Dolmetschen in der Psychotherapie - Mascha Dabic - E-Book

Dolmetschen in der Psychotherapie E-Book

Mascha Dabić

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Beschreibung

In der dolmetscherunterstützten Psychotherapie herrscht ein prekäres Gleichgewicht, an dessen Aufrechterhaltung Dolmetscher:innen maßgeblich beteiligt sind. Alle Formen der Psychotherapie sind stark an Sprache gebunden. Die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, wird durch die Problematik verschärft, über traumatische Erlebnisse zu sprechen. Die Dynamiken innerhalb der Triade Psychotherapeut:in – Dolmetscher:in – Klient:in sind u.a. von Gratwanderungen, Oszillationen und Annäherungen charakterisiert. Dabei werden die Dolmetscher:innen mitunter mit divergierenden Erwartungshaltungen konfrontiert.

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Seitenzahl: 505

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Mascha Dabić

Dolmetschen in der Psychotherapie

Prekäres Gleichgewicht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.

ISBN 978-3-8233-8234-8 (Print)

ISBN 978-3-8233-0322-0 (ePub)

Inhalt

Danksagung1 Einleitung2 Kultur und Interkulturalität2.1 Kulturelle Prototypen2.2 Sprache und Kultur2.3 Interkulturalität: psychoanalytische und psychotherapeutische Ansätze2.3.1 Identität im Kontext der Migration2.4 „Kulturelle Übersetzung“2.5 Das Fremde2.6 Exkurs: Vom Schweigen in der Kommunikation2.7 „Das Unbehagen in der Kultur“2.7.1 Wege zur Linderung des seelischen Leids2.7.2 „Warum Krieg?“2.8 Abschließende Bemerkungen3 Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen3.1 Definition3.1.1 Trauma oder belastendes Lebensereignis?3.2 Posttraumatische Belastungsstörung3.2.1 Definition und Symptome3.2.2 Folter und Trauma3.3 Arbeiten mit traumatisierten Menschen3.3.1 Die therapeutische Beziehung und Therapieziele3.3.2 Dynamiken in den Einrichtungen für Kriegs- und Foltertraumatisierte3.4 Trauma und Gesellschaft: Abwehrreaktionen3.5 Abschließende Bemerkungen4 Dolmetschen in der Psychotherapie: Forschungsstand4.1 Kontextualisierung in der Translationswissenschaft: Community Interpreting4.1.1 Vergleich mit dem Konferenzdolmetschen: Faktor Professionalisierung4.1.2 Anforderungen an die DolmetscherInnen im Bereich Community Interpreting4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen4.2.1 „Bühne“ und „Rolle“4.2.2 Überlegungen zur Ethik4.3 Themenrelevante Untersuchungen4.3.1 Methoden im Überblick4.3.2 Ausgewählte Thematische Schwerpunkte4.3.3 Ausblick auf die Forschungsdesiderata der vorliegenden Studie5 Forschungsprojekt5.1 Zugang zum Feld: Traumazentren als „hochsensible Einrichtungen“5.1.1 Reflexion der eigenen Forscherinnenrolle5.2 Methodische Vorüberlegungen zum Forschungsprojekt5.3 Skizzierung der Wissenslücke und Ausblick5.4 Leitfadeninterviews5.5 Forschungsfragen5.5.1 Fragen an die einzelnen AkteurInnen in der Triade5.5.2 Fragen das Setting betreffend5.6 Auswertung des Materials5.6.1 Transkription der Interviews5.6.2 Kodierung5.7 Abschließende Bemerkungen6 Die Perspektive der KlientInnen6.1 Grundverständnis über die Psychotherapie6.1.2 Themenkomplex Person des Dolmetschers6.1.3 Themenkomplex Dolmetscherwechsel und Austauschbarkeit des Dolmetschers6.1.4 Themenkomplex Vertrauen6.1.5 Erwartungen und Rollenzuschreibungen6.1.6 Schwierigkeiten und Unzufriedenheit im Dolmetschprozess6.1.7 Zufriedenheit mit dem Dolmetschprozess7 Die Perspektive der Psychotherapeutinnen7.1 Einleitendes7.2 Arbeitstechnik7.2.1 Sitzordnung und Blickkontakt7.2.2 Dolmetschmodus: simultan / konsekutiv7.2.3 Direkte und indirekte Rede7.3 DolmetscherInnenwechsel7.4 Die DolmetscherIn, Teil eins: Rollenverständnis, „Kulturkompetenz“, Herkunft7.4.1 Rollenverständnis7.4.2 „Kulturkompetenz“7.4.3 Herkunft der DolmetscherIn7.5 Die DolmetscherIn, Teil zwei: Voraussetzungen, Eigenschaften, Belastung7.5.1 Abgrenzung: Gratwanderung zwischen Empathie und Distanzierung7.5.2 Kompetenz: Fachwissen und Hintergrundwissen7.5.3 Professionalität7.6 Vor- und Nachgespräche7.6.1 Vorgespräche7.6.2 Nachgespräche7.6.3 Intervision7.7 Schwierigkeiten, Belastungen, Probleme7.7.1 Konkurrenz und Grenzüberschreitungen7.7.2 Grenzen der Übersetzbarkeit7.7.3 Geschlecht7.8 Die Spezifik der Triade7.8.1 Die Zeugenschaft der DolmetscherIn7.8.2 Tempo und Zeitfaktor7.8.3 Sonstige Unterschiede zur Dyade7.9 Abschließende Bemerkungen8 Die Perspektive der DolmetscherInnen8.1 Arbeitstechnik8.1.1 Dolmetschmodus: simultan/konsekutiv8.1.2 Sitzordnung und Blickkontakt8.1.3 Erste Person und/oder dritte Person8.2 Belastung in der Arbeit mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen8.2.1 Abgrenzung8.2.2 Vor- und Nachgespräche, Supervision, Intervision8.3 „Kulturkompetenz“8.3.1 „Kultur“ als Thema in Nachgesprächen8.3.2 Schwierigkeiten im Bezug auf „Kultur“8.4 Rollenverständnis8.4.1 Professionalität8.5 Schwierigkeiten und Missverständnisse8.6 Sonstige Rückmeldungen8.7 Abschließende Bemerkungen9 Diskussion9.1 Reflexion der Methodik9.2 Gratwanderungen, Oszillationen, Annäherungen9.2.1 Gratwanderungen9.2.2 Oszillationen9.2.3 Annäherungen9.3 Weiterführende Forschungsfragen9.4 Der Aufschlusswert der Studie10 SchlussbemerkungenBibliographieOnline-QuellenAnhang

Danksagung

Das Gelingen eines psychotherapeutischen Prozesses hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab, noch dazu, wenn das Gespräch zwischen PsychotherapeutIn und KlientIn gedolmetscht werden muss. Ein Faktor ist jedoch ausschlaggebend, indem er die Grundvoraussetzung für diese kommunikative Situation schafft, nämlich die Bereitschaft der KlientInnen, sich in diesem spezifischen Kontext mitzuteilen, sich auf das Sprechen – ihr eigenes Sprechen – einzulassen, das nötige Vertrauen der PsychotherapeutIn und der DolmetscherIn gleichermaßen entgegenzubringen. Daher gilt mein Dank in erster Linie den zahlreichen KlientInnen, mit denen ich in den letzten Jahren als Dolmetscherin gearbeitet habe und deren Stimmen direkt und indirekt in die vorliegende Arbeit Eingang gefunden haben.

Mein Dank gilt den PsychotherapeutInnen im Zentrum für interkulturelle Psychotherapie in Tirol ANKYRA (in Innsbruck), wo ich die Gelegenheit hatte, meine ersten Erfahrungen als Dolmetscherin zu sammeln, sowie im Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende HEMAYAT in Wien, in dem ich seit 2005 als Dolmetscherin tätig bin. In beiden Einrichtungen habe ich nicht nur als Dolmetscherin, sondern später auch als Forschende immensen Zuspruch und Rückhalt erfahren. Ich hatte die Möglichkeit, in Therapien und flankierenden Einzel- und Gruppengesprächen zu lernen und mir Stück für Stück zu erarbeiten, was Sprechen und Schweigen, Erinnern und Vergessen, Imaginieren und Träumen bedeuten kann und wie ich als Dolmetscherin meine Expertise darin weiterentwickeln, verfeinern und zur Entfaltung bringen kann. „Ausgelernt“ habe ich in diesem Ozean der Sprache nicht, aber ich habe mit Hilfe der TherapeutInnen – AnsprechpartnerInnen, KollegInnen und WeggefährtInnen – im Laufe der Jahre gelernt, mich in dem besagten Ozean nicht nur über Wasser zu halten, sondern auch mit Genuss zu „schwimmen“ und den „Wellengang“ zu studieren. Viele Menschen haben mich zum Verfassen der vorliegenden Arbeit inspiriert und bestärkt, an dieser Stelle möchte ich nur wenige von ihnen namentlich nennen, da der Versuch einer vollständigen Auflistung ausufernd wäre: Verena Schlichtmeier, Claudia Baldeo und Binja Pletzer (Psychotherapeutinnen im Zentrum „Ankyra“), Cecilia Heiss (Geschäftsführerin von „Hemayat“ und Freundin), sowie Lika Trinkl, Friedrun Huemer, Heidi Behn und Bibiane Ledebur (Psychotherapeutinnen bei „Hemayat“), Uta Wedam (Supervisorin für DolmetscherInnen), und viele andere, die wissen, dass sie hier ebenfalls gemeint sind. Ausdrücklich möchte ich mich auch bei Heidi Schär-Sall (Ethnopsychoanalytikerin in Zürich) bedanken – dem beständigen Dialog mit ihr über Jahre hinweg habe ich tiefere Einsichten über die Psychoanalyse zu verdanken.

