Dieter Henrichs Theorie der Subjektivität - Holger Gutschmidt - E-Book

Dieter Henrichs Theorie der Subjektivität E-Book

Holger Gutschmidt

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Beschreibung

Dieter Henrich (1927–2022) war einer der einflussreichsten Philosophen der deutschen Nachkriegszeit. Im Zentrum seines umfangreichen Werks – selbst dort, wo es nicht ausdrücklich verhandelt wird – steht die Theorie des Selbstbewusstseins und der menschlichen Subjektivität. Henrich hat in mehr als sechzig Jahren in einer Fülle von Texten an den damit verbundenen Fragen gearbeitet. Doch wegen der Komplexität und Vielfalt dieser Arbeiten sowie der Tatsache, dass Henrich kaum je einen Überblick über seine Theorie vorgelegt hat, sind vielen Lesern die Zusammenhänge bisher unklar geblieben. Dazu kommt, dass sich seine Theorie im Laufe der Zeit erheblich gewandelt hat. Holger Gutschmidts Einführung in Henrichs Selbstbewusstseinstheorie(n) analysiert die Entwicklung von Henrichs Position von den Anfängen an. Sie behandelt wichtige Einflüsse auf Henrichs Lehre und geht auf zentrale Diskussionen seiner Thesen ein. Gutschmidt zeigt darüber hinaus auch die Grenzen und Schwierigkeiten von Henrichs verschiedenen Ansätzen. Trotz mancher Versuche, Henrichs Werk im Zusammenhang darzustellen und zu diskutieren, ist dies bisher nirgendwo so vollständig, konzise und transparent gelungen wie in dieser Einführung. Sie ist auch solchen Lesern zu empfehlen, die, obwohl an den Sachfragen interessiert, mit Henrichs Werk bisher keine große Berührung hatten.

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Holger Gutschmidt

Dieter Henrichs Theorie der Subjektivität

Analyse ihrer Entwicklung

Meiner

Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik herausgegeben und entstand im Rahmen der Forschung des Institutes für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag (Forschungsgruppe für neuzeitliche Rationalität) (RVO 67985955).

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4602-8

eISBN (ePub) 978-3-7873-4603-5

© Holger Gutschmidt, Institut für Philosophie, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik.

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2024. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Vorwort

Siglen

1. Einleitung: Zu Dieter Henrichs Begriff der Philosophie

2. Frühe Selbstbewußtseinstheorie

2.1 Problemexposition mit Johann Gottlieb Fichte (1966)

2.2 Eigene Entwürfe zu einer Erklärung von Selbstbewußtsein (siebziger Jahre)

2.3 Zwei Quellen der frühen Theorie des Selbstbewußtseins

3. Neukonzeption der Theorie des Subjekts nach 1980

3.1 Scheitern der frühen Entwürfe

3.2 Subjektivität im »Grundverhältnis«

3.3 Methodische Auswirkungen der Neukonzeption der Theorie des Subjekts

3.4 Ernst Tugendhats semantische Kritik und Henrichs Widerlegung [Exkurs]

3.5 Theorie des Subjekts und Kant-Interpretation

4. Weiterführung der Neukonzeption der achtziger Jahre

5. Selbstbewußtseinsphilosophie und Sinntheorie – Anmerkungen zu Dieter Henrich

Anhang

1. Notiz zur »Heidelberger Schule«

2. In Memoriam Dieter Henrich

Anmerkungen

Namen- und Sachregister

Vorwort

Dieter Henrich war einer der bedeutendsten deutschen Philosophen seit dem Zweiten Weltkrieg. Er hat in siebzig Jahren ein umfangreiches Werk von mehreren Dutzend Büchern und Hunderten von Aufsätzen und Abhandlungen geschaffen. Darüber hinaus ist eine ganze Reihe seiner Schüler selbst zu erfolgreichen Akademikern geworden. Bekannt war Henrich schon in den fünfziger und sechziger Jahren durch seine eindringlichen Analysen zur neuzeitlichen Philosophie, insbesondere im Zusammenhang mit der Erforschung von Kants Theorie des Erkenntnissubjekts und der damit verbundenen Metaphysik sowie (später) Hegels Theorie des Begriffs. Solche Forschungen haben ihm auch früh (1960) einen philosophischen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin eingebracht. Von 1965 an hat er dann als Professor in Heidelberg gewirkt, eine Zeit, in der er zentrale systematische Positionen zu einer modernen Subjektivitätstheorie ausarbeitete. Seit 1981 bis zu seiner Emeritierung 1994 ist er schließlich Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gewesen und hat sich dort vor allem philosophiehistorischen und editorischen Arbeiten gewidmet. In dieser Zeit äußerte er sich auch verstärkt öffentlich zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie dem nuklearen Frieden, der deutschen Einheit oder der Situation an den Universitäten in Deutschland.

