Diesseits des Mondes - Asta Scheib - E-Book

Diesseits des Mondes E-Book

Asta Scheib

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Beschreibung

Ein wunderbarer Roman über die Kraft der Liebe - aber auch über ihre Abgründe Ein wunderbarer Roman über die Kraft der Liebe - aber auch über ihre Abgründe »Sharon. Seit drei Monaten wohnte sie in Krugs Haus … Ein Wunder von einer Frau.« Sie ist jung und hübsch. Sie hat in der israelischen Armee gedient, bevor sie sich dazu entschließt, nach Deutschland zu gehen. Und sie verdient ihren Lebensunterhalt als Tänzerin in einem exklusiven Nachtclub. Der Zufall führte Sharon als Mieterin in das Haus des Münchner Schriftstellers und Journalisten Michael Krug. Er ist Mitte vierzig, mäßig erfolgreich und steckt nach der Scheidung von seiner Frau in einer schweren Lebenskrise. Nicht nur er beobachtet voller Bewunderung diese junge Jüdin, die im Land ihrer Vorfahren so lebt, wie er nie den Mut gehabt hätte zu leben. Die in ihrer Liebe zu einem Medizinstudenten den freien Fall wagt ...

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Asta Scheib

Diesseits des Mondes

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

2007Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© Asta Scheib

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

eBook ISBN 978-3-423-40490-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13553-5

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Für Judith

»Die Welt der Männer und die der Frauen sind wie Sonne und Mond: Sie sehen sich vielleicht jeden Tag, aber sie kommen nicht zusammen.«

Mulud Mammeri

1

Samstags gegen Mittag lichteten sich die Quartiere Münchens. Es war die Zeit der Sommerferien, die viele Menschen außerhalb der Stadt verbrachten. Sie drängten auch an den Wochenenden aus der Stadt hinaus, als wüte die Pest darinnen.

Michael Krug hörte das Zwölfuhrläuten der Winthirkirche, das auch noch den letzten Range Rover hinaustrieb auf die Autobahnen Stuttgart oder Salzburg. Surfbretter wiesen Richtung Gardasee. Der Gemüsehändler fegte schwungvoll den Abfall zusammen.

Eine zweite Glocke, mehr bimmelnd als läutend, begleitete die Menschen des Viertels auf eine andere Reise. Seit Michael Krug einmal ihrem Wimmern gefolgt war, hörte er sie täglich. Unter dem kläglichen Bimmeln war Krug mit seiner Frau und den Kindern auf den Kieswegen des nahen Westfriedhofs gegangen. Im wortlosen Gehen war das Aneinanderknirschen der Kiesel das einzige Geräusch unter dem dünnen Läuten. Sie hatten Micky begraben, die Tochter eines Kollegen von Krug.

Letzten Sonntag, morgens gegen fünf Uhr, hatte Micky sich den letzten Schuss gesetzt. Ihr Vater hatte sie gehört, als sie heimkam in der Frühe. Er wusste schon lange nicht mehr, woher sie kam. Wütend und traurig hatte er sich auf die Seite gedreht.

Eine große Trauergemeinde versammelte sich vor dem Westfriedhof. Krug ging mit Birke, Danda und Mauritz in einer Gruppe von Jungen und Mädchen, Mickys Klassenkameraden. Ein Mädchen trug einen Brief. Für Micky, las Krug auf dem Umschlag. Als sie Micky hinunterließen, krächzte ein Rabe höhnisch und verzweifelt. So schien es jedenfalls Krug.

Als sie zurückgingen, hörte Krug, wie ein Mädchen zu seiner Tochter Danda sagte: Der Rabe war Micky. Sie hat uns alle ausgelacht.

Wie immer am Samstag kaufte Michael Krug die Wochenendausgaben einiger Tageszeitungen. Jedes Mal stand er am Kiosk wie ein Hungriger, der alles in sich hineinstopft, obwohl er weiß, dass ihm davon schlecht wird. Zeitungen regten Krug auf. Er tat manchmal sogar vor sich selber so, als sei er einverstanden und zugehörig. Als habe er mitgewirkt an allem, was passierte. Er achtete darauf, niemals resigniert auszusehen. Auch wenn er Gewalt sah, Willkür der Mächtigen, dann suchte er unter allen Umständen den Eindruck zu vermeiden, als sei er ohne Einfluss. Krug war süchtig danach, bestätigend zu nicken. Bei einem Bericht aus Teheran kam er aus dem Takt: Bombenopfer dürfen die Täter vor deren Hinrichtung verstümmeln. In der iranischen Stadt Ghom kamen bei der Explosion einer Autobombe 13Menschen ums Leben, 100 wurden verletzt. Vor der Hinrichtung der Täter am Ort des Verbrechens sollen die Opfer Gelegenheit erhalten, an ihnen Rache zu nehmen und sie zu verstümmeln. Diejenigen, die bei der Explosion eine Hand, ein Bein, ein Ohr oder ein Auge verloren haben, dürfen die Täter strafen, bevor sie exekutiert werden, sagte Informationsminister Mohammed Mahommadi Rei Schari. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Krug hatte gelernt, ohne allzu große Erschütterung mit Zeitungen dahinzuleben. Gerade samstags und sonntags, wenn noch seine letzten Verbindungen zur Außenwelt abgeschnitten schienen, konnte er sich einüben in die Gelassenheit, mit der er der Übermacht der Ereignisse begegnete, die ihn bis in sein Zimmer verfolgten, manchmal jagten.

Doch auch diese Verfolgungsjagd hatte Krug schon in sein Bewältigungsritual eingebaut. Er ließ sie an einem Tölzer Schrank enden, wo er seinem unstillbaren Bedürfnis nach Feierlichkeit nahekam. In einem halb vollen Glas Whisky konnte er Selbstzweifel und Rechtfertigung eines stillen Samstagmittags ertränken. Er legte die Brandenburgischen Konzerte auf.