Damit der Transfer von der Praxis der dolmetschunterstützten Therapie hin zu einer wissenschaftlichen, universitär eingebetteten Auseinandersetzung gelingen konnte, war ich auf die Unterstützung und unermessliche Geduld meines Betreuers am Wiener Zentrum für Translationswissenschaft Univ.-Prof. Dr. Franz Pöchhacker angewiesen, der mich von Anfang an mit höchster Zuverlässigkeit begleitet hat und der die redliche wissenschaftliche Praxis nicht nur als Lehrender und als Betreuer seit Jahrzehnten unermüdlich vermittelt, sondern auch als Wissenschaftler konsequent vorlebt, und zwar sowohl in seinem unmittelbaren Umfeld am ZTW, als auch auf internationaler Ebene in einschlägigen wissenschaftlichen Kreisen.

Ich hatte das große Glück und Privileg, auch von meiner Zweitbetreuerin Doz. Dr. Brigitta Busch wichtige Impulse und wertvolle Inspiration aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive zu erhalten. Auch ihr gilt mein tief empfundener Dank. Sie hat mir eindrucksvoll vor Augen geführt, wie menschliche Erfahrungen als sprechende (und auch als schweigende) Wesen den akademischen Diskurs bereichern können.

Obwohl mein Vater Bogdan L. Dabić zeitlebens nicht viel von akademischen Danksagungen und Widmungen hielt, möchte ich mich dennoch an dieser Stelle bei ihm bedanken, auch wenn er nur meine allerersten, unsicheren Schritte als Doktorandin noch miterlebt hat. Dass er in der Lage war, sein sprachwissenschaftliches Arbeiten mühelos und selbstverständlich in sein alltägliches Sprechen zu integrieren, hat mein Denken und mein sprachliches Erleben nachhaltig geprägt. Hvala.

Спасибо auch an meine Mutter Natalija Minajeva, Hvala/спасибо/Danke auch an meine Schwestern Antonija und Jelena.

Allen Freunden und nahestehenden Menschen, die für die Strapazen meines Diss-Marathons Verständnis aufbringen konnten, gilt mein tief empfundener Dank, den auszudrücken mir die Worte fehlen.

 

 

1Einleitung

Die psychotherapeutische Unterstützung ist eine wichtige integrative Maßnahme für kriegs- und foltertraumatisierte AsylwerberInnen und Flüchtlinge. Da alle Formen der Psychotherapie stark an Sprache gebunden sind und die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, durch die Problematik, über traumatische Erlebnisse zu sprechen, verschärft wird, stehen DolmetscherInnen in der Psychotherapie vor besonderen Herausforderungen: Als Sprachrohr für PsychotherapeutIn und KlientIn gleichermaßen müssen DolmetscherInnen neben Sprach- und Dolmetschkompetenz auch Einfühlungsvermögen und hohe Flexibilität und Belastbarkeit mitbringen, um die ständige Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe (Abgrenzung und Empathie) in der Psychotherapie zu bewältigen.

Die Triade konstituiert einen Raum, in dem sprachliche und emotionale, aber auch gesellschaftliche, politische und soziale Dimensionen aufeinander treffen. Der Entwurf tragfähiger Rollenbilder in der Triade muss von einer umfassenden Diskussion begleitet sein, die auch und gerade die Perspektive der KlientInnen berücksichtigt.

Bei der Psychotherapie handelt es sich um ein Setting, das auf größtmöglicher Verschwiegenheit und Exklusivität beruht. Bei den KlientInnen handelt es sich um Menschen, die Erfahrungen mit Krieg und Flucht, gegebenenfalls auch mit Folter gemacht haben und deren rechtlicher Status in Österreich zum Zeitpunkt der Psychotherapie in der Regel prekär ist. Als konstituierendes Element der psychotherapeutischen Triade erfüllen DolmetscherInnen eine wichtige Funktion bei der Verbesserung der psychischen Gesundheit der KlientInnen.

Ziel der vorliegenden Auseinandersetzung mit dem Thema Dolmetschen in der Psychotherapie ist es, die Arbeit der DolmetscherInnen insgesamt sichtbarer zu machen und diese kommunikative Arbeitssituation, die einerseits äußerst intim ist und andererseits in einen brisanten gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet ist, aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei sind individuelle Aspekte (psychische Belastung in der Arbeit mit Traumatisierten, Rollenverständnis) ebenso zu berücksichtigen wie kollektive und die Organisation als Gesamtes betreffende Faktoren (Intervisions- und Supervisionstreffen etc.).

Die Basis für die vorliegende Arbeit bildet eine von mir durchgeführte Interviewstudie, im Rahmen derer ich ausführliche, leitfadengestützte Tiefeninterviews mit KlientInnen, PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen durchgeführt habe. Bei den Befragten handelt es sich um Personen, die zum Zeitpunkt der Befragung als KlientInnen, DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen mit dem Zentrum für interkulturelle Psychotherapie in Tirol ANKYRA oder mit dem Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende HEMAYAT in Verbindung gestanden sind.

Die Antworten der Befragten tragen zu einem ganzheitlichen Verständnis des beforschten Settings bei und geben Aufschluss über das gemeinsame Arbeiten in der Triade, zum einen im Hinblick auf die konkrete, angewandte Arbeitstechnik der DolmetscherInnen, zum anderen im Hinblick auf die Hinzuziehung der DolmetscherIn, die allein durch ihre physische Präsenz einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesprächssituation hat. Die Fragen betrafen die jeweilige Positionierung der Befragten in der Triade und ihre Wahrnehmung der Dolmetschtätigkeit. Die Aussagen der Befragten geben Einblick in die Dynamiken in der Triade (u.a. Allianzenbildung), das Rollenverständnis der DolmetscherInnen (Selbst- und Fremdwahrnehmung), den Umgang mit der Kulturexpertise der DolmetscherInnen sowie den Umgang mit der psychischen Belastung angesichts der Aufgabe, die DolmetscherInnen in diesem spezifischen Kontext zu bewältigen haben, nämlich traumatisierten Menschen eine Stimme zu verleihen.

Im Kapitel 2 wird das Thema „Kultur“ im Kontext der Translationswissenschaft sowie der Psychoanalyse und der Psychotherapie behandelt und ausgehend davon die Frage nach dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ gestellt.

Kapitel 3 widmet sich dem Phänomen des Traumas und seinen individuellen und kollektiven Auswirkungen. Das hier verhandelte Thema befasst sich mit der psychotherapeutischen Arbeit mit traumatisierten KlientInnen, daher wird im Kapitel 3 auch auf das Thema Folter ebenso eingegangen wie auf die Dynamiken und Probleme innerhalb der Einrichtungen für Kriegs- und Foltertraumatisierte. Zwar sind die DolmetscherInnen nicht für die Organisation der eigentlichen Arbeit in solchen Zentren zuständig, insofern, als sie nicht befugt sind, organisatorische, geschweige denn therapeutische Zielvorstellungen umzusetzen, dennoch bilden sie einen unverzichtbaren Teil des Teams und üben indirekt durch ihre Präsenz und ihre Kompetenz einen Einfluss auf das Arbeitsumfeld aus bzw. können von den Dynamiken im Team betroffen sein.

Im Kapitel 4 erfolgt eine Verortung des Gegenstands im Kontext des Community Interpreting, wobei auch auf die strukturellen Unterschiede im Vergleich zum Konferenzdolmetschen eingegangen wird. Die Spezifik des psychotherapeutischen Settings wird herausgearbeitet, ebenso die sich daraus ergebenden Implikationen für die berufsethischen Anforderungen an die darin arbeitenden DolmetscherInnen. Anschließend erfolgt ein Überblick über die angewandten Methoden und thematischen Schwerpunktsetzungen in ausgewählten themenrelevanten Forschungsarbeiten sowie ein Ausblick auf die Forschungsdesiderata der vorliegenden Untersuchung.

Das Forschungsprojekt wird im Kapitel 5 vorgestellt: methodische Überlegungen, Datenerhebung und eine Reflexion der eigenen Rolle als Forscherin.

In den darauf folgenden Kapiteln (6, 7 und 8) werden die jeweiligen Perspektiven der KlientInnen, der PsychotherapeutInnen und der DolmetscherInnen dargelegt. Anschließend folgt im Kapitel 9 eine Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse. Es wird ein aus den gewonnenen Einsichten resultierendes Reflexionsmodell vorgestellt, das PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen dabei helfen soll, über das prekäre Gleichgewicht in der Triade und den Dynamiken, denen sie ausgesetzt sind, laufend zu reflektieren.

Dass traumatisierte Menschen die Gelegenheit bekommen, sich im Rahmen einer Psychotherapie in ihrer eigenen Sprache mitzuteilen und mit professioneller Unterstützung Wege finden, um mit ihren traumatischen Erinnerungen umzugehen, sollte der Gesellschaft ein Anliegen sein, und zwar nicht nur im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung der betroffenen Bevölkerungsgruppen, sondern auch im Hinblick auf die seitens der Politik häufig ins Treffen geführte und je nach ideologischen Prämissen mit unterschiedlichen Konnotationen aufgeladene Zielvorstellung von „Integration“. Aus der dolmetschwissenschaftlichen Perspektive bieten die Aussagen der Befragten wertvolle Einblicke in ein spezifisches Einsatzgebiet für DolmetscherInnen, in denen diese besonders stark mit (zum Teil divergierenden) Erwartungshaltungen ihrer KlientInnen und daraus resultierenden Rollenidealen konfrontiert sind, sowie mit emotional aufgeladenen Gesprächssituationen und belastenden Inhalten. Aufbauend auf bereits durchgeführten Untersuchungen in diesem Bereich werden im Rahmen der vorliegenden Studie weiterführend und vertiefend die Dynamiken in der Zusammenarbeit zwischen PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen beleuchtet, um zu einer multiperspektivischen Sichtweise auf das Dolmetschen in der Psychotherapie zu gelangen, im Rahmen derer im Arbeitsalltag auftretende Probleme ebenso Berücksichtigung finden wie grundsätzliche Betrachtungen über das triadische Setting.

