtsdestotrotz sind mir Informationen über eine weitere Lagerstätte zu Ohren gekommen, und zwar liegt sie viel näher, als wir es jemals in den kühnsten Träumen auch nur zu hoffen gewagt hätten.« Er deutete auf das Spielbrett. »Bitte, machen Sie Ihren Zug.«

Walter Han starrte auf das Brett. Es war ihm angesichts einer solchen Information, die da plötzlich im Raum stand, nahezu unmöglich, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Immerhin offenbarte ihm ein schneller Blick, dass er sich in einer gefährlichen Situation befand. Seine weißen Steine waren umzingelt. Jeder weitere Zug seinerseits würde Wens Position erheblich verbessern. »Ich passe«, sagte er.

Wen nickte. »Das dürfen Sie laut den Spielregeln.«

»Ich bitte Sie, mein Freund. Verraten Sie mir, wo sich diese andere Lagerstätte befindet?«

Wen zögerte. Er rollte seinen schwarzen Stein zwischen den Fingern sekundenlang hin und her, ehe er ihn auf das Spielbrett legte. »Irgendwo auf Honshu.«

Han brauchte einige Sekunden, um die volle Bedeutung dieser Information zu erfassen. »In Japan? Auf der Heimatinsel?«

»Möglicherweise vor der Küste«, sagte Wen. »Aber höchstwahrscheinlich auf dem Festland. Und wenn ich mich recht entsinne, brauchten sie nicht einmal allzu tief zu bohren, um fündig zu werden.«

Die Worte kamen vollkommen emotionslos über seine Lippen, aber Han war wie elektrisiert. Für einen Augenblick verschlug es ihm den Atem. »Woher wissen Sie das? Und was noch wichtiger ist: Wie kann dies für uns eine Hilfe sein? Selbst wenn es uns gelingen sollte, die Fundstelle zu lokalisieren, dürfte es uns wohl kaum möglich sein, sie unbemerkt auszubeuten. Und sollten wir es trotzdem versuchen und werden dabei ertappt, dann haben wir am Ende nicht mehr erreicht, als die Japaner auf die Existenz des Erzvorkommens auf ihrem Territorium aufmerksam gemacht zu haben. Und das bedeutet, dass es schon bald in die Hände der Amerikaner gelangen wird. Damit würden wir unserem Feind ausgerechnet das Rohmaterial liefern, über das wir unbedingt die alleinige Kontrolle behalten wollen.«

»Ganz richtig«, sagte Wen. »Und genau deshalb sind wir gezwungen, der ersten Information auf den Grund zu gehen.«

»Dann stecken wir in einer Sackgasse«, gab Walter Han zu bedenken.

»Tun wir das?«

Wen griff in den Becher neben dem Spielbrett und holte eine Handvoll seiner schwarzen Spielsteine heraus. »Erklären Sie mir eines«, bat er, »was ist das eigentliche Ziel dieses Spiels?«

Han war bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte sich daran gewöhnt, dass der Lao-Shi seine Weisheiten mittels ungewöhnlicher Methoden weitergab, und erkannte, dass es auch jetzt mal wieder so weit war und er sich eine dieser Belehrungen anhören musste. Seine Freude darüber hielt sich in Grenzen. »Das Ziel dieses Spiels besteht darin, den Gegner zu umschließen, ihm seine Bewegungsfreiheit zu nehmen, sodass er zur Untätigkeit verdammt ist.«

»Genau«, sagte Wen. »Und welche Nation hat die besten Spieler?«

»China«, antwortete Han. »Schließlich haben wir dieses Spiel erfunden.«

»Nein«, widersprach Wen und setzte einen weiteren schwarzen Stein. »Diese Antwort zeugt von einem übersteigerten Ego und von mangelndem Wissen.«

»Und wenn nicht wir, dann Japan.«

Wen schüttelte abermals den Kopf. Han verzichtete auch auf den nächsten Spielzug, und der alte Mann platzierte einen weiteren schwarzen Stein.

