Don Quijotes Erben - Die Kunst des europäischen Romans - Jürgen Wertheimer - E-Book

Don Quijotes Erben - Die Kunst des europäischen Romans E-Book

Jürgen Wertheimer

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Beschreibung

Der erste Band von insgesamt 4 Bänden des E-Books zur Kunst des europäischen Romans. Die gedruckte Ausgabe versammelt alle 4 in einem Buch Tausend Seiten Ausnahmezustand. Tausend Seiten Abenteuer – das ist der Stoff, aus dem die frühen Romane sind. Jürgen Wertheimer zeigt anschaulich, wie wichtig das Genre des Romans heute ist. Das Buch lädt in diese abenteuerliche Welt ein und wird selbst zu einem Roman über Romane. Mit einer großen Auswahl an schönen Zitaten und nachvollziehbaren gut lesbaren Interpretationen bringt Wertheimer seinen Lesern bekannte Romane nahe. Sicher haben Sie irgendwann schon einmal einen der vorgestellten Romane gelesen - oder sich in der Schule damit "gequält". Nach der Lektüre dieses Buchs eröffnet sich ein neuer Zugang - es ist fast so, als hätte man die Romane neu oder erstmals gelesen. Der Autor erzählt mit scharfem Blick auf Zeitgeschichte – immer in Bezug zur Gegenwart – und von großen Emotionen. Auch in späteren Jahrhunderten zeigt sich der subversive Grund aller Romane: Die Helden reiten oder stolpern von Beginn an ins Abseits. Der große Roman ist das Genre der Verlierer, Versager und Gescheiterten. Was im Alltag bisweilen gerade noch einigermaßen undramatisch endet und versickert, wird im Roman gnadenlos zu Ende gedacht. Romane übersetzen latent spürbare Strukturen in körperlich erfahrbare Wirklichkeiten. Anschaulich wird in diesen Buch auch, wie wichtig in einer Zeit immer stärker werdenden Sucht und Suche nach simpler Orientierung und klaren Unterscheidungen das per se wahrnehmungsästhetisch verantwortungsfreie Genre des Romans ist. "Er schafft es, mit dem Gestus eines hemdsärmeligen Gelehrten, die Komplexität von Cervantes' monumentalen Roman anschaulich darzustellen und dabei noch zu unterhalten.Wahrlich, ergötzlicher kann Literaturwissenschaft kaum sein!" (Walter Wagner, Literaturkritik.de)

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Jürgen Wertheimer

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Don Quijotes Erben

Zum Buch

Zum Autor

Die Erfindung des Romans

Cervantes‘ Don Quijote.

Kopf-geboren

Vom Erzähler der Erzählung

Double oder Dummy

Autodafé und ›Blendung‹

Filmriss und Erzählbruch

P2 oder: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Verlorene Illusionen

Cervantes und/oder Shakespeare?

Das Gewicht der Welt

Literaturverzeichnis

Miguel de Cervantes Saavedra

Voltaire oder der Optimismus

Der Jahrhundertsatz

Aufklärung pur

Satirische Verstimmungen

Das Desaster der besten aller möglichen Welten

Theodizee-Automaten im Herzen

Happy End als Dauerzustand

Literaturverzeichnis

Voltaire (François-Marie Arouet)

Hat wohl jemals seit der Erschaffung der Welt eine Frau einen Mann mit einer so dummen Frage unterbrochen?