Krug dachte wieder an seine Frau. Sie war ein Bestandteil seiner Selbstbezichtigungen und seiner Sehnsüchte. Er wünschte sich Birke umso heftiger, je nachdrücklicher sie sich von ihm zurückzog. Daher gehörte es bald zu Krugs Ritual, dass er alle anderen Frauen seines Lebens ungeschehen machen wollte.

Von allen Situationen war dies die unwiderrufliche: seine Frau am Strand von Elba. Sie schien – für andere unsichtbar – vorgeneigt im Kampf gegen ihre Hemmung, öffentlich nackt zu sein. Mit geschlossenen Schenkeln stand Birke da, und Krug bereute, dass er sich damals nicht auf sie gestürzt hatte. Doch er war blind und taub gewesen. Damals hatte er noch geglaubt, dass Birke ohnehin ihm gehöre. Sie war ihm vor Gott und den Menschen angetraut. Die Tatsache, dass Birke seine Ehefrau war, musste Krug taub und blind gemacht haben. Wie sonst könnte Birke jetzt von ihm getrennt sein? Hier fand Krug die Bibel weise: Was Gott gebunden hat, das soll der Mensch nicht trennen. Er, Krug, hatte zwar auf Birkes Wunsch in die Scheidung eingewilligt, doch schon damals war er sich seiner Scheinheiligkeit bewusst gewesen. Als habe er vor zwei Jahren schon geahnt, wohin ihn die Trennung von Birke reißen würde. Er wusste erst heute, wie sehr er nicht einverstanden war. Warum hatte er sich nicht gesträubt? In einer guten Whisky-Strömung konnte er sich sogar vorstellen, dass Birke auf ein Sträuben seinerseits nur gewartet habe. Doch er, Krug, hatte nur die Schultern gehoben. Damals war das eine Geste. Heute schien es ihm fahrlässig. War der Lauf der Zeit seiner Ehe nicht bekommen? Wie lächerlich. Gerade er war kein Kind seiner Zeit, darauf konnte er sich nicht berufen.

Er war dem Leben längst abhanden gekommen. Wenn er überhaupt je seiner habhaft gewesen war. Und ausgerechnet seine Frau wies ihm das heute nach. Krug hatte an einem Artikel mitgearbeitet über einen simulierten Super-GAU und die Evakuierung der Bevölkerung. Da Krug vor allen anderen seiner Frau gefallen wollte – er dachte manchmal, dass es ihm neben der Honorierung allein um ihre Anerkennung gehe–, deshalb hatte Krug Birke in einem Telefonat gefragt, ob sie seinen Artikel, zufällig, gelesen habe. Ihre Antwort bekam Krug schlecht. Pessimistenzüchter nannte sie ihn, katastrophensüchtiger Störfallfanatiker.

Krug wusste, dass seine Frau schon lange nicht mehr den Wunsch hatte, ihm zu gefallen. Sie war auf ihn, Krug, nicht mehr neugierig. Sie machte sich auch keinerlei Selbstvorwürfe wegen der Trennung, die nur er, wenn auch erst seit kurzem, als Katastrophe empfand. Obwohl Krug wusste, dass die Desillusionierung seiner Frau unwiderruflich war, traf ihn ihre frostige Kritik. Krug fühlte sich allein. Er konnte Birke vor sich sehen, ihren leeren, vernichtungsbereiten Blick. Ihr Mund hatte eine Spannung in den Mundwinkeln, die ganz und gar gegen Krug gerichtet war. Er war für Birke nur mehr ein unsympathischer Fremder, mit dem sie durch die Existenz zweier Kinder verbunden war.

Krug hatte über diesen Gedanken wieder zu viel gegessen. Obwohl er sich immer schwor, das nächste Mal nicht so viel in sich hineinzustopfen. Krugs Mütter kochten ihm für das Wochenende vor, da sie meistens aufs Land fuhren. Mutter und Schwiegermutter lebten in Krugs Haus, sie waren das Rudiment seiner Ehe. Krug nahm an, dass die beiden das auch so sahen. Sie waren geblieben, als Birke mit den Kindern ausgezogen war. Die beiden Damen, deren Gefechte sich früher mit denen der Kinder ablösten, hatten sich nach Krugs Scheidung aneinandergeklammert wie Geschwister, denen plötzlich die Eltern verstorben sind. Obwohl beide Frauen Krug zuwider waren, jede auf eine andere Weise, obwohl sie einander mürrisch auswichen, sorgten sie vorbildlich für ihn. Dass sie abwechselnd kochten, machte Krugs Galle hin und wieder zu schaffen.

Krug musste sich hinlegen. Nur im Liegen hatte er die Illusion, nicht dickbäuchig zu sein. Im Liegen und in seinem stillen Zimmer war Krug niemandem Rechenschaft schuldig. Hier musste er nicht erklären, warum er auch bei schönem Wetter oft nicht hinauswollte aus seinem Zimmer. Schon gar nicht am Wochenende, wenn alle draußen waren. Freizeitversager. Seit Birke ihn einschlägig kritisiert hatte, war es Krug ein Anliegen, ähnliche Wörter gegen sich selbst zu bilden. Er nannte sich Gewaltverzichtsschreier, Ausstiegsneurotiker, Hirnstromhavarist. Die Wochenendausgaben halfen ihm bei der Wortfindung. Wer heute nicht an morgen denkt, ist übermorgen schon von vorgestern. Der Verfasser musste Krug kennen. Der Slogan warb für Gehirne, die in Megabit-Chips eingebaut sind. Krug fand es durchaus interessant, dass so ein 64-Megabit-Chip 6400Schreibmaschinenseiten für ihn vollschreiben könne. Trotzdem war es eine ihn beruhigende Vorstellung, dass wenigstens der 256-Megabit-Chip auch für den Hersteller noch Zukunftsmusik war. So konnte Krug sich Zeit lassen, bis er sich mit einem System beschäftigen musste, das ihm 25600Schreibmaschinenseiten füllen könnte.

