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Doktor Roland Ferdinand Mosbach ist ein anerkannter Chirurg und Wissenschaftler, der in einer kleinen Gemeinde in Hessen lebt. Aufgrund seiner Forschungen im Bereich der Krebstherapie wird ihm der Vorsitz des Gremiums zugesprochen, doch ausgerechnet auf diesem Höhepunkt werden seine schwangere Frau und seine Tochter ermordet. Gemeinsam mit seinem Bruder Bernhard nimmt Mosbach blutige Rache im Auftrag der Wissenschaft und verstrickt sich dadurch in einen wahren Rausch, der ihn und seine Verbündeten bis in die Weiten und Machenschaften der Unterwelt hineinführt.
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2024
Marc Dark
Doktor Mosbach – Das Skalpell der Gerechtigkeit
Band 1
Marc Dark
Doktor Mosbach
Das Skalpell der Gerechtigkeit – Band 1
Thriller
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Marc Dark
Umschlag:© 2023 Copyright by brandes media Mediengestaltung
Verantwortlich
für den Inhalt: Marcel Kircher
Hochstraße 1
63584 Gründau
Druck:neobooks – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Nichts ist schmerzvoller, unerträglicher und unfassbarer als der Verlust eines geliebten Menschen. Hilflosigkeit lähmt unseren Verstand. Trauer lässt uns verstummen. Wir fragen uns immer wieder – Warum? Ist alles vorherbestimmt? Müssen wir tatenlos zusehen, wenn uns Andere nehmen, was uns so wichtig ist? Sind wir unserem Schicksal gnadenlos ausgeliefert? Kennt ihr das Gefühl von Wut? Von Hass und den Zwang nach Gerechtigkeit? Lest meine Geschichten, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Mein Name ist Doktor Roland Ferdinand Mosbach – das Skalpell ist mein Gesetz!
In einem großen Hörsaal der Frankfurter Universitätsklinik saßen etwa zwanzig Menschen aufgeregt und angespannt zusammen. Ein großer Mann, mit weißen Locken, Vollbart, brauner Hornbrille mit einem edlen Anzug unter dem weißen Arztkittel trat nach vorne vor das Mikrofon. Lächelnd blickte er in die Runde, räusperte sich kurz und begann seine Ansprache:
Verehrte Kolleginnen und Kollegen. Wir alle haben uns hier zusammengefunden, weil es einem aus unseren Reihen gelungen ist, die Krebsforschung auf ein völlig neues Level zu heben. Begrüßen Sie alle mit mir unseren Kollegen Doktor Roland Ferdinand Mosbach und hören uns an, was ihm gelungen ist.“
Der Mann trat beiseite und überließ Dr. Mosbach das Rednerpult. Er war etwas kleiner, hatte schwarzes mittellanges Haar und hatte seine rahmenlose Brille in die Brusttasche seines Kittels gelegt. Doktor Mosbach legte seine Papiere auf das Pult, atmete tief ein und begann zu berichten:
„Werte Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrter Herr Vorsitzender Professor Doktor Alfred Kerr. Wir alle zählen nachweislich zu den besten Wissenschaftlern und Chirurgen des Landes. Ohne unsere weitreichenden Forschungen würden viele Menschen an ihren Krankheiten sterben. Meinem Bruder Bernhard und mir ist es gelungen die Krebsforschung auf eine neue Ebene zu bringen. Jeder Mensch ist ein Gebilde aus Millionen von Zellen, entstanden aus deren DNA und DNS. Manche diese Zellen besitzen bereits die Veranlagung zu bösartigen Tumoren, also Malignen. Meinem Bruder und mir ist es gelungen das dafür verantwortliche Gen zu isolieren und durch ein Gutartiges zu ersetzen. Wir haben Laborratten verwendet, die erblich bedingt zu bösartigen Tumoren neigen und spritzten ihnen unsere modifizierte DNA. Die Ergebnisse übertrafen bei weitem unsere kühnsten Erwartungen. Nach wenigen Tagen zeigten die infizierten Ratten eine siebzigprozentige Rückbildung. Bereits nach vierzehn Tagen zeigten Obduktionen, dass die Fehlregulierung des Zellgewebes komplett verschwunden war und sich das Körpergewebe regulierte. Auch die Nachuntersuchungen über weitere Wochen blieben ohne negativen Befund. Unser nächster Schritt der Versuchsreihe wird dazu führen, wie sich die modifizierte und gutartige DNA beim Menschen verhält. Sollten die Ergebnisse ähnlich positiv sein, dann werden wir damit an die Öffentlichkeit treten. Bis dahin, werte Kolleginnen und Kollegen, möchte ich Sie bitten die oberste Geheimhaltungsstufe zu wahren. Vielen Dank.“
Die anwesenden Ärzte des Kollegiums applaudierten, während Professor Kerr ans Pult trat und Roland die Hand schüttelte:
„Unglaublich, Roland. Einfach unglaublich. Dein Vortrag war einfach überwältigend“, lobte er überschwänglich. „Das Bundesgremium wird dir Morgen die Gelder bestimmt bewilligen.“
„Soweit ist es noch nicht“, wiegelte Doktor Mosbach bescheiden ab. „Das wird sich erst noch zeigen.“
„Ich bitte dich, Roland. Die Forschungen deines Bruders und dir sind bahnbrechend und nobelpreisverdächtig. Eine Revolution in der Medizin“, fuhr er fort. „Was hältst du davon, wenn du nachher zu einem Essen in meinem bescheidenen Heim vorbeikommst und wir weiterreden? Gertrud wird etwas dem Anlass entsprechendes zubereiten.“
„Einverstanden. Und mit bescheiden, meinst du doch nicht deine Villa am Frankfurter Stadtrand?“, entgegnete Roland.
„Um siebzehn Uhr, bei mir?“, fragte Professor Kerr ohne auf die Gegenfrage einzugehen.
„Ich werde da sein“, gab sich Roland geschlagen.
Professor Kerr lächelte: „Das freut mich. Bis nachher.“
Später am Nachmittag befand sich Doktor Roland Mosbach mit seinem schwarzen VW Passat Kombi auf dem Weg zur Villa in Richtung Neu-Isenburg an der Frankfurter Stadtgrenze. Sein Handy klingelte und via Bluetooth Verbindung nahm Roland den Anruf über das Radio entgegen.
