Digitale Verrohung? - Gina Schad - E-Book

Digitale Verrohung? E-Book

Gina Schad

3,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Welt dreht sich, und wir drehen uns in den sozialen Medien mit ihr. Wir schaffen uns ein digitales Zuhause und nehmen von dort aus am Weltgeschehen teil. Bei Großereignissen oder Katastrophen werden einige im Internet zu Experten, andere zu Kritikern. Für manche scheint das Netz sogar eine digitale Spielwiese ohne Regeln und Konsequenzen zu sein. Warum gibt es so viel Empörung, so viel Wut im Netz? Und was können wir dagegen tun?

Ein digitaler Zivilisierungsprozess braucht Zeit. Was wir aber jetzt schon zeigen können, ist eine digitale Zivilcourage, um die sozialen Medien zurückzugewinnen. In diesem Buch zeichnet die Medienwissenschaftlerin Gina Schad ein Porträt unserer digital vernetzten Gesellschaft. Sie zeigt Perspektiven auf, wo wir hinsteuern, wenn wir das Internet den Hatern überlassen – und wie die Alternativen dazu aussehen. Sie ruft uns dazu auf, unsere Komfortzone zu verlassen und uns einzumischen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 329

Bewertungen
3,0 (14 Bewertungen)
2
2
6
2
2
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die Welt dreht sich, und wir drehen uns in den sozialen Medien mit ihr. Warum gibt es so viel Empörung, so viel Wut im Netz? Und was können wir dagegen tun? Gina Schad plädiert dafür, dass wir eine digitale Zivilcourage brauchen, um die sozialen Medien zurückzugewinnen.

Autorin

Gina Schad, geboren 1984, lebt in Berlin. Sie hat Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin studiert und dort die Plattform »medienfische.de« mit einer Interviewreihe zum digitalen Wandel ins Leben gerufen. Sie arbeitete bereits für Medienunternehmen und forscht derzeit zum Thema Privatheit.

Gina Schad

Digitale Verrohung?

Was die Kommunikation im Netz mit unserem Mitgefühl macht

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist daher ausgeschlossen.

Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen die männliche Form gewählt, es ist jedoch immer die weibliche und die Transgender-Form mitgemeint.

1. Auflage

Originalausgabe Juli 2017

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Dunja Reulein

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

JE · Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-18497-1V001

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Die Mär von der bösen Technik

Kapitel 2: Sind wir noch privat?

2.1 So ging Privatheit früher

2.2 Privat bei Social Media?

2.3 Das Netz als neues Zuhause

Kapitel 3: Wozu wir im Netz fähig sind

3.1 Geht’s nicht ohne Shitstorm?

3.2 Haters gonna hate

3.3 Blackbox, Blackbox

Kapitel 4: Moral meets Empörung

4.1 Wir werden zu Kritikern

4.2 Kollektive Trauer im Netz

4.3 Bis dass das WLAN uns scheidet

4.4 Mehr Hass oder mehr Mitgefühl?

Kapitel 5: Was wir im Netz bewegen können

5.1 Wikipedia, Crowdfunding und Co..

5.2 Mit digitalen Medien die Welt verbessern

5.3 Anleitung zur Empathie

Kapitel 6: Auf zum Mitgefühl

6.1 Strategien

6.2 Digitale Zivilcourage – jetzt

6.3 Lasst uns üben!

6.4 Kulturpessimismus? Nein, danke

Kapitel 7: Auf den Punkt gebracht

Schlusswort

Dank

Anhang

Literatur

Interviews zum Buch

Stefan Plöchinger

Simon Hegelich

Ronja von Wurmb-Seibel

Jasmin Schreiber

Cornelius Puschmann

Nele Heise

Natalie Stark

Franziska Koch

Mary Scherpe

Christoph Kappes

Andreas Rickmann

Jessica Einspänner-Pflock

Patrick Breitenbach

Anne Wizorek

Victoria Schwartz

Endnoten

Register

»Der Brief ist ein unangenehmer Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Überfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und danach ein Bad nehmen.«

Friedrich Nietzsche

Vorwort

Ich liebe das Internet. Ein Leben ohne Glasfaserkabel kann ich mir nicht mehr vorstellen. Ich gehöre zwar nicht zu den Däumlingen, wie der französische Philosoph Michel Serres die jüngere Generation beschreibt, aber ich hatte zumindest als Jugendliche eine E-Mail-Adresse und einen Röhrencomputer, der im Arbeitszimmer meines Vaters stand und den ich ab und zu benutzen durfte.

Mit 16 Jahren bekam ich zu Weihnachten mein erstes eigenes Mobiltelefon geschenkt – heute auch belächelt als »Totschläger« –, mit dem ich mich mit meinen Freunden vernetzen konnte. Die neue Technik hat mir fortan die Möglichkeit geboten, völlig unabhängig von Ort und Zeit in Echtzeit zu kommunizieren. Ich gehöre zu einer Generation, die zwar ohne digitale Medien aufgewachsen ist, aber gerne der Generation der Däumlinge angehören würde.

Weil mich die altehrwürdigen Medien interessierten, studierte ich Medienwissenschaft in Berlin. Das Studium beinhaltete jedoch mehr technische Aspekte, als ich mir vorgestellt hatte. Nach einem ersten Jammern merkte ich, dass es nicht schaden konnte, auch mal in einem Technikmuseum vorbeizuschauen und den ersten Computer – von Konrad Zuse gebaut – aus nächster Nähe zu betrachten. Spannend fand ich bereits damals, dass das Netz nicht aus Daten und Informationen, sondern aus Kabeln und Knoten besteht. Den technischen Aspekt bei der Sache hatte ich bislang gänzlich unterschätzt.

Was mich an den digitalen und vernetzten Medien fasziniert: Wir können in andere Lebensrealitäten eintauchen und an gesellschaftlichen Entscheidungen partizipieren, eine großartige Entwicklung.

Seit einiger Zeit aber ist das Netz für viele Menschen ein Ort geworden, an dem sie sich aufgrund von Pöbeleien und Anfeindungen mittlerweile nicht mehr so gerne aufhalten. Gerade in den sozialen Medien – die erst durch den Gebrauch der Nutzer entstehen – geht es hoch her. Warum gibt es so viel Empörung, so viel Wut im Netz? Und dann stellt sich noch die Frage: Warum werden einige bei Großereignissen im Netz zu Experten, andere zu Kritikern? Wie kann es uns gelingen, einen »digitalen Zivilisierungsprozess« anzustoßen?

