Digitale Diskurse und Wikipedia - Eva Gredel - E-Book

Digitale Diskurse und Wikipedia E-Book

Eva Gredel

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Beschreibung

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia dient im Alltag mittlerweile verbreitet zur ersten Orientierung bei Wissensfragen und kann als eines der erfolgreichsten Projekte im Social Web verstanden werden: Rund 17 Jahre nach ihrer Gründung verzeichnet die Wikipedia mehr als 46 Millionen Einträge, die von Tausenden von Freiwilligen gemeinschaftlich verfasst wurden. Nur wenige Internet-Nutzer wissen allerdings, wie die enzyklopädischen Inhalte der Wikipedia in digitalen Diskursen entstehen und welche Rolle Sprache bei der Erarbeitung der Einträge spielt. Der wissenschaftliche Blick hinter die Kulissen der größten Online-Enzyklopädie weltweit soll dabei unterstützen, mit Informationen im digitalen Zeitalter kompetent umzugehen. Er zeigt auf, wie der reflektierte Zugang zu digitalen Diskursen im Netz gelingen kann.

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Eva Gredel

Digitale Diskurse und Wikipedia

Wie das Social Web Interaktion im digitalen Zeitalter verwandelt

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-89308-001-4

Inhalt

Für Michael und Johanna.Vorwort1. Einführung: Relevanz und Reichweite der Wikipedia1.1 Wikipedia als Online-Enzyklopädie und diskursiver Raum1.2 Wikipedia als Diskussionsgegenstand1.3 Wikipedia als Recherchewerkzeug und Nachrichtenquelle1.4 Wikipedia als PR-Kanal1.5 Wikipedia als Lehr- und Lerngegenstand in Schule und Hochschule1.6 Wikipedia als Untersuchungsgegenstand in der Wissenschaft2. Diskursanalysen als Methode für Sprach-, Kultur- und Gesellschaftsanalysen2.1 Definition zum Begriff Diskurs2.2 Metaphern als diskursive Einheiten2.3 Konkrete Metaphern-Beispiele in verschiedenen Diskursen2.4 Diskursbedingungen in nicht-digitalen Medien am Beispiel von Print-Zeitungen3. Digitale Diskursanalysen3.1 Nicht-Linearität mithilfe von Links3.2 Dynamik und Offenheit: Eine Mitmach-Enzyklopädie im ständigen Wandel3.3 Interaktivität und Kollaboration: Von Wikipedianer zu Wikipedianer3.4 Multilingualität: Diskursanalysen zum Sprach- und Kulturvergleich3.5 Multimodalität: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte?4. Wer spricht wie in digitalen Diskursen auf Wikipedia?4.1 Menschliche Diskursakteure4.2 Institutionelle Diskursakteure – NGOs, Parteien, Unternehmen4.3 Maschinelle Diskursakteure in Wikipedia: Bots4.4 Interaktionsrollen in Wikipedia: Vandalen, Trolle und Sockenpuppen4.5 Praktiken in Wikipedia: Digitale Orden, Edit Wars, Fake News5. Tools und Ressourcen zur Analyse der Wikipedia5.1 Wikipedia-Korpora5.2 Ein digitales Tool für multimodale Analysen der Wikipedia5.3 Digitale Tools – Sprachversionen im Vergleich5.4 Akteursorientierte Perspektive5.5 Zwei Tools zur Analyse von Konflikten5.6 Ein Tool für Wikipedia-Analysen in didaktischen KontextenLiteraturverzeichnis

Für Michael und Johanna.