Die Elite wird immer sportlicher, las Krug. Vitale Ausstrahlung, den Dingen eine Richtung geben. Neue Lösungen. Heute, so schien es Krug, waren die Zeitungen wieder voll von ihn peinigenden Adjektiven und Adverbien. Die geschichtliche Aufgabe, die tiefe Einsicht, die eindeutige Erkenntnis. Krug las rigide Anweisungen: kraftvoll zupacken, nach vorne blicken, Kontinuität wahren, ganz bewusst deutsch sein, das Ziel anstreben, oben bleiben.

Krug wusste nicht, ob er dem allen immer so abgeneigt gewesen war.

Ein Düsenjäger schreckte ihn aus seinen Gedanken. Ein Moment der Angst. Es war, als hielte alles in Krugs Zimmer mit ihm den Atem an. Hoffentlich weckte der aggressive Lärm Sharon nicht auf. Sie ging am Samstagmorgen immer in die Synagoge und schlief dann bis in den Nachmittag. Sharon wohnte im Dachgeschoss, in der Maisonette, die vor Krugs Scheidung die beiden Mütter bewohnt hatten. Es waren vier hübsche Räume mit schrägen Wänden und einem Dachgarten. Sharon hatte sich beim ersten Besuch in die Wohnung verliebt und war ohne Zögern auf den Mietpreis eingegangen, der Krug Skrupel bereitete, ihn aber wirtschaftlich spürbar entlastete. Sharon steuerte auch zur Haushaltskasse bei, was sie Krugs Müttern noch verdächtiger machte.

Andererseits war ihnen gar nicht daran gelegen, sich mit Sharon näher einzulassen, damit sich Sharon nicht näher mit ihnen einlasse. Sie behandelten das Mädchen wie ein rohes Ei und nahmen ihre Existenz im Übrigen auf wie anderes Ungewohnte und Bedrohliche ihrer späten Jahre. Man nimmt, was kommt und wie es kommt, hatte Krugs Mutter sich zu sagen angewöhnt. Eine Nachtclub-Tänzerin ist schließlich ein Mensch wie jeder andere. Beide Mütter hatten offenbar eine Überlebensstrategie entwickelt, die mit Totstellen zu tun hatte. Krug durchschaute seine Mütter noch nicht, war aber erleichtert, dass das Leben im Haus jetzt wenigstens an der Peripherie so sachte ablief.

Er dachte an früher, als es allenthalben donnerte und blitzte. Die Türen schlugen und das Getrampel auf der Treppe nahm kein Ende. Das war jetzt vorbei. War deshalb alles vorbei? Krug spürte, wie die Stille im Haus ihn in Panik versetzte. Krug musste mit Birke sprechen, sofort. Obwohl er sich davon dringend abriet, rief er bei ihr an. Seine Tochter Danda war am Telefon, doch Krug erkannte im Hintergrund Birkes Stimme, warm, katzenpfötig. Er hielt den Atem an und hörte, wie Birke gedämpft etwas zu Danda sagte. Du, erklärte ihm seine Tochter mit sicherer Stimme, du, die Mama kann jetzt nicht.

In Momenten wie diesem wünschte Krug seiner Frau den Tod. Sie sollte tot sein, damit er, Krug, sich nicht mehr quälen musste.

Er hasste sie. Doch war es ein Hass, der ihn süchtig nach ihr machte. Krug genoss es jetzt fast, dass Birke ihn zum Verzicht auf das Gespräch gezwungen hatte. Wenn seine Frau ihm nämlich eine Telefonaudienz gewährte, blieb er meist geschädigt zurück. Birkes Stimme klang gelangweilt, unbeteiligt. Also gut, wenn es denn sein muss, telefonieren wir eben. Wie sie ihm jedes Wort zerpflückte, mit Eselsohren versaute. Er, Krug, veränderte nichts an Birke, sie stellte Krug auf den Kopf, spielte mit ihm ihr Verweigerungsspiel. Er soll es büßen. Je einsilbiger Birkes Antworten wurden, umso mehr mühte sich Krug, sie zu einem Bekenntnis zu bringen. Du bist mein Herz, hörst du? Sie schwieg. Krug konnte sehen, wie ihre Mundwinkel sich verspannten, wie sie mit halbem Blick die Fernsehsendung aufzunehmen versuchte, die im Hintergrund zu hören war. Birke hatte Mühe, dort mitzukommen und trotzdem ihm, Krug, zuweilen eine Antwort zu geben. Er hörte es an ihrem Tonfall, wenn sie das Gespräch beenden wollte. Umso verzweifelter wollte Krug es dann weiterführen. Trotzdem lieferte er ihr den Grund für die endgültige Absage, indem er sich beklagte, dass sie zu jedem Penner auf der Straße höflicher sei als zu ihm. Krug kannte schon ihre Antwort: Du treibst mich in die Enge, ich hab keine Lust mehr, mit dir zu streiten. Und Krug legte auf, ihr zuliebe. Wenigstens wollte er Birke jeden Gefallen tun. Er wusste, dass sie für ihn unerreichbar war wie der Mond. Birke wollte sich rächen dafür, dass er, Krug, für kurze Zeit in ihrem Leben bestimmend gewesen war. Dass sie seine Frau gewesen war, sichtbar für alle. Sie brachte es nicht einmal fertig, Krug zu hassen. Warum versuchte er nur so verzweifelt, in ihrem Leben wieder eine Position zu finden? Es gab jüngere, attraktivere Frauen, die, wenn Krug einen guten Tag hatte, gern mit ihm ins Bett gingen. Nur nützte es Krug nichts. Auch nicht, wenn er sich vorzustellen suchte, wie oberflächlich Birke in Wahrheit doch sei. Wie wenig sie ihm, Krug, gegeben habe. In Krugs Augen war sie unfähig, überhaupt jemanden zu lieben. Obwohl sie warmherzig und manchmal geradezu strahlend wirkte, fand Krug Birke selbstzerstörerisch. Sie, die rasch Menschen bezauberte, warf ebenso rasch Menschen wieder weg. So sah es jedenfalls Krug.