2Kultur und Interkulturalität

Göhring schlägt ausgehend von kulturanthropologischen Definitionen (deren Zahl „in die Hunderte“ geht, 2007: 85) die folgende Definition für Kultur vor:

Kultur ist all das, was man wissen, beherrschen und empfinden können muß, um beurteilen zu können, wo sich Einheimische in ihren verschiedenen Rollen erwartungskonform oder abweichend verhalten, und um sich selbst in der betreffenden Gesellschaft erwartungskonform verhalten zu können, sofern man dies will und nicht etwa bereit ist, die jeweils aus erwartungswidrigem Verhalten entstehenden Konsequenzen zu tragen. In dieser abgewandelten Definition wird der Unterschied zwischen passiver und aktiver Rollenkompetenz wie auch der Umstand berücksichtigt, daß dem handelnden Subjekt jeweils die Option des erwartungskonformen und des abweichenden Verhaltens offensteht. Außerdem wird der Beobachtung Rechnung getragen, daß in manchen Gesellschaften das „akzentfreie“ Auftreten eines Ausländers als störend, als irgendwie „ungrammatisch“ empfunden wird, weil man dem „Fremden nicht nur eine gewisse „Narrenfreiheit“ zugesteht, sondern Interferenzerscheinungen in seinem Verhalten direkt erwartet. (Göhring: 2007: 108)

Kultur wird hier also als eine Art Bringschuld des Lernenden definiert, als etwas, das man „wissen, beherrschen und empfinden können muß“, um zumindest die Wahl zu haben, sich „erwartungskonform“ zu verhalten, sofern man das will. Eine solche Definition richtet sich in erster Linie an Personen, die mit Menschen aus anderen Kulturen arbeiten können müssen, was auf DolmetscherInnen auf jeden Fall zutrifft.

An einer anderen Stelle schlägt Göhring eine Kulturdefinition vor, die sich explizit an den Anforderungen, die an ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen gestellt werden, orientiert:

Kultur, das ist all das, was ich wissen und woran ich glauben muß, um mich in der betreffenden Kultur wie ein Einheimischer in allen Rollen unauffällig bewegen zu können. Dieses Kulturverständnis zu erreichen, das müßte idealiter das Ziel des Dolmetschers und Übersetzers sein. D.h. er sollte die kognitiven Elemente, die emotionalen Tendenzen und die Glaubensinhalte der Zielkultur so weit kennenlernen, daß er mit ihren Mitgliedern weitgehend akzentfrei interagieren kann. (Göhring 2007: 85f.)

Dass die DolmetscherIn „unauffällig“ zu sein hat, ist durchaus ein erstrebenswertes Ideal, in letzter Konsequenz ist es jedoch selbstverständlich nicht erreichbar, und es ist zu vermuten, dass Göhring weniger eine Unauffälligkeit im Sinne der Unsichtbarkeit meint, als vielmehr eine Unauffälligkeit im Sinne einer gelungenen Anpassung – gelungen durch die Fülle an erworbenen Kenntnissen, die eine Wahlfreiheit ermöglicht: Nur derjenige, der weiß, welche Erwartungen an ihn gestellt werden, hat auch die Wahl, den Erwartungshorizont zu durchbrechen und gegebenenfalls die Konsequenzen dafür zu tragen. Wer nicht über die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, muss unter Umständen Konsequenzen tragen, ohne zu verstehen warum.

Göhring bietet zur Illustration des Kulturbegriffs zusätzlich eine Metapher an:

Eine andere Definition, die ich gerne verwende, besagt, daß Kultur so etwas wie ein Schrank ist mit einer Fülle von Schubladen, in denen Problemlösungen lagern, mit denen die Kulturmitglieder an die Umwelt, an den Umgang mit den anderen und an den Umgang mit sich selbst herangehen. Der Übersetzer und Dolmetscher steht vor dem Problem, daß der Schrank, den er sich aufgrund der Einflüsse seiner Ursprungskultur gebastelt hat, in dem Moment, in dem er sich in den Bereich seiner Zielkultur begibt, aufhört, gültige Lösungen anzubieten. Der künftige Sprachmittler kann nicht umhin, sich noch einen zusätzlichen Schrank zu konstruieren und sich nun je nach Aufgabe in dem einen oder anderen Schrank zu bedienen. (2007: 86)

Daraus ergibt sich, so Göhring, dass jemand, der den Dolmetschberuf ernst nimmt, nicht an dem Schicksal vorbekommt, „in gewissem Umfang ein marginal man zu sein, sowohl in seiner eigenen Kultur als auch in seiner Zielkultur bzw. seinen Zielkulturen“ (ebda, S. 86f.), ein Schicksal, das DolmetscherInnen bis zu einem gewissen Grad mit KulturanthropologInnen teilen.

Im vorliegenden Kontext ist der Begriff „Zielkultur“ nicht als homogen zu begreifen: Eine Russisch-DolmetscherIn, die mit tschetschenischen KlientInnen arbeitet, ist nicht a priori mit der tschetschenischen Kultur vertraut (das gilt für zahlreiche andere Sprachen auch, die im Asylbereich nachgefragt sind), jedoch kann sie mit Hilfe ihrer Russisch-Kenntnisse Zugang zu der tschetschenischen Kultur gewinnen.

 

Für translatorisches Handeln ist die kulturelle Dimension von entscheidender Bedeutung, indem sie alle gesellschaftlich bedingten Aspekte des menschlichen Lebens beinhaltet, und somit ist Translation immer auch als ein kultureller Transfer zu betrachten (vgl. Kadrić et al. 2012: 27ff.). „Kultur entsteht aus dem Bedürfnis der Menschen, sich adäquat auf die Realität zu beziehen. Was als adäquat gilt, unterscheidet sich je nach Gesellschaft und den kollektiven Bedürfnissen dieser Gesellschaft“ (ebda., S. 29). Ergänzend zu dieser Begriffsdefinition und bezugnehmend auf das Thema Dolmetschen in der Psychotherapie sei angemerkt, dass eine Gesellschaft, ebenso wie eine Einzelperson, unterschiedliche Perioden durchläuft – eine Friedensperiode unterscheidet sich maßgeblich von einem Kriegszustand. Somit ist bei der Auseinandersetzung mit KlientInnen aus anderen Kulturkreisen unbedingt zu bedenken, dass deren Verhalten zum Teil sicherlich kulturell bedingt sein mag, zu einem anderen Teil jedoch auch von anderen Faktoren abhängig ist, wie Kriegserleben, Flucht, Migration, extreme Armut, Ungewissheit über den Aufenthaltsstatus, individuelle Aspekte etc.

2.1Kulturelle Prototypen

Hepp bietet eine Typologie der Kulturen mit vier Kategorien (2006: 56):

Hierarchische Kultur: Ständegesellschaften, Kastensysteme oder Bürokratien. Dieser Prototyp ist durch prinzipielle Ungleichheit zwischen den Mitgliedern gekennzeichnet. Die hierarchische Ordnung wird gegen Veränderungen verteidigt, da Stabilität höher bewertet wird als dynamische Entwicklung.

Individualistische Kultur: individualisierte Marktgesellschaften, markt- bzw. wettbewerbsorientierte Unternehmungen. In solchen Kulturen muss jeder prinzipiell die Chance haben, jede Position einzunehmen, sofern er durch eine beobachtbare Leistung dazu in der Lage ist und sich im Wettbewerb durchgesetzt hat. Positionen können erworben werden, sind also nicht von vornherein gegeben und festgelegt.

Egalitäre Kultur: Basiskommunismus, frühe amerikanische Siedlerkulturen, alternative Bewegungen. In solchen Gemeinschaften wird eine Gleichheit für alle Mitglieder postuliert. Jedes Mitglied kann theoretisch jede Position einnehmen, wobei Positionen weder vererbt, noch notwendigerweise durch Leistung erworben werden. In solchen Kulturen wird gegen Bestrebungen, Ungleichheit herzustellen, aktiv vorgegangen.

Fatalistische Kultur: Bettler- oder Ausgestoßenenkulturen am unteren Ende der sozialen Skala, Gruppierungen von Künstlern und Intellektuellen am oberen, elitären Ende. Die Mitglieder einer fatalistischen Kultur sind nicht in feste Zusammenhänge eingebunden, sondern sind isoliert und gleichzeitig rigorosen Regelungen unterworfen. Die Mitglieder verfügen über Mechanismen, die ihr eigenes soziales und mentales Überleben innerhalb der Kultur gewährleisten.

 

Bei psychotherapeutischen Gesprächen spielt die kulturelle Verortung der KlientInnen, DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen eine wichtige Rolle, wobei mangelnde Kenntnisse über die Herkunft der KlientIn sicherlich zu klischeehaften und stereotypen Annahmen verleiten kann, etwa im Hinblick auf die Religiosität, Rolle der Frau, Ausprägung des Patriarchats etc. Wenn es in einer Psychotherapie darum geht, eine KlientIn kulturell zu verorten oder relevante Aussagen über ihren/seinen kulturellen Hintergrund zu treffen, dann ist es notwendig, über den ethnischen, sprachlichen und länderspezifischen Kontext hinaus auch andere Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa die soziale Stellung der Familie, ob die Sozialisierung im ländlichen oder im urbanen Raum erfolgte, Ausbildungs- und Bildungsniveau sowie sonstige Einflüsse: Beispielsweise ist ein tieferes Verständnis der Kulturen im postsowjetischen Raum ohne eine Berücksichtigung der sowjetischen Prägung nicht möglich. So stellt es wohl eine Verkürzung dar, etwa von einer „tschetschenischen Kultur“ zu sprechen (gekennzeichnet durch patriarchale, traditionelle Strukturen und einen hohen Stellenwert des Islams), ohne mitzubedenken, dass die meisten älteren Mitglieder der tschetschenischen Volksgruppe in ihrer Sozialisierung stark von sowjetischen Vorgaben betroffen waren, im Schulsystem, am Arbeitsplatz, durch die Medien, durch die kulturelle Produktion und auch in anderen Sphären. In der Psychotherapie soll es nicht darum gehen, diese Einflüsse zu bewerten (oder zu entwerten), aber für ein umfassendes Verständnis der kulturellen Sozialisation einer KlientIn ist es von Bedeutung, auch historische, politische und gesellschaftliche Faktoren miteinzubeziehen.1

2.2Sprache und Kultur

Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verbunden. Die Kultur findet in der Sprache ihren Ausdruck, und Sprache formt wiederum die Kultur. Somit geht das Erlernen einer Sprache unweigerlich mit dem Kennenlernen kultureller Gegebenheiten einher. Sprachkenntnisse ermöglichen idealerweise das Eintauchen in neue Kulturen, sowie im Gegenteil weitgehend gilt, dass mangelnde Sprachkenntnisse es Menschen verunmöglichen oder zumindest erschweren, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen.