Einer seiner wissenschaftlichen Schwerpunkte – auch im Blick auf eine umfassende Theorie des Menschen und seines Weltbezuges – ist die bereits genannte systematische Theorie des Subjekts. Sie hat er in ständigem Dialog mit Konzeptionen der sog. »klassischen deutschen Philosophie« entwickelt, d. h. der deutschen Philosophie zwischen dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft und dem Tode Hegels, doch dazu auch früh eigene systematische Studien, die wichtige phänomenologische und sprachanalytische Einsichten aufgriffen, veröffentlicht. Bis in die letzten Jahre hat er in immer neuen Ansätzen und Weiterführungen an dieser Theorie gearbeitet. Von ihr aus haben sich nicht nur Neuinterpretationen der philosophischen Klassiker ergeben, sondern auch Überlegungen zur Ästhetik, zum philosophischen Menschenbild, zur Ethik und zur Lebenspraxis insgesamt. Selbst zum Verständnis bedeutender Dichterphilosophen, vor allem Friedrich Hölderlins, konnte Henrich aus dieser Perspektive einiges beitragen. Henrichs Theorie des Subjekts ist zwar besonders wirkungsmächtig in der Philosophie, wirkt aber auch in der Theologie, der Literaturwissenschaft, der Kulturtheorie und sogar der Psychiatrie.

Die folgende Einführung widmet sich diesem zentralen Aspekt seines philosophischen Werks, seiner Theorie des Selbstbewußtseins und der menschlichen Subjektivität. Ihr Hauptziel ist es, einen Leitfaden für das Verständnis und für die Auseinandersetzung mit dieser Theorie anzubieten. Sinnvoll ist ein solches Ziel deshalb, weil Henrich seine Überlegungen hierzu in verschiedenen Texten recht unterschiedlicher Art entwickelt hat, deren Erscheinen sich darüber hinaus über mehr als sechzig Jahre Veröffentlichungstätigkeit erstreckt. Hinzu kommt eine Besonderheit von Henrichs Arbeiten: Er argumentiert in ihnen fast immer von speziellen Fragen oder konkreten Problemstellungen aus, so daß seine theoretischen Ausgangspunkte in der Regel nur ausschnitthaft, in ihrer Relevanz für das jeweilige Thema, das er diskutiert, vorgetragen werden. Es gibt kein Werk aus Henrichs Feder, das seine Theorie der Subjektivität vollständig ausgearbeitet enthält, und nur wenige, in denen wenigstens die Grundzüge dieser Theorie vorgestellt werden. Auch ändert sich der Blickwinkel, mit dem Henrich auf seine eigene Theorie schaut, je nach Themenstellung, so daß kaum eine Darstellung einer anderen völlig entspricht. Dies betrifft teilweise sogar die von Henrich jeweils gebrauchte Terminologie.

Schließlich ist noch ein weiterer Gesichtspunkt zu beachten. Henrichs Auffassungen zum Fragenkomplex von Selbstbewußtsein und Subjektivität haben sich im Laufe der Jahre erheblich geändert. Das betrifft sowohl die Weise, wie Henrich Selbstbewußtsein analysiert, als auch die Zielrichtung des ganzen Projekts. Nicht allen Lesern von Henrichs Texten dürfte dies vor Augen stehen. Deshalb erschien es dem Verfasser sinnvoll, Henrichs Theorie in ihrer Entwicklung vorzustellen und es dem Leser so zu ermöglichen, die engeren Kontexte der Entstehung seiner Arbeiten zu berücksichtigen. Das bedeutet nicht, daß Henrichs frühere Texte als »veraltet« anzusehen wären. In fast allen seinen Texten zu diesem Themengebiet sind wichtige Einsichten und Argumente herausgearbeitet, die auch in späteren Theoriestufen Bedeutung besitzen oder unabhängig davon Beachtung verdienen. Doch Methodik und leitende Fragestellungen haben sich gewandelt, so daß sich nicht alle Positionen, die Henrich im Laufe der Zeit vertreten hat, miteinander harmonisieren lassen.