Han runzelte verärgert die Stirn. Er war im Begriff, das Spiel zu verlieren. Und ebenso das Streitgespräch. Er verzichtete auch diesmal auf seinen Zug. »Korea verfügt bekanntlich über zahlreiche hervorragende Spieler«, sagte er mit einem Unterton von Verzweiflung in der Stimme.

»Die Amerikaner«, klärte Wen ihn auf. »Sie sind die besten Spieler, die an diesem Wettstreit je beteiligt waren. Sie waren und sind in Taktik und Ausführung geschickter als jede andere Nation der Erde.«

Han unterdrückte den Impuls, spöttisch zu lachen. »Sind Sie sicher? Ich kenne keinen einzigen amerikanischen Spieler von Klasse.«

»Weil Sie sich auf das falsche Spielbrett konzentrieren«, sagte Wen. »Schauen Sie noch einmal genau hin und stellen Sie sich vor, dass Sie eine Landkarte vor Augen haben.«

Vollkommen verwirrt studierte Walter Han das Spielbrett aufs Neue. Er glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Brett und der Weltkarte zu erkennen. Nicht mit den westlichen Weltkarten, auf denen Nordamerika als zentrale Macht dargestellt wurde, sondern mit den asiatischen, auf denen China die zentrale Position einnahm.

Seine Streitmacht weißer Steine in der Mitte des Spielbretts war China. Die schwarzen Steine, die auf beiden Seiten entlang der Grenze aufgereiht waren, konnten als Europa und Nordamerika interpretiert werden.

Ehe er sich zu seiner neuen Betrachtungsweise äußern konnte, fuhr der Lao-Shi mit seiner Lektion fort. »Sie haben Teile ihrer Armee in Europa stationiert«, sagte er und legte den nächsten Stein aufs Spielbrett. »Sie kontrollieren den Atlantik, das Mittelmeer und den Indischen Ozean. Sie unterhalten Militärbasen im Mittleren Osten, und sie haben sich mit ihren Truppen in Gebieten festgesetzt, die früher einmal zum kommunistischen Russland gehört haben. Außerdem können sie von mehreren Inseln überall im Pazifik ihre Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe in Marsch setzen.«

Wen Li machte keine Spielzüge mehr. Er hämmerte Walter Han seine Lektion ins Bewusstsein, zählte eine amerikanische Position nach der anderen auf und brachte jedes Mal einen weiteren schwarzen Spielstein in Position. »Hawaii, Australien, Neuseeland«, sagte er, während er drei schwarzen Steinen ihren Platz auf dem Spielfeld zuwies. »Korea, die Philippinen und Formosa – das sie Taiwan nennen – und, natürlich … Japan.«

Als der letzte Stein auf das Brett gelegt wurde, waren die weißen Steine, die die Volksrepublik China repräsentierten, vollständig umzingelt.

Wen schaute hoch. Die Lektion war beendet. Der Blick, mit dem er Walter Han fixierte, war kraftvoll und drohend zugleich und stand im krassen Gegensatz zu der zerbrechlichen Erscheinung des alten Mannes. »Von ihrem Inselkontinent aus haben die Amerikaner es geschafft, die Welt einzukesseln. Unsere Welt.«

Hans Selbstsicherheit geriet sichtlich ins Wanken. Er räusperte sich verlegen. »Ich verstehe, was Sie meinen. Aber was können wir dagegen tun?«

Wen deutete auf das Spielbrett. »Welchen Stein würden Sie entfernen?«

Han studierte abermals die Stellungen der weißen und schwarzen Steine. Er erkannte, dass der letzte Stein die entscheidende Position besetzte. Mit ihm hatte Wen den Kreis geschlossen und dafür gesorgt, dass die weiße Partei – China – untergehen würde. »Diesen«, sagte er und nahm den schwarzen Stein vom Brett. »Japan.«

»Und genau das muss geschehen«, erklärte der Meister mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete.

