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Im Frankfurter Brentanopark wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Dem Leichnam fehlen die Beine. Die Kommissare Morna Mosch und Fabian Manninger vom Frankfurter Morddezernat werden auf den Fall angesetzt. Das Opfer eine talentierte Basketballspielerin der Frankfurter Füchsinnen. Die Ermittlungen gestalten sich als schwierig. Weitere Leichen werden gefunden, auch ihnen fehlen Körperteile. Das Puzzle für die Ermittler setzt sich zusammen, als an einem Opfer eine Spur entdeckt wird. Dann wird Hauptkommissarin Mosch entführt und jede Sekunde zählt.
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Seitenzahl: 165
Veröffentlichungsjahr: 2023
Marcel Kircher
Projekt Wolpertinger
Der Frauenschlächter von Frankfurt am Main
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12 – Epilog
Impressum neobooks
Es war ein grauer und trüber Nachmittag im Spätsommer im Frankfurter Westend. Die beiden Studentinnen Janina Hettich und Claire Fontaine genossen dennoch den verfrühten Unterrichtsschluss. Ihr Dozent für Geschichte der Rechtswissenschaft Professor Hagen Heinrich von Thiel hatte sich plötzlich krankgemeldet. Eher untypisch für den sehr zuverlässigen und nie kranken Studienrat. Die blonde Janina und die schwarzhaarige Claire nahmen in einem Eiscafé Platz, bestellten sich je einen Eisbecher und unterhielten sich angeregt.
„Hast du eigentlich schon für die Hausarbeit im Bereich Erwachsenenstrafrecht für Doktor Degenhardt fertig?“, fragte Janina ihre Kommilitonin.
„Seit letzter Woche. Das Praktikum in der Kanzlei war dafür echt hilfreich“, berichtete Claire. „Gregor Jensen ist nicht nur ein ausgezeichneter Jurist, sondern auch ein hervorragender Helfer. Zwischen den Terminen mit unseren Klienten nahm er sich immer wieder Zeit, um mir bei meinen Fortschritten zu helfen und das Geschriebene zu überprüfen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen.“
„Hast du es gut“, stöhnte Janina. „Ich hangele mich so gut es geht durch. Nur ist mein Vorgesetzter nicht so hilfreich wie dein Herr Jensen.“
„Alle schwärmen doch von diesem Doktor Andreas Wellenbrink“, erwiderte Claire nachdenklich. „Ist es wirklich so schlimm?“
„Er hat nie Zeit. Sein Schreibtisch stapelt sich mit den Fällen, die ich vorbereite. Nie bekomme ich Feedback. Seine Anwaltsgehilfin, diese Shania Gregory, bearbeitet die Akten, bereitet die Fälle fürs Gericht abschließend vor und schickt sie über unseren Kurierdienst dort hin. Doch eine Rückmeldung über Fehler erhalte ich nie. Im Gegenteil: Zumeist schicken sie mich zum Kaffee kochen oder Essen holen.“
Ehe Claire ihrer Freundin etwas erwidern konnte, brachte die Bedienung den beiden jungen Frauen das Bestellte.
„Soll ich deine Hausarbeit mal Gregor vorlegen?“, fragte Claire zwischen zwei Löffeln.
„Das würdest du für mich tun?“
Claire lächelte: „Du bist meine beste Freundin und ohne dich wüsste ich bis heute nicht, wie man sich im ÖPNV-Netz von Frankfurt zurechtfindet. Wenn du dich schon nicht zu einem Eis einladen lässt, dann lass mich wenigstens dir bei deiner Hausarbeit helfen. Das bin ich dir schon schuldig.“
Unruhig rutschte Janina auf ihrem Stuhl umher. Die Blondine fühlte sich leicht unwohl. Schon früh musste sie lernen sich selbst im Leben zu helfen und sich durchzuschlagen. Hilfe von anderen war ihr schon immer ein Graus gewesen.
„Entweder, du lässt mich dir mit deiner Hausarbeit helfen oder …“, begann Claire.
„Oder?“, fragte Janina.
Die schwarzhaarige Kommilitonin grinste: „Oder ich stecke Oliver im nächsten Semester, dass du auf ihn stehst. Und glaube mir, er hat auch schon ein Auge auf dich geworfen.“
„Du hast dich schon gerade nach §253 Strafgesetzbuch schuldig gemacht, das ist dir schon klar“, erwiderte Janina.