Die Theorie des Subjekts ist, wie gesagt, nur ein Aspekt von Henrichs Œuvre, und die vorliegende Arbeit strebt keine Einführung in sein ganzes philosophisches Werk an. Dazu hätte sie auch Henrichs kunst- und moralphilosophischen Arbeiten zu berücksichtigen gehabt, ferner seine hermeneutische Konzeption (insbesondere die Theorie der »Konstellationen«) sowie seine philosophiegeschichtlichen Studien im engeren Sinne (vor allem aus dem sogenannten »Jena-Programm«). Da die Subjektivitätstheorie jedoch den zentralen Aspekt von Henrichs philosophischem Werk darstellt, welcher auch für dessen übrige Teile große Bedeutung besitzt, ist zu hoffen, daß auch diejenigen Leser, die an jenen Themen besonderes Interesse nehmen, die vorliegende Arbeit mit Gewinn lesen werden. – Ebensowenig ist hier eine philosophische Biographie Henrichs angestrebt. Er selbst hat eine solche kurz vor seinem Tod (2021) in Gestalt eines Gesprächsbandes vorgelegt.1 Vielmehr versteht diese Arbeit sich vor allem als ein Werk der Orientierung, das es erlaubt, sich in Henrichs verzweigtem Gedankengebäude zurechtzufinden und es fruchtbar zu rezipieren. Dem dient schließlich auch der Versuch, die Darstellung auf der einen Seite so konzise, auf der anderen Seite so klar und faßlich wie möglich zu halten. Henrichs eigene Diktion ist zuweilen von bemerkenswerter Dichte (insbesondere in den frühen Arbeiten), kann aber auch in eine epische Breite und Unbestimmtheit münden. Da beides hier vermieden werden sollte, konzentriert sich diese Arbeit auf die Theorieentwicklung im engeren Sinn und erwähnt oder diskutiert andere Autoren nur ausnahmsweise. Eine umfassende Einordnung von Henrichs Theorien wie auch eine abschließende Bewertung sind derzeit, da ihr Urheber bis vor kurzem noch, obgleich schon hochbetagt, weiter daran gearbeitet hat, kaum möglich. Sie werden einer späteren Zeit vorbehalten sein.

Die Anregung zu dieser Studie erhielt der Verfasser vor Jahrzehnten, im Dezember 1997, durch einen Besuch Henrichs am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen. Henrich nahm dort an einem der mehrtägigen Göttinger Philosophischen Kolloquien teil, die von Studenten organisiert wurden und zu denen sie jeweils bedeutende Gegenwartsphilosophen einluden, um mit ihnen über deren Werk zu diskutieren. 1997 war das Kolloquium Henrichs Arbeiten gewidmet. Es wurde von zwei ehemaligen Schülern Henrichs, Konrad Cramer und Jürgen Stolzenberg, betreut. Der Verfasser, der diesem Kolloquium beiwohnte, nutzte die Gelegenheit, sich in das schon zum damaligen Zeitpunkt umfangreiche Werk Henrichs einzuarbeiten. Doch da Dieter Henrich während der letzten 25 Jahre immer weiter daran gearbeitet und immer neue Texte dazu veröffentlicht hat, wurde das geplante Vorhaben wieder zur Seite gelegt. Erst eine Einladung zu dem im Juli 2020 am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) von Manfred Frank und Jan Kuneš organisierten Autorenkolloquium Dieter Henrichs Theorie(n) des Selbstbewusstseins im interdisziplinären Kontext, zu dem der Verfasser über Henrichs frühe Selbstbewußtseinstheorie vortrug, brachte ihm das Projekt erneut nahe.2 Dabei zeigte sich bei der Vorbereitung seines Beitrages, daß immer noch ein erheblicher Bedarf an einer solchen Einführung besteht. Ihre Ausarbeitung konnte aufgrund des vorhandenen Materials und des begrenzten Zwecks dann rasch erfolgen (v. a. im Sommer 2022). Einige Seiten des auf dem ZiF-Kolloquium vorgetragenen Textes »Die frühe Selbstbewusstseinstheorie Dieter Henrichs. Mit einem Ausblick auf die weitere Entwicklung« wurden dafür in leicht überarbeiteter und erweiterter Form aufgenommen (in den Abschnitten 2.1 und 2.2).3 Das Übrige ist original verfaßt.