Vorwort

Das Verständnis des Internets, der dort angebotenen Plattformen und der dort vorzufindenden sprachlichen Handlungen hat sich in den letzten 20 Jahren grundlegend gewandelt: Die Auffassung des Netzes als virtuelle Welt wurde in den 2000er Jahren durch das Bild des Resonanzraums sozialer Realitäten abgelöst. Zuletzt hat sich die Haltung verbreitet, dass im Social Web durch Interaktion verschiedenster Akteure soziale Wirklichkeiten konstruiert und verändert werden. Internet-Phänomene wie Shitstorms und Trolling, Cybermobbing oder Memes, z.B. #lovewins und die Spendenkampagnen IcebucketChallenge, sind Ausgangspunkte für digitale Diskurse, die hohe Reichweiten erlangen und auch in nicht-digitalen Medien verhandelt werden. Diese Entwicklungen haben digitale Interaktion in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. In einer Zeit, in der weltweit Fundamentalismen und radikaler Populismus sowie alternative Fakten im Netz enorme Verbreitung finden und diskursive Dynamiken auf Twitter wahlentscheidende Effekte haben, ist eine große Verunsicherung gegenüber digitalen Plattformen spürbar.

Auch gegenüber der Wikipedia werden Vorbehalte laut. Oftmals werden Diskussionen zur Wikipedia jedoch relativ uninformiert geführt und bleiben auf Themen wie deren Zitierfähigkeit oder einzelne inhaltliche Mängel beschränkt. Mit dem vorliegenden Buch möchte ich eine neue Sicht auf die Online-Enzyklopädie vorstellen und diese im Sinne der Diskurslinguistik als diskursiven Raum präsentieren. Diskurse werden in diesem Buch als Text- und Aussagenformationen zu einem bestimmten Thema verstanden (z.B. der Diskurs zum Brexit). Im Gespräch mit StudentInnen, LehrerInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen habe ich erfahren, dass mit erweitertem Grundlagenwissen zur Struktur und Verfasstheit der Wikipedia diese ganz neu wahrgenommen und genutzt wird. Dieses Grundlagenwissen habe ich im Folgenden zusammengefasst und möchte den LeserInnen eine neue – überwiegend sprachwissenschaftliche und diskursanalytische – Sicht auf die Online-Enzyklopädie eröffnen.

Dass mein Beitrag in der Reihe mit dem Titel „DIALOGE“ erscheint, hat für mich zwei Bedeutungen: Zum einen erhoffe ich mir, dass er den Ausgangspunkt für den Dialog verschiedenster Personengruppen darstellt, die sich mit digitalen Plattformen und vor allem mit der Wikipedia beschäftigen. Mein Ziel ist es, detaillierte Informationen zum großartigen Projekt der Online-Enzyklopädie zu vermitteln, um all jene zu begleiten, die die Möglichkeiten und das Potential der Wikipedia voll ausschöpfen möchten. Der Fokus liegt dabei auf einer (diskurs-)linguistischen Herangehensweise, bei der – den medialen Unkenrufen zum Trotz – auf der Grundlage sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse Sprachwandel und sprachliche Variation durch Digitalisierung nicht als „Sprachverfall“, sondern als „Normalfall“ verstanden werden.

Zum anderen kann dieser Beitrag zur Reihe „DIALOGE“ aber auch selbst als Ergebnis eines solchen Dialogs verschiedenster Personengruppen verstanden werden. Während meiner Arbeit an diesem Buch habe ich vom Austausch mit vielen verschiedenen Personen profitiert: An erster Stelle danke ich Prof. Dr. Angelika Storrer und Dr. Ziko van Dijk sowie den Mitgliedern des DFG-geförderten Netzwerks „Diskurse – digital: Theorien, Methoden, Fallstudien“ für die ausführlichen Diskussionen zu digitalen Diskursen und Wikipedia. Neben den vielen einschlägigen Fachtagungen waren auch die Wikipedia-Tagungen WikiCon und WikiDACH eine große Bereicherung für meine Arbeit: Rudolf Simon hat mir mit seiner Einladung zur WikiCon 2017 erstmals ermöglicht, an einer der Wikipedia-Tagungen als Referentin teilzunehmen. Ein weiterer Höhepunkt meiner Beschäftigung mit der Wikipedia war die Organisation der WikiDACH2017, bei der ich zusammen mit Sebastian Wallroth rund 50 Wikipedia-Autoren und Wikipedia-Begeisterte an der Universität Mannheim begrüßen konnte. Als sehr wertvoll habe ich auch den Austausch mit den Lehrerinnen und Lehrern im Workshop „Wikipedia: Wissensformat zwischen freiem Wissen und Fake News im digitalen Zeitalter“, den ich an der Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung an Schulen in Esslingen leitete, empfunden. Zu Dank bin ich außerdem den Studierenden meiner Hauptseminare im Frühjahrssemester (Wikipedia aus text- und diskurslinguistischer Perspektive) und Herbstwintersemester 2017 (Linguistische Wikipedistik) an der Universität Mannheim verpflichtet, die sich engagiert und wissensdurstig in die Seminare eingebracht haben.