Claire lachte. „Höchstens nach §240 StGB der Nötigung“, erwiderte die aus Clermont-Ferrand stammende junge Frau ihrer Freundin. „Und es war Notwehr nach §32 StGB, meine Liebe.“
Janina verschluckte sich fast an ihrer Portion Eis. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Schuldig, aber dafür geht unser Eisessen auf mich.“
„Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mir die komplette Speisekarte bestellt“, erwiderte die junge Französin mit einem entwaffnenden Lächeln.
„Du freches Stück. Mehr wie einen Becher schaffst du eh nicht“, gab die Blondine zurück. „Also, ziehe ich nachher meine bisherige Hausarbeit auf einen USB-Stick und du nimmst ihn Morgen in die Kanzlei zu Herrn Jensen mit. Vielleicht hat er ja einen Rat für meine Schreibblockade.“
„Mit Sicherheit. Gregor ist ein absoluter Fachmann auf seinem Gebiet.“ Claire lehnte sich zurück, leckte genüsslich über ihren Löffel und grinste.
„Ihr habt doch nicht?“
„Gute Güte, nein“, entgegnete Claire, „Gregor ist verheiratet und seiner Frau treu. Natürlich schaut er gerne nach meinen Kurven, aber das machen ja alle Männer mit Geschmack.“
„Und du meinst Oliver steht wirklich auf mich?“, wechselte Janina das Thema. „Er ist schon echt süß und ich mag seinen Humor.“
Claire nickte mit einem gönnerhaften Lächeln. „Er steht mindestens genauso auf dich, wie du auf ihn. Nathan hat mir das erzählt, als wir im Sportraum auf dem Campus alleine waren. Ihr wärt ein wirklich süßes Paar, ganz ehrlich.“
„Wenn ihr das sagt.“
Die beiden Freundinnen aßen in Ruhe ihr Eis, tranken noch einen Cappuccino und verließen das Café. Janina wollte noch zum Basketballtraining, während Claire zurück an den Campus fuhr. Die junge Französin wollte die sturmfreie Bude in ihrem Zimmer, das sie sich mit Janina teilte nutzen und Nathan näherkommen. Sie besorgte in der Drogerie ein paar Kondome, Teelichter und Massageöl und stieg in die U-Bahn zur Universität. Vor anderthalb Jahren war sie zum Jurastudium nach Frankfurt gezogen. Die sprachlichen Schwierigkeiten holte sie dank Janinas Hilfe rasch auf und die beiden jungen Frauen wurden unzertrennlich. Lediglich die Leidenschaft ihrer Zimmergenossin für Basketball teilte Claire nicht. Diese Zeit nutzte sie seit vier Wochen, um ihre Liebesbeziehung zu Nathan Mulder zu intensivieren. Der junge Student der Betriebswissenschaften hatte es der Französin angetan und heute wollte sie den nächsten Schritt wagen.
Seit ihrer Kindheit spielte Janina Basketball bei den Frankfurter Füchsinnen. Und die Damen waren sehr erfolgreich. Während das männliche Pendant die Frankfurter Füchse nach nur fünf Jahren abgemeldet und in die Skyliners Frankfurt integriert wurden, gelang es den Füchsinnen mit ihrer Damenmannschaft an das Tor zur ersten Liga zu klopfen. Der Teamgeist und die Kameradschaft waren einzigartig und für Janina wie eine Ersatzfamilie. Noch ein Spieltag trennte die Mannschaft von der Meisterschaft in der Südweststaffel und der Teilnahme an der Playoff-Runde zur Bundesliga. Trotz ihres Studiums, inklusive Praktika schaffte es Janina regelmäßig zu trainieren und eine wichtige Rolle als Power Forward in der Mannschaft zu übernehmen. Als Jugendtrainerin und Schiedsrichterin verdiente sie sich ein paar Euros extra. Ihre Trainerin Jutta Schwedt hatte als ehemalige Nationalspielerin eine Menge Erfahrung und die gab sie an ihre Schützlinge gerne weiter. Konzentriert beobachtete die 46-Jährige das Trainingsspiel ihrer Mannschaft, nahm immer wieder Korrekturen vor und gab Anweisungen, während sie nebenbei noch das Spiel als Schiedsrichterin leitete. Sie merkte, dass Janina heute leicht abgelenkt wirkte. In einer Auszeit nahm sie die Studentin beiseite.