„Ellen, mein Schatz“, meldete er sich. „Wie geht es dir?“
„Den Umständen entsprechend, wie ihr Ärzte sagt“, erwiderte Ellen. „Ronja ist voller Vorfreude auf ihr Brüderchen.“
„Ich bin so stolz auf dich“, entgegnete Roland lächelnd. „Unsere Familie wird in nicht mal einem Monat komplett sein.“
„Das wird es“, stimmte Ellen zu, „auch wenn die häuslichen Pflichten immer schwerer fallen. Ronja ist mit ihren acht Jahren eine große Hilfe, zumindest versucht sie es. Aber, wir haben ja die Haushaltshilfe der Krankenkasse. Nun erzähle, wie war es bei dir, mein anvertrauter Ehemann?“
„Es war sehr gut. Das Gremium hier war sehr begeistert“, antwortete Doktor Mosbach. „Alfred hat mich zu sich eingeladen. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm.“
„Verstehe“, erwiderte Ellen lachend. „Erst zaubert euch Gertrud ein schönes Essen, dann trinkt ihr ein Glas Single Malt Whisky und raucht eure Lieblingszigarre Vegas Robaina Art Edition mit Gravur.“
„Du hättest nicht deine Karriere zur Ergotherapeutin vorantreiben sollen“, lobte Roland freundlich, „, sondern Psychologie studiert.“
„Jeder macht das, was er am besten kann“, meinte Rolands Ehefrau lachend. „Aber mal im Ernst. Wenn euch der Ausschuss Morgen die Forschungsgelder bewilligt wird Alfred seinen Vorsitz verlieren, Roland. Und zwar an dich.“
„Der Gedanke ist mir auch schon gekommen“, murmelte der Arzt und Wissenschaftler nachdenklich. „Aber warum sollte er mich dann zum Essen einladen?“
„Es liegt auf der Hand. Sei bloß vorsichtig, Roland. Er will dich überreden.“
„Alfred hat als Vorsitzender durch unsere Forschungen gut gelebt, ohne sich selbst weiteren Forschungen zu widmen“, fasste Roland zusammen. „Dabei hat er jedwedes Interesse an der Medizin und Chirurgie verloren.“
„Und genau das macht mir Angst“, bestätigte Ellen besorgt. „Alfred ist ein hervorragender Chirurg, aber kein Wissenschaftler, wie ihr. Er hat den Vorsitz nur inne, weil Bernhard und du ihm durch eure Forschungen den Rücken freigehalten habt.
„Er ist der Patenonkel von Ronja und kümmert sich rührend um sie. Warum sollte er etwas tun, was uns schadet?“, überlegte Doktor Mosbach. „Außerdem sorgte er dafür, dass ich in das Gremium aufgenommen wurde.“
„Sei wachsam“, versuchte Ellen zu beruhigen. „Vielleicht trügt mich mein Gefühl.“
„Mach ich. Grüß bitte Ronja von mir und sag ihr, dass ich sie liebe, so wie dich. Ich wünsche euch eine gute Nacht. Morgen um diese Zeit bin ich wieder bei euch“, verabschiedete sich Roland.
„Wir können es kaum erwarten. Wir haben dich lieb, Schatz.“
Das Telefonat endete. Mit einem unguten Gefühl fuhr Doktor Roland Mosbach auf den Parkplatz einer prächtigen Villa in Neu-Isenburg. Langsam stieg der Mediziner aus und lief über den prächtigen Hof auf eine Tür zu, die schon von außen erahnen ließ, welch Luxus den Besucher im Inneren erwarten würde. Roland betätigte die Türklingel. Keinen Moment später öffnete ein Butler die Tür:
„Doktor Mosbach. Welch eine große Freude Sie zu sehen“, begrüßte er den Gast freundlich.
„Danke James. Bin ich zu spät?“, fragte Roland.
Butler James schüttelte den Kopf. „Keineswegs, Sir. Pünktlich wie immer, Sir. Professor Kerr erwartet Sie im Salon. Soll ich Sie hinführen?“
„Nein Danke, James. Ich kenne den Weg.“
James nahm Doktor Mosbach den Mantel ab, ehe sich dieser auf den Weg in den Salon machte, wo Professor Kerr auf ihn wartete.
„Roland! Auf die Minute“, grüßte er seinen Kollegen und Freund überschwänglich. „Moment bitte.“
Er rief nach seinem Butler James und bat ihn in der Küche auszurichten, dass aufgetischt werden konnte, während Professor Kerr seinen Gast ins Speisezimmer führte. James tat eine Weile später das Essen auf – Rinderfilet Wellington mit Rosmarinkartoffeln und Gemüse. Schweigend genossen die beiden Männer ihr Mahl, ehe Roland sein Besteck beiseitelegte und sich mit der Serviette seinen Mund abtupfte.
„Darf ich dir noch etwas auftun, mein Freund?“, fragte Professor Kerr höflich.
„Vielen Dank, Alfred. Ich bin satt“, erwiderte Roland höflich. „Wie macht Gertrud das bloß?“
„Das werden wir wohl nie erfahren“, lachte Alfred Kerr freundlich und legte seine Serviette ebenfalls auf dem Teller ab. „Die Küche ist ihr Heiligtum. Selbst James darf sich nur bis zur Essensausgabe näheren.“
„Da hängt bestimmt ein Schild: Halten Sie unaufgefordert Ihren Sicherheitsausweis bereit“, witzelte Roland.
Professor Kerr lachte. „Überschreiten Sie niemals die rote Linie. Bewachter Grenzübergang.“
„Alfred, bitte“, versuchte Roland die Contenance wieder zu erlangen. „Ich möchte dieses hervorragende Mahl gerne bei mir behalten und nicht vor Lachen platzen. Wer weiß, was Gertrud dann machen würde.“
„Daran möchte ich gar nicht denken“, ergänzte Kerr augenzwinkernd. „Sofortige Gefangennahme mit anschließender Exekution.“
„Das war meine Befürchtung“, schloss Doktor Mosbach lächelnd und nahm einen tiefen Schluck Mineralwasser. „Tut mir leid, Alfred. Ich bin wirklich satt.“
Der Professor läutete nach seinem Butler und bat ihn den Tisch abzuräumen. „Wir ziehen uns jetzt in mein Arbeitszimmer zurück“, fügte er an, „und möchten nicht gestört werden.“
„Verstanden, Sir“, nahm James seine Aufgabe wahr.
Die beiden Männer zogen sich in das riesige Arbeitszimmer des Professors zurück. Professor Kerr bot seinem Kollegen einen Platz an und trat an den Schreibtisch.
„Ein Glas Whisky und eine Vegas Robaina?“, fragte er höflich.
„Da kann ich nicht widerstehen“, antwortete Roland ebenfalls höflich.
Der wissenschaftliche Leiter schenkte ein, reichte Doktor Mosbach das gefüllte Glas und die Zigarre. Dieser stellte das Glas auf den Tisch, steckte die Zigarre in den Mund, während Professor Kerr ihm Feuer gab. Alfred Kerr wiederholte die Prozedur bei sich und nahm gegenüber Roland Platz. Die beiden Männer genossen Tabak und den goldbraunen Drink, ehe Alfred das Schweigen brach.
„Wir kennen uns jetzt schon fünfzehn Jahre, Roland. Eine verdammt lange Zeit“, resümierte er nostalgisch. „Wir sind durch dick und dünn gegangen.“
„Das stimmt. Du hast meine medizinischen Schritte von Anfang an verfolgt“, stimmte Doktor Mosbach zu.