Mit diesem Buch möchte ich vermitteln, dass die Nutzer selbst Strategien entwickeln sollten, um im Netz den Überblick zu behalten – und nicht darauf warten, dass Plattformen, die Politik oder die Justiz das Problem lösen.

Dieses Buch wird einen Blick in die Zukunft werfen, um herauszufinden, wohin sich der gesellschaftliche Trend im Netz bewegt. Gerade wenn die nächste Stufe der Vernetzung eingetreten und diese näher an unseren Körper herangewachsen ist, werden wir um die Frage, wie unsere Kommunikation in der digitalen und vernetzten Welt in Zukunft aussehen soll, nicht mehr herumkommen.

Einleitung

Unsere Welt wird bunter, die technische Entwicklung schreitet unaufhörlich voran: Seit sich das Internet vom Expertennetz zum gängigen Kommunikations- und Informationsmedium für alle Schichten der Bevölkerung gewandelt hat, herrscht Aufregung über die neuen Möglichkeiten unserer digitalen Gesellschaft. Internetnutzer gehören nicht länger einer auserwählten Avantgarde an, seitdem das Netz für den Großteil der Weltbevölkerung zugänglich geworden ist.

Unsere Gesellschaft steht damit vor einer neuen Ära: Eine neue Form der Kommunikation ist entstanden, die einerseits Zugänge zu Wissen erleichtert, die Gesellschaft aber auch vor neue Herausforderungen stellt. Das Internet eröffnet durch den technischen Fortschritt die Möglichkeit, Informationen ortsungebunden, global und schnell auszutauschen. Damit verändert der technische Wandel jedoch nicht nur unsere Arbeit und unser Wohnen, sondern auch unser Kommunikationsverhalten.

Durch das Aufkommen der sozialen Medien werden Diskussionsprozesse in der digitalen Welt verstärkt, weil sie allein durch die rasende Geschwindigkeit schneller und mit bisher nicht gekannter Breitenwirkung in den öffentlichen Raum vordringen. Immer wieder sind in den letzten Jahren jedoch auch neue Themen und Probleme diesbezüglich in den Fokus der Öffentlichkeit geraten: Hate Speech, Fake News oder Menschen, die sich gegen Stalking und Diffamierung im Netz wehren.

Durch die Flüchtlingsdebatte etwa werden Hass und Gewalt im Netz mitunter deutlicher sichtbar. Nicht nur unter den in Netzforen Diskutierenden, der Hass richtet sich auch gegen Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, wenn sie sich für mehr Menschlichkeit einsetzen. Seit einigen Jahren diskutieren Medienexperten und Internetnutzer darüber, wie ein richtiger Umgang mit Gefühlsäußerungen in einer solchen Situation im Netz auszusehen habe.

Die Gesellschaft steht durch den technischen Wandel nicht nur vor rechtlichen, sondern auch vor philosophischen, ethischen und pädagogischen Herausforderungen. Die Fragen lauten: Woher kommt der Kritikpegel im Netz? Wie gehen wir mit Wut und ideologisch aufgeladener Hetze um?

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Quintessenz eigener Beobachtungen und Einschätzungen. Vor dem Hintergrund teilweise konträrer Auffassungen zum Kommunikationsverhalten im Netz werden zudem Wissenschaftler, Blogger und Netzaktivisten in Expertenbefragungen zu Wort kommen. Das Ziel dieser Befragungen ist eine praxisnahe Bestandsaufnahme des Zustands einer immer digitaler werdenden vernetzten Gesellschaft.

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel. Das erste befasst sich mit der Geschichte der digitalen und vernetzten Medien. Hier geht es darum, wie sich die sozialen Medien in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Es ist als Grundbaustein aller folgenden Kapitel anzusehen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Entstehung der Privatheit und was wir heute im Netz darunter verstehen. In Kapitel drei geht es um die negativen Seiten unserer Kommunikation im Internet. Das vierte Kapitel versucht zu ergründen, weshalb manche Nutzer im Netz zu Kritikern werden, andere zu Experten. Das fünfte Kapitel widmet sich hingegen den Chancen, die uns das Internet eröffnet und die wir bereits nutzen. Im sechsten Kapitel werden Strategien für eine zivilisierte und empathische Debattenkultur im Netz aufgezeigt. Im siebten und letzten Kapitel werde ich meine Ergebnisse zusammenfassen.

Das Buch soll in erster Linie den Leser informieren. Es geht um ein Nachspüren der fast unbemerkt stattfindenden Entwicklung im Netz. Fehlentwicklungen und Missbräuche sollen ebenso offen angesprochen werden wie die Chancen, die sich durch die globalisierte Vernetzung weltweit ergeben.

Kapitel 1: Die Mär von der bösen Technik

Andy Warhol, Vertreter der amerikanischen Pop Art, ist vielen ein Begriff. Er war schon im Jahr 1966 der Ansicht, dass in Zukunft jede und jeder für 15 Minuten weltberühmt sein werde. Sein oftmals zitierter Satz, »In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes«, der eigentlich von dem Medientheoretiker MarshallMcLuhan stammt, prophezeit sehr pointiert die Flüchtigkeit des medialen Erfolgs und der Selbstdarstellung.1 Was McLuhan damals noch nicht ahnen konnte: Seitdem sich das Internet zum gängigen Kommunikationsmittel der Gesellschaft entwickelt hat, können sich Menschen mithilfe der sozialen Medien im Internet selbst inszenieren und damit Aufsehen erregen. Seine Zukunftsvision wurde Wirklichkeit.

Der Soziologe Niklas Luhmann beginnt sein Buch »Die Realität der Massenmedien« mit folgendem Satz: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«2 Durch den digitalen Wandel ist es jedoch nicht mehr wie bei den klassischen Massenmedien ein Sender, der zu einer Vielzahl von Empfängern spricht. Alle Empfänger können auch selbst zum Sender werden und darüber hinaus sogar noch miteinander in einen Dialog treten.3 Die Recherchemöglichkeiten des Netzes möchte niemand mehr missen, auch wenn andererseits persönliche Diffamierung und Verletzung der Privatsphäre möglich sind. Unbehagen kommt ferner auf, wenn sich Organe des Staats allenthalben für unsere Inhalte im Netz interessieren. Wir erinnern uns an George Orwell, der bereits in seinem 1948 verfassten Roman 1984 seinen Zeitgenossen die alltägliche Gegenwart eines Überwachungsstaats in drastischen Bildern ausmalte.4

Man kann behaupten, dass das Web 2.0 für den Durchbruch der gegenwärtigen digitalen Medienrevolution verantwortlich war. Diese lässt sich mit dem Buchdruck oder der Elektrifizierung vergleichen.5 Man könnte sogar noch weiter gehen und behaupten, dass die Digitalisierung die Auswirkungen des Buchdrucks und der Elektrifizierung bei Weitem übersteigt. Schauen wir uns einmal an, was dadurch möglich geworden ist.