Lauter Abschweifungen

Gegen den Strich – im Labyrinth des Erzählens

Der Pakt mit dem Leser

»Alas, poor Yorick!«

Sentimental Journey

Ich – eine Durchgangsstation

Die Erfindung des Lesers

Hörsturz und »Fülle des Wohllauts«

Confounded Passions

Literaturverzeichnis

Laurence Sterne

Goethes Werther

9. Juni 1772

Die literarische Briefbombe zündet

Klopstock und Butterbrot

Alte Leiden – Neue Leiden

Literaturverzeichnis

Johann Wolfgang von Goethe

»Mir fehlt nichts«

Handsome, clever, rich

Der Liebes-Spiel-Trieb

Spielerin und Spielfigur

»Night Thoughts«

Die Stunde der wahren Empfindung

The rise of the novel

Literaturverzeichnis

Jane Austen

Wiedergefundene Illusionen

Showdown am Anfang

Semitiotik als Überlebenshilfe

Der große Atem

Gesamtkunstwerk ›Italia‹

Geschichte von oben und unten

Literaturverzeichnis

Alessandro Manzoni

von Jürgen Wertheimer

Impressum

Don Quijotes Erben

Die Kunst des europäischen Romans

1: Cervantes, Voltaire, Sterne, Goethe, Austen, Manzoni

konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

Zum Buch

Tausend Seiten Ausnahmezustand. Tausend Seiten Abenteuer - das ist der Stoff, aus dem die frühen Romane sind. Auch in späteren Jahrhunderten zeigt sich der subversive Grund aller Romane: Die Helden reiten oder stolpern von Beginn an ins Abseits. Jürgen Wertheimer zeigt anschaulich, wie wichtig das Genre des Romans heute ist.

„Er schafft es, mit dem Gestus eines hemdsärmeligen Gelehrten, die Komplexität von Cervantes' monumentalen Roman anschaulich darzustellen und dabei noch zu unterhalten. Wahrlich, ergötzlicher kann Literaturwissenschaft kaum sein!“ (Walter Wagner, Literaturkririk.de, zu dem im konkursbuch Verlag in kleiner Auflage vorab erschienenem ersten Kapitel dieses Buchs.)

 „Sie erhalten nicht nur eine kurzweilige Lektüre über Literatur. Nein, durch die vielen Zitate, durch die Spannung, mit der über die Werke gesprochen wird, erhalten Sie gleich einen ganzen Handkarren an Belletristik.“

(Leander Sukov, Literaturglobe)

Der Autor nimmt die Leser mit in die abenteuerliche Welt der großen Romane. Das Buch wird selbst zu einem Roman über Romane. Mit einer großen Auswahl an schönen Zitaten und nachvollziehbaren gut lesbaren Interpretationen bringt Wertheimer seinen Lesern bekannte Romane nahe. Sicher haben Sie irgendwann schon einmal einen der vorgestellten Romane gelesen – oder sich in der Schule damit "gequält". Nach der Lektüre dieser Bücher eröffnet sich ein neuer Zugang – es ist fast so, als hätte man die Romane neu oder erstmals gelesen. Der Autor erzählt mit scharfem Blick auf Zeitgeschichte - immer in Bezug zur Gegenwart – und von großen Emotionen. Der große Roman ist das Genre der Verlierer, Versager und Gescheiterten. Was im Alltag bisweilen gerade noch einigermaßen undramatisch endet und versickert, wird im Roman gnadenlos zu Ende gedacht. Romane übersetzen latent spürbare Strukturen in körperlich erfahrbare Wirklichkeiten.

Zum Autor

Jürgen Wertheimer ist Professor für Komparatistik und Germanistik an der Universität Tübingen, Schwerpunkte seiner Arbeit u.a.: Kulturkonflikte in Texten; Poetik der Emotionen. 2013 erhält er den renommierten Preis: Grand Prix international de la Laïcité.

Die Erfindung des Romans

Zu Beginn scheint das Erzählen ein großes Fest, ein Karneval der Stimmen: ob bei Don Quijote, Gargantua, oder bei Grimmelshausen. Winzlinge und Riesen, Wahnsinnige und Heilige stürmten durch die Welt, und ihre Erzähler schwelgten in Phantasien. Tausend Seiten Ausnahmezustand. Tausend Seiten Abenteuer – das ist der Stoff, aus dem die frühen Romane sind.

Diesen großen Atem spürt man erst so recht, wenn die erzählerische Luft in den späteren Jahrhunderten dünner zu werden beginnt, die Räume enger, die Phantasien geordneter. Bei genauem Hinsehen freilich erkennt man auch in späteren Jahrhunderten den subversiven Grund aller Romane: Die Helden des Romans reiten oder stolpern von Beginn an ins Abseits. Der große Roman ist das Genre der Verlierer, Versager und Gescheiterten. »Verlorene Illusionen«: Don Quijote, Candide, Werther, Raskolnikov – keiner, der nicht aus den Koordinaten der Gesellschaft fiele. Alle Abenteuer der Romanhelden enden im Schiffbruch oder in der Kapitulation, im Selbstmord oder in der großen Desillusion. Ein allzu billiger Befund? Nur auf den ersten Blick. Denn zum einen ist alles nur eine Frage der Auswahl. Den unglücklichen Antihelden und Antiheldinnen der großen Romane steht ein Heer mehr oder weniger glücklicher Erfolgsgeschichten gegenüber. Geschichten um Menschen, deren Durchhaltevermögen am Ende auf irgendeine mehr oder weniger überzeugende Art, meistens mittels Heirat, belohnt wird. Oder durch einen gedämpften Kompromiss mit den sogenannten Realitäten.

