Dieser Garten - Mely Kiyak - E-Book

Dieser Garten E-Book

Mely Kiyak

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Beschreibung

Dieses Buch erzählt von einfallsreichen, solidarischen, unwahrscheinlich mutigen und feministischen Frauen. Der Garten der Nonnen aus Fulda ist ein wichtiges Kapitel biologischer Gartenkultur und deutscher Klostergeschichte. Lehrreich, unterhaltsam und lustig erzählt, vor allem kenntnisreich und interessant; nicht nur für Gärtner*innen.
Mit einem ausführlichen Nachwort der Autorin
Eines Tages steht die Autorin Mely Kiyak in einem opulenten Garten mit Gemüsebeeten, Obstbäumen und einer verschwenderischen Blütenpracht. Er gehört zum Kloster der Benediktinerinnen der Abtei zur heiligen Maria Fulda, die ihn seit jeher ohne chemische Hilfsmittel, mit viel Körpereinsatz und raffinierter Bodenpflege bearbeiten. Ein fast 400 Jahre währender Ort, der nicht zufällig entstand, sondern durch Erfahrung, Beobachtung und Sachverstand der Nonnen.
Mely Kiyak bleibt und beschließt, von diesen Frauen zu lernen. Schwester Agatha, Schwester Vera, Schwester Christa sind nur einige ihre Lehrerinnen, die ihr über Jahre hinweg sowohl alle Gartengeheimnisse beibringen, ihr aber auch zeigen, wie die Schwesterngemeinschaft nach Kriegsende durch die Gartenbewirtschaftung überleben konnte. Erstaunt stellt sie fest, dass es sich bei den Nonnen nicht nur um Gärtnerinnen und Dichterinnen handelt, sondern um moderne Unternehmerinnen, die einen Kompostbeschleuniger erfanden und erfolgreich vermarkten. Was die Benediktinerinnen aus Not zu Einfallsreichtum inspirierte, ist eigentlich die Geschichte eines ökologischen Start-ups, lange bevor dieser Begriff und diese Ideale in unser gesellschaftliches Bewusstsein traten.
Mely Kiyak ist Autorin von Büchern und Theatertexten. Bei Zeit Online erscheint ihre Serie „Gute Momente“, für das Gorki-Theater schreibt sie „Kiyaks Theater Kolumne“. Für ihre Arbeit wurde Mely Kiyak vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Kurt-Tucholsky-Preis. Zuletzt erschienen bei Hanser Frausein (2020), Werden sie uns mit FlixBus deportieren? (2022) und Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an (2024) und Dieser Garten (2024) bei mikrotext.

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MELY KIYAK

DIESER GARTEN

Die unglaublich fabelhaften Nonnenaus Fulda und ihre genialenErfindungen

Cover: Inga Israel

Schwarz-Weiß-Foto: Für die eventuellen Bildrechte

am Foto bitte beim Verlag melden.

Scherenschnitte:

Archiv der Abtei zur heiligen Maria, Fulda

Schriften: Gentium Book Plus, AttentionPro

Der ursprüngliche Text ist 2011bei Hoffmann und Campe erschienen.Die vorliegende Version ist überarbeitet und umein ausführliches Nachwort ergänzt worden.

www.mikrotext.de

ISBN 978-3-948631-45-1

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2024

Inhalt

Das Buch

Die Autorin

Dieser Garten

Nachwort

Eine Schule des Sehens und Säens

Lesetipp: Dieses makellose Blau

Lesetipp: Kochen mit Zukunft

Über den Verlag

Das Buch

Eines Tages steht die Autorin Mely Kiyak in einem opulenten Garten mit Gemüsebeeten, Obstbäumen und einer verschwenderischen Blütenpracht. Er gehört zum Kloster der Benediktinerinnen der Abtei zur heiligen Maria Fulda, die ihn seit jeher ohne chemische Hilfsmittel, mit viel Körpereinsatz und raffinierter Bodenpflege bearbeiten. Ein fast 400 Jahre währender Ort, der nicht zufällig entstand, sondern durch Erfahrung, Beobachtung und Sachverstand der Nonnen. Mely Kiyak bleibt und beschließt, von diesen Frauen zu lernen.