„Was ist heute los, Janina?“, fragte sie besorgt. „Du bist doch sonst durch nichts aus der Ruhe zu bringen und heute wirkst du, als wenn du neben dir stehst.“
„Es ist nichts, Jutta“, antwortete Janina. „Ich bin heute einfach ein wenig nachdenklich. Meine Hausarbeit an der Uni hängt ein wenig und na ja …“
„Ich verstehe. Ein junger Mann, der dir etwas den Kopf verdreht“, schoss die Trainerin ins Blaue.
Ertappt blickte Janina zu Boden. „Außer ein bisschen Blickkontakt ist nichts. Wir haben es uns noch nicht gesagt, was wir empfinden. Und ich denke darüber nach, wie seine Reaktion ist, wenn ich es ihm gestehe.“
„Wenn es weiter nichts ist.“ Jutta Schwedt blickte sich kurz um und rief einer Spielerin, die noch draußen saß kurz zu, dass sie den Schiedsrichterpart kurz übernehmen sollte. Janinas Mannschaft sollte kurz das Spiel in Unterzahl bestreiten. „Rede mit ihm“, meinte die Trainerin aufmunternd. „Dann weißt du, woran du bist. Entweder ist es nur Schwärmerei von ihm und er verneint deine Gefühle oder er empfindet genauso, wie du.“
„Es ist schwieriger Gefühle zu balancieren, als ein Freiwurf beim Basketball.“ Traurig hatte Janina den Kopf gesenkt. Die junge Frau dachte an ihre Kindheit. Die Trennung ihrer Eltern, die wechselnden Liebhaber ihrer Mutter, die sich in Teenager-Jahren auch an Janina wandten und etwas von ihr wollten. Schließlich ergriff sie die Flucht, wandte sich ans Jugendamt, kam in ein Heim, machte dennoch ihr Abitur mit Bestnote und begann ihr Studium. Durch ein Stipendium des Landes Hessen konnte sie das Studentenleben gut ableisten.
„Gefühle sind immer schwierig“, lautete Juttas Rat. „Ich habe eine Idee. Gestehe ihm, was du für ihn empfindest und lade ihn doch zu unserem Spiel am Sonntagnachmittag in die Halle ein. Danach könnt ihr was Essen gehen und euch näher kennenlernen. Es ist nicht ganz so beengt, wie auf dem Uni-Campus.“
„Ich werde es versuchen, danke Jutta.“
Janina nahm einen Schluck aus ihrer Flasche, band sich ihre Schuhe noch etwas fester und betrat das Spielfeld. Sofort hatte sie ihren Fokus wieder, fand ihre Form und versenkte die Rebounds mit verblüffender Leichtigkeit. Nach dem Training duschte sie sich, stieg auf ihr Fahrrad und radelte in Richtung Campus zurück. Über ihre Kopfhörer hörte sie etwas Musik von ihrem Smartphone. Janina hatte die Welt um sich herum komplett ausgeschaltet. Ihre Gedanken waren jetzt bei Oliver und ihren Gefühlen zu ihm. Sie wollte ihn Morgen nach dem Praktikum in der Kanzlei auf dem Unigelände ungestört sprechen. Eine Handynummer hatte sie leider nicht von ihm. Also musste sie ihn auf dem Campus ansprechen und dann in eine ungestörte Ecke ziehen. In ihrer eigenen Gedankenwelt verschwunden, bemerkte die junge blonde Frau nicht, dass sie verfolgt wurde. Ein Mofa mit einer schwarzgekleideten Person blieb in einem sicheren Abstand an ihr dran.
Claire und ihr Freund Nathan hatten sich auf dem Bett der jungen Französin vergnügt. Eng umschlugen lagen sie nebeneinander auf dem recht schmalen Bett, hauchten sich gegenseitig Küsse auf die nackte Haut. Um nicht überrascht zu werden, hatte Claire ein Seidentuch an die Zimmertür gehängt.