Er dachte auch, dass Birke nicht einmal die Kinder liebe. Das Flügelschlagen, das sie vor allem um Mauritz machte, konnte Krug nicht irritieren. Er wusste, dass Birke sich die Kinder immer vom Hals gehalten hatte. Verborgen hinter rastloser Hingabe, mütterlicher Sorge um alles und für nichts verbarg sie Ungeduld, nervöse Verweigerung. Vor allem Danda nahm die Verwöhnung, die fast täglichen größeren und kleinen Geschenke mit der Selbstverständlichkeit der Überfütterten. Ihre stürmischen Umarmungen waren theatralisch und sonst nichts. Danda hatte schon früh ihr tückisches Lächeln, das Krug erschreckte, aber auch amüsierte. Manchmal fehlten ihm die fast täglich provozierten Szenen. Ums Nichtaufräumen, ums Nichtheimkommen, ums Nichtlernen. Ums Nichthaushalten mit dem Geld. Das Toben, Fordern und Türeknallen Dandas, mit dem Birke jetzt alleine war, das fehlte Krug manchmal.

Mauritz, mit seinen achtzehn Jahren elf Monate jünger als Danda, war gefügiger. Scheinbar. Seine Vergeltung lag in der Verweigerung. Durch Zufall hatte Krug erfahren, dass sein Sohn in der Schule lediglich Verwandtenbesuche abstattete. Dass seine Versetzung gefährdet war. Als er Mauritz zur Rede stellte, zuckte der nur mit den Schultern. Was für eine Zukunftsperspektive er denn habe, wollte Krug von seinem Sohn wissen. Mauritz sah Krug erstaunt an. Meine Zukunftsperspektive? Das bist doch wohl du – und Mama, oder? Danda, die dem Gespräch bislang mit ihrem verachtungsvollen Schweigen gefolgt war, mischte sich ein. Wie sollen wir denn gedeihen, Mauritz und ich, wie sollen wir denn bei euch gedeihen? Ihr seid geschieden, ihr seid kaputt. Aus kaputten Beziehungen kommen auch kaputte Kinder, das weiß heute jeder.

Seine Kinder kannten sich aus in der Nomenklatur des Lebens. Krug glaubte sie zu durchschauen. Er glaubte, dass er einer der wenigen Väter sei, die sich von ihren Kindern nicht täuschen und auch nicht enttäuschen ließen. Danda war eine Mistbiene, ein egoistischer Trampel mit einem derart großen Selbst, dass Krug sie manchmal darum beneidete. Ihr Tag bestand aus Forderungen, die sie so rigide eintrieb, dass Krug hinterher immer selber erstaunt war, dass man ihr wieder ihren Willen getan hatte. Das ist mein Recht, ich hab ein Recht darauf, so begannen ihre Argumente. »Ihr seid Kinderkaputtmacher« – das war lange ein Lieblingswort von ihr. Danda konnte als kleines Kind kein F aussprechen, sie setzte stattdessen ein P ein. Gingen Krug oder seine Frau mit ihr über eine Straße, ließ sie sich nicht an der Hand nehmen. Nicht anpassen!, schrie sie so verzweifelt und endgültig, nicht anpassen!, so dass man schließlich eine Dreijährige allein über eine stark befahrene Straße marschieren sah. Ich will nicht gezwiiiingt werden! Das war auch einer von Dandas Schreien. Dabei hatte sie erst sehr spät angefangen mit dem Reden. Offenbar hatte sich ihre Energie auf die Motorik ihres wendigen dünnen Körperchens konzentriert. Danda konnte mit elf Monaten laufen, sie steuerte sich mit strahlendem triumphierendem Lächeln und hocherhobenen Fäustchen durch die Räume, lief rasch und sicher und jagte bald die Kater Alka und Seltzer durch die Wohnung. Sehr früh schob Danda geschickt ihr Hinterteil vor, um die Treppen hinabzusteigen, sie kletterte wie ein Affe an dem Spalier im Garten, sprach aber kein einziges Wort. Gleichaltrige konnten längst Mama und Papa, nein, danke und heiß sagen, Danda nannte alles ging-gang. Und auch das nur, wenn sie einen sanften Tag hatte. Die Nachbarin warnte mit spitzem Zeigefinger. Das Kind muss zum Arzt, das Kind ist vielleicht taub und kann deshalb nicht sprechen. Das leuchtete Krug ein, denn Danda hörte offenbar wirklich nicht, jedenfalls ließ nichts in ihrem Benehmen darauf schließen. Sie tat unbeirrt, was sie tun wollte, egal, ob alle anderen schrien, nein, Danda, das darfst du nicht. Der Arzt stellte fest, dass Dandas Ohren völlig in Ordnung waren, dass die Eltern geduldig abwarten müssten. Irgendwann würde sie schon reden. So war es dann auch. Krug wusste es noch genau: Am 5.Juli 1969, als Birke zum Abendessen rief und sie Danda suchten, geschah es. Krug, der die Tür zum Garten öffnete, sah sie oben auf dem Spalier hocken, in höchst unsicherer Position. Das Gesichtchen ängstlich und tückisch zugleich, hockte sie und hielt sich mit letzter Kraft an einem Ast. Mit ihrem winzigen Lächeln, das Krug ständig signalisierte, dass er an allem schuld sei, stieß Danda hervor: Tomm danz nell. Fassungslos über ihr Sprechen hätte Krug sie fast abstürzen lassen.