„Du warst nach dem Studium Facharzt in einer kleinen Klinik, doch du warst schon immer der Wissenschaft verschrien.“
Doktor Mosbach lächelte: „Du hast mir eine Stelle im Universitätsklinikum beschafft und mein Interesse an der Wissenschaft weiter gefördert.“
„Jeden Tag nach dem stationären Dienst habe ich dich ins Labor geschickt und diverse Proben analysieren lassen. Berichte bis zum kommenden Tag um sechs Uhr auf meinem Schreibtisch. Deine Arbeiten waren überaus präzise und brillant ausgearbeitet“, fuhr Professor Kerr fort.
„Ohne deine Hartnäckigkeit und deine Bemühungen wäre ich nie so weit gekommen“, meinte Roland demütig.
„In der Tat“, stimmte Alfred Kerr zu und zog an seiner Zigarre. „Das bringt mich zu meinem eigentlichen Anliegen. Wenn der Ausschuss des wissenschaftlichen Landesgremiums für Chirurgie und Genforschung dir Morgen die Gelder bewilligt, werde ich meinen Vorsitz verlieren und zwar an dich, Roland.“
„Das ist doch Blödsinn“, wandte Doktor Mosbach ein, doch Professor Kerr winkte nur ab.
„Ich weiß es und du weißt es! Verkauf mich nicht für dumm.“ Kalt blickte der Professor auf seinen Schützling. „Der Ausschuss wird dir alles geben und mir alles nehmen. Es sei denn ...“
„Es sei denn, was?“, hakte Roland nach.
„Es sei denn du teilst dem Ausschuss mit, dass ich an euren Forschungen maßgeblich beteiligt war“, erklärte Kerr sein Vorhaben. „Ich behalte meinen Vorsitz und du erhältst einen monatlichen Bonus von 25.000 Euro. Damit ist uns beiden geholfen. Das bist du mir schuldig, Roland.“
„Beim besten Willen, Alfred“, entgegnete Roland nachdrücklich. „Das kann ich nicht mehr zulassen. Es wäre nicht der Wahrheit entsprechend und unfair meinem Bruder gegenüber.“
„Wen interessiert schon die Wahrheit? Nur der Erfolg zählt, das weißt du doch. Es ist eine kleine Notlüge, nichts weiter“, höhnte der Professor.
„Niemals! Du hast dich viel zu lange auf deinem Posten ausgeruht!“ Doktor Roland Mosbach war wild entschlossen. „Schon längst hast du das Interesse an der Medizin und Forschung verloren! Für dich zählt doch nur noch Geld und Luxus!“
„Ich bin 56 Jahre alt, Roland. Ich will, was mir zusteht.“ Keine Regung lag im Blick des Älteren.
Roland leerte sein Glas in einem Zug und drückte seine Zigarre aus. „Bei aller Freundschaft. Nein, es ist Schluss mit den Lügen.“
„Du meinst es also tatsächlich ernst?“ Mit hochgezogener Augenbraue schaute Professor Kerr seinen baldigen Nachfolger an.
„Unwiderruflich“, schloss Roland.
„Ich verstehe.“ Zornig und kalt lehnte sich Professor Kerr zurück und zog an seiner Zigarre.
„Wach auf und handele endlich“, mahnte Doktor Mosbach.
„Das werde ich“, murmelte der Professor. „Das werde ich ganz sicher, mein Freund!“
Ohne sich weiter zu verabschieden, stand Doktor Roland Mosbach auf, trat durch die Tür und verließ das Arbeitszimmer. Butler James kam ihm entgegen.
„Sie wollen uns schon verlassen, Sir?“, fragte er erstaunt.
„Ja. Ich muss für Morgen noch viel vorbereiten.“
„Ich hole Ihren Mantel, Sir“, meinte James freundlich, lief zur Garderobe, holte den Mantel und half Doktor Mosbach herein.
„Danke James. Machen Sie es gut.“
„Sie auch, Sir und viel Erfolg“, verabschiedete James den Mediziner. „Auf Wiedersehen und fahren Sie vorsichtig.“
Doktor Mosbach verließ die Villa durch die Tür, stieg in seinen Wagen und fuhr los. Sein Ziel lag noch etwas weiter südlich von Neu-Isenburg. Am Waldrand lag ein kleines Landhaus mit dem Namen „Der weiße Hirsch“. Der Lärm und die Hektik der Großstadt Frankfurt am Main waren Roland Mosbach schon immer ein Graus gewesen. Hier in der Idylle fand er Ruhe und Konzentration für seine Forschungen. Alles war herzlich, familiär und ungezwungen. Man kannte sich schon ewig. Eine blonde Frau trat an den Tresen.
„Doktor Mosbach, ich hatte Sie gar nicht so früh erwartet“, begrüßte sie den Arzt leicht nervös.
„Tanja, bitte. Wir kennen uns schon so lange. Ich bin Roland für dich“, erwiderte Doktor Mosbach lächelnd.
„Entschuldige bitte, daran gewöhne ich mich wohl nie.“
„Das solltest du aber.“ Roland war zwar müde, doch für die freundliche Eigentümerin des Motels hatte er stets ein Lächeln und Freundlichkeit übrig. „War der Bote schon hier?“
„Er war dieses Mal sehr pünktlich“, antwortete Tanja und reichte Roland einen Schlüssel. „Zimmer sechs. Deine Unterlagen liegen auf dem Schreibtisch.“
„Du bist einfach unschlagbar, Tanja“, meinte Doktor Mosbach grinsend. „Dann sehen wir uns Morgen zum Frühstück.“
„Pünktlich um sieben Uhr“, sagte Tanja und trug etwas ins Terminbuch ein. „Wenn Sie, ähm, wenn du noch etwas brauchst, weißt du ja, wie du mich erreichst.“
„Ich bin rundum zufrieden“, entgegnete Roland freundlich. „Du hast dir deinen Dienstschluss redlich verdient. Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, murmelte Tanja und räumte noch ein paar Unterlagen ein. Aus den Augenwinkeln blickte sie leicht sehnsüchtig dem Mediziner hinterher. Jedes Mal, wenn Roland in ihrem Motel unterkam, hatte sie so ein komisches Gefühl im Bauch, doch sie akzeptierte sein Privatleben.
Unterdessen hatte Roland sein Zimmer erreicht. Er stellte den Koffer in die Ecke, hängte seinen Mantel und sein Jackett feinsäuberlich in den Kleiderschrank aus massiver Eiche, trat an den Schreibtisch in der Mitte des kleinen Apartments, in dem sich neben dem Schrank und dem Schreibtisch, zwei Stühle, ein Bett, ein kleiner Fernseher, sowie eine Minibar mit allerlei Leckerem, was das Herz begehrt, befand. Doktor Mosbach öffnete die bereitgelegte Post und sortierte die Unterlagen, als sein Handy klingelte.
„Ausrechnet jetzt“, murmelte er gedankenverloren, kramte das Mobiltelefon aus seiner Hosentasche. „Doktor Mosbach?“
„Grüß dich Bruderherz“, meldete sich Rolands Bruder Bernhard am anderen Ende der Leitung. „Du bist schon wieder verfügbar?“
„Wie du hörst, Bernhard. Ich bin gerade im Motel und sortiere die Unterlagen“, antwortete Roland schmunzelnd, aber mit leichter Bitterkeit.