Im Grunde gibt es seit jeher zwei Arten von Romanen. Solche, die Phantasie romantisch entzünden und solche, die sich dem Abenteuer Alltag stellen. Die erste Gruppe wird rauschkonsumiert und gelegentlich verfolgt. Man kennt das Verfahren. Schon im Don Quijote verbrennen die besorgten Familienmitglieder des in ihren Augen durch Überlektüre mental zu Schaden gekommenen Don die von ihnen geschmähten ›Ritterromane‹. Die zur zweiten Gruppe gehörigen Texte stellen sich der sogenannten Wirklichkeit und unterziehen sehr häufig die Phantasien und Fiktionen einem literarischen Stresstest. Flauberts Madame Bovary geht an den erlesenen Gefühlen aus zweiter Hand zugrunde.

Überhaupt: die Wirklichkeit. Die literarisierte Effi Briest endet weit tragischer als ihr Vorbild aus der Wirklichkeit. Denn der Roman spitzt die Probleme zu: bis in die bitterste Konsequenz. Was im Alltag bisweilen eben gerade noch einigermaßen undramatisch endet und versickert, wird im Roman gnadenlos zu Ende gedacht und gebracht: Wie viele Candides gingen und gehen halbherzig entschlossen, das Gute zu finden, durchs Leben, das ihnen das Gegenteil beweist? – Keiner torkelt so absurd über Leichenberge, Blutlachen und Vulkanausbrüche wie Candide. Wie viele aufgeklärte mittlere Beamte mochten und mögen bisweilen Werther-Gefühle, jene Mischung aus Hochmut, Hass und Überdruss, empfunden haben? – Kaum einer gab sich programmatisch die Kugel.

Die ehrwürdige Mimesis-Diskussion begleitet den europäischen Roman seit seinen Anfängen: kein Manuskript, keine quietschende Türe, kein Hinkebein, keine Quittung, kein Versprecher, kein Stottern, Stammeln, kein Durstgefühl, kein Hungernagen, das nicht als Indiz für die stets behauptete Wirklichkeitsnähe herangezogen worden wäre: Erich Auerbach hat diesem Missverständnis ein ganzes Buch gewidmet. Und es mag ja auch zutreffend sein, dass sich der Roman der sozialen Wirklichkeit Stück um Stück anzunähern versucht.

Wichtiger als dieser soziale Bezug jedoch ist die Entdeckung der unsichtbaren Seite der Wirklichkeit. Keine andere Gattung hat sich so sehr den Blick auf die Innenseite des Individuums zur Leitaufgabe gemacht wie diese Gattung. Introspektion, Briefdokumente, innerer Monolog, Selbstbeobachtung und Vivisektion der eigenen Nerven – kein Bereich, der nicht erzählerisch abgetastet und dokumentiert würde. Oft genug anscheinend vollständig entblößt – häufiger dominiert, inszeniert, reglementiert durch das Über-Ich der Instanz des Erzählers, die sich ihrerseits bisweilen eher verbirgt, dann wieder, wie zum Beispiel bei Balzac, unverstellt, ja exhibitionistisch entfaltet.

Es war der Roman, der von ihm entdeckte Roman, der den Prozess der Auflösung von Orientierungssicherheit vor allen anderen Literaturgattungen seit Jahrhunderten vorangetrieben hatte. Der tschechisch-französische Romancier Milan Kundera hat in seinem Essay Das verkannte Erbe des Cervantes darauf verwiesen, dass bereits mit dem Don Quijote eine Figur in Erscheinung tritt, die die Welt als Ambiguität begreift und statt einer einzigen absoluten Wahrheit einer Vielzahl relativer, widersprüchlicher Wahrheiten gegenüberstand. Eine Tendenz der Relativierung, die sich über Richardson, Fielding, Sterne, Balzac, Flaubert als Konstante durchziehen sollte. Die Weisheit, die Erkenntnis des moderneren und modernen Romans besteht in der Fähigkeit, der essentiellen Relativität der menschlichen Dinge ins Auge zu sehen und die Abwesenheit irgendeines höheren Gesetzes als Realität zu akzeptieren. Der Roman ist die säkulare Gattung schlechthin.