Wenn Krug heute daran dachte, bildete er sich ein, dass er schon damals alle seine Niederlagen um Danda vorausgeahnt habe. Dabei konnte sie zärtlich sein. Obgleich diese stürmische Zärtlichkeit Krug nicht selten irritierte. Als Danda ihn zum ersten Mal pinkeln sah, war sie fasziniert und bestand von nun an darauf, jedes Mal dabei zu sein. So musste Krug sich in seinem eigenen Haus auf den Lokus schleichen, um Danda zu entgehen, die sich auch nicht mehr mit Zuschauen begnügte, sondern unbedingt den väterlichen Penis mit Toilettenpapier säubern wollte. Verwehrte Krug ihr das – und er tat das energischer, als er ihre sonstigen Unarten abwehrte–, dann brüllte Danda, dass die Fenster klirrten. Für lange Zeit waren aus diesem Grund Besuche bei Freunden oder Essen in Restaurants nur dann keine Tragödien, wenn Krug vorher seine Blase geleert hatte. Als sie Danda einmal daheim ließen, hatte sie Krugs geliebte Schellackplatten im Wohnzimmer ausgebreitet, um darauf Schlittschuh zu laufen.

Mauritz dagegen mochte gar nicht erst anfangen mit dem Laufen. Er war bereits siebzehn Monate alt und bewegte sich noch immer auf allen vieren. Dies allerdings mit schlangenartiger Eile. Als Krug Freunde mit gleichaltrigen Kindern besuchen wollte, ließ er sich die mangelnde Laufbereitschaft seines Sohnes nicht länger bieten. Er stellte den Kleinen an einem Heizkörper im Esszimmer auf, lehnte ihn dagegen und drohte dem Kind, dass die übrige Familie abreisen und ihn da stehen lassen würde, wenn er jetzt nicht sofort liefe. Wie eine aufgedrehte Puppe lief Mauritz durch die Räume, stumm, ohne auf das Freudengekreisch der übrigen Familie zu reagieren. Mauritz lebte, so sah es jedenfalls Krug heute, innerhalb der sich hin und wieder verändernden Krugschen Welt sein eigenes Leben. Als Neunjähriger nahm er an einem Malwettbewerb der Schule teil. Der hieß: Wie werde ich später meine Kinder erziehen? Mauritz malte einen dickbäuchigen Kühlschrank und einen Riesen-Fernseher. Darunter schrieb er: Meine Kinder dürfen immer an den Kühlschrank, und fernsehen dürfen sie, so viel sie wollen.

Krugs Kampf gegen die Suggestion des Fernsehens war lächerlich. Arglos und gutgläubig, so dass es Krug wütend machte, saßen Danda und Mauritz vor dem Apparat. Kein Zweifel, sie glaubten an das künstliche Leben hinter dem Glas. Krug zog aus seinem schlechten Gewissen nicht die einzig mögliche Konsequenz, selber mit den Kindern zu spielen, ihnen beim Spielen das eigene Leben zu entdecken. Dazu hatte Krug keine Lust. Er musste oft vor sich selber zugeben, dass er seine Kinder aufrichtig liebte, wenn sie abends im Bett lagen. Wenn die Turbulenz des kindlichen Alltags ihn berührte, verschanzte sich Krug hinter Arbeit. Seine Kinder liebten Minigolf. Krug hasste es. Erst als Mauritz es sich zum Geburtstag wünschte, ging er mit, spielte lieblos die Löcher durch.

Heute erschien es Krug manchmal, als habe seine Rolle als Vater vor allem darin bestanden, ständig neue Strategien gegen die Anwesenheit von Danda und Mauritz zu entwickeln.

Krug dachte nicht gern an die Kindheit seiner Kinder. So ungern wie an seine eigene. Es machte ihn wütend, dass sich ständig alles wiederholte. Dass er, Krug, so war, wie er war. Krug wollte durchaus nicht so sein. Er sah um sich herum all die anderen, die ihm glichen. Überall sah Krug bemühte, egoistische Eltern, die alles besser wussten. Die ihre Kinder genau so verbiesterten, wie sie selbst von den Alten verbiestert worden waren. Nur anders. Modern.

Natürlich war es Krug bewusst, dass die Zeit sich geändert hatte, noch niemals hatte sie sich so radikal verändert wie in den letzten vierzig Jahren. Krug verachtete Leute, die ihre Unzulänglichkeiten auf ihre Kindheit zurückführten. Sich selber nahm er davon natürlich aus. Er begegnete seinen Fehlern verständnisvoll. Sein größter Fehler, so glaubte Krug, war Bescheidenheit. Er war zu leise. Darum hörte man nicht auf ihn. Und Cleverness fehlte Krug. Meine Cleverle, sagte die Ressortchefin beim Süddeutschen Rundfunk, meine Cleverle schreiben einen neuen Vorspann für ihre Geschichte, die sie schon einem anderen Sender verkauft haben, und so kriegen sie das volle Honorar noch mal. Krug war nicht clever, seine Geschichten blieben im Archiv. Krug wusste, dass er unfähig war, sein Genie, an dem er durchaus nicht zweifelte, zu Geld zu machen. Krug sah sich als Antipode etwa des New Yorker Bauunternehmers Donald Trump, der sich mit einem Projekt namens Television City ein Denkmal setzen wollte. 8000Luxuswohnungen für die reichsten Leute der Welt hatte Trump in seinem T.C. geplant. Donald Trump hätte dann einen Riesenspiegel für seine Übermenschengröße. Er, Krug, fand bequem in einem Taschenspiegel Platz. Wie gut, dass er nicht angewiesen war auf gigantische Leistungen, auf spektakuläre Erfolge, auf Prominenz. Er, Krug, glaubte, dass er Nichterfolg für das Besondere halte. Trotzdem ärgerte er sich manchmal, dass er bislang nicht einmal etwas gewagt hatte. Doch was könnte er wagen? Ein skandalöses Hörspiel schreiben? Lächerlich, es käme über den Schreibtisch des Redakteurs nicht hinaus.