„Du klingst etwas bedrückt. Bei Alfred ist es wohl nicht gut gelaufen“, bemerkte Bernhard den Unterton seines Bruders.
„Woher weißt du?“, wollte Roland wissen.
„Ellen hat mir erzählt, was du vorhast“, erklärte Bernhard.
Roland lächelte am Telefon. „Ellen und Ronja sind wunderbar. Obwohl wir im Kellerlabor unseres Hauses gearbeitet haben, muss es ihnen vorgekommen sein, als wären wir kilometerweit weg.“
„Du hast eine verständnisvolle und wertschätzende Familie“, beruhigte Bernhard seinen Bruder. „Und das sage ich dir als eingefleischter Junggeselle.“
„Ein Fachmann sozusagen“, erwiderte Roland lachend.
„So ist es. Waren die Unterlagen zu deiner Zufriedenheit?“
„Alles bestens, soweit ich sehen kann. Morgen wird ein großer Tag, Bernhard“, meinte Doktor Mosbach nachdenklich. „Ich freue mich schon, wenn ich morgen Abend wieder die beiden in meine Arme schließen kann.“
„Ein großer Tag und ein drastischer Einschnitt in deine Freundschaft mit Professor Kerr“, vervollständigte Bernhard die Gedanken seines Bruders.
„Da hast du Recht“, murmelte Roland.
„Mach dir keine Sorgen, Roland. Du hast das Richtige getan. Irgendwann wäre die ganze Sache aufgeflogen und dann wäre unser aller Ruf ruiniert gewesen“, bekräftigte Bernhard Roland in dessen Entschluss. Ich werde Morgen zu Ellen fahren und im Labor aufräumen. Es ist einiges liegen geblieben.“
„Eine wunderbare Idee. Das wäre mir ein großes Anliegen“, antwortete Roland begeistert. „Morgen um diese Zeit haben wir hoffentlich Forschungsgeschichte geschrieben.“
„Wird schon schiefgehen“, munterte Bernhard seinen Bruder auf. „Gute Nacht dir und bis Morgen. Pass auf dich auf.“
„Danke. Grüße bitte Ellen und Ronja Morgen von mir. Ich bin in Gedanken bei ihnen“, verabschiedete sich Doktor Mosbach.
„Mach ich. Bis Morgen.“
Konzentriert schloss Doktor Mosbach die Arbeiten mit den Unterlagen ab. Er atmete tief durch. War es das wert - seinen Freund und Mentor für den eigenen Erfolg zu opfern?
Während Doktor Roland Mosbach im Wiesbadener Kultursaal den anwesenden Experten die Fortschritte seiner Forschung präsentierte, fuhr sein Bruder Bernhard wie angekündigt zu seiner Schwägerin und seiner Nichte. Im Labor der beiden Brüder, die für die medizinische Forschung schwärmten, war einiges an Arbeit und Unterlagen liegen geblieben, was einer dringenden Bearbeitung bedurfte. Die Mittagszeit näherte sich bereits, als Bernhard das Grundstück im Gründauer Ortsteil Hain-Gründau betrat. Er selbst hatte im selben Ort ein kleines Häuschen, das er liebevoll als seine „Junggesellenbude mit Charme“ bezeichnete, doch war er oft und gerne zu Gast bei der Familie seines Bruders. Doch etwas störte ihn, als er von seinem Fahrrad stieg. Die Haustür stand einen Spalt offen. Bernhard glaubte noch daran, dass Ellen oder Ronja vielleicht vergessen hatten die Tür zu schließen, doch angesichts der Umstände seiner Schwägerin war er auch verunsichert. Achtlos warf er sein Fahrrad in den Kies der Auffahrt und eilte los.
„Ellen! Ronja!“, rief er noch neckisch, um sich selbst zu beruhigen. „Ihr solltet nicht die Tür offenlassen. Selbst in unserer kleinen Gemeinde kann man nie wissen wer …“
Weiter kam er nicht. Er öffnete den Spalt ein Stück weiter, um ins Haus treten zu können. Der Schock fuhr ihm in alle Glieder. Vor dem Treppenabsatz zum Dachgeschoss lagen die leblosen Körper von Ellen und Ronja. Bernhard eilte zu ihnen, sah das Blut auf dem gefliesten Boden und prüfte die Vitalfunktionen der Beiden. Keine Zweifel – sie waren tot. Wie in Trance und einfach nur funktionierend, griff er zum Handy und wählte die Nummer seines Bruders. Nach dem dritten Klingeln nahm Doktor Mosbach ab. Im Hintergrund nahm Bernhard die Motorengeräusche wahr. Roland war schon auf dem Weg nach Hause.
„Bernhard“, begrüßte er ihn freundlich. „Dieses Mal habe ich dich an deiner Handynummer im Display erkannt. Du kannst es wohl kaum erwarten bis ich wieder zu Hause bin. Mach schon mal den Champagner auf: Es ist alles super gelaufen! Der Ausschuss hat die Gelder bewilligt und rate mal, wer der neue Vorsitzende des Landesgremiums ist?“
Bernhard schluckte. Die Informationen nahm er nur am Rande wahr. „Roland“, begann er. „Roland, es ist …“
„Was ist los, Bernhard?“ Auch Doktor Mosbach bemerkte die nervöse Haltung seines Bruders.
„Es geht um Ellen und Ronja. Sie sind …“ Bernhard überlegte, wie er seinem Bruder am schonendsten die Wahrheit beibringen sollte.
„Sie sind was?“ Roland war leicht gereizt. „Was ist los? Was ist mit meiner Frau und meiner Tochter?“
„Sie sind …“ Bernhard legte alle Kraft in das nun folgende Wort. „Tot, Roland. Sie sind beide tot.“
Im Hintergrund vernahm er das Quietschen von Bremsen. „Ich komme so schnell ich kann.“ Dann beendete Doktor Roland Mosbach das Telefonat.
Unmittelbar nachdem er seinem Bruder die schreckliche Mitteilung überbracht hatte, informierte Bernhard Mosbach die Polizei, die sofort mit einem riesigen Angebot das Anwesen der Familie von Doktor Roland Mosbach nach Spuren absuchte und akribisch die Beweismittel sammelte. Nachdem er den eifrigen Kräften eine Zeit lang zugesehen hatte, begab sich Bernhard auf die Veranda. Kreidebleich war er und so tat die frische Luft und die Sonne des Tages ihm ganz gut. Ein Kriminaloberkommissar der Polizei des Main-Kinzig-Kreis trat an ihn heran.