„Es ist schon sehr ungewöhnlich“, bemerkte Claire und schob Nathan sanft zur Seite und warf einen Blick auf ihr Handy. „Sie müsste normalerweise schon längst da sein.“
Nathan verzog die Lippen zu einem Schmollmund. „Mach dir keine Sorgen. Vielleicht hat das Training länger gedauert oder ihr Fahrrad hat einen Platten oder …“
„Oder was?“
„Oder sie hat Oliver auf dem Campusgelände getroffen und die beiden reden miteinander über ihre Gefühle“, beendete Nathan seine Aufzählung. „Jetzt erwarte doch nicht immer das Schlechte. Vielleicht sitzen die beiden gerade wild knutschend auf meinem Zimmer.“
„Gut möglich“, murmelte Claire noch immer besorgt, „aber dann hätte sie mir eigentlich eine Nachricht geschrieben.“
„Schreib ihr doch eine kurze Nachricht und wir können noch eine zweite Runde einlegen“, flüsterte Nathan.
„Na gut. Vielleicht hat sich danach die Sache geklärt und Janina hat geantwortet oder ist trotz des Signals an der Tür ins Zimmer gestolpert“, antwortete Claire, tippte eine kurze Nachricht in ihr Chat-Programm, schickte sie an ihre Kommilitonin und legte das Handy auf ihren Nachttisch. „Dann komm zwischen meine Schenkel mein britischer König.“
„God save the French Queen.“ Nathan küsste sie zärtlich auf die Lippen, nahm sie in seine muskulösen Arme und sank mit ihr in die Decke und das Kissen. Claire stöhnte voll Lust auf, als er in sie eindrang und erwiderte leise: „Falscher Text. Du meinst God fuck the French Queen.“
Das junge Studentenpaar liebte sich innig, ehe sie gemeinsam eng umschlungen einschliefen und nichts von ihrer Umwelt wahrnahmen. Eine Nachricht blinkte in Claires Handy auf. Sie war von Janina. Wären die junge französische Studentin und der englischstämmige Nathan nicht nach dem Akt eingeschlafen, hätten sie gelesen, dass Janina die Botschaft an der Zimmertür wahrgenommen hatte und sie draußen vor der Tür wartete. Nach Mitternacht und als Janina keine Geräusche mehr aus dem Zimmer hörte, schlich sie sich leise herein, zog sich um und legte sich in ihr Bett. Sie stellte ihren Wecker auf eine halbe Stunde vor Claires Alarm, um sich zurückziehen zu können, damit die beiden Liebenden nichts von ihrer Anwesenheit bemerkten.
Vor der Universität hielt ein schwarzes Mofa. Ein Mann im schwarzen Overall und schwarzen Helm hatte beobachtet, wie Janina Hettich auf den Campus geradelt war und ihr Fahrrad am Fahrradständer abgeschlossen hatte. Sie war genau das Mädchen, nachdem er Ausschau gehalten hatte. Er könnte jetzt zuschlagen, doch das war ihm auf dem Campus zu heikel. Der Fremde lüftete sein Helmvisier, beobachtete wie Janina in Richtung der Wohneinheiten ging, startete seine Maschine und fuhr vom Gelände. Mittels Bluetooth-Einrichtung informierte er seinen Mitstreiter über den Erfolg seiner Beobachtungen.
„Wann sollen wir zuschlagen?“, fragte er seinen Partner.
„Sie hat Übermorgen wieder Training. Versuche sie dabei abzupassen“, lautete die Antwort.
„Wir schlagen zu und machen es, wie immer Brüderchen. Bis später.“
Der Unbekannte beendete das Gespräch, drehte das Gas etwas auf und beschleunigte die offensichtlich frisierte Maschine auf 60 km/h. Wie im Rausch fegte er durch die leeren Straßen der Stadt, um nach Hause zurückzukehren.
In einer Wohnung im Frankfurter Stadtteil Dornbusch stand eine braunhaarige Frau mit rehbraunen Augen in ihrer Küche und telefonierte mit ihrem Handy. In der linken Hand hielt sie eine Kaffeetasse und sie wirkte sehr erregt und aufgewühlt während des Telefonats. Es war die Kriminalhauptkommissarin des Frankfurter Morddezernats, Morna Mosch. Die gebürtige Schwedin war 36 Jahre alt und lebte seit vier Jahren in Trennung von ihrem Ehemann Jürgen. Vor zwei Jahren war die Scheidung dann endlich gerichtlich durch und die beiden teilten sich das Sorgerecht für ihre achtjährige Tochter Lea. Alle vierzehn Tage sollte Jürgen Mosch seine Tochter Freitag nach der Schule zu sich nehmen und am Sonntagabend bei seiner Ex-Frau wieder abgeben. Doch der Abteilungsleiter eines großen Möbelhauses geriet durch sein Arbeitspensum immer wieder in Schwulitäten, was diese Zeiten anging und darunter litt nicht nur die gemeinsame Tochter.