Als das Medium, mit dem wir unsere Erfahrungen und Interpretationen der Realität kommunizieren, ist Sprache „ein wesentlicher Ausdruck und gleichzeitig auch Träger der Kultur“ (Kadrić et al. 2012: 34), wenn auch nicht das einzige: paraverbale und nonverbale Mittel, Kleidung, Mimik und Gestik sind ebenfalls Elemente der Kommunikation, allerdings fällt es meistens nicht in den Zuständigkeitsbereich der DolmetscherIn, diese zu übertragen oder zu deuten, weil die GesprächspartnerInnen diese Deutung meist selbst vornehmen.

 

Die Existenz sowie auch das Fehlen von Begriffen zeigen auf, welche Aspekte der Realität eine Kulturgemeinschaft wahrnimmt bzw. begreift und welche nicht. Gerade beim translatorischen Handeln entsteht ein Bewusstsein darüber, welche Begriffe und Wörter in einer Sprache „fehlen“ oder einer zusätzlichen Erklärung bedürfen.

Die Assoziationen, die mit dem Begriff „Kultur“ einhergehen, sind im Spannungsfeld zwischen Bereicherung und Bedrohung zu verorten, wobei man als Medienkonsument nicht umhin kann, derzeit eine Tendenz hin zum zweiteren zu beobachten.

Im Kontext der dolmetscherunterstützen transkulturellen Psychotherapie kann die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff nicht differenziert und sorgfältig genug geführt werden. Eine kultursensible Herangehensweise an die Anliegen der KlientInnen ist unabdingbar, zugleich birgt die Betonung (vermeintlich) kultureller Unterschiede immer auch das Risiko der Pauschalisierung, Klischeeisierung und Exotisierung in sich, sowie die Gefahr, soziale oder individuelle Faktoren zu kulturalisieren (also, der „Kultur“ der KlientInnen zuzuschreiben) und damit die eigentlichen, zugrundeliegenden Zusammenhänge zu übersehen oder fehl zu interpretieren. Wenn „kulturelle Besonderheiten“ als Erklärung für unverständliches oder befremdliches Verhalten von Menschen aus anderen Ländern herangezogen werden, dann ist es notwendig zu differenzieren, ob die genannte Verhaltensweise in der jeweiligen Kultur überhaupt sozial erwünscht, akzeptiert oder geächtet ist.

Menschen, die beruflich mit der Thematik Asyl und Migration befasst sind, sind explizit oder implizit ständig mit der Anforderung konfrontiert, sich mit kulturellen (oder vermeintlich kulturellen) Aspekten auseinanderzusetzen, was eine kritische Reflexion der eigenen kulturellen Prägung unbedingt miteinschließt. Das gilt insbesondere für DolmetscherInnen, die in mehrfacher Hinsicht eine vermittelnde Funktion an den Schnittstellen ausüben:

zwischen Sprachen

zwischen Menschen in ihrer persönlichen Betroffenheit einerseits und Organisationen mit ihren jeweiligen „Organisationsstrukturen“ andererseits

zwischen den jeweiligen kulturell geprägten oder bedingten Verhaltensmustern der involvierten GesprächspartnerInnen

zwischen der (scheinbaren) Arbeitsroutine der jeweiligen Organisation einerseits und dem (prolongierten und mitunter chronifizierten) Ausnahmezustand im Leben der KlientInnen andererseits

zwischen jenen, die Hilfe/Unterstützung benötigen, und jenen, die Hilfe/Unterstützung gewähren (oder verweigern)

Diese Auflistung ließe sich fortsetzen, denn in jedem einzelnen Gespräch, das eine DolmetscherIn im sogenannten Kommunalbereich ermöglicht und aktiv mitgestaltet, laufen zahlreiche Fäden zusammen, die Folge und Ausdruck politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller, individueller und psychologischer Realitäten und ihres jeweiligen Zusammenspiels sind.

Es ist möglich, sich dem Begriff „Kultur“, der durchaus auch als politisch-ideologischer Kampfbegriff gebraucht werden kann, von unzähligen Seiten zu nähern. Im vorliegenden Kapitel soll der Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff im psychotherapeutischen und psychoanalytischen Bereich gelegt werden.

2.3Interkulturalität: psychoanalytische und psychotherapeutische Ansätze

Immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund suchen therapeutische Hilfe oder bieten diese an. Insofern spiegelt sich die „multikulturelle Gesellschaft“ auch im Bereich der Psychotherapie und der Psychoanalyse als Therapieform wider (vgl. dazu Hörter 2011: 15).

Die Erfahrungen aus der Praxis finden ihren Niederschlag in einschlägigen Konferenzen – erwähnt seien etwa die Sammelbände, in denen Beiträge zu den Kongressen des Dachverbands der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum zusammengefasst sind (Heise 2009, 2010, Golsabahi–Broclawski et al. 2014, sowie andere Werke, die aus der Theorie und Praxis der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie entstanden sind: Hegemann et al. (2001, 2010) sowie weitere, wie z. B. Gün (2007), Gunsenheimer (2007), Apsel (1991), Reichmayr (2003), Wohlfahrt & Zamseil (2006). Lersner und Kizilhan (2017) haben eine intensive Auseinandersetzung mit Kulturkonzepten im Bezug auf die Psychotherapie sowie mit interkultureller Kompetenz in der psychotherapeutischen Arbeit vorgelegt. Zu erwähnen ist auch die Arbeit von Kristeva (1990), in der das eigene Unbewusste als etwas Fremdes im eigenen Inneren erkannt und akzeptiert wird, als Voraussetzung für eine respektvolle Begegnung mit dem Fremden außerhalb seiner selbst.

 

Dass „Kultur“ sich auch als Kampfbegriff eignet, wurde bereits erwähnt. Im Vorwort zu Kathrin Hörters Arbeit zur Frage der Kultur und Interkulturalität in Theorie und Praxis der Psychoanalyse zieht der Sozialpsychologe Heiner Keupp eine Parallele zwischen Kultur und Identität:

Mit der „Kultur“ scheint es eine ähnliche Bewandtnis zu haben wie mit der Identität. Damit soll etwas für Gruppen oder Personen Wichtiges benannt werden, zugleich kann daraus aber auch eine Waffe geschmiedet werden. Wenn von „Leitkultur“ die Rede ist, dann werden Zugehörigkeiten und Ausschließungen konstruiert. Und wenn dann der „Kampf der Kulturen“ (Huntington) ausgerufen wird, dann befinden wir uns mitten in einer militanten Arena. (Keupp in Hörter 2011: 11)

Waffe, Leitkultur, Kampf der Kulturen, militante Arena – diese Stichworte als Auftakt zu Hörters umfangreicher Studie sind als ein Hinweis zu sehen, dass Interkulturalität auch im psychotherapeutischen Bereich nicht friktionsfrei vor sich geht, auch wenn davon auszugehen ist, dass sich PsychotherapeutInnen in ihrer Ausbildung intensiv mit der Positionierung des Individuums in (seiner) Kultur sowie in der Kultur an sich auseinandersetzen und somit einen hohen Grad an Kultursensibilität mitbringen.

Hörter definiert Interkulturalität als „das Verhältnis oder auch die Beziehung zwischen einzelnen oder mehreren Kulturen“, gibt jedoch zu bedenken, dass die Kulturen an sich keine Beziehungen eingehen können, der Begriff der Interkulturalität sich also auf die Beziehung zwischen Menschen, die sich in verschiedenen kulturellen Kontexten verorten, bezieht (2011: 15). Als unterschiedliche, ja geradezu entgegengesetzte Perspektiven zur Bewertung des interkulturellen Zusammenlebens, welches bereits eine alltägliche Erfahrung geworden sei, führt Hörter zum einen das essenzialistische Modell an, das von einer eher homogenen kulturellen Identität ausgeht (vgl. Huntington 2007), und zum anderen den im Konstruktivismus verorteten Kulturbegriff, der Kultur und kulturelle Identität als das Ergebnis von sozialen Verhandlungsprozessen versteht (vgl. Hall 1994). Dass Kultur etwas ist, das Probleme schafft oder ein Problem ist, hat nicht nur in der Psychoanalyse Tradition, dennoch möchte Hörter in ihrer Arbeit Kultur nicht als Problem verstanden wissen: „Vielmehr sollen die Fragen behandelt werden, die sich ergeben, wenn psychoanalytische Theorie und Praxis unter dem Blickwinkel der kulturellen Differenz zwischen Menschen betrachtet werden“ (2011: 17). Dabei stützt sie sich auf Cultural Studies, Konzepte der Postcolonial Studies und die Diskurstheorie nach Foucault, um das vermeintliche Wissen über Normalität und Abweichung zu hinterfragen und machtstrukturelle Aspekte zu thematisieren.

Im Zusammenhang mit dem Thema „Dolmetschen in der Psychotherapie“ lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Macht. Foucault stellt die Frage, „Wie wird Macht ausgeübt?“ und unterscheidet zwischen Machtbeziehungen und Kommunikationsbeziehungen, wobei zweitere dazu dienen, über eine Sprache, ein Zeichensystem oder ein anderes symbolisches Medium Information zu übertragen. Im vorliegenden Kontext ist die folgende Feststellung Foucaults von Interesse: „Natürlich heißt Kommunizieren immer auch, in gewisser Weise auf den oder die anderen einzuwirken“ (2005: 252). Den Aspekt der Machtbeziehungen und die mögliche Einwirkung von Kommunikation auf das Gegenüber – den Klienten/die Klientin – bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren, gegebenenfalls durchaus auch kritisch zu hinterfragen ist eine implizite Anforderung, der sich DolmetscherInnen nicht entziehen sollten, auch wenn es nicht ihre Aufgabe ist, aktiv auf den kommunikativen Prozess einzuwirken.