Die Autorin

Mely Kiyak ist Autorin von Büchern und Theatertexten. Bei Zeit Online erscheint ihre Serie „Gute Momente“, für das Gorki-Theater schreibt sie „Kiyaks Theater Kolumne“ und für das Schweizer Republik Magazin „Meine Testamente“. Für ihre Arbeit wurde Mely Kiyak vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Kurt-Tucholsky-Preis. Zuletzt erschienen bei Hanser Frausein (2020), Werden sie uns mit FlixBus deportieren? (2022) und Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an (2024).

Mely Kiyak

Dieser Garten

Die unglaublich fabelhaften Nonnenaus Fulda und ihre genialenErfindungen

Mit einem ausführlichen Nachwort der Autorin

Sanikel · Sanicula europaea

Für meine Schwestern,die mir ihr Haus und ihre Herzen öffneten

Da sitzen sie. Aus allen Winkeln des Klosters sind sie in die Abtei gekommen. Aus der Holzwerkstatt, aus dem Waschhaus, aus der Bibliothek, aus dem Garten; nach und nach füllt sich das Chorgestühl. Manche Nonne hat noch rasch vor dem Kirchgang die blaue Arbeitskleidung gegen den Habit aus festerem Tuch getauscht. Schwer schimmern die schwarzen Schleier auf den Köpfen. Ein Streifen weißer Stoff umrahmt das Gesicht. Wer nicht mehr gut zu Fuß ist, kommt einige Minuten eher und setzt sich auf seinen Platz. Die Frauen sind zunächst durch ihr Warten miteinander verbunden. Während eine in sich versunken ist, schaut eine andere neugierig oder müde oder vergnügt. Aus dem losen Aufeinander-Warten wird ein durch gemeinsames Schweigen verbundenes Ganzes. Nur wer darauf achtet, kann sehen, wie die Äbtissin in der letzten Reihe leise auf das Holz klopft. Der Gottesdienst beginnt, der gregorianische Gesang setzt ein. Es folgt ein Wechsel aus Gebet, Fürbitte und Lesung. Wir sind in der Mittagshore. Punkt zwölf läuten die Glocken. Die Schwestern gehen in sich. Wird man jemals in Erfahrung bringen, worüber sie in dieser knappen Minute nachdenken? Was geht der 87-jährigen Schwester Candida durch den Kopf, wenn sie die Lupe ablegt und ihre Augen schließt? Worüber lächelt die 93-jährige Schwester Agatha im In-sich-versunken-Sein? Schwester Fidelis sieht erschöpft aus. Sie hat den ganzen Tag auf dem stickigen Teeboden Kräuter von einer auf die andere Seite gewendet, (gelegentlich überfällt sie im kühlen Kirchenraum ein Nickerchen). Und die anderen? Das Wesen eines Menschen offenbart sich nicht im schweigenden Gebet. Nur wer die Frauen kennt, weiß, in welche Richtung sie nach dem Gottesdienst die Kirche verlassen werden, was sie arbeiten, wie ihr Temperament ist. Aber noch sitzen sie da. Beten und bitten. So geht das seit Generationen. Jeden Mittag, jeden Nachmittag, jeden Abend, zur Nacht und am frühen Morgen versammeln sie sich in ihrer kleinen Kirche mitten in der Altstadt von Fulda. Niemand weiß, wie viele Generationen sie dort noch sitzen werden. Sie sind nie ganz vollzählig versammelt. Eine ist krank. Eine hat einen Termin. Eine hat noch Dienst im Klosterladen. Aber alle anderen sind da. Da sitzen sie.

Wie jeder Garten erzählt auch der Klostergarten der Benediktinerinnen in Fulda die Geschichte seiner Gärtnerinnen.

Obwohl die meisten Nonnen, die in diesem Garten arbeiteten, nicht mehr leben, hat ihr gärtnerisches Erbe überdauert. Die Klostergärtnerinnen haben vieles notiert und die jährlich neu gezeichneten Gartenpläne, Fotos und Briefe aufgehoben. Je nach Jahrgang bestehen die Aufzeichnungen aus kryptischen Eintragungen auf den Rändern von alten Feldpostformularen, die aus dem Bestand der im Kloster einquartierten Wehrmachtssoldaten stammen. Manchmal handelt es sich um Notizen auf der Rückseite von Briefen oder auf leeren Stellen von Werbezetteln, in alten Kladden, die rechtsherum Rechnungsbuch waren und linksherum Tagebuch. Die Schrift der Aufzeichnungen wird im Laufe der Jahrzehnte größer, das Papier dicker. Irgendwann sind die Hefte nicht mehr bis auf den letzten Millimeter gefüllt, die Texte enthalten Absätze. Der Grund ist die wirtschaftliche Situation des Klosters, die sich zunehmend verbesserte. Die Schrift wird im Laufe der Zeit auch deshalb größer, weil die Nonnen älter und ihre Augen immer schwächer wurden. Doch allem Alter und allen Gebrechen zum Trotz, hörten sie weder auf zu gärtnern noch zu schreiben. Das ist die besondere benediktinische Tradition der Abtei zur Heiligen Maria.