Die Ungeheuerlichkeit seiner Empfehlung traf Han mit der Wucht eines Fußtritts in die Magengrube. Sein Herz schlug wie ein Dampfhammer. »Sie denken doch nicht etwa an eine militärische Aktion?«

»Natürlich nicht«, sagte Wen. »Aber wenn Japan von Schwarz zu Weiß wechselte – wenn aus einem amerikanischen Verbündeten ein chinesischer würde –, änderte sich die Situation auf dem Spielbrett grundlegend. Wir würden nicht nur die amerikanische Dominanz entscheidend zurückdrängen, sondern hätten auch die Möglichkeit, alles Goldene Adamant der Welt ans Tageslicht zu fördern und für uns zu nutzen.«

»Wäre so etwas überhaupt möglich?«, fragte Han. »Hinter uns liegen Jahrhunderte voller Feindseligkeiten. Ich denke an ungesühnte Kriegsverbrechen auf beiden Seiten und territoriale Streitigkeiten, die bis in die Gegenwart hineinreichen.«

»Es gibt einen Plan, dessen Verwirklichung bereits in Angriff genommen wurde«, sagte Wen. »Es ist ein Plan, den eigentlich nur Sie allein in seinem gesamten Umfang umsetzen können.«

»Weil ich zur Hälfte Japaner bin.«

»So ist es«, sagte Wen. »Aber es gibt noch einen anderen Grund, und zwar die Firmen, die Sie leiten, und die vielfältigen Technologien, die Ihre Ingenieure entwickelt haben und beherrschen.«

Han merkte, dass Wen sich offenbar gewollt vage ausdrückte, und er fragte sich, worauf genau er hinauswollte. Die Erfahrung sagte ihm, dass ihm die Details erst dann offenbart werden würden, wenn er sich bindend zur Mitwirkung verpflichtet hätte. »Ich werde meinen Teil beisteuern«, versprach er. »Was immer Sie von mir verlangen.«

»Gut.« Wen nickte zufrieden. »Unter anderem brauchen wir für das, was geplant ist, weitere Maschinen. Ich denke an Automaten, die menschliches Verhalten imitieren können. Sie wurden jahrelang vom Ministerium finanziell unterstützt, um entsprechende Untersuchungen durchzuführen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, da Sie offenbaren, wie weit das Projekt gediehen ist. Können Sie solche Maschinen herstellen? Sie dürfen sich nicht im Mindesten von denen unterscheiden, die sie ersetzen sollen.«

Han lächelte. Er war sich von Anfang an darüber im Klaren gewesen, dass der Blankoscheck, den man ihm ausgestellt hatte, Teil einer Strategie war. Der Lao-Shi musste seit Jahren an diesem Plan und seiner Umsetzung arbeiten. »Wir stehen knapp vor dem Ziel.«

»Gut«, sagte Wen. Er wischte die Spielsteine vom Brett und verteilte sie auf die Becher. »Meine Sekretärin wird Ihnen ein Paket aushändigen, wenn Sie das Haus verlassen. Darin befinden sich weitere Instruktionen. Der erste Weg in dieser Angelegenheit führt Sie nach Nagasaki. Eine Vereinbarung wurde getroffen, dort eine Fabrik zu errichten. Außerdem ist dort der Bau eines Freundschaftspavillons geplant, der die Verbundenheit unserer Nationen symbolisieren soll. Die Fabrik geht in Ihren Besitz über. Sie wird Ihre Operationsbasis sein.«

Han erhob sich. Er konnte es kaum erwarten, aktiv zu werden. »Und was geschieht, wenn sich die Amerikaner einmischen?«

»Sie wissen nichts von unserem Vorhaben«, erklärte Wen mit Nachdruck. »Aber dies ist kein Spiel für Zartbesaitete. Am Ende wird eine Seite ihre Freiheit – und damit auch ihre Bedeutung – einbüßen. Falls die Amerikaner versuchen sollten, uns aufzuhalten, werden Sie mit Ihren technischen Möglichkeiten dafür sorgen, dass sie auf der ganzen Linie scheitern.«

2

GRÖNLAND

ELF MONATE SPÄTER

Der Skandinavische Eisschild war ein verlassener und trostloser Ort. Baumlos, öde und vollkommen eben, wurde er teilweise von Nebelschwaden verhüllt und von fahlem Lichtschein, der kaum die Bezeichnung Tageslicht verdiente, nur dürftig erhellt. Sogar um die Mittagsstunde stand dort die Sonne so tief, dass sie beinahe den Horizont berührte.