Hörter bietet einen Überblick über unterschiedliche Strömungen der Psychoanalyse und ihre Anwendungsbereiche und arbeitet heraus, wie die Psychoanalyse eine Plattform für gesellschaftstheoretische Überlegungen bietet, ebenso wie praktische Anwendungsmöglichkeiten in der Medizin, dass jedoch eine Reduktion auf den praktischen Nutzen dem intellektuellen und gesellschaftlichen Potenzial der Psychoanalyse nicht gerecht würde (2011: 70ff.). Hörter beschäftigt sich mit dem „Fremden in der Psychoanalyse“ und betrachtet die Ethnopsychoanalyse durch die Brille der Cultural Studies, wobei sie auf Sigmund Freuds Werk Totem und Tabu aus dem Jahr 1912/13 verweist, Freuds erstes kulturtheoretisches Werk und zugleich jene Schrift, die das Fundament für die Verbindung von Ethnologie und Psychoanalyse darstellte. Darin befasst sich Freud mit Fragestellungen, die für die Ethnologen seiner Zeit relevant waren, unter anderem mit den Grundlagen des Tabus.

2.3.1Identität im Kontext der Migration

Der im Indien des Britischen Empire geborene und im Alter von 27 Jahren in die USA ausgewanderte Psychoanalytiker Salman Akthar setzt sich mit den Auswirkungen der Migration1 auf die Herausbildung der Identität auseinander. Akhtar befolgte den Ratschlag Freuds, den dieser im Anschluss an eine Vorlesung dem Publikum ans Herz legte, nämlich die eigene Lebenserfahrung zu Rate zu ziehen oder sich an die Dichter zu wenden (2007: 23), und reflektiert in seinem Werk auch eigene Migrationserfahrungen und nimmt Anleihe bei Dichtern (unter anderem bei Joseph Brodsky), um etwa die Einsamkeit des Exilierten plastisch zu illustrieren.

Akthar macht den kulturellen Aspekt an Dimensionen fest, die für das Individuum im alltäglichen Erleben spürbar sind: „Kleidung, Speisen, Sprache, Musik, Witz und Humor, politische Ideologien, Grad und Arten zulässiger Sexualität, das Maß der Autonomie gegenüber familiärer Gebundenheit, den Preis für Selbstbehauptung gegenüber Zurückhaltung, das subjektive Zeitempfinden, das Maß und den Charakter der Kommunikation zwischen Geschlechtern und Generationen“ (2007: 41). Diese Faktoren sind es dann auch, die das Individuum nach erfolgter Migration schmerzlich vermisst.

Die sogenannte eigene Kultur, also all das, was einen im Alltag umgibt, wird vielfach erst durch den Vergleich mit der anderen, neuen kulturellen Wirklichkeit erfahren. Umgekehrt gilt ebenso – und das betrifft auch die DolmetscherInnen, dass man mitunter erst im Kontakt mit den fremdländischen KlientInnen ein Bewusstsein über die eigenen kulturellen Standards, Grenzen und Freiräume entwickelt, und sei es auch nur im Hinblick auf Kleidung und Begrüßungsrituale2.

Ein Fremder macht im Aufnahmeland unterschiedliche Erfahrungen. Akthar spricht von „gemischten Gefühlen“, die die Ankunft eines Neulings bei Alteingesessenen hervorzurufen vermag, Gefühle, die sich auf der Skala zwischen paranoider Furcht und Idealisierung bewegen (S. 46). Somit würden Vorurteile und Fremdenhass einerseits und übertriebene Freundlichkeit (gefolgt von Enttäuschung und Ablehnung des Fremden) näher beieinander liegen, als man auf den ersten Blick glauben möchte, denn in beiden Reaktionsweisen manifestiert sich die Vorstellung, dass der Neuankömmling ein Träger für positive oder negative Projektionen ist: im positiven Szenario steht er für eine mögliche Weiterentwicklung der Gesellschaft, die einer Erneuerung bedarf, im negativen Szenario ist er ein Eindringling, der die vorhandenen wirtschaftlichen Ressourcen konsumiert und damit der bestehenden Gemeinschaft Schaden zufügt.

Akthar zieht das Beispiel von Kafkas Roman Das Schloss heran, um das negative Szenario zu illustrieren: Der Landvermesser, der seine Arbeit im Schloss aufnehmen soll, ist mit massiver Feindseligkeit der Dorfbewohner konfrontiert.

2.3.1.1Die Rolle physischer Merkmale

Migranten bringen also ihre kulturellen Konventionen mit, bzw. das Wissen um diese; in erster Linie ist es aber ihr eigener Körper, den sie in ein anderes Land, einen anderen Sprachraum, einen anderen Kulturraum mitbringen.

Akthar weist darauf hin, dass der Aspekt des menschlichen Körpers in der Auseinandersetzung mit dem Thema Migration weitgehend ausgeklammert wird. Die Hautfarbe bzw. die Reaktion der Alteingesessenen auf die Hautfarbe des Migranten spielt eine wichtige Rolle bei der Reorganisation der Identität in der Migration (S. 49f.). Dies trifft insbesondere auf Kinder zu.

Daran anschließend ist festzuhalten, dass der Umgang mit dem eigenen Körper ebenfalls variieren kann und kulturellen aber auch modischen Trends unterliegen kann: Welche Anforderungen an die körperliche Fitness werden gestellt?

Auch die Kleidungskonventionen spielen eine Rolle, insbesondere für Frauen: Ist es in einer Kultur „normal“, seinen Körper zur Schau zu stellen, oder ist es im Gegenteil sozial gefordert, die Haut und die Haare zu bedecken und damit vor fremden Blicken zu schützen? Einem Migranten bleibt es nicht erspart, seine eigene Haltung zu den mitunter divergierenden Anforderungen zu entwickeln.

Des weiteren thematisiert Akthar das Geschlecht und kommt zu dem Schluss, dass Frauen tendenziell leichter Anschluss an eine neue Gesellschaft bzw. Gemeinschaft finden als Männer, was u.a. daran liegt, dass sie sich tendenziell mehr um Kinder kümmern und damit automatisch mit anderen Müttern und MitarbeiterInnen entsprechender Institutionen in Interaktion treten (müssen), was dazu führt, dass die Notwendigkeit, Informationen auszutauschen, und die Neugier über die Scham siegen (S. 52).

2.4„Kulturelle Übersetzung“

Ein weiterer Ansatz, der hier nicht näher ausgeführt wird, sondern lediglich Erwähnung finden soll, ist die „kulturelle Übersetzung“. Dieser ist im Kontext des translational turn zu sehen, im Zuge dessen sich das Übersetzen allmählich aus dem linguistisch-textlichen Paradigma herauslöst und zu einem neuen Grundbegriff der Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelt hat, mit dem eine Kulturpraxis in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten und Vernetzungen gemeint ist (Näheres zum translational turn vgl. Bachmann–Medick 2009: 238ff.). Im Zuge dieses Ansatzes werden postmoderne und postkoloniale Verhältnisse reflektiert, ebenso die Auswirkungen des Englischen als hegemonialer Weltsprache, Sprachenkonflikte, Ausgrenzungen von Minderheitensprachen und Ähnliches. Kultur selbst wird als „ein Prozess der Übersetzung verstanden – auch im Sinne eines neuen räumlichen Paradigmas von Über-Setzung“ (S. 247), Kulturen konstituieren sich also in der Überlappung und in den Verflechtungen unter den ungleichen Machtbedingungen der Weltgesellschaft.

Bei Buden & Nowotny (2008) wird der Begriff „kulturelle Übersetzung“ aus philosophischer und kulturtheoretischer Perspektive diskutiert, und zwar in Anlehnung an Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ vom Beginn der 1920-er Jahre. Die Autoren legen nun ihr Augenmerk auf die Perspektive der MigrantInnen, die sich in einer dramatisch realen Situation wiederfinden, die von der kulturtheoretischen Reflexion kaum berücksichtigt wird:

Vielmehr sind sie (die MigrantInnen, Anm. M.D.) der kulturellen Übersetzung als einem ihnen vollkommen entfremdeten Prozess hilflos ausgeliefert, und zwar gewissermaßen als dessen rohes, menschliches Material. Doch vom Erfolg oder Misserfolg dieses kulturellen Übersetzens hängt ihr ganz konkretes existenzielles Schicksal ab. (Buden 2008: 12)

Wagner versteht unter „kultureller Übersetzung“ die Übertragung von Vorstellungsinhalten, Werten, Denkmustern, Verhaltensmustern und Praktiken eines kulturellen Kontexts in einen anderen – eine Übertragung, bei der es also nicht um die Verschiedenheit von Sprachen geht und die auch durch literarische und filmische Repräsentation geleistet werden kann, aber auch durch Praktiken des täglichen Lebens und der Politik (2009: 1), und setzt sich kritisch mit der Aneignung des Begriffs „Übersetzung“ durch die Kulturwissenschaften auseinander. Wagner beschreibt den „Karriereweg“ der „kulturellen Übersetzung“ mit den „Stationen Emergenz, hegemoniale Präsenz und anschließender inflationärer Entwertung“ (ebda.)

Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Begriff kann hier nicht erfolgen, es sei lediglich darauf hingewiesen, dass der Begriff „Übersetzung“ auch mit anderen Bedeutungen aufgeladen sein kann, was neue Räume für eine Auseinandersetzung im Kontext der Kultur(en) eröffnet.

2.5Das Fremde

Erdheim beobachtet, dass das Fremde und das Eigene in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie das Unbewusste und das Bewusste: Das, was unbewusst ist, tendiert zum Bewusstsein, wobei sich das Bewusstsein dagegen wehrt und dennoch davon geprägt wird. Fremd ist folglich das, was einen auf eine merkwürdige Weise betrifft, ohne dass man es kennt, und somit ist es eine Ambivalenz von Angst und Faszination, die das Verhalten gegenüber dem Fremden prägt und zugleich die Haltung zu sich selbst bestimmt (Erdheim 2000: 167).