1.Einführung: Relevanz und Reichweite der Wikipedia

Die meisten Internetnutzer sehen in der digitalen Plattform Wikipedia bei ihrer täglichen Nutzung ein Nachschlagewerk, das ihnen bei Alltagsfragen zur ersten Orientierung dient. Zwischenzeitlich geht die Relevanz der Wikipedia jedoch weit über die Funktion einer Online-Enzyklopädie hinaus. Je nach Blickwinkel kann die Wikipedia auch als Nachrichtenquelle, als Kanal für Public Relations oder als Lehr- und Lerngegenstand gesehen werden. Diese möglichen Sichten auf Wikipedia sollen im Folgenden eingehend beschrieben werden. Besonders wichtig und den anderen Perspektiven übergeordnet ist in diesem Buch das Verständnis der Wikipedia als diskursiver Raum: Wikipedia stellt mit ihrer großen Reichweite eine neue digitale Teilöffentlichkeit dar, in der sich grundsätzlich alle Interessierten mit Internetzugang zu einer großen thematischen Bandbreite äußern können. Neben Einträgen zu Allgemeinwissen (z.B. zur Tierart der Schneehasen) werden dort auch viele aktuelle Themen etwa aus dem Bereich der Politik thematisiert, die häufig Gegenstand ausführlicher Kontroversen sind (z.B. die sogenannte Krimkrise). Dies wird besonders deutlich, wenn man hinter die Kulissen der Wikipedia schaut, also die weniger bekannten Bereiche wie Diskussionsseiten oder Versionsgeschichten der Online-Enzyklopädie betrachtet. Wikipedia-Autoren ringen dort um die aus ihrer Sicht richtige bzw. neutrale Benennung aktueller Geschehnisse. Es kommen dann Fragen dieser Art auf: Soll der Wikipedia-Eintrag zu den Ereignissen auf der Krim im Frühjahr 2014 als Krimkrise oder als Annexion der Krim bezeichnet werden? Während eine Krise ‚eine schwierige Lage bzw. Situation’1 ist, bedeutet Annexion so viel wie ‚gewaltsame und widerrechtliche Aneignung fremden Gebiets’2. Anhand solcher Diskussionen in Wikipedia wird sichtbar, dass das Ringen um Worte dann auch ein Ringen um Weltdeutungen ist. Mit dem Durchsetzen spezifischer sprachlicher Muster geht in der Folge auch die Dominanz gewisser Weltdeutungen einher. Die Untersuchung des Aufkommens und der Verbreitung solcher Sprachmuster in einzelnen Wikipedia-Einträgen, in der gesamten Online-Enzyklopädie sowie in der medialen Öffentlichkeit insgesamt ist zentrales Anliegen der Diskurslinguistik. Vor dem Hintergrund der Aushandlung von Wissensbeständen im digitalen Diskurs der Wikipedia lässt sich auch begründen, warum der Begriff Interaktion im Titel dieses Beitrags so prominent gesetzt ist, obwohl er sonst wenig in Verbindung mit diskursanalytischen Arbeiten gebraucht wird. Für die digitalen Diskurse in Wikipedia ist charakteristisch, dass die enzyklopädischen Inhalte der Artikelseiten durch die aufeinander bezogenen Sprachhandlungen auf den Diskussionsseiten von Wikipedia-Autor zu Wikipedia-Autor zustande kommen.