Zwei Gestalten stapften durch diese unwirtliche Landschaft. Beide steckten in leuchtend roten Schneeanzügen, die ein wenig Farbe in diese eintönige Welt brachten.

»Ich verstehe nicht, weshalb wir uns die Mühe machen, so weit nach Norden vorzudringen!«, rief die kleinere der beiden Gestalten. Hellblonde Haarsträhnen quollen vorwitzig unter der pelzbesetzten Kapuze hervor. Der skandinavische Akzent der Stimme – einer weiblichen – war zwar nicht besonders stark, aber unverkennbar. »Die anderen Messungen haben uns doch eindeutig verraten, was wir in Erfahrung bringen wollten.«

Die größere der beiden Gestalten schlug ihre Kapuze zurück und streifte eine Skibrille ab. Zum Vorschein kamen das markante, wettergegerbte Gesicht und die tiefblau schimmernden Augen Kurt Austins. Er war erst Mitte dreißig, sah jedoch älter aus. Krähenfüße in den Augenwinkeln und tiefe Stirnfalten zeugten von einem Leben in Einklang mit den Elementen, und nicht in einem klimatisierten Büro. Der silbergraue Glanz seiner Haare verlieh ihm eine Aura von Weisheit und Verwegenheit, während sein restliches Gesicht von einem Bart bedeckt wurde, der einen Monat alt war. »Weil ich mir absolut sicher sein muss, ehe ich meiner Regierung einen Bericht vorlege, von dem ich erwarte, dass sie ihm auf Anhieb keinen Glauben schenken wird.«

Die Frau schob ihre Kapuze zurück und nahm ebenfalls ihre Skibrille ab. Eisblaue Augen, von der Kälte leicht spröde dunkelrote Lippen und mittellanges strohblondes Haar bestätigten ihre skandinavische Herkunft. Sie schürzte die Lippen und hob eine Augenbraue. »Sieben Messwerte von sieben verschiedenen Gletschern sind für Sie als Beweis nicht ausreichend?«

Ihr Vorname lautete Vala, ihr Nachname war ein langer Mix aus Konsonanten, Umlauten und anderen Buchstaben, den Kurt als unaussprechlichen Zungenbrecher empfand. Sie war eine norwegische Geologin, deren Hilfe und Kenntnisse nicht hoch genug bewertet werden konnten, vor allem nicht hier oben auf dem Dach der Welt.

»Ich wünschte, es wären nur sieben«, erwiderte Kurt. »Ich bin während des vergangenen Halbjahres auf dreißig Gletschern gewesen. Und um Hilfsmaßnahmen zu planen und einzuleiten, müssen meine Schlussfolgerungen erschöpfend untermauert sein. Das heißt, dass die Serien der Messdaten lückenlos sein sollten.«

Sie seufzte schicksalsergeben. »Also deshalb benutzen wir einen Hubschrauber, um zur Station zu gelangen. Und wenn Wolken aufziehen, landen wir und bewegen uns zu Fuß weiter. Okay, wunderbar, nichts dagegen. Aber was ich nicht nachvollziehen kann, ist Ihre Besessenheit. Die Dringlichkeit und die Eile. Wir haben genau das herausgefunden, was wir erwartet haben. Bislang hat sich alles als« – sie hielt inne, während sie das richtige Wort suchte – »ausgezeichnet erwiesen«, sagte sie schließlich und benutzte einen Ausdruck, den er während der letzten Stunden viel zu häufig gemurmelt hatte.

»Das ist das Problem«, sagte Kurt. »Nichts sollte ausgezeichnet sein.«