Erdheim spricht ebenso wie Akhtar (2007) davon, dass die Kategorie des Fremden immer eine positive oder negative Betroffenheit auslöst, dass dem Fremden also mit Angst und Faszination zugleich begegnet wird, sodass diese Ambivalenz aus dem Fremden eine ideale Projektionsfläche macht. Erdheim plädiert für ein dynamisches Konzept der Kultur, das der Interaktion zwischen dem Bekannten, Vertrauten und dem Fremden Rechnung trägt: „Kultur ist nämlich das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht; sie ist gewissermaßen das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden“ (2000: 178).

Die Auseinandersetzung mit dem Fremden spielt sich in der Kunst, in der Wissenschaft und in der Religion ab, indem die etablierten Strukturen versuchen, das Fremde für die eigene Kultur fruchtbar zu machen, neue Formen zu schaffen und die kulturellen Grenzen zu erweitern. Erdheim greift außerdem den von Freud thematisierten Antagonismus zwischen Familie und Kultur auf und stellt der Familie (Ort der Aufwachsens, der Tradition, der Intimität im Guten und im Bösen) den erweiterten Begriff der Kultur entgegen (Ort der Innovation, der Revolution, der Öffentlichkeit und der Vernunft) (S. 182). Mit diesem Antagonismus im Hinterkopf ist es möglicherweise leichter nachzuvollziehen, warum MigrantInnen, denen es nicht gelingt, in den Institutionen und in der Öffentlichkeit des Aufnahmelandes Fuß zu fassen, mitunter einen Rückzug in die familiären Strukturen und in die tradierten Lebensweisen antreten.

 

Der Psychoanalytiker Günther Bittner beschäftigt sich mit dem Fremden in einem alltäglichen und elementaren Sinn und stellt die Frage, ob das „Eigene“ ausgeschaltet werden müsse, um „dem Fremdseelischen Raum zu geben“ (2000: 199). Einerseits muss ein Psychoanalytiker sich selbst gut kennen, um, vereinfacht gesprochen, eigene Probleme nicht auf den Patienten zu projizieren. Andererseits läuft jemand, der sich nur mit seiner eigenen Thematik befasst, Gefahr, sich vom Fremden nicht berühren zu lassen, überall nur das Eigene zu sehen und nichts zu verstehen. Bittner fasst zusammen: „Verstehen, auch psychoanalytisches Verstehen, ist offenbar ein hochkomplexes Geschehen, bei dem der Rekurs auf das, was ich von mir selber kenne, ebenso bedeutsam ist wie die Bereitschaft, sich befremden zu lassen, d.h. wahrzunehmen, was ich von mir selber nicht kenne“ (2000: 202f.). Diese Überlegung zum Phänomen des Verstehens ist für DolmetscherInnen ebenfalls von Relevanz, denn Verstehen ist immer ein komplexer Vorgang, für dessen umfassendes Gelingen die Kenntnis der Sprache nur eine notwendige, jedoch keine hinreichende Voraussetzung darstellt.

2.6Exkurs: Vom Schweigen in der Kommunikation

Auch das Schweigen ist nicht etwa das Gegenteil des Kommunizierens, sondern zählt zu den konstituierenden Elementen der Kommunikation. Die unterschiedliche Ausprägung von Gesprächigkeit oder Schweigsamkeit bei Individuen kann dem Einfluss der jeweiligen Kultur und der unterschiedlichen Konventionen beim Sprechen geschuldet sein. Atanasov & Göhring haben einen Vergleich zwischen den Sprechgewohnheiten in den USA und in Japan angestellt und kommen zu der Schlussfolgerung, dass in den USA Schweigen als eine feindselige Haltung aufgefasst werden kann – daher die Redewendung to give somebody the silent treatment als Ausdruck für Missbilligung und Zurückweisung (2007: 142), während es in Japan die Auffassung gibt, Sprechen sei ein „armseliger Ersatz für das intuitive Verständnis dessen, was in anderen Personen vorgeht“ (ebda., S. 147). Schweigen könnte in der japanischen Kultur also Empathie ausdrücken, aber auch Höflichkeit, Vorsicht, Angst, in ein Fettnäpfchen zu treten, oder den Wunsch, einem direkten Nein aus dem Weg zu gehen (ebda., S. 148). Das Sprechverhalten und die Bewertung des Schweigens bzw. des Aussprechens wird durch kulturelle Gegebenheiten beeinflusst, wie etwa den Zen-Buddhismus mit seiner positiven Bewertung des Schweigens in Japan einerseits (vgl. S. 151) und den Individualismus und die demokratische Tradition in den USA andererseits (vgl. S. 144).

In der vorliegenden Arbeit wird das Schweigen im psychotherapeutischen Setting nicht eigens thematisiert, da DolmetscherInnen in diesem Kontext Schweigepausen lediglich respektieren und eventuell unterstützen sollen, indem sie etwaige eigene Interventionen wie z. B. Hüsteln oder nervöses Herumzappeln unterlassen, also dem Impuls widerstehen, eine als unangenehm empfundene Schweigepause zu „sabotieren“. Aus dem Schweigen der KlientInnen resultiert für die DolmetscherInnen also kein bestimmter Arbeitsauftrag. Dennoch kann es für die DolmetscherInnen wichtig sein, im Zusammenhang mit dem Schweigen ein Bewusstsein für folgende Aspekte zu entwickeln: Zum einen kann es die KlientInnen viel Überwindung kosten, gewisse (schambesetzte und /oder potenziell retraumatisierende) Inhalte zur Sprache zu bringen. Zum anderen ist das Schweigen aus der Sicht der TherapeutInnen durchaus brauchbares Material, um Aufschluss über die Sprechgewohnheiten und über den emotionalen Zustand der KlientIn zu gewinnen.

2.7„Das Unbehagen in der Kultur“

Das Arbeiten in der Psychotherapie bedeutet für DolmetscherInnen, sich mit einer Disziplin auseinanderzusetzen, deren Wirken darauf abzielt, seelisches Leid des Individuums zu lindern oder erträglich(er) zu machen. Es ist wichtig für DolmetscherInnen, diese Prämisse zu verinnerlichen oder zumindest im Hinterkopf zu behalten, um in der konkreten sprachlichen Arbeit möglichst adäquate Lösungen zu finden. Gespräche finden immer in einem größeren gesellschaftlichen Kontext statt, und so können DolmetscherInnen in ihrer Tätigkeit, die darauf abzielt, möglichst umfassend zu verstehen und anschließend das Verstandene verständlich zu machen, von einer tiefergehenden Kenntnis des psychotherapeutischen Umfelds nur profitieren.

 

Sigmund Freuds 1930 erschienene Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ bietet auch heute eine äußerst aufschlussreiche Lektüre, fernab tagespolitischer Aktualität. Freud arbeitet darin unter anderem heraus, dass die Anforderungen der Kulturentwicklung häufig im Widerspruch zum Lustprinzip des Individuums stehen, was zu Neurosen führen kann. Freuds Schrift mag in der unmittelbaren interkulturellen Arbeit für DolmetscherInnen keinen besonderen Nutzwert genießen, dennoch bietet „Das Unbehagen in der Kultur“ trotz einer weitgehend eurozentrischen Perspektive ein wertvolles Prisma für die Betrachtung von Phänomenen und Interaktionen, die im gesellschaftlichen Miteinander zu beobachten sind und deren Reflexion mitunter eine intellektuelle und emotionale Herausforderung darstellt, auch und gerade für DolmetscherInnen, die in der Regel keine Vorbereitung für die Arbeit in der Psychotherapie mitbringen.

2.7.1Wege zur Linderung des seelischen Leids

Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (…) Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art ist unerläßlich. (Freud 2007: 41)

Freud führt Beispiele für die drei Wege zur Linderung des seelischen Leids an. Eine Ablenkung könnte etwa darin bestehen, seinen Garten zu bearbeiten oder auch sich der wissenschaftlichen Tätigkeit zu widmen. Ersatzbefriedigungen kann das Individuum in der Kunst finden, da die Phantasie einen hohen Stellenwert im Seelenleben genießt:

Wer für den Einfluß der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebenströstung nicht hoch genug einzuschätzen. Doch vermag die milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt, nicht mehr als eine flüchtige Entrückung aus den Nöten des Lebens herbeizuführen und ist nicht stark genug, um reales Elend vergessen zu machen. (Freud 2007: 47)

Neben den bereits angeführten Rauschmitteln ist es auch die Religion, der im menschlichen Leben die Funktion zukommen kann, Leid zu lindern. An dieser Stelle lohnt es sich, zwei Aussagen Freuds über die Religion („die Religionen der Menschheit“) im Originalwortlaut zu rezipieren:

Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt. (Freud 2007: 48)

Wer dann in späterer Lebenszeit seine Bemühungen um das Glück vereitelt sieht, findet noch Trost im Lustgewinn der chronischen Intoxikation, oder er unternimmt den verzweifelten Auflehnungsversuch der Psychose.

Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung, indem sie ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. (Freud 2007: 51)

Es ließe sich einwenden, dass solche grundsätzlichen Überlegungen, noch dazu aus dem Jahr 1930, wenig bis keine Relevanz für die heutige Arbeit von DolmetscherInnen in der Psychotherapie haben können. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass die Religion, die im derzeitigen medialen und tagespolitischen Diskurs hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Thema Terrorismus diskutiert wird (Stichwort: „Islamismus“), im psychotherapeutischen Kontext einen anderen Stellenwert genießt, nämlich als eine Ressource, die das Potenzial hat, „vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen“ (s.o.). Es ist nicht unwichtig für DolmetscherInnen in der Psychotherapie, sich Gedanken über die Funktion der Religion unter dem Gesichtspunkt der individuellen Leidbewältigung zu machen, um von oberflächlichen und/oder politisierten Bewertungen der Religionszugehörigkeit bzw. der Religiosität von KlientInnen abzusehen bzw. solche eigenen Bewertungen kritisch zu hinterfragen. Je besser DolmetscherInnen den radikal individuellen Zugang zum seelischen Leid des Klienten in der Psychotherapie nachvollziehen können, desto leichter fällt es ihnen, im Einklang mit den Zielvorstellungen und Abläufen einer Psychotherapie zu agieren. Nicht zu unterschätzen sind nämlich die Auswirkungen eigener Widerstände und Ressentiments auf die Dolmetschleistung, daher stellt eine laufende Reflexion der eigenen Einstellungen (auch der politischen) für DolmetscherInnen in der Psychotherapie eine Notwendigkeit dar.