Immerhin war Krug heute mit der Arbeit vorangekommen. Zwei Szenen seines neuen Hörspiels erschienen ihm brauchbar. Er musste achtgeben, dass ihm die Hauptfigur, der Kaiser von China, nicht zu emotional geriet. Er soll frivol sein und in den Dialogen Sieger. Krug fiel es schwer, das darzustellen, denn er war immer in Verlierer verliebt.

Manchmal hielt Krug es kaum noch aus mit sich. Eines Tages hatte er, dem Rat seines Freundes, des Schriftstellers, folgend, beschlossen, sich komisch zu finden. Ärgere dich nicht, sondern finde dich komisch – hatte Wolfgang gesagt. Auf diese Weise kam Krug besser aus mit sich, wurde aber auch allzu nachsichtig. Vor allem, was seine Arbeitsenergie betraf, hatte Krug es bis zur Meisterschaft gebracht, sich immer wieder vor sich selbst zu entschuldigen, sich von einem Tag auf den anderen zu vertrösten. Schließlich rückte der Abgabetermin für sein Manuskript bedrohlich näher. Dabei hatte er sich so viel Zeit nehmen wollen für dieses Hörspiel. An dem Tag, als Dr.Henschel Krug anrief und ihm den Zuschlag für den Kaiser von China gab, hatte Krug sich vorgenommen, diese Arbeit endlich einmal in Ruhe zu erledigen. Denn Dr.Henschel, der Leiter der Hörspiel-Abteilung, war von Krugs Exposé eingenommen gewesen. »Krug«, hatte Henschel gesagt, »Krug, endlich mal kein Gesülze über die böse Gesellschaft, mal nicht über den bösen Boss, mal nichts über die böse Ehefrau abgelaicht! Kaiser von China, Gott sei Dank, Krug. Ein Hörspiel im alten Stil haben Sie mir versprochen, endlich. Dafür kriegen Sie auch 90Sendeminuten, wenn Sie wollen. Und das Honorar bei Ablieferung, Krug, dafür sorge ich. Aber ich sehe es auch pünktlich zum 1.Oktober, ich verlass mich drauf.«

Krug wollte nicht nur diesen Termin halten, er wollte auch seinen Kaiser von China mit aller Sorgfalt schreiben. Seine zahlreichen Hörspiele, besonders aber Issima und Issimo, Der schöne Plusquamperfekt, Störe mich, Liebe und Anhänger schert aus, hatte er alle nahezu fahrlässig heruntergefetzt. Meist, wenn er mit Birke und den Kindern in Urlaub war. Jedes Manuskript hatte seine eigene Auf-die-letzte-Minute-Verdrängungsgeschichte. Birkes Augenrollen und Stöhnen, das Murren der Kinder. Immer musst du schreiben, sogar im Urlaub. Krug hatte es seiner Familie beigebracht, ihn in Ruhe zu lassen. Aber er ließ seinerseits seine Familie nicht in Ruhe. Belauerte ihr Kommen und Gehen. Wollte Anteil haben und das dann lästig finden.

Krugs Arbeitswut war immer dann am lebhaftesten, wenn er weiter entfernt war von seinem Schreibtisch. Oder wenn jemand zu Besuch kam. Krug sprach dann derart penetrant von den ihn bedrängenden Terminen, dass die Besucher sich entschuldigten und fortgingen. Birke und die Kinder mieden seinen Schreibtisch, und er saß schließlich allein da, blieb aber untätig, bis ihn wieder ein Familienmitglied störte und dadurch seinen Schreibwunsch heftig entfachte. Auf diese Weise konnte es geschehen, dass Krug sich wochenlang subjektiv am Schreiben gehindert fühlte und mit seinen Abgabeterminen in die größte Bedrängnis geriet. Spätabends ging er zerquält und unzufrieden mit sich zu Bett. Schon wieder ein Tag, an dem nichts geschafft war. Dann erwachte er oftmals aus Träumen, in denen er schlecht oder unvollständig angezogen bei offiziellen Anlässen zum Gespött wurde. In diesem Gefühl tiefer Scham vermochte Krug meist nicht mehr weiterzuschlafen. Wenigstens das hatte er zu akzeptieren gelernt. Mit schmerzendem Kopf und knurrendem Magen setzte Krug sich dann an die Schreibmaschine. Rollläden verwehrten ihm den gewohnten Ausblick aus seinem Fenster. Mit Rücksicht auf den Schlaf der anderen zog er die ihm die Sicht begrenzenden Holzlatten nicht herauf. Sich in jeder Weise der Familie aufopfernd (für wen musste er denn schreibend Geld verdienen?), gelang es Krug schließlich, das längst überfällige Hörspiel doch noch fertigzustellen oder den Artikel über den österreichischen Schriftsteller, den eine Zeitschrift in Auftrag gegeben hatte. Am Abend werden die Faulen fleißig, sagte Krugs Mutter, und der Krug sattsam bekannte Spruch ärgerte ihn umso heftiger, je unproduktiver er sich selber fand.

Jedes Mal, wenn Birke oder eines der Kinder, seine Mütter oder – schlimmer noch – alle gemeinsam das Haus verließen, wenn Krug ihnen aus seinem Fenster nachsah, wie sie das Gartentor öffneten, dann war es Krug, als gingen sie in ein Leben, das ihm versperrt war. Umso heftiger versuchte er dann, sich in dieses Leben, von dem er glaubte, dass es ihm zu entkommen drohte, wieder einzufädeln. Er verfiel dem Feuilleton einer Wochenzeitschrift und las Erinnerungen an Uwe Johnson, die ihn wiederum dazu verführten, dessen Roman Mutmaßungen über Jakob hervorzuholen; den liebte er besonders. Vielleicht, weil Jakob, Rangierer bei der Reichsbahn, in einer Welt lebte, die Krug aus seiner Kindheit gekannt hatte, in die Krug jedoch nur noch in seinen Träumen zurückkehren konnte. Eine Welt schimmernder Bahngleise, geheimnisvoll funktionierender Signallampen, heranrasender Lokomotiven. So wie Jakob war Krug mit seinem Großvater oft still unter einem grün leuchtenden Signalmast gestanden, verdeckt von der Donnerwand eines ausfahrenden Schnellzugs. Krug hörte den Lautsprecher: »Wird Zug drei-zwo-null angenommen? Ich wiederhole: Wird Zug drei-zwo-null angenommen?« Es hatte Krug als Kind jedes Mal mit Stolz erfüllt, wenn sein Großvater das Mikrofon einschaltete und durchsagte: »Drei-zwo-null bitte annehmen auf Gleis vierzehn.«