Auch der Ort, an dem das unter botanischen, ökologischen und unternehmerischen Gesichtspunkten wichtige Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte seinen Lauf nahm, ist genau überliefert: Es begann alles am Schreibtisch von Schwester Laurentia.

Alle Jahrhunderte hindurch bis heute hat sich eine schöne Sitte in Klöstern erhalten. Am Ende eines Jahres sendet man befreundeten Klöstern, zumeist aus dem gleichen Orden, einen Rundbrief, in dem mitgeteilt wird, was im vergangenen Jahr geschah. Wer eingetreten oder verstorben ist, ob man Bauarbeiten am Haus hatte, und auch Anekdoten und Geschichten werden und wurden je nach Erzähltalent des Briefschreibers mehr oder weniger ausführlich aufgeschrieben.

Die Abtei Fulda erhielt, wie jedes Jahr ungefähr zu Weihnachten, aus dem berühmten Benediktinerinnenkloster Stanbrook deren Jahresbrief, es ist das Jahr 1948. Die Stanbrooker Chronistinnen besaßen ein besonders unterhaltsames Talent, aus ihrem Klosterleben zu berichten. Aus Stanbrook stammt auch der berühmte Briefwechsel zwischen dem Dramatiker George Bernhard Shaw und Äbtissin Laurentia McLachlan. Die Abtei Fulda schätzte sich glücklich, dass die Stanbrooker Schwestern Kontakt zu ihnen hielten. In den Abendstunden übersetzte Schwester Laurentia die englische Jahrespost ins Deutsche. Sie hatte, genau wie ihre Mitschwestern, verschiedene Ämter inne. Sie arbeitete in der Infirmerie, so nennt man in Klöstern die Krankenstation, außerdem war sie Küchen- und Gastmeisterin. Immer war sie in leitenden Positionen, in den Kriegsjahren sogar die Stellvertreterin der Äbtissin. Sie führte ein erfülltes Ordensleben, in einer zivilen Arbeitsbiografie würde man es wohl Karriere nennen, jedenfalls: Schwester Laurentia war immer schwer beschäftigt. Die Übersetzungen bereiteten ihr großes Vergnügen. Sie sorgte dafür, dass jede Pointe auch auf Deutsch saß.

In der Stanbrook-Chronik von 1948, über der sie gerade saß, ging es um den armen Gärtner und ehemaligen Kriegsgefangenen Crescenzo Malatesta, der als Gartenhilfe eingeteilt worden war und nach zehn Jahren endlich nach Hause fahren durfte. Allerdings ließen ihn die englischen Schwestern erst im Winter abreisen, damit er den Gemüsegarten noch einmal bestellen konnte. Überhaupt ging es in der Chronik aus diesem Jahr sehr viel um den Garten. Eine Passage brachte die sechzigjährige Schwester Laurentia ziemlich ins Grübeln.

Die englische Chronistin schrieb: „Jede Generation ist die Verwalterin des Bodens, auf dem sie lebt; deshalb muss der Boden in denkbar bestem Zustand der Nachwelt übergeben werden. Gott, der Schöpfer der Pflanzen- und Tierwelt und der Menschen, in die alle er auch den Samen für künftiges Wachstum gelegt, hat die Erde befähigt, sich unaufhörlich zu erneuern und zu verbessern durch natürliche Mittel. Es war schon immer für einige von uns eine beliebte Lektüre, über Landwirtschaft und Bodenbeschaffenheit und seine Ausnützung zu lesen.“

Schwester Laurentia war derart aufgeregt, dass sie die Stellen grammatikalisch nicht ganz korrekt übersetzte, was bei ihr ansonsten absolut unüblich war. Sie hatte einen Satz durchgestrichen und war handschriftlich in den Text gegangen, außerdem war die Stelle am unteren Blattrand zerfetzt. Ganz offensichtlich hatte sie die Seite oft in der Hand. Bis auf dieses Blatt waren alle anderen erhaltenen Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1951 akkurat und nahezu ohne Fehler abgetippt.