Weitere Themen, die Freud in dieser bahnbrechenden kulturtheoretischen Schrift diskutiert, sind die Unverzichtbarkeit und Unerfüllbarkeit des Lustprinzips, der Gegensatz von Kultur und individueller Freiheit, die Bildung größerer sozialer Gemeinschaften, in denen Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängigkeit herrschen, sowie die Unterdrückung der Aggression, beziehungsweise die Verwendung unterdrückter Aggression zum Aufbau der Kultur durch die Umwandlung der Aggressionslust in Schuldbewusstsein. Das Zusammenspiel dieser und anderer, hier nicht genannter Komponenten sorgen für ein „Unbehagen in der Kultur“, mit dem das Individuum („eine Art Prothesengott“, Freud 2007: 57) den Preis für die Annehmlichkeiten des Lebens in einer „zivilisierten“ Gesellschaft bezahlt.

2.7.2„Warum Krieg?“

In einer anderen Schrift, die im Kontext der transkulturellen Psychotherapie mit Kriegsüberlebenden ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll, beschäftigt sich Freud mit der Frage, warum die Menschheitsgeschichte von Kriegen geprägt ist. Bei dieser im Jahr 1932 erschienen Schrift mit dem Titel „Warum Krieg?“ handelt es sich um einen Brief, in dem Freud den Versuch unternimmt, Antworten auf eine Frage seines Zeitgenossen, des Physikers Albert Einstein zu finden: „Sie haben mich dann durch die Fragestellung überrascht, was man tun könne, um das Verhängnis des Krieges von den Menschen abzuwehren.“ (Freud 2007: 165). Freud stellt fest, dass Interessenskonflikte unter den Menschen prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden werden, was im Übrigen auch für das Tierreich gilt, wobei bei den Menschen noch die Meinungskonflikte hinzukommen, die einen hohen Grad der Abstraktion erreichen können. Die Gewalt wird gebrochen, indem die Gemeinschaft durch einen Zusammenschluss das gemeinsame Recht etabliert, sodass nicht mehr die Gewalt eines einzelnen sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft. Die Macht wird also an eine größere Einheit übertragen. Dennoch währt der Friede nie lange, und es werden Konflikte zwischen „Stadtgebieten, Landschaften, Stämmen, Völkern und Reichen“ fast immer „durch die Kraftprobe des Krieges entschieden“ (2007: 169), was zu Beraubung, voller Unterwerfung oder Eroberung des einen Teils führt.

Um dieses Phänomen zu erklären, führt Freud die Triebe des Menschen ins Treffen, die „nur von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen – wir heißen sie erotische, ganz im Sinne des Eros im Symposion Platos (…) – und andere, die zerstören und töten wollen; wir fassen diese als Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb zusammen.“ (2007: 171). Freud enthält sich jedoch einer Wertung von Gut und Böse und postuliert: „Der eine dieser Triebe ist ebenso unerläßlich wie der andere, aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken der beiden gehen die Erscheinungen des Lebens hervor.“ Utopischen Vorstellungen eines friedlichen, aggressionsfreien Zusammenlebens von Menschen, sei es in simplen Gesellschaftsformen als Naturvölker oder in ideologischen, beispielsweise bolschewistischen Zusammenhängen, erteilt Freud eine klare Absage und spricht in diesen Fällen von Illusionen. Es könne nicht darum gehen, die menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen, sondern man könne nur versuchen, sie so weit abzulenken, dass sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden müsse.

Freud formuliert an einigen Stellen prägnant seine Überlegungen zum Krieg, die an Aktualität nichts eingebüßt haben, und es erscheint sinnvoll, diese Abschnitte ebenfalls im Originalwortlaut wiederzugeben, angesichts des Umstands, dass in der vorliegenden Arbeit mit kriegstraumatisierten Menschen sowohl den PsychotherapeutInnen als auch den DolmetscherInnen eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Krieges nicht erspart bleibt und Freuds einschlägige Überlegungen eine wertvolle Kontextualisierung bieten, zumal jegliches Arbeit mit Flüchtlingen eine grundsätzlich pazifistische Weltanschauung voraussetzt, oder jedenfalls eine Haltung, die sich der Kriegslogik, die manchen Menschen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe das Existenzrecht abspricht, widersetzt.

Warum empören wir uns so sehr gegen den Krieg, Sie und ich und so viele andere, warum nehmen wir ihn nicht hin wie eine andere der vielen peinlichen Notlagen des Lebens? Er scheint doch naturgemäß, biologisch wohlbegründet, praktisch kaum vermeidbar. Entsetzen Sie sich nicht über meine Fragestellung. (…) Die Antwort wird lauten, weil jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben hat, weil der Krieg hoffnungsvolle Menschenleben vernichtet, den einzelnen Menschen in Lagen bringt, die ihn entwürdigen, ihn zwingt, andere zu morden, was er nicht will, kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit, zerstört und anderes mehr. Auch daß der Krieg in seiner gegenwärtigen Gestaltung keine Gelegenheit mehr gibt, das alte heldische Ideal zu erfüllen, und daß ein zukünftiger Krieg infolge der Vervollkommnung der Zerstörungsmittel die Ausrottung eines oder vielleicht beider Gegner bedeuten würde. (Freud 2007: 175)

Die Erklärung, die Freud schließlich für die Empörung gegen den Krieg liefert, ist von verblüffender Schlichtheit: „Ich glaube, der Hauptgrund, weshalb wir uns gegen den Krieg empören, ist, daß wir nicht anders können. Wir sind Pazifisten, weil wir es aus organischen Gründen sein müssen.“ (2007: 176). Mit „organischen Gründen“ meint er den Umstand, dass der Prozess der Kulturentwicklung zu psychischen Veränderungen führt, indem eine fortschreitende Verschiebung der Triebziele und Einschränkungen der Triebregungen stattfinden. Es komme zu einer Erstarkung des Intellekts, die wiederum zu einer stärkeren Beherrschung des Trieblebens führt, sowie zu einer Verinnerlichung der Aggressionsneigung. Weiter führt Freud aus:

Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozeß aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. (…)

Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die anderen Pazifisten werden? Es ist nicht zu sagen, aber vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, daß der Einfluß dieser beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird. Auf welchen Wegen oder Umwegen, können wir nicht erraten. Unterdes dürfen wir uns sagen: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg. (Freud 2007: 176f.)

Gegen den Krieg arbeiten, besser gesagt gegen die verheerenden psychischen, emotionalen und sozialen Folgen des Krieges arbeiten – das ist sicherlich mit ein Gesichtspunkt, unter dem die Arbeit von PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen im Rahmen der transkulturellen Psychotherapie mit Kriegs- und Folterüberlebenden zu betrachten ist.

2.8Abschließende Bemerkungen

Die in diesem Kapitel angeführten Werke können lediglich eine Idee von der Vielfalt der Auseinandersetzung mit dem Thema Kultur im Kontext der Psychoanalyse und der unterschiedlichen psychotherapeutischen Richtungen vermitteln. Der psychoanalytische Blick auf die Verortung des Individuums in der Kultur (bzw. in den Kulturen) und auf die interkulturelle Kommunikation kann für die Translationswissenschaft eine Bereicherung darstellen, zum einen auf Grund der Miteinbeziehung gesellschaftlicher Mechanismen und zum anderen auf Grund der Fokussierung auf das Individuum und seine ökonomischen, sozialen, kulturellen, intellektuellen und emotionalen Bedürfnisse.

Die Lektüre einschlägiger theoretischer Abhandlungen und praktischer Erfahrungsberichte legt den Schluss nahe, dass es in der konkreten Arbeit mit Menschen aus anderen Ländern (und Kulturen) in erster Linie darauf ankommt, einen Zugang zum Eigenen (also auch zu den eigenen Vorurteilen) zu finden, um einen respektvollen Umgang mit dem „Fremden“ (welches durch die zunehmende Annäherung immer vertrauter und somit weniger fremd wird) zu ermöglichen. Für einen solchen Prozess sind Lernbereitschaft und Lernfähigkeit unabdingbar.

3Trauma: individuelle und kollektive Auswirkungen

Das interkulturelle psychotherapeutische Setting, von dem in der vorliegenden Arbeit die Rede ist, bezieht sich auf die Behandlung kriegs- und foltertraumatisierter Menschen. Trauma als nachhaltig wirksame körperliche und/oder seelische Verletzung ist ein vielschichtiges Phänomen, das durch die sogenannte Flüchtlingskrise der letzten Jahre zunehmend an gesellschaftlicher Wahrnehmung und Brisanz gewinnt. Ich werde mich im Folgenden auf jene Aspekte beschränkten, die für DolmetscherInnen, die in der Psychotherapie mit kriegs- und foltertraumatisierten Menschen arbeiten, von Relevanz sein können.