Manfred Frank und Jan Kuneš hat der Verfasser an dieser Stelle für die Gelegenheit zum Vortrag noch einmal zu danken, letzterem darüber hinaus auch für die vielen Gespräche, die er und der Verfasser seit Jahren über Dieter Henrichs Werk führen. Ein Dank geht schließlich auch an Stefan Lang und Gerhard Preyer für fruchtbaren Austausch.

Siglen

Für einige Texte werden, insbesondere in Abschnitten, in denen sie häufig zitiert sind, Abkürzungen gebraucht. Diese Abkürzungen sind im Textverlauf eingeführt (siehe dazu unten die Verweise auf die entsprechenden Anmerkungen in eckigen Klammern).

DS

Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität [Anm. 30]

FL

Fluchtlinien. Philosophische Essays [Anm. 12]

FuE

»Fichtes ursprüngliche Einsicht« [Anm. 16]

IuO

Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion [Anm. 77]

KE

»Selbstbewußtsein – Kritische Einleitung in eine Theorie« [Anm. 16]

NiZ

»Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein« [Anm. 68]

SB

»Selbstsein und Bewußtsein« [Anm. 16]

1. Einleitung

Zu Dieter Henrichs Begriff der Philosophie

Henrichs Theorie des Subjekts nährt sich aus verschiedenen Quellen. Da sind zum einen die Probleme und Fragen, die sich im Umkreis der Kantischen und nachkantischen Subjektphilosophien ergaben und denen Henrich als Interpret solcher Theorien nachgegangen ist. Einige von ihnen hat er bereits in seinen ersten philosophischen Arbeiten, wie etwa den für seine eigene Theorieentwicklung wichtigen Abhandlungen »Über die Einheit der Subjektivität« (1955) oder »Über System und Methode in Cramers deduktiver Monadologie« (1958) – die beide in der Philosophischen Rundschau erschienen –, behandelt. Seither hat er immer wieder wichtige, für sein eigenes Denken zentrale Theorieelemente in der Auseinandersetzung mit Autoren der sog. »klassischen deutschen Philosophie«, wie Fichte, Hegel, Hölderlin, Jacobi oder Reinhold, entwickelt und erprobt.4 Er hat sich auf solche Theorien auch deshalb schon früh eingelassen, weil sie ihm als die beste Unterstützung bei der Erforschung eines Problemfeldes erschienen, das bisher noch kaum bearbeitet war. Zugleich zeigten sich aber auch bereits die Grenzen der idealistischen Zugänge zum Phänomen des Selbstbewußtseins. Henrich äußert sich zu seiner Ausgangslage im Rückblick:5

Ich ging […] von der These aus: Wir wissen gar nicht, was eigentlich Selbstbewusstsein ist, zumindest nicht, wie ein begreifender und erschließender Zugang zu ihm von einem anderen oder von irgendeiner Begriffsform her zu gewinnen ist. Schließt man aber an die moderne Philosophie an, die von ihm als ihrem Prinzip ausgegangen war, dann befindet man sich wiederum auf einem unerkundeten Boden, von dem aus man dennoch seine Orientierung zu gewinnen hat. Und so habe ich mit einigem Erfolg in Deutschland versucht, deutlich zu machen, dass das schon allein deshalb ein philosophisches Thema ausmacht, weil es a) fundamental ist und b) nie angemessen thematisiert wurde. So ging es auch darum zu zeigen, dass weder Kant noch Fichte noch auch Hegel das Thema etwa erschöpft haben. Zwar brachten sie es in den Fokus, haben aber gleichzeitig das philosophische Potential, das in ihm gelegen ist, in eine Richtung geleitet, die zur Folge hatte, dass man sich von ihnen [sic!] abgewendet hat.