„Hier sind Sie ja“, meinte er freundlich und gleichzeitig erleichtert. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.“
„Entschuldigen Sie“, erwiderte Bernhard leise. „Die ganzen Umstände. Das viele Blut, die toten Körper, das war einfach ein wenig viel.“
„Mein vollstes Verständnis, Herr Mosbach.“ Der Oberkommissar trat an den Mediziner heran. „Ich wollte Ihnen auch nur mitteilen, dass meine Kollegen und ich soweit fertig sind. Erste Erkenntnisse haben wir auch schon gewonnen.“
„Wer macht so etwas?“, fragte der Schwager und Onkel der beiden Ermordeten fassungslos und abwesend. „Entschuldigen Sie, Herr Oberkommissar, was meinten Sie?“
„Herr Mosbach, es ist für niemanden eine alltägliche Situation“, erklärte Oberkommissar Gräfe ruhig. „Wir haben alle Spuren gesichert. Alles sieht nach einem geplanten Raubmord aus. Begonnen mit den Kratzspuren an der Eingangstür und die durchwühlten Aktenschränke. Jedoch wurde nichts Wertvolles gestohlen. Der Safe im Erdgeschoss, sowie das Portemonnaie im Sekretär mit immerhin 500 Euro wurden nicht angerührt. Allem Anschein nach waren der oder die Täter hinter etwas Bestimmten her. Einem Befund, vielleicht oder einem Bericht.“
„Einem Befund oder Bericht? Aktenschrank?“ Bernhard versuchte die Zusammenhänge zu begreifen.
„So ist es. Es gibt allerdings etwas, das mich beunruhigt.“
„Und das wäre, Herr Gräfe?“, wollte Bernhard wissen.
„Die Opfer kannten offenbar den oder die Mörder. Ihre Schwägerin und Ihre Nichte wurden im Eingangsbereich ermordet. Bei fremden Tätern befinden sich die Opfer zumeist weiter drinnen im Haus“, erläuterte der Oberkommissar seine Theorie.
„Sie kannten den Täter?“ Bernhard war beunruhigt. „Oh mein Gott.“
„Soweit meine These“, antwortete Oberkommissar Gräfe und räusperte sich. „Den Kollegen der Gerichtsmedizin ist zudem noch etwas aufgefallen. Ihre Schwägerin stürzte zuerst auf den Hinterkopf und erlitt beim Aufprall auf die Fliesen eine Platzwunde. Der Blutverlust war jedoch nicht tödlich. Tödlich war sowohl bei der Frau, als auch dem Mädchen die äußerst präzise Stichwunde am Oberkörper.“
„Ich verstehe nicht ganz“, wandte Bernhard Mosbach ein.
„Der Stich ist äußerst fein und präzise. Ein normales Messer wäre dazu nicht in der Lage. Jedoch ein Skalpell. Zudem traf der Mörder mit dem Stich genau das Herz. Halten Sie mich für naiv, Herr Mosbach, aber ein normaler Einbrecher oder ein Serientäter wären dazu nicht in der Lage gewesen. Wir gehen davon aus, dass der oder die Täter über medizinisches Fachwissen verfügen“, berichtete der Ermittler.
„Medizinisches Fachwissen?“ Bernhard war beunruhigt. In seinem Kopf spielte sich ein Film ab. Ein Puzzle, das sich langsam aber sicher zusammensetzte.
„Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“, fragte Oberkommissar Gräfe höflich. „Wir haben Mediziner und Seelsorger dabei.“
„Nein, nein“, wiegelte er ab. „Alles in Ordnung.“
„Wenn Sie oder Ihr Bruder noch etwas brauchen, hier ist meine Karte. Auf Wiedersehen, Herr Mosbach“, verabschiedete sich der Oberkommissar.
„Wiedersehen!“, nuschelte Bernhard abwesend.
Nachdenklich und mit trauriger Miene blickte er den Ermittlern und Kriminalisten hinterher, die ihre Sachen zusammenpackten und vom Grundstück seines Bruders fuhr. Das große Haus wirkte so kalt und so leer. Kurze Zeit später kam Roland Mosbach nach Hause. Entsetzen und Verzweiflung standen ihm ins Gesicht geschrieben, als er ins Haus stürmte. Von Trauer gezeichnet fielen sich die beiden Brüder in die Arme.
„Es tut mir so leid, Roland. Wäre ich nur früher gekommen, dann hätte ich alles verhindern können“, schluchzte Bernhard.
Doktor Roland Mosbach schüttelte nur mit dem Kopf. „Es ist nicht deine Schuld“, flüsterte er. „Ich war nicht da um meine Familie zu schützen.“
„Es war so schrecklich“, schrie Bernhard unter Tränen. „Einfach so unsagbar schrecklich. Das ganze Blut! Ihre Augen.“
„Wer auch immer das meiner Frau, meiner Tochter und meinem ungeborenen Sohn angetan hat“, knurrte Roland. „Er wird nie wieder ruhig schlafen können, das schwöre ich.“
Bernhard blickte seinen Bruder skeptisch an, doch er sagte nichts. Er wollte einfach nur für ihn da sein und die Trauer mit ihm teilen.
Die Brüder Mosbach saßen noch eine ganze Zeit beisammen. Bernhard berichtete Roland jede Einzelheit. Von seinem Eintreffen im Haus bis hin zum abschließenden Gespräch mit Oberkommissar Gräfe. Der Morgen graute bereits, als sie in einen unruhigen und traumlosen Schlaf fielen.
„… wurden in der Eingangshalle gefunden.“
„… kannten ihren oder ihre Mörder.“
„… einen Täter, der über medizinisches Fachwissen verfügt.“
Immer wieder wiederholte Doktor Roland Mosbach im Schlaf die Erkenntnisse von Oberkommissar Gräfe. Er war gebrochen. Am Tag seines größten beruflichen Erfolgs hatte ihm irgendjemand seine engsten Menschen genommen – seine Familie, die ihn mit Liebe und Zuneigung in seiner Arbeit unterstützte.
Acht Tage nach den schrecklichen Ereignissen sollte die Beisetzung von Ellen und Ronja Mosbach stattfinden. Ganz Hain-Gründau trug zu Ehren der beliebten Familie seit jenem schicksalhaften Tag Trauerflor. Die Musikkapelle des Ortes untermalte den Trauergottesdienst in der Trauerhalle. Alle wollten den Verstorbenen die letzte Ehre erweisen. Der kleine, fast unscheinbare Friedhof des Gründauer Ortsteils war weitläufig von Trauergästen gefüllt. Sie waren alle da – auch Professor Doktor Alfred Kerr. Der schwarzgekleidete Pastor sprach zu den Anwesenden:
„Es fällt immer schwer, Abschied von den Menschen zu nehmen, die wir lieben und die uns ans Herz gewachsen sind. Keiner der hier Anwesenden und keiner der in Gedanken hier ist, wird euch je vergessen, Ellen und Ronja Mosbach. Amen.“
Der Pastor blickte in den Himmel und wandte sich nochmal in die Gäste: „Ich danke Ihnen alle für Ihr Kommen und möge Gott Sie segnen.“
Er ging von den beiden ausgehobenen Gräbern weg und trat auf Doktor Roland Mosbach, der in vorderster Reihe stand. Roland lächelte freundlich dem Gottesmann zu und reichte ihm die Hand.