Nur mühsam konnte Krug sich losmachen von den Gedanken des Erzählers, von Jakob, der den gleichen Beruf hatte wie Krugs Großvater. Als er Mutmaßungen über Jakob ins Regal zurückstellte, fiel ihm Emily Brontë in die Hände, und er las zum soundsovielten Male in Sturmhöhen, bis ihm vor Spannung und Sichsträuben gegen diese Spannung ganz übel wurde. Was Krug auch las, es führte ihn so weit hinein in ein anderes Leben, dass er kaum ins eigene zurückfand. Krug kämpfte zäh gegen seine Umgebung, die seiner Arbeit feindlich war. Wenn ihn die Menschen, die mit ihm lebten, allein ließen, stürzten sich die Bücher auf Krug. Aber auch Zeitschriften, die er hortete. Alles schien ihm gleichermaßen spannend, zog ihn magnetisch an. Hatte Krug es geschafft, dem Geschriebenen abzusagen, verfiel er nicht selten dem Fernsehen. Unter dem Vorwand, wenigstens das Neueste vom Tage erfahren zu wollen, schaltete sich Krug von einem Programm ins andere, um schließlich vor einer Dokumentation über den deutschen Wald im vierzehnten Jahrhundert sitzen zu bleiben. Hörte Krug dann, dass jemand die Haustür öffnete, stellte er in Panik den Fernsehapparat ab und floh an seine Schreibmaschine, auf der er eiligst einen Satz heruntertippte, den er für solche Situationen bereits seit Jahren parat hatte: Wenn das Paket nicht zugestellt werden kann, bitte ich Sie, mir eine Unzustellbarkeitsmeldung zuzusenden. Diesen Satz konnte Krug jederzeit auf der Schreibmaschine herunterrasseln und so den Eindruck eines vollen Schreibflusses herstellen.

Wenn es Krug nicht gelang, vor seiner ihn quälenden Untätigkeit in Bücher oder vor den Fernseher zu flüchten, hatte er immer noch das Telefon. Er las sein privates Telefonbuch von A nach Z und rief Freunde und Bekannte an, die auf diesen Anruf natürlich völlig unvorbereitet waren und sich für Krugs Nöte auch nicht jedes Mal erwärmen konnten. Doch Krug wäre sicherlich immer mal wieder etwas wahnsinnig geworden, wenn er nicht die Möglichkeit gesucht hätte, diesem und jenem zu erzählen, dass er, Krug, nicht schreiben könne. Ich weiß nichts und ich kann nichts, sagte er einmal völlig aufrichtig und verzweifelt zu seinem Freund Herbert. Herbert war Chefreporter einer großen Tageszeitung, einer der wenigen Journalisten, die Krug bewunderte. Manchmal sogar beneidete. Krug las Herberts Reportagen und wünschte sich, er hätte sie selbst geschrieben, denn Herbert besaß Urteilsvermögen aus Kenntnis der politischen Situation, dazu Stil. Er kam Politikern, Wirtschaftsmultis oder Playmates gleichermaßen neugierig auf die Spur, er verleitete seine Leser unaufdringlich zum Nachdenken. Allein das hob ihn vom Zeitgeist-Journalismus ab. Und Herbert war auch meistens bereit, Krug aus seinen häufigen Tiefs herauszuhelfen. Aber diesmal hatte Krug Herbert offenbar in einer Stresssituation angerufen. Denn als Krug Herbert mitteilen wollte, dass er, Krug, ein Nichts sei, eine Null, schrie Herbert in den Hörer: »Dann schreib doch, bitte, wie ein Nichts! Eine Null muss schließlich nichts beweisen.«

Das erinnerte Krug an ein Gespräch, das er neulich mit einer Schauspielerin geführt hatte. Sie schwärmte von einem Regisseur, mit dem zu arbeiten ihr alles bedeute. Als es ihr einmal richtig schlecht gegangen sei, als sie geglaubt habe, nicht mehr arbeiten zu können, da habe dieser Regisseur ruhig zu ihr gesagt: Benutze es.

Ein psychologisch kluger Weg, den Krug schon gehen würde. Einer Schauspielerin war es sicher möglich, Müdigkeit, quälende Unsicherheit, unbestimmte Trauer, das Gefühl des Nichtskönnens, des Nichtsseins, in eine Rolle hineinzutragen. In die der Maria Stuart vielleicht oder in die der Lotte aus Remscheid-Lennep von Botho Strauß. Doch wie sollte er, Krug, seine Schwäche in seinen Kaiser von China hineinschreiben, wenn er sich nicht einmal an die Schreibmaschine bewegen, abkommandieren konnte. Es war ihm, als griffen das Haus, die Morgenzeitung, der Briefträger, als griffe alles nach ihm, Krug, und hielte ihn vom Schreiben zurück. Allein die Post. Krug hörte schon, wenn der Briefträger die Klappe des Nachbarpostkastens zurückfallen ließ. Ein optimistisches Geräusch. Krug nahm aus der Hand des stets gebräunten, mit federnden Schritten sein Fahrrad schiebenden Postboten ein meist umfangreiches Bündel Post entgegen. Jedes Mal ein Versprechen, von dem in der Regel nur ein Haufen zerknülltes Papier übrig blieb. Immer mehr Briefe waren für Sharon. Krug mühte sich, nur auf die Adresse zu schauen, doch entging ihm nicht, dass neben Behördlichem häufig große Umschläge von feinstem Papier darunter waren, in der Schweiz abgestempelt. Sharons Großindustrieller. Der Name hinten auf dem Umschlag stand für Großindustrie, Bildersammlungen, Ländereien, auch wohl für Ehescheidungen, wenn Krug recht informiert war. Als Krug zum ersten Mal unweit des Hauses den flachen anthrazitfarbenen Sportwagen gesehen hatte, ein ihm unbekanntes Fabrikat, von dem ihm Mauritz (Mönsch, hast du den Schlitten gesehen) alle Einzelheiten mit ungewohntem Temperament erklärte, damals hatte Krug dies Gefährt sofort mit Sharon in Zusammenhang gebracht.