Romane sind Lügengeschichten mit Wahrheitsanspruch, Wissens- und Gefühlsdeponien unerhörten Ausmaßes. Es gibt Romane, denen es gelingt, bestehende Möglichkeiten zu bündeln, überraschende Konsequenzen zu ziehen und das Potential der Verhaltensmöglichkeiten voll zu entfalten. Goethes Werther, als Summe des Briefromans, ist dazuzurechnen. Vielleicht auch Sternes Tristram Shandy, als Bravourstück, alle Techniken der Erzählmöglichkeiten frei flottierend Revue passieren zu lassen. Oder Manzoni, der den historischen Roman der Zukunft schrieb. Andere stehen auf faszinierend unauffällige Art und Weise außerhalb der Regeln. Austens Emma ist ein solcher Roman jenseits der Muster: keine Helden, keine Orte, kein Erzähler, der brillieren will – kein nennenswertes Geschehen, alle Erwartungen enttäuscht und gerade dadurch Interesse geweckt. Nur das schreiben, was man kennt, genau kennt. Ein unprätentiöser Weg in die Moderne.

Man erwacht, und der Alptraum verfliegt. So war es immer. In der Moderne aber beginnen die Schrecken mit dem Erwachen erst wirklich zu werden: da hat sich einer bis zur Unkenntlichkeit verändert oder er gerät in eine ihm unbekannte Welt, in ein Räderwerk der Vernichtung, ein System der Vergewaltigung. Gesicherte Wirklichkeiten und Grenzen lösen sich auf, Wahrnehmungen und Empfindungen verflüchtigten sich. Die Romane seit 1900 protokollieren diesen anfangs kaum spürbaren, allmählich übermächtig werdenden Zerfallsprozess. Die Erzähler selbst werden von diesem gewalttätigen Vorgang erfasst und versuchen dennoch, ihn noch im Moment der eigenen Gefährdung zu dokumentieren. Jeder der Romane vermittelt dieses Ineinander von Auflösungsdrohung und erzählerischer Gegenwehr. Erzählen als manchmal verzweifelter Versuch, eine, wenn auch gefährdete, Ordnung herzustellen. Wer erzählt, kommt aus dem Loch des dumpfen Schweigens heraus und modelliert die Erfahrung begrifflich. Es geht hier nicht darum, diesen Vorgang an sich zu verklären: Seit Nietzsches epochalem Aufsatz über die Kunst der Lüge im außermoralischen Sinne ist das Geschäft der Versprachlichung, je literarischer umso mehr, ein für alle Mal seiner Unschuld beraubt: Geschichtliches Dasein erscheint als ein Herumstochern im Nebel schiefer Metaphern und trügerischer Bilder. Das Erzählen bleibt davon nicht unberührt, verliert seine Unbefangenheit, verliert seinen ruhigen, gleichmäßigen Gang, kommt aus dem Tritt, beginnt über sich selbst zu reflektieren.

Nicht, dass die Erzähler früherer Jahrhunderte immer trittsicher gewesen, nie gestrauchelt wären. Die Gattung ist per se krisengewohnt. Doch gerieten Raum-, Zeit- und Bewusstseinskoordinaten allenfalls im Ausnahmefall außer Kontrolle: der Realismus des 19. Jahrhunderts unternimmt den wohl systematischsten Versuch einer Annäherung und Durchdringung von Sprache und Wirklichkeit. Ein zum Scheitern verurteilter Versuch, eine geschlossene Weltordnung mit einem fixierbaren Bewusstseinshorizont herzustellen. Logozentrische Kosmetik, wo längst schon die Binnenverankerungen gesicherter Wahrnehmung gerissen sind.