„Vielen Dank, Pastor Euler. Das waren sehr bewegende und mitfühlende Worte. Sie haben unser Leiden ein wenig lindern können und uns Mut und Hoffnung gegeben.“
Pastor Euler erwiderte den Handschlag: „Das Gute in uns ist stark, Roland. Doch lass dich nicht verleiten, was du später bereuen wirst oder du vor Gott nicht verantworten kannst. Sie werden den oder die Schuldigen finden und sie werden sich zu verantworten haben, sei es vor einem weltlichen Gericht oder vor Gott.“
„In Gottes Namen“, antwortete Roland. „Das werde ich.“
„Denke an meine Worte, Roland. Die Sünde ist aller Laster Anfang“, mahnte der Pastor und verabschiedete sich von dem trauernden Witwer und Familienvater.
Bernhard und Professor Kerr traten an Rolands Seite, während er sich von den Trauergästen nach und nach verabschiedete.
„Was wollte denn Pastor Euler von dir?“, fragte Bernhard.
„Später, heute ist nicht der Tag“, erwiderte Roland verschwörerisch.
„Ich kann es immer noch nicht glauben“, wechselte Professor Kerr das Thema. „Als dein Anruf letzte Woche mich erreichte. Ich war entsetzt.“
Doktor Mosbach hob die Augenbraue. „Wer war das nicht?“ Er blickte zu den beiden hölzernen Kreuzen, wo die Namen und Daten seiner beiden Lieben eingraviert waren. „In einer halben Stunde bei mir, Alfred? Ellen und Ronja hätten es bestimmt so gewollt.“
„Einverstanden. Bis nachher.“
Professor Doktor Alfred Kerr ging in Richtung seines Wagens, während Bernhard Mosbach diesem skeptisch hinterherblickte. Er bewunderte seinen Bruder, der tapfer die Beileidsbekundungen der Anwesenden entgegennahm. Als auch der letzte Besucher sein Mitgefühl ausgesprochen hatte, verließen die Brüder Mosbach den Gottesacker. Roland war recht schweigsam und auch Bernhard stand in der aktuellen Situation nicht nach Small-Talk. Dunkle Wolken zogen auf und ein Gewitter lag in der Luft, als Bernhard seinen dunkelblauen Opel Meriva auf den Parkplatz vor dem prächtigen Haus Rolands steuerte. Konzentriert und sich nichts anmerken lassen, schloss Roland die Tür auf und betrat mit seinem Bruder das Haus. Sie hingen die dünnen schwarzen Jacken an die Garderobe.
„Eins verstehe ich nicht, Roland“, brach Bernhard schließlich das Schweigen. „Warum hast du Alfred hierher eingeladen, wenn du ihn für den Täter hältst?“
„Oberkommissar Gräfe und sein Team haben die Alibis sämtlicher Mitglieder des Kollegiums überprüft – Alfreds eingeschlossen“, antwortete Dr. Roland Mosbach, der an die Hausbar trat und eine Flasche Single Malt Whisky herausholte. „Es besteht keinerlei Verdachtsmomente. Jedoch …“
Es klingelte. Bernhard öffnete, während Roland drei Gläser aus dem Schrank fischte, sie mit Eis füllte und den goldbraunen Trank einschenkte.
„Grüß dich Bernhard“, sagte Professor Kerr schnaufend, als er ihm die Tür geöffnet wurde. „Ich hoffe doch, dass ich nicht zu spät dran bin. Du weißt ja, wie wichtig Roland Pünktlichkeit ist.“
„Wenn du mich fragst, könnte der Augenblick nicht passender sein“, murmelte Bernhard und ließ Professor Kerr eintreten. „Wir erwarten dich im Salon.“
Der Professor hing seinen Mantel an die Garderobe und betrat den Salon. „Entschuldige Roland, dass ich euch so lange warten ließ, aber …“
„Einen Whisky Alfred?“, bot Doktor Mosbach seinem Kollegen höflich ein Getränk an.
„Da sage ich nein“, erwiderte dieser lächelnd.
„Auf Ellen und Ronja. Die beiden hätten es sicher so gewollt, dass wir zusammen ihr Andenken bewahren“, erhob Roland das Glas. „Und darauf, dass der Täter gefasst wird.“
„Oder die Täter“, warf Professor Kerr ein.
Roland lächelte und sie prosteten sich zu. Genussvoll nahmen die drei Männer einen Schluck.
„Was haben die Ermittlungen der Mordkommission ergeben?“, wollte Alfred wissen. „Irgendwelche neuen Erkenntnisse?“
„Leider nein“, erwiderte Doktor Mosbach geknickt. „Jedoch ist die Polizei mit neuen Spuren beschäftigt, die ihnen …“
Das Telefon klingelte. „Entschuldige, was für Spuren?“
„Später Alfred, ich nehme nur kurz das Telefonat entgegen, um …“
Roland verließ den Salon, um das Telefonat in sein Arbeitszimmer umzuleiten. Besorgt blickten Bernhard und Professor Kerr ihm nach.
„Er sollte in diesem Zustand nicht arbeiten. Vielleicht sollte ich ihn für einige Zeit in seiner Praxis vertreten“, meinte Alfred besorgt.
„Ich bezweifle, dass es soweit kommen wird“, murmelte Bernhard leise. „Besprich, das mit Roland.“
Roland eilte in sein Arbeitszimmer und nahm das Gespräch entgegen. Eigentlich war ihm die Störung nicht so ganz recht, aber er bemühte sich um Contenance, als er den Hörer abhob und sich meldete.
„Hallo Doktor Mosbach“, meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Hier spricht Christian Löw, der Besitzer der Tankstelle am Ortsausgang. Sie kennen mich?“
„Aber natürlich“, entgegnete Roland. „Was gibt es?“
„Mir ist da vorhin etwas aufgefallen“, fuhr Herr Löw fort. „Zuerst dachte ich es sei nicht so wichtig, doch mittlerweile glaube ich, dass Sie das sehr interessieren dürfte.“
„Schießen Sie los“, flüsterte Doktor Mosbach, um ganz sicher zu gehen, dass ihn niemand hörte.
„Nun ja, ich habe mir vor einigen Monaten eine Überwachungskamera zulegen müssen. Aus versicherungstechnischen Gründen, wie man heutzutage sagt. Leider bleibt man auch in so einem kleinen Ort nicht von Diebstählen verschont. Tabakwaren, Zeitschriften, Getränke und Ähnliches“, begann der Tankstellenbesitzer.