Man müsse, so stand es weiter im Stanbrooker Rundbrief, dem Boden Pflanzliches zurückgeben, denn chemische Düngungen und ausgedehnte Waldabholzungen würden den Boden auslaugen. Eine Einsicht, die heute weitgehend bekannt ist, doch in den 1940er Jahren waren solche Ansichten völlig neu. Der italienische Gärtner und die Stanbrooker Schwestern, so stand es in dem Brief, hatten schon einiges ausprobiert, um im Garten humusreiche Erde herzustellen. Sie berichteten von verschiedenen Methoden und davon, dass viele Kleingärtner und Bauern in England nicht genug Naturdung auftreiben konnten, weshalb sie zu Kunstdünger griffen, der zwar die richtigen Stoffe enthalte, aber künstlich sei und demzufolge „ohne Leben“. Dies lehnten die englischen Schwestern ab. Sie verfolgten die Ergebnisse der damaligen ökologischen Forschungen sehr genau. Die Texte des Biochemikers Dr. Ehrenfried Pfeiffer, der mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner zusammenarbeitete und einen biodynamischen Hof in Holland betrieb, kannten sie ebenfalls. Die Stanbrookerinnen hatten Rudolf Steiners moderne Methoden zum Gartenbau aufmerksam studiert, sein Rezept zum schnellen Kompostieren aber hielt er bedauerlicherweise geheim.

Die Stanbrookerinnen waren einer anderen Quelle auf der Spur: Sie erfuhren von Miss Maye E. Bruce, die aus der Steinerschen Bewegung kam und sich von den Anthroposophen lossagte, weil sie deren Philosophie ablehnte. So konnten beispielsweise nur Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft die Präparate zur Kompostaktivierung erwerben. Die Herstellung war zudem äußerst kompliziert und es war auch eine Menge Hokuspokus im Spiel. Oder wie soll man das nennen, wenn ein Mittelchen seinen Zauber erst durch eingegrabene Ochsengalle bei Mondlicht erlangt oder durch Kräuter, die in Hirschblasen oder Kuhhörner gefüllt und eingebuddelt, nach einem halben Jahr wieder ausgebuddelt, pulverisiert und miteinander vermischt werden? Aber nur durch Umrühren in eine Richtung! Es gab noch jede Menge anderer Kuriositäten, die man sich heute allenfalls mit Gelächter weitererzählt, aber ganz sicher nicht mehr als Geheimtipp. Miss Bruce war damals schon klug genug, Wissenschaft von Anthroposophie zu trennen und entwickelte ein eigenes Mittel und eine eigene Methode. Sie ließ für ihr Rezept der schnellen Umwandlung von Kompost in Humus den ganzen magischen Kram weg, und vermischte stattdessen die getrockneten, pulverisierten Kräuter. Sie rührte womöglich nach der feinen englischen, aber keinesfalls anthroposophischen Art. Das Rezept beinhaltete unter anderem getrocknete Brennnesseln und Schafgarbe vermischt mit Honig und Wasser, und nur wenige Wochen später, so stand es in der Stanbrook-Chronik verbürgt, bekäme man reichen, dunklen Humus. Obendrein benötige man nur eine winzige Menge.

Schwester Laurentia begriff auf der Stelle, dass, wenn das alles wie beschrieben funktionieren würde, sich das Grundproblem eines jeden Gartens lösen ließe: Man bekäme Erde. Krümelige, satte Erde. Wie wunderbar das wäre! Die Stanbrooker Schwestern schwärmten von Miss Bruce’s „Quick-Return-Method“, die Schwester Laurentia gewohnt gewitzt als „Geschwind-Kompost-Methode“ übersetzte.