Der vorliegende Band will keinen Überblick geben und zielt nicht auf Vollständigkeit, jedenfalls keine quantitative Vollständigkeit. Seine Auswahl folgt einer Spur, die, von Don Quijote ausgehend, die mentalen Migrationen, narrativen Wanderwege, und die Dialektik von Aufbruch und Rückkehr in den Blick fasst. Sicherlich selektiv und subjektiv – wie sonst könnte man das sehr ›weite Feld‹ auch nur annähernd beackern. Er unternimmt im zweiten Teil auch Ausflüge in die sehr vielgestaltige europäische Erzähllandschaft des 20. Jahrhunderts. Beginnend mit der krisenhaften Ablösung vom realistischen Erbe bei Broch, bis hin zur spielerischen Selbstaufhebung der Gattung bei Calvino. Obwohl mit Gabriel García Márquez auch eine Exkursion in die Tropen unternommen wird, handelt es sich primär um eine Erkundung des europäischen Terrains, ohne jeden Anspruch auf Kanon oder Normbildung. Im Gegenteil: Das Kulturbiotop Europa überzeugt, wenn überhaupt, durch seine radikale, das heißt von den Wurzeln herrührende, innere Vielstimmigkeit. Es ist sprachgewordene, textförmige Heterogenität pur. Die ausgewählten Romane repräsentieren diese Eigenwilligkeit nicht nur thematisch, was den Anti-Typus des Menschen ohne feste Eigenschaften betrifft, der seine Fahrt durch die Schichtungen der Geschichten antritt. Auch die Art der erzählerischen Wahrnehmung und Vergegenwärtigung der Wirklichkeit vermittelt diese, sich jeder Norm und Normierung entziehende, Eigen-Sinnigkeit, Eigen-Sinnlichkeit. Alles ist möglich. Der Roman verweigert sich der Begrenzung seiner Bezirke und Stilmittel auf solch grundsätzliche Weise, dass Günter Grass zu Recht davon schreibt, dass er wie ein Geröllberg, eine Schutthalde sei. Da wird nicht unterschieden zwischen Vorder- und Hintergrund, Vergangenem und Gegenwart, relevanten Handlungsteilen und Dekor. Alles ist gleichwertig. Voll präsent. Ohne Regel, Hierarchie und geordneten Diskurs. Diese innere Anarchie der Gattung befähigt sie zur Entdeckung unbekannter Bezirke der sogenannten Wirklichkeit. Und zur Vermittlung von Wahrheiten tief unter der Haut der Kultur ihres Regelwerks und ihren Normen. Denn nicht zuletzt sind Romane, wie vernichtend die Geschehnisse, über die sie berichten auch sein mögen, große Gesten der Befreiung, des Auskostens der Lust am Sieg des Erzählens über die Misere. Wie schreibt Umberto Eco im Vorwort zu seinem Roman Im Namen der Rose: »So fühle ich mich denn nun frei, aus schierer Lust am Fabulieren die Geschichte zu erzählen ... Denn es ist eine Geschichte von Büchern, nicht von den Kümmernissen des Alltags.«

Der Band entstand aus einer Reihe von Vorlesungen im Rahmen des Studium Generale. Er kann und wird den sprachlichen Duktus dieser Situation nicht ganz verleugnen. Jeder Versuch, möglicher Kritik im Vorfeld zu begegnen, ist letztlich vergebens. Auch, was die Auswahl der Romane betrifft und damit verbunden vieler Lücken, ist Kritik möglich. Vielleicht sogar angebracht. Deshalb nur so viel: das Kriterium der Auswahl war letztlich das der Sogwirkung, die ein Text in seiner Um- oder Nachwelt entfaltet. Alle die hier angesprochenen Romane wurden zur Referenz für viele andere Autoren, die sich an ihnen orientierten. Markieren Innovations- oder Wendemarken, Punkte, an denen ein Funke übersprang und etwas in den Lesern zum Explodieren oder Implodieren brachte.

Für die unermüdliche Arbeit am Manuskript danke ich herzlich Magda Hirschberger, Tugba Diri und Isabelle Holz, Amira Möding, Andrée Gerland.

Cervantes‘ Don Quijote.

Eine Figir auf Kollisionskurs gegen den Rest der Welt

Die Überführung von rechtskräftig verurteilten Schwerkriminellen in eine Haftanstalt. Auf der Landstraße stellt sich plötzlich ein auf altertümliche Art Schwerbewaffneter mit Komplizen dem Transport in den Weg, schlägt nach kurzem Wortwechsel einen der Aufseher nieder, befreit die Gefangenen und lässt sie laufen. Dann verschwinden die beiden spurlos. Ringfahndung. Straßensperren. Kein Erfolg. Don Quijote zieht weiter.

Ein Gewalttäter von beachtlicher krimineller Energie terrorisiert ganze Landstriche: Zwei friedlich auf der Straße ziehende katholische Ordensgeistliche werden ohne Vorwarnung zusammengeschlagen und ausgeplündert, der Bodyguard einer reisenden Dame bleibt mit Hieb- und Stichverletzungen schwerverletzt auf der Strecke. Don Quijote zieht weiter.