Das folgende Zitat der Traumatherapeutin Michaela Huber soll ein Schlaglicht darauf werfen, was therapeutisches Arbeiten mit traumatisierten Menschen bewirken kann bzw. bewirken können soll:

Es gibt wohl keine intensivere Begegnung als die in der Therapie mit Menschen, die nach Erfahrungen, welche ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen haben, wieder versuchen, ins Leben zurückzufinden. Oder, wie es bei vielen früh und langjährig traumatisierten Frauen und einigen Männern der Fall ist, mit denen ich meistens arbeite: Die überhaupt zum ersten Mal entdecken, wie äußere Sicherheit sich anfühlen, wie Lebensfreude schmecken kann. Sie dabei zu begleiten, sich zu der Persönlichkeit zu entwickeln, die erst einmal gewaltsam blockiert oder zersplittert wurde, und die dann gereift und mit der Fähigkeit, nach innen beschützend und nach außen wehrhaft zu sein, ihr eigenes Potenzial entfalten kann – das ist eine große Freude. So herausfordernd und oft anstrengend diese Arbeit ist, sie verändert beide Beteiligten, und wenn es gelingt, bereichert sie und ist jeder Mühe wert. (Huber 2005: 18)

Hier ist die Rede von den „beiden Beteiligten“, Huber meint also die klassische Dyade (TherapeutIn und KlientIn), dennoch ist in diesem Zitat vieles enthalten, was DolmetscherInnen verinnerlichen oder begreifen sollten, um die therapeutische Haltung gegenüber den z.T. schwer traumatisierten KlientInnen erkennen und so weit mittragen zu können, wie es nötig ist, um die therapeutische Kommunikation zu ermöglichen. Das therapeutische Setting hat unter anderem die Funktion, ein Gefühl der Sicherheit zu evozieren – DolmetscherInnen sind an der Herstellung einer solchen Atmosphäre maßgeblich beteiligt, sowohl im Rahmen einer einzelnen Stunde als auch in der Kontinuität, als langfristige, wenn auch prekär beschäftigte MitarbeiterInnen in Einrichtungen für Behandlung von Kriegs- und Folterüberlebenden.

3.1Definition

Auch wenn die Begriffe Trauma und davon abgeleitete Adjektive („traumatisiert“, „traumatisch“) mitunter inflationär oder gedankenlos verwendet werden1 , so ist Trauma keineswegs ein neumodisches Phänomen, sondern reicht in die Antike zurück (Smolenski 2006: 7f.).

Smolenski bietet einen Überblick über die historische Entwicklung der Traumatherapie und erwähnt u.a. entsprechende Schilderungen bei Homer über Achilles, die auf eine psychotraumatische Symptomatik hinweisen. Im 20. Jahrhundert waren es insbesondere die beiden Weltkriege, die zu massenhaften Traumatisierungen führten. Nach dem 2. Weltkrieg war das Sprechen über die traumatischen Erlebnisse deutscher Soldaten und der Zivilbevölkerung jedoch zunächst noch tabuisiert, und erst als die zahlreich auftretenden posttraumatische Belastungsstörungen bei Rückkehrern aus dem Vietnam-Krieg auch medial Beachtung fanden, gab es neue Entwicklungsimpulse für die Traumabehandlung. Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung fand 1980 Eingang in das „Diagnostic and statistical manual of mental disorders“, und 1992 wurde dieses Krankheitsbild in die ICD-10 („International classification of diseases, injuries and causes of death“) der Weltgesundheitsorganisation WHO aufgenommen (vgl. Smolenski 2006: 15).

Darin wird Trauma folgendermaßen definiert:

(…) ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (z. B. Naturkatastrophe oder menschlich verursachtes schweres Unheil – man-made disaster – Kampfeinsatz, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen). (ICD-Code, Stand 25.5.2017)

Die Rede ist also von einem Ereignis, bei dem die natürlichen Schutzmechanismen versagen, weil es keine Möglichkeit gibt, sich den äußeren (gewaltsamen) Einwirkungen zu entziehen. Der Mensch erlebt Hilflosigkeit und Ohnmacht, mitunter auch Scham, in einem extremen Ausmaß. Wie es in der Definition heißt, würden diese Ereignisse „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen“, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die KlientInnen nicht im eigentlichen Sinne „krank“ sind, jedenfalls nicht notwendigerweise, sondern von krankmachenden Ereignissen und Erlebnissen so schwer gezeichnet sind, dass die Symptome über das Ereignis hinaus sich immer wieder bemerkbar machen können. Dabei ist von Menschen verursachtes Unheil psychisch schwerer zu bewältigen als Naturkatastrophen, weil sich im ersten Fall stets Fragen von Schuld, Unrecht, Gerechtigkeit oder Rache stellen, ebenso wie die tendenziell mit Selbstvorwürfen behaftete Frage, ob es möglich gewesen wäre, das traumatische Ereignis zu vermeiden (wenn man sich rechtzeitig zur Flucht entschlossen hätte, wenn man dies oder jenes getan oder unterlassen hätte).

Zobel empfiehlt bei der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung mit einem Zahlenstrahl zu arbeiten, also einer Skala, um das Ausmaß der Belastung besser einschätzen zu können, bzw. die Auswirkungen des Traumas im Hier und Jetzt. Um vage Aussagen zu vermeiden (wie „ein bisschen“, „kaum“ oder „sehr viel“), empfiehlt Zobel, die Frage folgendermaßen zu formulieren: „Wenn Sie heute an dieses Ereignis denken, wie belastend empfinden Sie es auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 0 bedeutet ’keine Belastung, neutral‘ und 10 ‚die für Sie maximal vorstellbare Belastung‘?“ (2006: 33). Zobel betont, dass es aus der Sicht des Psychologen wichtig ist, nicht nur auf den Inhalt des erzählten Ereignisses zu achten, sondern auch darauf, wie erzählt wird: Kann der Patient den Ablauf schildern, ohne dass es zu Affekten kommt? Kann der Patient Anfang, Verlauf und Ende schlüssig berichten? Erscheint das Erlebnis und die Art, wie der Patient es schildert, kongruent? Gibt es Hinweise darauf, dass er Patient aufkommende Emotionen unterdrückt? (2006: 34). Es ist notwendig, dass DolmetscherInnen in der Psychotherapie diesen Anspruch an die Gesprächsqualität nachvollziehen können: Es zählt nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch, wie es gesagt wird.

3.1.1Trauma oder belastendes Lebensereignis?

Huber legt Wert auf eine Unterscheidung zwischen einem Trauma und einem belastenden Lebensereignis (2005: 37ff.): Auch wenn innere Konflikte großen Stress bedeuten können, ist ein Trauma davon zu unterscheiden, nämlich dahingehend, dass es sich bei traumatisierenden Erlebnisse um „tatsächliche, extrem stressreiche äußere Ereignisse“ handelt (Huber 2005: 38). Die Überflutung mit „aversiven Reizen“ überfordert sämtliche Bewältigungsmechanismen des Opfers und verändert das Leben für immer. „Von jetzt an wird es nie mehr so sein wie zuvor“ (2005: 41) – diesen Aspekt gilt es zu verstehen, um begreifen zu können, warum die Traumatisierung eine Zäsur im Leben des Opfers (bzw. des Überlebenden) darstellt und warum Traumatherapien oft mehrere Jahre in Anspruch nehmen und weshalb selbst nach Abschluss einer Therapie, die man als „gelungen“ bezeichnen kann, nicht davon auszugehen ist, dass die Wirkkräfte des Traumas für immer gebannt sind.

Ereignisse, die mit tödlichen Bedrohungen einhergehen, lösen einen von zwei Reflexen aus: fight or flight. Ob Menschen eher mit Fluchtversuchen oder Kampfbereitschaft reagieren, scheint situations- und personenspezifisch ausgeprägt zu sein. Huber äußert die Vermutung, dass Frauen tendenziell eher zur automatischen Fluchtreaktion neigen, während Männer eher auf aggressives Verhalten zurückgreifen (2005: 43).

Traumatisierend ist ein Ereignis dann, wenn die oben genannten Reaktionsmöglichkeiten Kampf oder Flucht1 nicht mehr gegeben sind und die überwältigende Einwirkung von außen hingenommen werden muss. Die Fachausdrücke dazu lauten freeze und fragment (ebda.): Freeze meint eine Lähmungsreaktion und eine Entfremdung vom Geschehen. Mit Fragment ist gemeint, dass die Erfahrung zersplittert wird und dass es keine zusammenhängende Erinnerung mehr an das äußere Ereignis gibt.

Ein solches Ereignis bzw. eine länger andauernde traumatisierende Situation oder eine Kette von Ereignissen und Situationen können zur Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen.

3.2Posttraumatische Belastungsstörung

3.2.1Definition und Symptome

Für DolmetscherInnen, die mit kriegs- und fluchttraumatisierten1 Menschen arbeiten, ist es von Vorteil, sich zumindest in groben Zügen mit den psychotherapeutischen Konzepten im Hinblick auf die Posttraumatische Belastungsstörung vertraut zu machen, zum einen, um ein umfassenderes Verständnis von der Problematik der KlientInnen zu erlangen, und zum anderen, um die Fragen und Interventionen der PsychotherapeutIn besser nachvollziehen (und also präziser in der anderen Sprache wiedergeben) zu können.

Auf körperlicher Ebene macht sich eine Posttraumatische Belastungsstörung durch massive Schlafstörungen bemerkbar – daher drehen sich psychotherapeutische Gespräche häufig um dieses Thema, und es wird gemeinsam mit der KlientIn versucht, sämtliche Möglichkeiten auszuloten, die Schlafprobleme in den Griff zu bekommen und auf diese Weise dem Organismus zu der dringend notwendigen Regeneration zu verhelfen. Einige Symptome, die vermutlich auf eine manifeste Depression hindeuten, können für DolmetscherInnen von konkreter Relevanz sein, nämlich dann, wenn die KlientInnen so antriebs- und teilnahmslos sind, dass der depressive Gesamtzustand sich auf ihre Sprechfähigkeit auswirkt: Es kommt vor, dass KlientInnen auf Grund ihrer schlechten psychischen Verfassung sehr leise sprechen und dadurch kaum verständlich sind, wodurch die Gefahr steigt, dass es zu Missverständnissen kommt. In solchen Fällen ist es wichtig, die PsychotherapeutIn auf diese Problematik hinzuweisen, und nicht etwa zu versuchen, auf eigene Faust zu erraten, was gesagt wurde. Eine deutschsprachige PsychotherapeutIn ist möglicherweise nicht in der Lage selbst abzuschätzen, wie stark die Sprechfähigkeit der depressiven KlientIn in Mitleidenschaft gezogen wurde, und ist in diesem Fall auf die Expertise der DolmetscherIn angewiesen. Mehrmaliges Nachfragen mag aus der Sicht der DolmetscherIn unangenehm sein, ist jedoch dem Impuls, den Inhalt auf gut Glück zu erraten und zu ergänzen jedenfalls vorzuziehen.