Warum war diese Passage über den Boden so wichtig für Schwester Laurentia? Es herrschte die Not der Nachkriegsjahre. Doch zuvor sollte erzählt werden, was während des Krieges geschah. An einem Dezembertag im Jahr 1940 erfuhren Schwester Laurentia und ihre Mitschwestern, dass die Franziskanermönche oben vom Fuldaer Frauenberg aus ihrem Kloster vertrieben wurden. Das war von der Nonnengasse, wo die Benediktinerinnen lebten, nur zwanzig Gehminuten entfernt. Die Bedrohung war wirklich akut. Äbtissin Maura Lilia war frisch im Amt. Sie hatte erst im Jahr zuvor die Verantwortung für das Kloster übernommen. Als promovierte Juristin kam sie aus Berlin und zog mit einem wunderschönen, glänzenden Blüthner-Flügel und einem Stapel Partituren für Wagneropern ein. Sie hätte in ihrer freien Zeit lieber so oft wie möglich ihr Instrument gespielt, das heute noch heute im Kloster steht. Maura Lilia blieb nichts anderes übrig, als eine Pianistinnenpause einzulegen. Als Oberin der Abtei mit 65 Mitschwestern versuchte sie, sich für den Fall der Klosterauflösung vorzubereiten. Noch bevor sie die Nachricht über die Franziskaner auf dem Frauenberg erreichte, hatte sie vorausschauend nach Notquartieren gesucht und sich einen Plan zurechtgelegt. Die als „Himmlers Klostersturm“ bekannten Beschlagnahmungen und Vertreibungen führten während des Krieges zur Auflösung vieler katholischer Gemeinschaften. Mutter Maura ahnte, was auf sie zukommen könnte.

Obwohl die Nonnen in den Kriegsjahren Nähaufträge für die Wehrmacht übernahmen, war abzusehen, dass ihnen daraus kein Vorteil entstehen würde. Tag und Nacht besserten sie Uniformen und Zelte aus. Oft auch im Luftschutzkeller, den sie sich eingerichtet hatten. Es gibt ein Foto, auf dem man die im Kreuzgang meterhoch aufgestapelten Soldatenuniformen sieht. Wie berechtigt die Befürchtungen waren, dass die Schwestern durch die Näharbeiten keineswegs unter besonderem Schutz standen, bewahrheitete sich an einem Januarabend 1942. Im Stadtschloss gab es einen Standesbeamten mit Namen Lorenz Fuß. Er bekam mit, dass die Nazis kurz davor standen, das Benediktinerinnenkloster zu beschlagnahmen. Schnell lief er die paar Gehminuten hinüber und warnte Äbtissin Maura. Noch in derselben Nacht fuhr die Äbtissin nach Kassel zur Generalkommandatur. Die Adresse hatte sie vom Benediktinerabt Basilius Ebel aus Trier erhalten. Die Kontaktaufnahme in Kassel schien zunächst ergebnislos gewesen zu sein, denn wenige Tage später fuhr sie erneut dorthin. Am Tag darauf bekam das Kloster Besuch von einer „höheren Stelle“ aus Kassel. Die Nonnen durften in ihrem Zuhause bleiben. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Schwestern mussten zusammenrücken. Das war der Deal. Siebzig zusätzliche „Gäste“ aus der Wehrmacht zogen ein. Sie nannten sich „Standortgebührnisstelle“ und wohnten eineinhalb Jahre lang im Gästehaus und in einem Gebäude, das mitten im Klosterhof stand. Als im Sommer 1943 die Behörde in eine Kaserne umziehen sollte, sorgte die Äbtissin dafür, dass kein Leerstand entstand. Sie benachrichtigte die Bewohnerinnen des ausgebombten Bremer Altenheims St. Elisabeth, dass diese mit ihren Betreuerinnen bitte schnell kommen sollten. Zwischen dem Auszug der Wehrmacht und dem Einzug der erschöpften, alten Damen und ihren Pflegerinnen vergingen nur wenige Tage. Der Plan ging auf. Das Kloster war völlig überbelegt. Die Äbtissin spekulierte darauf, dass niemand den Mumm haben würde, kranke, verängstigte Alte auf die Straße zu setzen und stattdessen Soldaten unterzubringen. Die Bremer Flüchtlinge waren immerhin zwischen fünfundsiebzig und hundert Jahren alt. Wie hätte das ausgesehen? Der Fortbestand des Frauenklosters St. Maria war ausschließlich der Finesse der Äbtissin zu verdanken.