Die reflektierte Betrachtung digitaler Diskurse ist nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch ganz allgemein für Internetnutzer von zentraler Bedeutung. Sie ziehen nur dann den größten Nutzen aus der Online-Enzyklopädie, wenn sie auf diese kompetent zugreifen und deren diskursive Dimension erkennen. Obwohl vier von fünf Internetnutzern regelmäßig auf die Wikipedia zugreifen, kennen viele mit den Artikelseiten nur den enzyklopädischen Kern der Wikipedia. Hier wird deshalb die Struktur der Wikipedia erläutert, um die zentrale Funktion der weniger bekannten Bereiche wie Diskussionsseiten und Versionsgeschichte zu verdeutlichen.

Dieses Wissen und der kompetente Zugriff sind in vielen verschiedenen Kontexten relevant: Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der reflektierte Umgang mit Wikis und vor allem mit der Wikipedia nicht nur unter dem Vorzeichen der Zitierfähigkeit in der Hochschullehre zu diskutieren ist. Wikipedia wird etwa auch als Anschauungsobjekt für Schreibtrainings genutzt. Im Dialog mit Lehrern hat sich herausgestellt, dass eine Heranführung von Schülern an die reflektierte Nutzung der Wikipedia sehr viel zielführender ist und zu mehr Medien- und Informationskompetenz führt als ein grundsätzliches Verbot der Wikipedia.

Die Wikipedia wird zunehmend auch für die journalistische Recherche genutzt. Den Journalisten kommt in ihrer Funktion als Informationsmittler die besondere Aufgabe zu, Informationen aus dem Netz vor der journalistischen Weiternutzung besonders eingehend zu prüfen. Für diese Berufsgruppe ist deshalb ein kompetenter Umgang mit Wikipedia unumgänglich. Die Wikipedia ist aufgrund ihrer Reichweite auch für die Darstellung von Organisationen und Institutionen nicht zu unterschätzen. PR-Experten haben die Wikipedia als PR-Kanal entdeckt und es gibt Projekte zu bezahltem Schreiben in der Wikipedia. Nicht zuletzt können auch Wissenschaftler, die zum interdisziplinären Feld der Wikipedistik beitragen möchten, indem sie die Wikipedia oder grundsätzlich Wikis zum Untersuchungsgegenstand ihrer Forschungsprojekte machen, inspirierende Hintergrundinformationen in diesem Buch finden.

1.1Wikipedia als Online-Enzyklopädie und diskursiver Raum

Die Wikipedia ist nicht nur ein kontrovers diskutiertes Nachschlagewerk, das vielen im Alltag zur ersten Orientierung dient, sondern mit über 40 Millionen Artikeln in rund 295 Sprachen auch die größte (Online-)Enzyklopädie weltweit. Monatlich greifen 500 Millionen Nutzer auf ihre Inhalte zu und Tausende ehrenamtlicher Autoren erweitern die Wikipedia kontinuierlich.

Die Erfolgsgeschichte der Wikipedia begann 2001 mit der Idee des Gründers Jimmy Wales, der sich fragte: „Was wäre, wenn das gesamte Wissen der Menschheit frei zugänglich ist?“ (Wikimedia e.V. Deutschland 2011: 9). Zwischenzeitlich liegt Wikipedia auf Rang 5 des Alexa-Rankings und ist somit eine der erfolgreichsten digitalen Plattformen weltweit („The top 500 sites on the web“1) noch vor dem sozialen Netzwerk Twitter (Rang 10).

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