Zudem wurde Henrich schon als junger Mensch auf die Dynamik des »bewußten Lebens« mit seinen gegenläufigen Tendenzen aufmerksam. Dies zeigte sich zum einen biographisch, in den ersten Erfahrungen von Geborgenheit und Ausgeliefertsein, die sich nicht religiös auflösen ließen.6 Zum anderen zeigte es sich aber auch am Beginn seines Studiums in der Faszination, mit der er auf die »Antithetik« verschiedener, anscheinend gleichwertiger und gleichmöglicher Theorien der Wirklichkeit »auf ein Ganzes hin« reagierte.7 Die kritische Befassung mit solchen Theorien versprach einerseits eine »große Erweiterung des [geistigen] Horizonts«8 und nährte andererseits die Hoffnung auf einen Verständnisrahmen, in dem sich auch die je eigene Subjektivität begreifen und einordnen ließ. Henrich sollte später den Eigentümlichkeiten des »bewußten Lebens« und ihrer Verwurzelung in der Struktur der Subjektivität mit eigenen Arbeiten nachgehen und sich hierbei auch verschiedentlich auf die Positionen und Analysen großer philosophischer Dichter wie Friedrich Hölderlin oder Samuel Beckett beziehen.

Schließlich ist noch Dieter Henrichs Philosophiebegriff zu nennen. Er ist für die folgenden Erörterungen von erheblicher Bedeutung, da er die Grundlagen von Henrichs Überlegungen zu den Fragen und Problemen von Selbstbewußtsein und Subjektivität im Rahmen systematischen Denkens darlegt. Obgleich auch sein Philosophiebegriff zum Teil erst das Resultat der langjährigen Forschungen Henrichs auf dem Weg zu einer eigenen Grundlegungstheorie ist, bezeichnet er doch auch Überzeugungen, die Henrich früh geleitet haben.

An verschiedenen Stellen seines Werkes hat Henrich Methodik, Gestalt und Zuschnitt einer Philosophie angesprochen, die einerseits die theoretischen Herausforderungen einer Theorie des Subjekts bewältigen kann, andererseits aber auch den aus seiner Subjektivität erwachsenden Orientierungsaufgaben des Menschen gerecht zu werden vermag. Letzteres soll dann besonders in seinen Arbeiten zum »spekulativen Denken« geleistet werden. Allerdings setzen diese bereits seine Analysen und Positionen zum menschlichen Selbstsein voraus. In einer weniger voraussetzungsreichen Weise hat Henrich in dem Aufsatz »Die Philosophie im Prozeß der Kultur – Überlegungen im Blick auf Deutschland«9 von seinem Verständnis von Philosophie gehandelt.