Durch die Vernetzung von Fernsehgerät, Computer, Internet und Smartphone werden Medieninhalte in unseren Alltag integriert. Und wir können sie jederzeit und überall abrufen. Dies gab es früher nicht. Unsere Gesellschaft, in den vergangenen Jahren zu einer »Mediengesellschaft«6 avanciert, befindet sich in einem radikalen Umbruch.

Spätestens seit der Veröffentlichung von Informationen über die Abhör- und Aufzeichnungsprogramme der USA und Großbritanniens– Prism und Tempora– durch den Whistleblower Edward Snowden scheint die Wirklichkeit George Orwells Fiktion überholt zu haben. Prism ist ein digitales Überwachungsprogramm der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), das seit 2007 existiert. Auch bei Tempora handelt es sich um ein Spähprogramm, das vom britischen Nachrichtendienst Government Communications Headquarters (GCHQ) seit Ende 2011 betrieben wird.7

Mit seinen Enthüllungen hat Snowden einer überraschten Weltöffentlichkeit gezeigt, dass unsere Kommunikation in einem nicht vorstellbaren Ausmaß mitgelesen wird. Damit hatte der europäische Durchschnittsbürger nicht gerechnet. Außer vielleicht kluge Köpfe, die schon seit Jahren in ihren Büchern vor den Folgen der Massenüberwachung gewarnt haben.

Der Journalist Patrick Beuth beschreibt es so: »Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, lasse ich meine Wohnungstür nicht offen stehen. Ich trage in der S-Bahn kein Namensschild, und ich führe dort auch keine langen Telefongespräche, während andere neben mir sitzen und mithören. Meine Privatsphäre ist mir eben wichtig. Bis ich zu Hause meinen Computer anschalte. Dann lasse ich die Türen zu meinem digitalen Leben weit offen stehen, verrate permanent, wer ich bin, und nehme in Kauf, dass jemand mitliest, was ich schreibe.«8

So manchen Nutzern ist nicht klar, dass es an ihnen selbst liegt, für mehr Privatsphäre und Datenschutz zu sorgen, auch wenn dies mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden ist.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor der Verunsicherung ist die Geschwindigkeit technischer Innovationen, hinter denen die soziokulturellen wie die rechtlichen Anpassungen zurückgeblieben sind: Durch die Entwicklung digitaler Speichermedien und die Beschreibbarkeit der sozialen Medien können digitale Inhalte rezipiert, verbreitet und beschrieben werden– ohne dass die Nutzer darüber immer im Bilde sein müssen.

Die Möglichkeiten, die sich aus der Digitalisierung ergeben, führen zu unterschiedlichen Reaktionen in der Gesellschaft: Manche Nutzer sammeln mithilfe von Spendenplattformen Geld für soziale Projekte, während auf der anderen Seite Datenschützer gegen den Datenhunger einzelner Plattformen protestieren. Man hat das Gefühl, es würden zwei Seiten miteinander streiten– die Gegner und die Befürworter. Dabei ist die fortschreitende Vernetzung nicht mehr aufzuhalten, selbst wenn wir es wollten.

Der technische Fortschritt lässt sich anhand der Entwicklung des Smartphones sehr gut veranschaulichen: Hervorgegangen aus dem Mobiltelefon, dient es zwar immer noch der Übermittlung von gesprochenen oder im Short Message System (SMS) geschriebenen Botschaften, es nimmt aber auch Funktionen eines Minicomputers wahr und dient als Navigationssystem, Zeitung, Video- und Audioplayer, Kamera sowie Terminplaner. Ich kann mit meinem Smartphone also nicht nur fernsehen, sondern auch Mails schreiben oder es als Navigationsgerät benutzen. Wie praktisch. Unsere Gesellschaft hat durch den technischen Wandel, wie dieses Beispiel zeigt, an Vielfalt gewonnen, sie ist aber auch unübersichtlicher geworden. Deshalb müssen wir uns der neuen Kommunikationswege und Nutzungsmöglichkeiten erst einmal bewusst werden.

Ebenso, wie es signifikant viele Befürworter des Netzes gibt,9 gibt es natürlich auch Gegner, die in erster Linie einen Verlust der Privatsphäre sehen oder sogar die These vertreten, dass das Internet dumm mache.10 Die Reaktionen auf die neuen digitalen Möglichkeiten zeigen eine deutliche Polarisierung. In jüngster Zeit haben sogar Befürworter der fortschreitenden Vernetzung geäußert, dass sie sich Sorgen um das freie Internet machen. Und nicht, weil sie Angst vor Internetgiganten wie Google oder Facebook hätten, sondern weil der Staat und die Geheimdienste sich mehr und mehr Einblicke in unseren Privatbereich verschaffen.

Aber wie konnte sich das Internet überhaupt entwickeln? Es wird geschätzt, dass inzwischen 300 000 Kilometer Glasfaserkabel die verschiedenen Erdteile miteinander verbinden.11 Das Internet wäre ohne Seekabel nicht denkbar, diese gelten als Basis für die globale Kommunikation im Internet. So wurden in den letzten Jahrzehnten lange Kabel unter dem Meeresgrund verlegt, der Meeresboden wurde aufgespült, was wiederum dazu führte, dass sich der Sand als Schutzschicht über die Kabel legte. Darüber hinaus dienen Satelliten, die über bestimmten Punkten der Erdoberfläche schweben, dem Datenverkehr. Sie stellen eine Kommunikationsmöglichkeit für diejenigen Orte auf der Erde sicher, die nicht mit Glasfaser in Berührung kommen.12

Das Internet erinnert an ein Fischernetz: ein Netz aus Leitungen, Knoten und Computern als Endpunkten. Ein Blick in die Geschichte macht deutlich, dass sich Menschen schon immer gerne untereinander vernetzt haben: Ob in der Antike durch den Ausbau von Straßen, Kanälen und Schiffsverbindungen, die es ermöglichten, dass die Handelswege zugleich neue Kommunikationswege erschlossen haben, oder auch in der Moderne durch den Übergang von der Postkutsche zur Eisenbahn, zum Auto und zum Flugzeug. Jedoch war die Vernetzung noch nie so dicht wie heute. Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein, als ob wir ausschließlich den technischen Möglichkeiten unsere neue Vernetzung zu verdanken hätten und es sich folglich beim digitalen Wandel um einen rein technischen Prozess handeln würde. Es handelt sich jedoch in erster Linie um einen sozialen.