Ungeduldig klopfte Roland mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Er wirkte, wie in ein Raubtier, das nervös im Käfig hin- und herwanderte. „Herr Löw“, mahnte er schließlich, „bitte das Wesentliche.“
Christian Löw räusperte sich: „Entschuldigen Sie, natürlich. Ich habe vorhin einen Wagen vollgetankt. Einen schwarzen Range Rover mit Frankfurter Kennzeichen. Zunächst hatte ich mir nichts dabei gedacht, doch dann sichtete ich die Überwachungsbänder der Kamera. Dasselbe Modell hatte ich vor acht Tagen, am 23. August vollgetankt, dem Tag an dem Ihre Familie das schreckliche Schicksal erleiden musste. Den Wagen hatte ich auch vorhin auf dem Parkplatz am Friedhof wiedergesehen.“
Roland horchte auf. Seine Neugier war geweckt. Ein Tankstellenbesitzer hatte eine heiße Spur. „Können Sie die Person beschreiben, zu der der Wagen gehört?“
„Natürlich“, antwortete Herr Löw, „Mitte 50 etwa, weißes lockiges Haar, Vollbart und Hornbrille. Er machte einen recht feinen Eindruck.“
Jetzt fiel es Doktor Mosbach wie Schuppen von den Augen. Er hatte den mutmaßlichen Mörder seiner Frau, seiner Tochter und seines ungeborenen Kindes gefunden und er war in diesem Moment in seinem Haus. „Vielen Dank, Herr Löw“, bedankte er sich höflich. „Sie haben uns sehr weitergeholfen. Halten Sie das Band bitte zur Verfügung.“
„Das mache ich, Doktor Mosbach. Angenehmen Tag noch“, verabschiedete sich Christian Löw.
Roland legte den Hörer auf. Wut und unfassbarer Hass stiegen in ihm auf. Er verließ das Arbeitszimmer und eilte durch den Salon.
„Wer war das?“, fragte Bernhard seinen Bruder neugierig.
„Bestimmt jemand der sein Beileid aussprechen wollte und ein Patient“, mutmaßte Professor Kerr, ehe Doktor Mosbach antworten konnte.
„Richtig“, murmelte Roland fahrig. „Entschuldigt mich, ich muss kurz in meine Praxisräume, um das Rezept für …“
Unvollendet ließ er den Satz stehen und lief in Richtung der Praxisräume des Anwesens. Skeptisch und beunruhigt blickten Professor Kerr und Bernhard Mosbach dem Witwer hinterher. In seinen Praxisräumen angekommen blieb Roland vor dem großen Medizinschrank stehen. Das rechte Augenlid zuckte unkontrolliert auf und ab.
„Alles, was jetzt passiert, hast du dir selbstzuzuschreiben!“, zischte er. „Du dreckige Ratte!“
Er griff nach einer Dose mit Tabletten, nahm zwei Stück heraus zerkleinerte sie mit einem Mörser, packte das Pulver in eine Phiole, die er verschlossen, steckte diese in seine Hosentasche und begab sich zurück in den Salon, wo er auf Bernhard und Professor Kerr traf. Letzterer legte ihm fürsorglich, fast schon väterlich die Hand auf die rechte Schulter.
„Du bist völlig durch den Wind, Roland“, sagte er ruhig. „Du brauchst jetzt erst einmal eine längere Pause. Ich werde dich im Gremium und in deiner Praxis vertreten. Niemandem ist geholfen, wenn du dich als Ablenkung zu deiner Trauer in die Arbeit stürzt und dir ein Fehler unterläuft.“
Betroffen blickte Roland auf. „Du hast Recht. Das wird wahrscheinlich das Beste sein. Noch einen Malt zum Abschluss?“
Professor Alfred Kerr lächelte: „Sehr gerne Roland. Ich könnte noch einen Drink vertragen, ehe ich nach Hause fahre.“
Bernhard winkte ab und Roland bereitete an der kleinen Bar im Salon die Getränke zu. Er reichte Alfred sein Glas und prostete ihm mit seinem zu.
„Es ist schon spät“, meinte Alfred schließlich, „und ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Darf ich mich ein wenig frisch machen?“
Doktor Mosbach lächelte freundlich und erwiderte: „Du weißt ja, wo das Gästebadezimmer ist. Mach ruhig.“
Entschuldigend stand Professor Kerr auf und verließ den Salon. Skeptisch beobachtete Bernhard den ehemaligen Vorsitzenden und dann wanderte sein Blick zu seinem Bruder, dessen freundliches Lächeln sich in eine diabolisch grinsende Grimasse verzog.
„Was ist los, Roland?“, fragte er leise. „Wer war der Anrufer?“
„Du brauchst nicht zu flüstern, Bernhard. Alfred kann uns nicht hören“, antwortete Roland. „Der Anrufer war Christian Löw, der Besitzer der Tankstelle am Ortsrand. Er hat Alfred wiedererkannt.“
„Wiedererkannt?“ Bernhard war verwirrt. „Alfred war schon öfters hier gewesen, das ist doch kein Beweis.“
Doktor Mosbach lächelte. „Absolut richtig Bernhard. Alfred war schon öfters in Hain-Gründau gewesen. Bedauerlicherweise auch am 23. August.“
„Der Tag an dem …“
„An dem Ellen und Ronja sterben mussten“, beendete Roland den Satz für seinen Bruder.
„Das ist doch reine Spekulation“, wandte Bernhard ein. „Ich werde Alfred umgehend dazu holen und dann können wir ihn befragen.“
„Das ist absolut sinnlos“, entgegnete Doktor Mosbach. „Er dürfte jetzt bereits tief und fest schlafen.“
„Wie das?“
Roland kramte die Tablettendose aus seiner Tasche: „Donormyl!“
Bernhard war schockiert: „Du hast ihm ein stark wirkendes Schlafmittel in den Whisky getan?“
„Nur zwei Tabletten“, meinte Doktor Mosbach selbstsicher. „Du weißt ja, Alkohol verstärkt und beschleunigt die Wirkung.“
Bernhard hob skeptisch die Augenbraue. „Ich weiß nicht. Können wir wirklich sicher sein?“
„Wir sehen uns nachher die Überwachungsbänder an“, entgegnete Roland kühl. „Sollte sich der Verdacht nicht bestätigen, werden wir Alfred natürlich freilassen.“
Bernhard schüttelte den Kopf, doch Roland fuhr fort.
„Bernhard. Er hat vermutlich meine Frau und meine Kinder genommen, dir deine Schwägerin, deine Nichte und deinen ungeborenen Neffen! Und du weißt es nicht, ob du mir helfen willst?“
„Es läuft alles auf ihn heraus?“, mutmaßte Bernhard. „Er war nur hinter dem Geld und seinem Posten her?“
„Du hilfst mir also?“, fragte Roland nochmal deutlicher.
Bernhard nickte und gemeinsam mit seinem Bruder begab er sich ins Gästebadezimmer, um den bewusstlosen Körper von Professor Alfred Kerr zu bergen.