Henrich unterscheidet dort zwei Typen der Philosophie, die auch zu unterschiedlichen Formen des Philosophierens führen: Philosophie als akademische Disziplin, d. h. als Wissenschaft, die sich in einem umfassenden Sinne mit der Struktur und dem Anspruch der menschlichen Rationalität befaßt (»Wissenschaftslehre«) – und Philosophie, die sich vor allem um das Selbstverstehen des Menschen und seine Lebensorientierung bemüht (»Weisheitslehre« bzw. »Lebenslehre«).10 Alle große Philosophie, so Henrich, habe es verstanden, beide Aspekte miteinander zu verbinden. Dagegen sei der Versuch der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Philosophie vor allem als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren und so die eine Seite gegen die andere auszuspielen, gescheitert – selbst, wenn er zu größerer methodischer Sorgfalt und »Selbstkontrolle« im Denken geführt haben mag. Henrich zieht daraus die Konsequenz, daß die Philosophie zwar methodisch vorgehen, daß sie aber zugleich eine ihr eigentümliche Vorgehensweise finden müsse, die die Prozesse der menschlichen Selbstverständigung aufnehmen und dafür Lösungen formulieren kann, welche sich nicht nur theoretisch, sondern auch in den Lebensvollzügen der Menschen bewähren. Entsprechend dem Wandel der Voraussetzungen und Bedingungen solcher Prozesse (d. h. dem kulturellen Wandel) und den mit ihnen verbundenen Lebensvollzügen werden sich diese Lösungen auch immer wieder neu und anders gestalten müssen. Dauerhafte Resultate, wie sie bestimmte Wissenschaften anstreben, sind der Philosophie in dieser Hinsicht verwehrt.11 Deshalb ist Philosophie in diesem Sinne auch nicht als »Forschung« möglich.12 Doch als eine Konzeption, in der der Mensch in ein »allseitig durchdachtes Verhältnis« zu sich treten kann, ist sie sowohl möglich als auch nötig. – Eine solche Philosophie ist laut Henrich durch vier Eigenschaften zu charakterisieren: 1. Sie behandelt Probleme, die nicht von den Wissenschaften gelöst werden können. 2. Sie ist von einem »Widerspiel« von Typen grundlegender Lösungsansätze geprägt. 3. Sie reflektiert auf in der Vernunft selbst angelegte Täuschungsquellen.13 4. Sie ist geprägt durch eine Spannung von theoretischer Reflexion und Bewährung im Leben.

Wir sehen, daß Henrich das Selbstverstehen des Subjekts sehr viel weiter und grundlegender faßt, als es die gewöhnliche Bezeichnung »Subjektivitätstheorie« vermuten läßt. Selbst wenn eine solche Theorie ihren Ausgangspunkt nicht allein von den Lebens- und Selbstdeutungen aus dem »bewußten Leben« nehmen sollte, so wäre sie ohne solche nicht nur unvollständig, sondern geradezu falsch. Subjektsein ist nicht unter der Lupe zu betrachten und zu verstehen, sondern nur im Zusammenhang mit den Tendenzen und Wandlungen des Lebens und dessen Deutungen, auf die es hinausläuft und die in ihm angelegt sind. Dies hat zum einen zur Konsequenz, daß Henrichs Definition von Philosophie unvereinbar mit gewissen szientifischen Konzeptionen ist, wie sie etwa die Phänomenologie oder die formalanalytische Philosophie des Wiener Kreises anstrebten. Solche Konzeptionen sind entweder nur unter Absehung von derartigen Deutungen zu verwirklichen oder unter einem objektiven, »interessefreien« Blickwinkel auf das Selbst. In beiden Fällen müssen sie sich zudem nicht in Lebenskontexten bewähren (und werden dies nach Henrich auch nicht vermögen). Die zweite Konsequenz von Henrichs Ansatz ist, daß der o. g. Bewährungsbegriff nun in die Begriffe von Rationalität und Angemessenheit einer Subjektivitätstheorie eingeht. Wenn daher eine Theorie inadäquat ist, weil sie nicht viel mehr leistet, als die (transzendentalen) Bedingungen des Welt- und Selbstverstehens anzugeben, und dieses Verstehen und das Leben, auf das es bezogen ist, nicht als notwendige Komplemente im Begriff der menschlichen Subjektivität begreift, dann muß im Gegensatz dazu in einer adäquaten Theorie die Relativität von kulturellen, sozialen, sogar individuellen Standpunkten und Erlebnisweisen erfaßt und bedacht sein. Die Adäquatheit einer solchen Theorie bemißt sich damit nicht allein an theoretischen Kriterien wie Konsistenz, Kohärenz, Plausibilität usw., sondern daran, ob sie dies bestimmte Leben und das Selbstverstehen des Subjekts in einem solchen Leben in ihrer jeweiligen Widersprüchlichkeit und Fragwürdigkeit so leiten und zur Erfüllung bringen kann, daß ein Mensch, wie Henrich schreibt, sein Leben danach auch zu »führen« vermag. Henrich kann dabei sogar von der »Wahrheit« der Theorie sprechen (und nicht, wie dies hier geschieht, nur von ihrer »Adäquatheit«).14 Eine solche Theorie des Subjekts ist deshalb auch nicht nur an anderen philosophischen Theorien zu messen, sondern an Selbst- und Lebensdeutungen ganz verschiedener Herkunft wie etwa der Religion, der Kunst oder der nicht-philosophischen Lebenslehren und »Weltanschauungen«. Auch das unterscheidet sie von einer wissenschaftlichen Theorie.