Das eigentlich Revolutionäre an der Digitalisierung besteht darin, dass Daten und Informationen jeglicher Art, seien es Buchstaben, Zeichen, Töne oder Bilder, in Zahlen– die Zahlen des binären Zahlensystems 0 und 1– aufgelöst und mithilfe elektronischer Impulse von plus und minus leichter verarbeitet und gespeichert werden können. Digitus (aus dem Lateinischen) bedeutet ursprünglich Finger und Zehe, das Adjektiv digital bezeichnet »die Finger oder Zehen betreffend«.13 Da die Römer wie die Griechen mithilfe ihrer Finger am Abakus, einem mit Steinen (calculi) versehenen Brett, ihre Rechenaufgaben durchführten, wurde die Fingerfertigkeit zu einem Synonym für Rechenfertigkeit.14 Digital bedeutet daher »in Zahlen oder in Ziffern dargestellt«.

Was ist das Internet aber nun? Ob es ein Medium ist, darüber lässt sich streiten. Die Wissenschaft hat sich auf keine einheitliche Definition geeinigt. Der Begriff »Medium« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich übersetzt Mittel. Demnach könnte all jenes als Medium bezeichnet werden, das eine Verbindung zwischen zwei oder mehreren Personen herstellt.

Für eine Bestandsaufnahme ist ein Blick auf die Geschichte der Medien nicht zu umgehen: Er richtet sich zuallererst auf den Begründer der modernen Medientheorie, den kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan. Das Medium ist für ihn die Botschaft als solche einschließlich ihres Inhalts. Er versteht Medien nicht nur als reine Vermittlungskanäle. Für den Medientheoretiker Friedrich Kittler sind Medien– im Gegensatz zu McLuhan– Bücher oder Computer und nicht etwa die Dampfmaschine,15 auch wenn sie– wie zum Beispiel die Lokomotive– Verbindungen zwischen Menschen herstellen kann. Es gibt also unterschiedliche Definitionen des Begriffs Medium, die wiederum von einem unterschiedlichen Verständnis herrühren.

Das Neue an der Digitalisierung ist, dass die sozialen Medien eine Kommunikation ermöglichen, die von Raum und Zeit losgelöst ist. Die technischen Innovationen bringen eine neue kulturelle Praxis hervor, von der ich erwarte, dass Technik und Kultur in naher Zukunft noch stärker zusammenwachsen. Kommunikation ist daher künftig immer mehr an solche technischen Faktoren gebunden, die sich sozial verhalten.16

Erst seit der Einführung der Schrift ist es möglich, über räumliche und zeitliche Distanz hinweg zu kommunizieren.17 Dies hatte aber den Nachteil, dass sich ein größerer Spielraum für Interpretationen ergab, die Eindeutigkeit der Botschaft des gesprochenen Worts, das Rückfragen erlaubte, ging verloren. Die von den Sumerern 3300 v. Chr. erfundene Keilschrift wurde ursprünglich in Tonplatten geritzt. Die nächste Stufe der Verschriftlichung erreichten die Griechen im 8.Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung mit der von ihnen entwickelten Alphabetschrift.18

Die Einführung der Schrift stellt einen wichtigen Parameter unserer kulturellen Entwicklung dar, da auf diese Weise erstmals Informationen außerhalb des menschlichen Gedächtnisses abgespeichert werden konnten. Dies wurde von den damaligen Zeitgenossen jedoch nicht uneingeschränkt für gut befunden. Als sich in Griechenland im 1. Jahrtausend v. Chr. die Schrift entwickelt hatte, glaubte Platon, dass das Schreiben schädlich sei, weil es die Gedächtnisleistung vermindere.19 Platon hat sich damals jedoch insofern widersprochen, als er ja selbst nicht gerade wenig geschrieben hat. Heute wissen wir: Weder die gut gemeinten Ratschläge des elitären Platon an seine Zeitgenossen, das Schreiben bleiben zu lassen, noch Versuche von weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten, den Buchdruck zu verhindern, waren letztlich erfolgreich.

Diese Debatte führen wir auch heute wegen des Internets. Mittlerweile können Nutzer die Medien beschreiben und somit aktiv am Internet teilnehmen: Inhalte erstellen, teilen, kommentieren, verlinken sowie Fotos und Videos für die Öffentlichkeit zugängig machen. Das Netz erscheint als eine weltweite »Agora«, ein digitaler Marktplatz, wo jeder Bürger seine Angebote, seien sie kommerzieller, ideeller oder politischer Art, feilbieten und sich selbst inszenieren kann. Der Unterschied zwischen der griechischen Agora und unseren neuen Öffentlichkeiten besteht darin– wie der Plural bereits besagt–, dass es sich um viele Räume handelt und nicht nur um einen großen digitalen Marktplatz. Doch sind die digitalen Angebote genauso ambivalent wie das Feuer, das Prometheus der griechischen Mythologie zufolge einst der Menschheit gebracht hat? Oder handelt es sich sogar um die Büchse der Pandora, die wir in harmlos-naiver Verblendung geöffnet haben? Ich verrate schon so viel: weder noch.