Langsam und schwach öffnete der graugelockte Mann mit dem Vollbart seine Augen. Aufgrund seiner Sehschwäche nahm er seine Umgebung nur sehr verschwommen war, dennoch erkannte er, als er an sich entlangschaute, was los war. Er lag in einem Bett – einem Krankenbett. Professor Alfred Kerr versuchte seine Arme und Beine zu bewegen, doch er verspürte einen Widerstand. Lederne Gurte an Hand- und Fußgelenken hinderten seine Bewegungsfreiheit. Er schaute hoch und blickte in zwei ernstdreinblickende Gesichter. Er nahm die Konturen nur verschwommen wahr. Langsam kamen die beiden näher. Professor Kerr erschrak:
„Was ist passiert? Wo bin ich?“
Doktor Roland Mosbach schob ihm vorsichtig die Brille auf die Nase und lächelte freundlich: „Du hattest, sagen wir mal so einen Schwächeanfall und befindest dich in unserem geheimen Kellerlabor. Du erinnerst dich? Unsere Forschungen über die Malignen bei Ratten?“
„Jaja. Gut“, seufzte Professor Kerr erleichtert. „Weiß jemand, was mir passiert ist?“
„Nein“, erwiderte Roland. „Du warst sehr lange ohnmächtig und hast lange geschlafen. Sehr lange. Genauer gesagt zehn Stunden! Und zu deiner Information: Die Hand- und Fußfesseln dienen nur deinem und unseren Schutz. Es soll sich ja keiner verletzen.“
„BINDET MICH SOFORT LOS!“, forderte der Professor lautstark, doch Roland winkte nur spöttisch ab.
„Erst bist du uns noch ein paar Antworten schuldig“, entgegnete der Chirurg und Wissenschaftler ruhig. „Dann sehen wir weiter.“
„Antworten?“ Professor Kerr war überrascht.
„Wir könnten uns darüber unterhalten, wie das Wetter wird oder die Chancen der Frankfurter Eintracht auf die Deutsche Meisterschaft stehen“, meinte Bernhard ruhig. „Oder du sagst uns, wo du am 23. August warst?“
„Am 23. August?“
„Langsam, Bernhard. Langsam“, mahnte Roland. „Lassen wir ihn doch erst einmal richtig zu sich kommen. Sein Geist ist noch völlig verwirrt.“
„Danke Roland“, bedankte sich Professor Kerr, in der Hoffnung das Schlimmste von sich abwenden zu können. „Ich wusste doch, dass alles nur ein Missverständnis ist.“
„Scheint so, als müssten wir deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, Alfred“, entgegnete Doktor Mosbach kalt. „Bernhard, bringe den Fernseher etwas näher heran und lass die DVD ablaufen.“
Professor Kerr blickte auf die Bilder der Überwachungskamera. Noch immer ahnte er nicht, was die beiden Männer von ihm wollten.
„Was wollt ihr von mir?“, fragte er flehentlich. „Ich habe ein wasserfestes Alibi.“
„Gerechtigkeit, Alfred. Nur Gerechtigkeit“, antwortete Roland kalt. „Dein Alibi ist gekauft, das hat mir James bereitwillig erzählt. Eintausend Euro für eine Falschaussage sind eine beachtliche Summe, hätte er allerdings gewusst, dass er damit einen Mörder deckt, hätte er abgelehnt.“
„Mein Auto steht noch hier“, wandte Alfred ein.
„Stand“, konterte ihn Bernhard aus. „Du hast zehn Stunden geschlafen, Alfred. Niemand weiß, dass du hier bist. Dein Range Rover parkt wieder in der Garage deines Anwesens.“
„Schon gut.“ Alfred ahnte, dass nur noch eine Kooperation ihn vor dem Schlimmsten bewahren konnte. „Was wollt ihr hören?“
„Was geschah am 23. August? Was geschah an dem Tag, als Ellen und Ronja sterben mussten?“, fragte Doktor Mosbach.
Professor Kerr räusperte sich, versuchte sich in eine trotz Fesseln möglichst angenehme Position zu bringen, ehe er die Geschehnisse des Todestages von Ellen und Ronja Mosbach schilderte:
„Ich fuhr zu ihnen, um Ellen zu überreden dich doch noch zu umzustimmen, dass ich meinen Vorsitz behalte.“
„Aber sie hat abgelehnt“, unterbrach Roland seinen einstigen Mentor.
„Sie war so abweisend. Du bist kein richtiger Wissenschaftler, wie Roland oder Bernhard, meinte sie kalt und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Ich war so wütend, ging an meinen Wagen, nahm den Notkoffer und holte ein Skalpell heraus. Dann ging ich zurück, klingelte und klopfte an die Tür. Nur widerwillig öffnete sie die Tür einen Spalt. Ich war so voller Zorn, stieß die Tür auf. Sie taumelte nach hinten, stürzte nach hinten über und schlug vor dem Treppenaufsatz auf den Boden auf. Besorgt eilte ich hinein und beugte mich über sie. Ellen blutete stark aus dem Hinterkopf. Hasserfüllt blickte sie mir in die Augen, drohte alles über mich und diesen Unfall an die Öffentlichkeit zu geben und dann …“
„Hast du zugestochen?“, mutmaßte Bernhard.
„Ich war so verzweifelt“, jammerte Professor Kerr. „Ich wollte nicht meinen guten Ruf verlieren. Da habe ich ihr das Skalpell ins Herz gestochen. Sie war sofort tot.“
„Und warum dann auch Ronja?“, fragte Bernhard.
„Als ich mich umdrehte, stand sie plötzlich hinter mir. Sie schrie entsetzlich und dann …“
„Musste sie ebenfalls sterben. Ein achtjähriges Mädchen, das ZUSEHEN MUSSTE, WIE DU IHRE MUTTER UND IHREN UNGEBORENEN BRUDER ERMORDET HAST!“ Roland verlor fast die Beherrschung und schrie seine ganze Trauer und seinen ganzen Zorn heraus, während sein Bruder ihn zurückhielt.
„Der Tod ist einfach zu gut für dich“, sagte Bernhard ruhig, während Professor Kerr zitternd und apathisch auf seinem Krankenbett lag. „Das hast du uns gerade eben bewiesen.“
„Wie bitte?“ Professor Kerr war verwirrt.
„Na ja“, erwiderte Roland und hatte ein diabolisches Grinsen aufgesetzt. „Du wolltest doch, verbessere mich bitte, wenn ich falschliege, an unseren Forschungen maßgeblich beteiligt werden.“
„Maßgeblich beteiligt?“
„Alfred. Du erinnerst dich doch noch an meinen Vortrag über die Malignen bei den Laborratten und dass unser nächster Schritt darin besteht es beim Menschen auszuprobieren“, erklärte Doktor Mosbach.
„Ja, ich erinnere mich.“ Der Professor hatte ein ungutes Gefühl. „Ich wollte maßgeblich beteiligt werden."
„Na also.“ Bernhard Mosbach grinste seinen Bruder zufrieden an und richtete seinen Blick zu Professor Kerr. „Die Einverständniserklärung ist damit schon gegeben, Doktor Mosbach.“
„Die Einverständniserklärung?“ Professor Kerr war schockiert.
„Alfred“, meinte Doktor Mosbach mit spöttischem Unterton. „Davon hast du doch mit Sicherheit schon gehört. Wir sagten ja bereits, dass du lange geschlafen hast und haben dabei dein Blut sehr genau untersucht und dabei festgestellt, dass du keine Malignen hast.“
„Gott sei Dank“, murmelte Alfred Kerr erleichtert. „Dann darf ich jetzt gehen?“