Henrich ist sich der Schwierigkeiten seiner Konzeption deutlich bewußt. Da sie für ihn allerdings zwingend aus der Analyse der menschlichen Subjektivität und schon des menschlichen Selbstbewußtseins im engeren Sinne hervorgeht, kann sich die Philosophie den damit verbundenen Aufgaben nicht entziehen. Henrich hat in einem anderen Text die Maximen dargelegt, die die Philosophie bei der auf Wahrheit orientierten Analyse von Selbstdeutungen und Lebensvollzügen zu beachten hat.15 Da sie wohl auch die Grundsätze seiner eigenen Arbeiten darstellen, seien sie hier zitiert.

(1) Sie [die Philosophie] muß untersuchen, unter welchen Bedingungen eine Überzeugung, die aus dem Leben hervorgeht und die insofern Fiktion ist, ohne Vorbehalt als wahr soll gelten können. (2) Sie muß aus der Untersuchung der Verfassung des bewußten Lebens Stationen auf seinem Gang und Weisen seiner Erfahrung aufschließen, und zwar so, daß auch bei dem, der in der diagnostischen Distanz zu diesem Leben verharrt, die Meinung ins Wanken kommt, die in solche Erfahrungen eingehenden Überzeugungen könnten am Ende doch gar nichts anderes als lebensdienliche Fiktionen sein. (3) Sodann gehört zu einem aufgeklärten Festhalten an der Wahrheitsfrage in Beziehung auf Lebensdeutungen auch noch ein Gedanke, in dem der Gang der Subjektivität zu einem Prozeß, der ihr vorausliegt, und somit vermutlich zum Prozeß von einem Absoluten so ins Verhältnis gesetzt ist, daß es möglich wird, es sich begreiflich zu machen, wie ein Geschehen, das Überzeugungen aus sich herausbildet, nichtsdestoweniger einem anderen Geschehen, hinsichtlich dessen es diese Überzeugung hegt, in Wahrheit entsprechen kann. (4) Schließlich muß sie Rechenschaft darüber geben, in welchem Sinne Lebensdeutungen, die im Konflikt miteinander stehen und die deshalb nicht zugleich wahr sein können, dennoch einen Wahrheitsbezug haben, wenn sie selbst schon nicht in absolutem Sinne wahrheitsfähig sind. Das setzt voraus, daß ein Stadium der Entfaltung des bewußten Lebens ins Auge gefaßt wird, dessen Selbstdeutung mit allen, die ihm vorausgingen, und mit den Evidenzen, die zu deren Selbstbeschreibungen führten, eine Kontinuität zu wahren vermag.

Henrichs Konzeptionen von »spekulativem Denken« und »Metaphysik« werden schließlich den philosophischen Rahmen dafür bieten, wie sich Henrich die »Erfüllung« der hier aufgeführten Kriterien vorstellt. Davon wird noch zu handeln sein. Zunächst ist es erforderlich zu verstehen, wie Henrich zu diesem anspruchsvollen Begriff des Subjekts – der ja auch seinen Begriff der Philosophie prägt – gelangt. Auch wenn bestimmte hier angesprochene Motive schon in seinen frühen Arbeiten erkennbar sind, ist die Ausgestaltung der damit verbundenen Theorie erst erfolgt, als Henrich gewisse grundlegende Resultate und Erfahrungen mit alternativen Formen des Verständnisses von Selbstbewußtsein und Ich-Gedanken gewonnen hatte. Seine damit verbundenen Arbeiten sind, obwohl Henrich von ihrer Perspektive später teilweise wieder abgerückt ist, bis heute bedeutsam.