Die Geschichte des Computers kann bis ins 17. Jahrhundert zurückgeführt werden. Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde von G. W. Leibnitz das binäre Zahlensystem erfunden: Der binäre Code besteht lediglich aus zwei Zeichen, der 0 und der 1. Später entwarf der Engländer Charles Babbage im 19. Jahrhundert eine Rechenmaschine, die mit Lochkarten arbeitete. Konrad Zuse konzipierte in den Jahren 1936 bis 1937 den Z1, der bis heute als der erste frei programmierbare Rechner gilt, zu militärischen Zwecken.20 Zuse hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine Rechenmaschine mit Schaltgliedern zu erbauen: Es handelte sich hierbei um das erste programmierbare Rechengerät auf der Basis von binären Zahlen. Nachfolger vom Z1 waren unter anderem der Z3 und der Z4: universell programmierbare Computer. Fast gleichzeitig mit Zuse arbeitete der Engländer Alan Turing an seinem als »Universal Discrete Machine« bezeichneten Rechengerät. Im Jahr 1949 wurde schließlich der erste vollelektronische Universalrechner »Electronic Numerical Integrator and Computer« (ENIAC) mit Röhrentechnik fertiggestellt, der an der amerikanischen University of Pennsylvania entwickelt worden war.21 Auf die Röhrentechnik folgte der Transistor– es handelte sich um Chips mit »integrierten Schaltkreisen«22–, der zu einer Arbeitsleistung führte, die den Personal Computer (PC) erst möglich machte. Ein wesentlicher Schritt bei der Entwicklung des Computers zu dieser Universaltechnik war unter anderem die grafische Benutzeroberfläche. Danach wurde der PC immer kleiner, schneller und billiger. Zunächst im Büro als komfortabler Schreib- und Rechenautomat eingesetzt, fand er später seinen Weg in die Privathaushalte. Einer der nächsten Schritte war folglich die Vernetzung der Computer, die Entstehung des Internets und des Web 2.0.

Werfen wir einen Blick auf die Entstehung des Web 2.0. Es gibt mehrere Bezeichnungen dafür: Web 2.0, Hypernet oder auch das Mitmach-Web.23 Hierbei handelt es sich nicht um eine neue Technologie, sondern vielmehr um eine internetbasierte Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten. Nutzer können die Medien erstmals interaktiv mitformen: Beispiele für nutzerbeeinflusste Seiten sind insbesondere die Enzyklopädie Wikipedia, soziale Medien wie Twitter, aber auch Videoportale wie YouTube.24

Der »Web 2.0«-Begriff hatte sich durchgesetzt, nachdem ihm in der Nutzergemeinde ein mythosähnlicher Status zugeschrieben worden war. Mit ihm wird eine Software-Entwicklung verbunden, die mit innovativen Technologien, neuen Geschäftsmodellen und positiven Veränderungen in der Gesellschaft verknüpft ist.25 Der Computer ist zu einem »Universalmedium« geworden, das andere Medien in sich vereint, schreiben die einen26, man kann an dieser Stelle jedoch auch von einer »Universaltechnik«27 sprechen, so die anderen. Doch bei genauer Betrachtung stellt das Internet überhaupt kein Medium dar, sondern vielmehr eine Plattform, die Medien erzeugen kann.28

Der Computer besitzt die Fähigkeit, Daten anderer Medien zu absorbieren und zu verarbeiten. Inhalte werden digitalisiert und sind damit losgelöst von ihrem Trägermaterial.29 Die neuen technischen Möglichkeiten der Kommunikation führen jedoch nicht zu einer einheitlichen Nutzungsveränderung des Netzes. Die neue Nutzung zeigt sich in verschiedenen Praktiken, die gänzlich unterschiedliche soziale Konsequenzen nach sich ziehen.

Ich möchte einen Blick auf die Entstehung der sozialen Medien werfen: Die ersten sozialen Medien entstanden kurz nach der Jahrtausendwende: Den Anfang machte Flickr im Jahr 2002, MySpace startete 2003. Ein Jahr später, 2004, folgte das Freundschaftsnetzwerk Facebook. Das führende Videoportal, 2005 gestartet, ist YouTube, das 2006 von Google übernommen wurde.30 Im Jahr 2006 öffnete der Kurznachrichtendienst Twitter seine Pforten. 2011 kam schließlich das Freundschaftsnetzwerk Google+ hinzu. Beim Online-Dienst Instagram, 2010 eingeführt, können Nutzer Bilder und Videos veröffentlichen und mit einem eingebauten Filter bearbeiten. Beim Instant-Messaging-Dienst Snapchat, 2011 gegründet, können Bilder und Videos sowohl an Privatpersonen verschickt als auch öffentlich gepostet werden.

Das Besondere an Snapchat ist, dass die Inhalte, welche die Nutzer erstellen, bereits nach wenigen Sekunden automatisch gelöscht werden. Damit ist sie eine Echtzeit-App, die– anders als Facebook– für die Gegenwart konzipiert ist. Dies suggeriert jedoch für Nutzer eine Sicherheit, die es so nicht gibt. Das Unternehmen Snap Inc. ist bereits in der Vergangenheit aufgrund seiner Datenschutzbestimmung in die Kritik geraten. Wer garantiert, dass die Fotos von Snap Inc. wirklich gelöscht werden?

Twitter (zu Deutsch: Gezwitscher) ist ein Microblogging-Dienst, mit dem mit maximal 140 Zeichen Echtzeitkommunikation ermöglicht wird. Der Dienst ist damit zu einem unübersehbaren Faktor in der Medienlandschaft geworden. Über Twitter können Informationen verbreitet, politische und soziale Systeme gefestigt, aber auch bedroht werden. Es sind jedoch nicht nur politische, wirtschaftliche oder sonstige tagesaktuelle Nachrichten, die mithilfe von Twitter in den sozialen Medien nach oben gespült werden, sondern auch ganz triviale Mitteilungen, die Tagebucheinträgen ähneln.

Die erste Mitteilung, der erste »Tweet«, wie es in der Twittersprache heißt, wurde am 21. März 2006 von Jack Dorsey, dem amerikanischen Programmierer und Entwickler der Microblogging-Idee, abgeschickt: »Just setting up my twttr«31– Twitter hieß damals noch twttr. In Deutschland konnte sich der Dienst– anders als in den USA– nicht so leicht durchsetzen. Im Jahr 2009 wurde die Zahl seiner Nutzer auf lediglich 27 000 geschätzt.

Beim Twittern handelt es sich um eine Art der Öffentlichkeit, die erst durch den Gebrauch des Mediums entsteht und sich– auf dieser Bedingung basierend– zu dem formt, was die Nutzer daraus machen. Die Art, wie Twitter heute genutzt wird, war bei seiner Entstehung noch nicht absehbar. So waren es die Anwender, die sogenannte Hashtags einführten. Der Begriff ist eine Zusammensetzung der englischen Wörter hash (= Doppelkreuz oder Rautenzeichen) und tag (= Markierung). Ein Hashtag ist also ein Doppelkreuz (#), das einem Wort vorangestellt ist, um dieses zu verschlagworten. Eine Suchanfrage nach dem so markierten Schlagwort würde dann gezielt zu diesem Beitrag führen.