„Es tut mir sehr leid“, bekam Morna aus dem Hörer von ihrem Ex-Mann zu hören, „aber die Messe ist sehr wichtig für unsere Firma und ich kann leider keinen anderen schicken. Mein Vorarbeiter Richie hat sich gestern Abend beim Fußball das Bein gebrochen und die Aussteller möchten natürlich schon bei so einer Messe mit einem der höheren Tiere sich unterhalten und austauschen.“
„Ja Jürgen“, antwortete Morna genervt und nahm noch einen tiefen Schluck aus ihrer Kaffeetasse, „du kannst Lea auch erst am Samstag holen. Wird ihr zwar das Herz brechen, dass ihr Vater sie wieder enttäuscht, aber das sind wir ja mittlerweile von dir gewöhnt.“
Jürgen antwortete nicht weiter darauf, kommentarlos legte er auf und ließ die braunhaarige Frau mit ihrem Kaffee in ihrer Wohnung zurück. Abwesend blickte sie in die Tasse auf das „Schwarze flüssige Gold“. Ein Glück war Lea schon in der Schule und Morna hatte ihren freien Tag im Kommissariat.
„Also muss ich meine Mutter bitten, dass sie Lea am Freitag von der Schule abholt. Der Heinrich wird mir nicht noch einen Tag freigeben“, murmelte sie, während sie einen Blick auf den Kalender warf und noch einen Schluck Kaffee nahm. „Also, ran an den Haushalt, der macht sich leider nicht von allein.
Die Kriminalhauptkommissarin des Frankfurter Morddezernats stellte ihren Kaffeebecher beiseite, nahm sich einen Lappen, machte diesen nass, tauchte ihn in Reinigungsmittel und begann mit der Hausarbeit. Zwischendurch rief sie ihre Mutter an und bat sie ihre Tochter Lea am Freitag von der Schule abzuholen. Morna Moschs Mutter bewirtschaftete mit ihrem Mann einen kleinen Ferienbauernhof im benachbarten Bad Vilbel. Erwartungsgemäß war sie über den zusätzlichen Aufwand, der durch den Mangel an Flexibilität von Mornas Ex-Mann Jürgen entstand, nicht erbaut, aber sie freute sich auf ein wenig Zeit mit ihrer achtjährigen Enkelin und sagte selbstverständlich zu.
„Wann wirst du am Freitag die Kleine abholen kommen?“, fragte sie Morna.
„Das kommt ganz drauf an. Du weißt ja, der Alltag im Morddezernat ist schwer zu planen. In letzter Zeit war es ruhig und Lea und ich würden uns am Freitag auf eine leckere Portion deiner Grie Soß zum Abendessen freuen.“
„In Ordnung“, antwortete Mornas Mutter, Gabriele lachend. „Ich werde es soweit vorbereiten und wenn du von der Arbeit losfährst, kannst du dich ja nochmal melden, damit ich es warmmachen kann.“
„Vielen Dank, Mama. Du bist die Beste! Eine wahre Heldin“, sagte Morna.
„Du aber auch. Nicht nur im Dienst, sondern auch für deine Familie. Hans, Lea und ich sind so unfassbar stolz auf dich. Wenn dein Jürgen nur etwas flexibler gewesen wäre mit seinem Job, dann …“ Mornas Mutter brach mit einem Hauch von Enttäuschung in ihrer Stimme ab.
Morna schüttelte den Kopf. Eine Träne kullerte ihre Wange herunter. „Unsere Ehe war schon von Anfang an recht wacklig. Wir waren beide mehr mit unserer Arbeit verheiratet, als miteinander. Er hat sich am Anfang super um Lea gekümmert und war für sie da, während meine Karriere voranschritt. Dann kam seine Beförderung und wir standen vor einem Trümmerhaufen. Es gehören immer Zwei dazu, Mama. Zwei für eine Beziehung und auch Zwei für das Scheitern der Selbigen.“
„Das hast du schön gesagt, Morna. Dann hoffe ich, dass wenigstens am Samstag alles glattgeht.“
„Grüß Vater schön. Ich habe euch lieb“, verabschiedete sich Morna, ehe sie mit dem Haushalt weitermachte.