Im September 1944 erlebte Fulda den größten Bombenangriff. Mitten in den Klosterhof fiel eine Bombe, die fast sämtliche Fenster der Kirche, im Kreuzgang und im Haus zerstörte und die Dächer zum Teil abdeckte. Im darauffolgenden Winter muss es schrecklich gezogen haben. Schlimmer als die Kälte war das Versorgungsproblem. Außer ihrem Garten besaßen die Benediktinerinnen fast nichts. Ihnen wurde klar, dass sie anfangen mussten, diesen Garten zur Existenzgrundlage zu machen. Leben „von der täglichen Handarbeit“, wie es die Mönchsregel vorschreibt oder wie man es heute ausdrückt, „von der eigenen Hände Arbeit leben“, ist für Benediktinerinnen nichts Ungewöhnliches, sondern Alltag. Die Schwestern hatten aber keinerlei Gartenerfahrung.

Es führte kein Weg daran vorbei: Die vor dem Krieg vorhandenen Werkstätten wie Stickstube, Holzwerkstatt und Buchbinderei brachten längst nicht mehr genug ein. Denn die Bevölkerung war ebenfalls arm, weshalb es den Benediktinerinnen an Aufträgen mangelte. Wollte man die vielen Klosterbewohnerinnen ernähren, reichte der 2.000 Quadratmeter große Klostergarten innerhalb der Klostermauer, der im Wesentlichen aus Obstbäumen bestand, nicht aus. Nicht, weil Obstessen eintönig gewesen wäre, sondern, weil man damit nicht ganzjährig zu essen hat. Die Schwestern der Abtei besaßen verschiedene Ländereien, die verstreut im Fuldaer Land entweder brachlagen oder verpachtet waren. Diese Felder müssten bestellt werden. Was sehr praktisch klingt, ist nur dann praktisch, wenn man weiß, wie das geht. Lediglich einige Schwestern waren an Landarbeit gewöhnt, besonders viel bäuerliches Wissen war nicht vorhanden. Die Frauen ließen sich trotzdem nicht entmutigen, schafften sich zwei Pferde an und mieteten eine Scheune mit Stall. Für die schweren Ackerarbeiten stellten sie zwei Männer ein. Die zur Landarbeit eingeteilten Schwestern, die vorher als Stickerinnen und Buchbinderinnen im Kloster gearbeitet hatten, mussten dazu ihre Klausur verlassen. Der heilige Benedikt, nach dessen im 6. Jahrhundert verfassten Regel die Nonnen leben, schrieb dazu: „Die Brüder, welche in weiter Entfernung bei der Arbeit sind, sollen das Gotteslob dort verrichten, wo sie beschäftigt sind und in Ehrfurcht vor Gott die Knie beugen.“ Genau so machten es die Schwestern dann auch. Sie beugten sich der Arbeit und beteten auf freiem Feld. Es war aber nicht die Feldarbeit allein, die das Leben im Krieg erschwerte.

Schwester Agatha erzählt von einem Winter, den sie nie vergessen hat. Frühmorgens in ihrer Zelle, noch vor den Laudes, will sie sich waschen, aber das Wasser, das immer am Abend zuvor in die Schüssel eingefüllt wird, ist über Nacht gefroren. Sie muss mit der Hand die Eisschicht einschlagen, um an das Wasser zu gelangen. Man lebt in Gemeinschaftszellen, die Betten werden durch aufgespannte Laken voneinander getrennt, es ist das Jahr 1944. Schwester Agatha erinnert sich noch genau an die Zeit, als die Nonnen ihr Kloster mit den alten Hanseatinnen teilen mussten. Mit ihr zusammen schlugen über hundert Hände in den Waschschüsseln die Eisschicht ein. Wenn Schwester Agatha erzählt, kann man ihr dabei zusehen, wie ihr Blick nach innen spazieren geht.

Was fällt Schwester Agatha noch ein?

Sie antwortet nicht.

Woher kam das Wasser?

Aus dem Brunnen.

Wo war der Brunnen?

Im Brunnenraum.

Im Klosterhof?

Nicken. Dann Schweigen, langes Schweigen.

Ihr Blick kommt langsam zurück.

Sie sitzt im Sprechzimmer des Klosters. In einem Kloster schwatzt man nicht einfach auf dem Flur oder bei einer Tasse Tee im Wohnzimmer. Alles hat seinen Platz. Das Schweigen und das Sprechen. Das Sprechen findet in einem der drei Sprechzimmer statt. Früher waren die Zimmer vergittert. Auf der einen Seite saß die Nonne und auf der anderen Seite der Besuch. Die Gitter wurden irgendwann abgeschafft. Nun sitzt man nahe beieinander und schaut sich an. Mit Schwester Agatha schaut man sich besonders lange an. Es ist ein warmes Schweigen.