Auch Unternehmen kennen mittlerweile die Vorteile von Twitter: Sie nutzen die Möglichkeit, um mit ihren Kunden in Echtzeit zu kommunizieren, da sie so zeitnah auf öffentliche Kritik oder Anregungen reagieren können. War früher der Kundendienst noch ausschließlich auf das Telefon ausgerichtet, so können Unternehmen heutzutage nicht mehr auf das Internet als Informationsweg zu den Kunden verzichten. Die Social-Media-Redakteure, die in den sozialen Medien das Beschwerdemanagement regeln – und nichts anderes ist das oft –, sind aber nicht immer zu beneiden. Mittlerweile rechnen große Unternehmen aber mit Beschwerden dieser Art und reagieren hierauf professionell, wenn es sein muss, sogar mit einer Prise Humor. Was bleibt ihnen auch anderes übrig …

Facebook startete einst als soziales Freundschaftsnetzwerk. Heute werden Nutzern immer mehr News und Unterhaltungsplattformen in der Timeline angezeigt. Facebook ist – allen Prognosen zum Trotz – 2016 immer noch das meistgenutzte soziale Netzwerk, gefolgt von Instagram und Snapchat. Twitter hingegen stagnierte 2016.32

Facebook selbst führt immer wieder neue Funktionen ein, so können Nutzer beispielsweise mit »Facebook Live« ihre eigene Live-Übertragung in Echtzeit starten.33 Zunächst ermöglichte dies die Twitter-Tochter Periscope.

Durch den digitalen Wandel entstehen neben der ständigen Erreichbarkeit auch neue Übertragungs- und Empfangsformen und damit für die Rezipienten auch neue Chancen der Partizipation. Für das Aufbrechen medialer Grenzlinien ist der Tatort am Sonntagabend ein gutes Beispiel: Es geht nicht mehr nur darum, die ARD-Sendung vor einem herkömmlichen Fernsehbildschirm zu konsumieren: Mithilfe des sogenannten Second Screen stehen vielmehr die Kommentare auf Twitter im Vordergrund, die gleichzeitig gelesen und bewertet werden können. Second Screen, wörtlich übersetzt »zweiter Bildschirm«, beschreibt die Nutzung eines zweiten Bildschirms als Ergänzung zum normalen Fernsehprogramm. Dabei kann der zweite Bildschirm auch die Oberfläche eines Smartphones oder Tablet-Computers sein.

In seiner Radiotheorie entwickelte Bertolt Brecht bereits in den 30er-Jahren das Szenario, dass Empfänger, also die Hörer, zu Sendern werden sollten.34 Brecht wollte das Radio in einen »Distributionsapparat«35 verwandeln, der es dem Publikum ermöglichen sollte, sich selbst aktiv in die Sendung einzumischen. Seine damaligen Vorstellungen erscheinen aus heutiger Sicht visionär und wurden durch den Aufschwung der sozialen Medien in den vergangenen Jahren wieder aktuell.

Die Autorin Mercedes Bunz vergleicht unsere heutige Zeit mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts.36 Ihrer Ansicht nach verändert die Technologie unsere Gesellschaft auf rasante Weise: Im 19. Jahrhundert sei dies durch Maschinen und die Automatisierung geschehen, heutzutage durch die Digitalisierung.37 Und damit hat sie nicht ganz Unrecht. Die Auswirkungen der Digitalisierung übertreffen die der industriellen Revolution jedoch bei Weitem. Für die Gesellschaft ist die Vielfalt, die unsere Vernetzung möglich macht, eine Riesenchance. Jeder kann seine eigene Öffentlichkeit schaffen und in Echtzeit kommunizieren. Die Grenze dessen, was möglich ist, wird in erster Linie von den Nutzern gezogen, sie ist erst sekundär von den technischen Gegebenheiten determiniert.

Die Digitalisierung ist damit nicht nur ein technischer Prozess, sondern sie hat durch die Tatsache, dass das Internet beschreibbar und damit zu einer Spielwiese für unsere Gesellschaft geworden ist, einen sozialen Prozess in Gang gesetzt. In den demokratischen Staaten sind die sozialen Medien schon seit einiger Zeit kritische Begleiter der Politik geworden. Doch auch autoritäre und diktatorische Regime sind vor ihnen nicht mehr sicher, wie das Beispiel des Arabischen Frühlings zeigt. Darunter versteht man die Reihe von Aufständen und Revolutionen, die Ende 2010 in Tunesien begonnen und sich dann auf viele Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten (Ägypten, Libyen, Marokko, Jemen, Jordanien, Bahrein und Syrien) ausgebreitet haben. Dies hatte auch Auswirkungen auf nichtarabische Staaten wie China, Iran und Israel, und selbst Protestbewegungen in Spanien sind nach Auffassung von Politologen von den Massenprotesten des Arabischen Frühlings inspiriert worden. Auch die Proteste im Gezi-Park in Istanbul wurden mithilfe der sozialen Medien organisiert. Seitdem wird in der Öffentlichkeit immer häufiger darüber diskutiert, inwieweit digitale Plattformen am Entstehen sozialer Unruhen beteiligt sind.

Jedoch muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die sozialen Medien zwar einen Trend verstärken können, es aber zu weit gehen würde, die technischen Werkzeuge als alleinigen Grund für die Mobilisierung der Menschen anzusehen. Wirft man einen Blick in die Geschichte, lässt sich feststellen, dass Menschen sich in Situationen extremer sozialer Ungerechtigkeit schon immer zusammengeschlossen haben. Andernfalls wären weder die Bauernaufstände im 16. Jahrhundert noch die Französische und die Russische Revolution erklärbar. Gleiches gilt für die Sklavenaufstände oder die Erhebungen indigener Völker gegen ihre Kolonialherren. Damals waren es die verbesserten Möglichkeiten, die der Buchdruck mit der Herstellung von Flugblättern und die zunehmende Alphabetisierung eröffneten, heute sind es die sozialen Medien, die Zusammenschlüsse gesellschaftlich gleichgesinnter Gruppen erleichtern.