2. Frühe Selbstbewußtseinstheorie

2.1 Problemexposition mit Johann Gottlieb Fichte (1966)

Henrichs Forschungen zur Subjektivitätstheorie beginnen mit der Frage, was das »Ich« bzw. Selbstbewußtsein in seiner Struktur ausmacht. Sie sind sowohl dazu gedacht, die Rede von »Ich« und »Selbstbewußtsein« bei Immanuel Kant und seinen Nachfolgern aufzuklären als auch die damit verbundene Sachthematik zu erschließen.16 Seine frühe Hinwendung zur klassischen deutschen Philosophie hatte vor allem damit zu tun, daß in ihren Entwürfen das Selbstbewußtsein, sei es als transzendentales Ich oder als Selbstbewußtsein des Geistes bei Hegel, einen zentralen Stellenwert einnahm. Daher bestand für Henrich die Hoffnung, daß die Analyse dieser Theorien eine Grundlage für die Aufklärung des Phänomens von Selbstbewußtsein und Ich-Gedanken darbieten konnte.

Henrichs erste und sicher immer noch eine seiner bekanntesten Veröffentlichungen zu diesem Thema ist der Beitrag zur Festschrift für Wolfgang Cramer von 1966, »Fichtes ursprüngliche Einsicht«. Johann Gottlieb Fichtes »ursprüngliche« Einsicht, wie Henrich sie in diesem Text versteht, ist danach, daß Fichte das Scheitern der Definition von Selbstbewußtsein nach dem Modell der »Reflexion auf sich« erkannt hatte, einem Modell, dem noch Kant angehangen haben soll (FuE, 9/196).17 Nach diesem Modell ist Selbstbewußtsein eine epistemische bzw. »vorstellende« Relation, die das Subjekt zu sich unterhält und die dadurch zustande kommt, daß es sich in einem intentionalen Akt auf sich zurückwendet und so ein Bewußtsein von sich erwirbt (ebd.). Fichte hat nach Henrich gesehen, daß mit diesem Modell mindestens zwei Probleme verbunden sind, die wir an dieser Stelle als das »doppelte Identifikationsproblem« bezeichnen können. Es handelt sich dabei zum einen um ein Konstitutions-, zum anderen um ein Wissensproblem: (1) Das Konstitutionsproblem besteht darin, daß das Subjekt des Bewußtseins bereits wissen muß, auf welches mögliche Objekt es sich zu richten hat, um dadurch Selbst-Bewußtsein hervorzubringen. Ein minimales Wissen um das »Selbst« muß also schon vorliegen, damit der vom Reflexionsmodell geforderte konstitutive Akt von Selbstbewußtsein überhaupt möglich ist; es kann nicht durch diesen Akt erst begründet werden. (2) Aber auch wenn ein solcher Akt gelungen sein sollte, reicht es noch nicht aus, daß das Objekt bzw. der Inhalt eines solchen Aktes unter irgendeiner Beschreibung figuriert, die ihn als das Subjekt von Selbstbewußtsein ausweist. Vielmehr muß das Subjekt des Reflexionsaktes sich im Inhalt des Selbstbewußtseinsaktes unmittelbar und zweifelsfrei als solches erkennen (bzw. wissen), damit Selbstbewußtsein nach diesem Modell gelingen kann. Auch hier wäre also ein Wissen darüber, was das Subjekt von Selbstbewußtsein ist, für den Reflexionsakt bereits vorauszusetzen und ließe sich nicht durch ihn erst begründen. – Das Reflexionsmodell ist somit nicht nur undurchführbar, sondern wird durch seine eigenen Voraussetzungen auch nachgerade überflüssig. Fichte hat dies nicht bloß bemerkt, sondern er hat nach Henrich in mehreren Versionen seiner Wissenschaftslehre Selbstbewußtsein bzw. »Ich« so zu verstehen versucht, daß sich solche Zirkel der Selbstvoraussetzung nicht mehr ergeben (FuE, 15 ff./198 ff.). Dafür hat Fichte nacheinander drei »Formeln«, wie Henrich sich ausdrückt (FuE, 14/197), in verschiedenen Texten aufgestellt:

»Das Ich setzt schlechthin sich selbst« (FuE, 15–19/198–202).

18

»Das Ich setzt sich schlechthin als sich setzend«(FuE, 19–23/202–206).

19

»Das Ich ist eine Kraft, der ein Auge eingesetzt ist«(FuE, 23–35/206–218).

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