Sharon. Seit drei Monaten wohnte sie in Krugs Haus. Und in Krugs Hirn. So, wie das Haus sich zu verändern schien, seit Sharon da war, so veränderten sich auch die übrigen Bewohner. Jedenfalls schien es Krug, als seien seine Mütter verändert. Sie gaben sich zwar den Anschein, als bedeute es ihnen gar nichts, dass Sharon aus Israel kam, dass sie Jüdin war und in einem Nachtclub tanzte. Vielleicht wiesen sie noch abrupter als früher die forschenden Fragen Dandas und Mauritz’ ab, die sie naseweis und respektlos nannten. Sharon hingegen begegneten sie mit geradezu beflissener Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.

Sharons Existenz war auch für Birke Anlass, häufiger als früher in dem Haus zu verkehren, das sie seit ihrem Auszug möglichst gemieden hatte. Birke war ohnehin auf Menschen neugierig, doch für Sharon interessierte sie sich in besonderer Weise. Krug dachte manchmal, dass Birke in Sharon alles das sehe, was sie, Birke, niemals hatte sein können. Auch Danda bekam offenbar nicht genug zu sehen und zu hören von Sharon. Sie war nur wenig älter als Danda, knapp ein Jahr, doch sie hatte in Israel in der Armee gedient und war bald darauf nach Deutschland gekommen. Sharons Vorfahren waren deutsche Juden. Die Großmutter hatte ihr so viel von ihrer Heimat erzählt, dass Sharon irgendwann den Entschluss gefasst hatte, nach Deutschland zu gehen. Mauritz, der im nächsten Jahr Abitur machte und bereits für die Bundeswehr gemustert war, wollte von Sharon wissen, wie die Zahal, die israelische Armee, aufgebaut sei. Auch Danda sah Sharon im Panzer in der West Bank, mit anderen Rekruten im Jeep durch Palästinensersiedlungen fahren oder in Flüchtlingslagern patrouillieren. Und diese Frau, die mit dem Gewehr und mit Handgranaten umgehen konnte, tanzte hier in einer Bar auf der Bühne. Statt der khakifarbenen Uniform trug sie nur ihre Haut, zum Anfassen nah den Männern, die von der Straße kamen und dreißig Mark für ein Glas Champagner zahlen konnten. Für Danda und Mauritz, beide noch Gymnasiasten, war Sharon eine unfassbare Existenz, die sie faszinierte. Darin war sich die Familie Krug ausnahmsweise einig.

Ein Wunder von einer Frau. Krug hatte diese Formulierung gefunden, spontan, sie genügte ihm nicht, er fand sie ärgerlich klischeehaft, doch sie war nun mal da. Es war typisch für Krug, dass er seine Wunder nicht selten den Niederungen seines Berufsstandes verdankte.

Aufgeschreckt vom Minussaldo seines Kontos, ermahnt durch die bienenfleißige Existenz seines Steuerberaters, hatte Krug eingewilligt, für eine Boulevardzeitung der Stadt deren Nachtleben zu beschreiben. Krug hatte es alle Jahre wieder beschrieben. Es bedeutete schnelles Geld. Gemeinsam mit Bert Bertrams, dem Fotografen, fuhr Krug eines Abends los. Im Porsche Bertrams’ zogen sie die Blicke noch kleinerer Existenzen auf sich.

Der Fotograf Bert Bertrams, der zu der Zeit, als er seine Mutter von ihren Putzstellen abholte, noch Berthold Umlauft hieß, fotografierte für die Gesellschaftsspalten der Zeitung alles, was sich in der Stadt dazu drängte. Stadträte, Industrielle, Feinkosthändler, Schauspieler, echte und falsche Konsuln, Schneider, Friseure. Bert Bertrams richtete seinen Blitz auf sie und gab jedem für Sekunden Identität. Er wurde von der Zeitung bezahlt und nicht selten auch von den Geblitzten, die er verachtete. Doch Bertrams verachtete auch Krug, den Feinen, Gebildeten, Dünnhäutigen, der doch die Begabung gehabt hätte, sich ebenfalls dumm und dämlich zu verdienen. Warum machte der es nicht wie andere? Schrieb für Millionen und pfiff auf die Feuilletons? Bertrams sah Krug an, der gerade die Batterien in seinem Rekorder auswechselte. Hat einen guten Kopf, dachte Bertrams, Typ leidender Christus, sehr hohe Stirn, lange schmale Nase, kleiner weicher Mund. Zu weich, dachte Bertrams, zu viele Skrupel, zu wenig Power. Hörspiele schrieb er. Mein Gott, da sitzt der ein halbes Jahr und schreibt und kriegt dann siebentausend. Tausend im Monat brutto. Dem ist nicht zu helfen. Dafür würde er, Bertrams, die Kamera nicht in die Hand nehmen. Da hatte er andere Tarife. Ein Thema durchfotografiert für den Playboy, andere Magazine zogen nach, die Tageszeitungen sowieso, vielleicht sogar noch Foto-Annuells und Ausstellungen – mit den Pfunden wuchern, aus einer Arbeit zigfach Honorar rausschinden – nur so lief es. Man musste bloß die Nerven behalten.