Bereits vor einigen Jahren beschrieb Colin Crouch die Unzufriedenheit der Bürger, die sich darin ausdrückte, an politischen Prozessen nicht ernsthaft partizipieren zu können, mit dem Begriff der Postdemokratie. Damit war ein Gemeinwesen gemeint, in dem zwar regelmäßig Wahlen stattfinden, bei denen aber nur solche Themen zur Abstimmung gestellt werden, die zuvor Experten ausgewählt hatten. Die Folge ist, dass die Zivilgesellschaft nicht mehr handelt.38 Crouch erklärt, dass es durchaus Chancen gäbe, den postdemokratischen Prozess abzuwenden. Er formuliert drei Postulate: Die ökonomische Macht müsse eingeschränkt, die politische Praxis reformiert und die Bürger müssten neue Handlungsoptionen ergreifen.39

Der digitale Wandel hat unserer Gesellschaft freien Zugang zu Wissen, erweiterte Kommunikationsmöglichkeiten und die Option zur Erstellung von eigenen Inhalten gebracht. Auf diese Weise eröffnet die Digitalisierung neue Möglichkeiten der politischen Partizipation und damit auch der besseren Kontrolle von Politik und Wirtschaft durch die Zivilgesellschaft. Clay Shirky, ein Forscher auf dem Gebiet sozialer und technologischer Netzwerke, glaubt, die heutige Situation erfordere es, Partizipation anzunehmen, weil das Veröffentlichen zu einer neuen Form von Alphabetentum geworden sei.40

Die digitalen Medien sind also mehr als nur eine lustige Plattform, um sich mit Freunden auszutauschen oder selbst erstellte Videos in den sozialen Medien zu veröffentlichen. Ohne das Smartphone und die Möglichkeit zur digitalen Kommunikation und damit Vernetzung hätten viele Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan ihre Route gar nicht antreten können– oder eine Flucht wäre weit gefährlicher gewesen. Digitale Kommunikation ist daher auch ein wichtiges Thema für Menschen, die aus Krisengebieten stammen und gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen.

Durch die sozialen Medien kann ein viel freierer und schnellerer Diskurs geführt werden, der auch keiner Zensur unterliegt. Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution war es ein großes Anliegen der bürgerlichen Bewegung, dafür zu sorgen, dass keine staatliche Zensur stattfindet.41 Und dies wurde mit dem Internet erreicht, was aber nicht heißt, dass nicht von autoritär geführten Staaten immer wieder Versuche unternommen werden, die sozialen Medien zu überwachen beziehungsweise durch technische Eingriffe innerhalb ihres Staatsgebiets vollständig abzuschalten. Nichts ist für Diktatoren gefährlicher als frei geäußerte Gedanken und eine freie Presse. Bei dem Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 nutzte Präsident Erdogan– der es selbst nicht gerne sah, wenn sich seine Kritiker in den sozialen Medien organisierten– ironischerweise selbst die Videotelefon-App FaceTime, um seine Anhänger dazu aufzurufen, zum Schutz der Demokratie auf die Straße zu gehen.

Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Debatten um Vor- oder Nachteile digitaler Medien nicht so schnell abreißen werden. Egal, über welches Ereignis in Zukunft berichtet wird oder welchen gesellschaftlichen Skandal wir erleben, wir werden davon immer häufiger und schneller über die sozialen Medien erfahren. Nicht nur die Printmedien befinden sich auf dem Rückzug, auch das Fernsehen orientiert sich mit experimentellen Formaten zunehmend an den sozialen Medien. Es wird nicht mehr lange dauern, bis es nur noch das Internet gibt.

Der technische Wandel ist also weitgehend abgeschlossen. Die Technik schafft folglich nur noch die Basis dafür, dass sich die sozialen Medien überhaupt erst entfalten können. Beispiele aus der Vergangenheit haben gezeigt, wie erfolgreich die Vernetzung bisher funktioniert und welchen Mehrwert sie der Gesellschaft gebracht hat.

Das Internet wird nicht mehr verschwinden, es bleibt und wird immer weiter in unser Leben vordringen. Im Jahr 2016 ist die Zahl der Online-Nutzer in Deutschland auf 58 Millionen angestiegen. Außerdem beträgt die Nutzung des Internets erstmals mehr als zwei Stunden am Tag.42 In naher Zukunft werden wir nicht mehr darüber sprechen, wann wir »ins Netz gehen«. Unser Körper wird dann– wie bereits heute das Smartphone– immer mit dem Netz verbunden sein.

Kapitel 2: Sind wir noch privat?

2.1 So ging Privatheit früher

Genauso wichtig, wie die Entstehung der sozialen Medien zu beschreiben, ist es, die Geschichte und den Stellenwert von Privatheit zu beleuchten. Es stellt sich die Frage, inwiefern sich unser Verständnis von Privatheit durch die Vernetzung verändert hat und noch weiter verändern wird.

Für den Begriff der Privatheit gibt es bis heute keine eindeutige Definition. Was unter privat und was unter öffentlich verstanden wird, wurde früher von sozialen Organisationen bestimmt. Mittlerweile definiert jeder für sich persönlich, was für ihn privat bedeutet.43 Der Begriff lässt sich vom lateinischen privatus ableiten. Das bedeutet »der Herrschaft beraubt, gesondert, für sich stehend«.44 Was nicht alle wissen: Privatheit ist ein Grundrecht des Menschen: In der Resolution der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 heißt es in Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt sein.«45

Bei uns wird der Begriff »privat« als das Gegenteil von »öffentlich« verwendet– doch woher kommt das?