Der Nachmittag verlief unspektakulär. Um 13 Uhr holte sie ihre Tochter von der Schule ab, aß mit ihr zu Mittag, half ihr bei den Hausaufgaben und spielte Brettspiele mit ihr und brachte sie nach dem Abendessen zu Bett. Natürlich war Lea enttäuscht, dass ihr Vater erst am Samstag für sie Zeit haben sollte, aber der unterhaltsame Nachmittag half ihr darüber hinweg. Morna wollte den freien Abend und das schlafende Kind ausnutzen. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein, nahm auf dem Sofa Platz, schaltete den Fernseher ein und legte die Füße hoch. Plötzlich vibrierte ihr Handy und kündigte ihr einen Anruf an. Ein Blick aufs Display verriet, dass es ihr Kollege war – Kriminalkommissar Fabian Manninger. Mit einem Gefühl der Skepsis nahm sie das Gespräch an.
„Was gibt es denn, mein lieber Kollege?“, fragte sie. „Es muss ja wirklich dringend sein, wenn …“
„Wenn ich dich an deinem freien Tag störe, Morna“, beendete Fabian den Satz für seine Kollegin. „Tut mir wirklich leid, aber wir haben hier einen absolut heftigen Fall. Ich bin gerade im Brentanopark. Eine weibliche Leiche, Anfang zwanzig und das Makabrere an dem Leichnam: Die Beine fehlen.“
Der Kriminalist ließ die Aussage auf seine Kollegin wirken. Morna war ebenfalls fassungslos. „Gibt es irgendwelche Hinweise auf eine Vergewaltigung?“, wollte sie schließlich wissen.
„Äußerlich ist nichts zu erkennen. Doktor Pfaffmann nimmt sie mit auf seinen Tisch. Ich denke mal, dass wir spätestens morgen Mittag den Bericht von ihm auf unserem Schreibtisch haben. Könnte also ein harter Endspurt in der Woche werden, Morna“, erklärte Fabian.
„Danke für die Vorwarnung“, murmelte die Kriminalhauptkommissarin und nahm einen Schluck Wein. „Dann weiß ich ja schon mal, was mich bei Dienstbeginn erwartet.“
„Nicht dafür. Ich werde gegen acht Uhr da sein, dann können wir uns schon einmal zusammensetzen.“ Fabian Manninger schwieg und das kam Morna etwas komisch vor.
„Ist noch etwas Fabian?“, fragte sie.
„Nun ja. Der Heinrich war natürlich auch vor Ort“, flüsterte er, dass Morna Mühe hatte ihren Kollegen zu verstehen. „Ihm wäre es am Liebsten gewesen, wenn du sofort hier aufgekreuzt wärst, aber ich habe ihm klargemacht, dass ich auch alleine die Spurensicherung führen kann. Dann hat er wie immer etwas rumdiskutiert und ist fast cholerisch geworden, aber dann ist er wie ein Brummbär von dannen getrottet. Er meinte, dann könne er sich auch um seine kranke Frau weiter kümmern.“
„Oh je“, erwiderte Morna traurig. „Das ist so typisch für ihn. Ich weiß, dass es seiner Frau wirklich nicht gut geht und er auch viel in dieser Betreuungszeit zu Einsätzen fährt, wenn er gerufen wird. Aber er hat zwei erwachsene Kinder, die ihn dabei unterstützen. Ich kann Lea nicht so einfach alleine lassen.“
„Mach dich nicht verrückt, Lieblingskollegin. In drei Jahren geht der Alte eh in Pension. Außerdem habe ich für dein Lea-Problem vielleicht eine gute Lösung, die bereden wir Morgen in Ruhe. Gute Nacht, Morna.“
„Gute Nacht.“
Angespannt legte die Kriminalhauptkommissarin ihr Handy beiseite. Sie ahnte, dass ihr Morgen noch eine Unterredung im Büro von ihrem Vorgesetzten bevorstehen würde. Ein Vier-Augen-Gespräch mit Kriminaloberrat Doktor Heinrich Detlef von Sternberg, den intern im Morddezernat alle nur „den Heinrich“ nannten. Sie stellte sich den Wecker auf halb fünf am nächsten Morgen, um genug Zeit für alle Erledigungen vor Arbeitsbeginn zu haben.