Zum ersten Mal wurden Privatsphäre und Öffentlichkeit in der antiken griechischen Polis unterschieden. Auf dem Marktplatz, der Agora, spielte sich das öffentliche Leben ab,46 die Privatsphäre war räumlich auf die häuslichen vier Wände beschränkt. Erst gegen Ende des 18.Jahrhunderts wurde in den europäischen Gesellschaften der Schutz der Privatsphäre als Wert erkannt.47 Dies war eine Folge der Aufklärung, in deren Verlauf sich das bürgerliche Individuum von der Vormundschaft durch Kirche und Adel zu befreien suchte und in der Französischen Revolution Menschenrechte einforderte. Durch das Aufkommen regelmäßig erscheinender Zeitungen im 19. Jahrhundert konnten private Informationen mit einem größeren Wirkungsgrad verbreitet werden, was dazu führte, dass die ersten Definitionsversuche von Privatheit in den Vereinigten Staaten von Amerika unternommen wurden. Die Juristen Samuel D. Warren und Louis D. Brandeis veröffentlichten im Jahr 1890 einen Aufsatz mit dem Titel »The Right to Privacy«, in dem sie Privatheit als »right to be let alone« beschrieben haben.48

Hannah Arendts Theorie der Öffentlichkeit greift das Bild der Polis auf, die Theorie von Jürgen Habermas knüpft an die Epoche der Aufklärung an. Hannah Arendt untersuchte Öffentlichkeit und Privatheit in der Antike. Die Philosophin erarbeitete eine Definition von Öffentlichkeit, die noch heute anerkannt ist. Im antiken Griechenland gab es die Vorstellung, dass jeder stimmberechtigte Bürger der Polis, das heißt des griechischen Stadtstaats, ein politisches und ein privates Leben führe. Nach Arendt entsteht erst dann eine Gesellschaft, wenn die Abgrenzung zwischen heimischem Haushalt und politischer Öffentlichkeit verschwimmt.49

Habermas zeigte in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Strukturwandel der Öffentlichkeit50 auf. Aus der repräsentativen Öffentlichkeit wurde die »bürgerliche Öffentlichkeit«, bestehend aus Privatleuten. Bürgerliche Öffentlichkeit versteht Habermas als epochaltypische Kategorie51, die zu der bürgerlichen Gesellschaft seit dem Mittelalter gehört und sich nicht abtrennen lässt: Habermas nennt drei Merkmale für Öffentlichkeit: die Gleichheit, die Tatsache, dass alles Gegenstand des Diskurses werden kann, und darüber hinaus die Unabgeschlossenheit des Publikums. Da er ein Kritiker der Massenmedien war, war eigentlich zu erwarten, dass er die neuen Möglichkeiten des Internets in den Himmel loben würde. Er hielt sich beim Thema Internet aber weitgehend bedeckt.

Für den amerikanischen Blogger Jeff Jarvis sind Privatsphäre und Öffentlichkeit keine Gegenpole, sondern haben eine große Wirkung aufeinander. Er äußert sich zum Thema Privatsphäre und Öffentlichkeit wie folgt: »Man kann das Private nicht einfach als das definieren, was nicht öffentlich ist.«52

Jessica Einspänner-Pflock ist Medienwissenschaftlerin an der Universität Bonn und forscht zu den Themen Privatheit, Online-Kommunikation und Social Media. Sie ist der Ansicht, dass wir selbst entscheiden, was für uns privat ist und was nicht. Im Interview hat sie formuliert, dass Privatheit ein stark individuelles Konzept ist: »Ich finde, es geht zu weit zu sagen, dass wir nur aufgrund von Medientechnologie oder Medienkommunikation weniger privat sind oder weniger privat kommunizieren. Es ist auch ein Stück weit– je kompetenter der Mediennutzer, desto eher– eine bewusste Entscheidung, Teile der eigenen Privatheit aufzugeben. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass es auch ganz stark darauf ankommt, wer Medien zu welchem Zweck verwendet und wer das dann interpretiert.«

2.2 Privat bei Social Media?

Wir wissen nun, wie sich ein Bewusstsein für den Schutz der Privatsphäre entwickelt hat. Nicht erst seit dem Aufkommen der sozialen Medien wird über die Gefahren für die Privatsphäre debattiert: Schon die industrielle Drucktechnik für Zeitungen und das Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert erzeugten Ängste, dass Menschen ungewollt öffentlich gemacht werden könnten.53 Von der Antike bis zur Aufklärung war der an öffentlichen Orten gepflegte persönliche Diskurs Voraussetzung für das Verständnis von Öffentlichkeit. Bereits im Verlauf der Aufklärung entstanden Medien wie Flugschriften oder Zeitungen, die dazu beitrugen, dass wir heute diesen Begriff mit der veröffentlichten Meinung in den Massenmedien gleichsetzen. Die Massenmedien ermöglichten jedoch, anders als die sozialen Medien, nur eine einseitige Kommunikation. Lediglich Leserbriefe oder Anrufe waren als Reaktion auf Artikel möglich. Eine Debatte gab es erst dann, wenn ein weiteres Medium auf das Thema reagierte.54 Durch das Internet aber konnten Teile der Öffentlichkeit wieder entstehen, die in Zeiten der Massenmedien ausgeklammert wurden; Nutzer können sich nun an Debatten beteiligen.55 Durch diese neue Möglichkeit der Partizipation wird unsere Gesellschaft zu einer öffentlichen Gesellschaft, da nicht nur unsere Gedanken und Wünsche, sondern auch unsere Aufenthaltsorte über soziale Plattformen mitgeteilt werden.56 Folglich können wir uns gar nicht mehr vorstellen, lediglich Informationen zu konsumieren und nicht digital zu kommunizieren.

Die Besonderheit von Öffentlichkeit, die in der Antike in Gestalt der öffentlich zwischen den bürgerlichen Eliten der Polis geführten Debatten entstanden ist und sich in der Aufklärung in den Diskursen der bürgerlich geprägten Wissenschaft wiederfindet, wird nun also im Internet durch die technische Umstrukturierung wieder ermöglicht.57 Die offene Kommunikation– auch über Ländergrenzen hinweg– ist ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft, auf der anderen Seite ist sie auch eine Herausforderung.

Eine Folge unserer Vernetzung und dem Teilen von persönlichen Informationen sind persönliche Öffentlichkeiten, die im Internet entstehen.58 Der Soziologe Jan Schmidt beschreibt, dass an denjenigen Orten im Internet persönliche Öffentlichkeiten entstehen, bei denen Nutzer Dinge ohne jegliche Relevanz veröffentlichen. Wir Menschen sind soziale Wesen, und als solche brauchen wir den Austausch mit anderen Menschen und die Öffnung hin zur Gesellschaft. Gleichzeitig haben wir (zumindest die meisten von uns) aber auch das Verlangen nach Kontrolle, was den Schutz unserer persönlichen Informationen angeht.59

Jedenfalls nicht gewahrt ist der Schutz persönlicher Öffentlichkeiten im Internet, wenn fremde Beobachter soziale Plattformen wie beispielsweise Facebook zum Objekt einer Recherche machen.60