Nur ein winziger Auszug aus dem Register des Protagonisten, des Mannes von der Mancha, der, ohne romantisierenden Weichzeichner betrachtet, eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Das Schema ist meist dasselbe: eine beliebige Person hat das Unglück, in den Gesichtskreis dieses ritterartigen ›Easy Riders‹ zu geraten, die Ahnungslosen werden mit einer Flut von nur zum Teil verständlichen Verwünschungen überschüttet und dann brutal attackiert, frontal mit eingelegter Lanze, mit der Brechstange angegangen. Dass es häufig gelingt, die ungestümen Angriffe abzuwehren und den körperlich eher schmächtigen Aggressionsbolzen dann selbst in die Mangel zu nehmen, erwächst eher aus einer Art von Notwehrsituation.

Don Quijote, der Mann von der Mancha, hat sich zwar in unserem Bewusstsein als Ikone versponnener Harmlosigkeit und als Märtyrer des Romantischen festgesetzt. Die Wirklichkeit jedoch sieht anders aus, als das Bild des ohnmächtigen Kämpfers gegen Windmühlen, Riesen, Zauberer es vorspiegelt. Und dieselben sanften Gemüter, die den armen Ritter von der traurigen Gestalt, halb Parsifal, halb Pierrot, lieben, sind in der Regel extrem angefasst, wenn ihnen solch ein Irrläufer und Normenzerstörer etwas zu nahe kommt. Man kann die unverbindlichen Sympathieempfindungen, die man dem Hidalgo entgegenbringt, gut verstehen. Aber man sollte dieser Tendenz zu einfühlsamer Annäherung auch etwas kritischen Widerstand entgegensetzen. Und sei es ›nur‹, um der Figur gerecht zu werden, statt sie zu vereinnahmen, wie dies zum Beispiel die Romantiker getan haben.

Gerechtigkeit für Don Quijote heißt, ihn in seiner durchaus gewalttätigen Andersartigkeit zu akzeptieren. Sagt sich leicht, lebt sich schwer. Denn der Don macht es seiner Umwelt nicht gerade einfach. Sein persönlicher Kampf gegen den Terror ist nicht frei von terroristischen Elementen. Und nicht frei von Widersprüchen, zumindest nicht frei von Anachronismen. Immerhin, – man lebt im 17. Jahrhundert, nicht im Mittelalter. Doch der selbsternannte »Ritter von der traurigen Gestalt« gebärdet sich wie ein Kreuzritter oder Minnesänger. Man stelle sich nur einmal vor, heutzutage würde jemand in Robin-Hood-Tracht in eine Börse vordringen und Jagd auf Investmentbanker machen. Knast oder Psychiatrie wären die Folge.

Unserem Helden und sozialen Irrläufer gelingt es wundersamerweise über 1400 Seiten, mehr oder weniger folgenlos, weiter zu agieren. Ein Serientäter in Sachen ›Gerechtigkeit‹ wie Don Giovanni es in Sachen Erotik ist. Don Giovanni freilich braucht keine Bücher als Handlungsvorlage. Don Quijote hingegen ist ein frühes Textualitäts-, Intertextualitäts-Opfer. Fehlgeleitete Lektüre als Symptom einer ausgewachsenen Midlife-Crisis: Der Mann ist kein Jüngling, sondern in den Fünfzigern, ledig, Frühaufsteher, mager, hager, müßiggängerisch. Bescheidener ländlicher Wohlstand, Haushälterin Mitte vierzig, Nichte, knapp zwanzig, im Haus. Bisher offenbar verhaltensmäßig unauffälliges Landadligenleben. Einziger Exzess: Bücher, Romane, Ritter-Romane – Fluten heroisch-phantastischer Fantasy-Literatur. Der Erzähler kommentiert trocken:

Kurz, er versenkte sich so tief in die Bücher, dass er über ihnen die Nächte vom letzten bis zum ersten Licht und die Tage vom ersten bis zum letzten Dämmer verlas, und der knappe Schlaf und das reichliche Lesen trockneten ihm das Gehirn ein, so dass er den Verstand verlor. (Kap. 1)

Hirnverbrennungen ersten Grades diagnostiziert der Gewährsmann, bedingungslose Totalidentifikation eines erwachsenen Mannes mit den Stars und Idolen der Ritterepen und Heldengeschichten. Nun ist es schlimm genug und allemal gefährdend, wenn einer Literatur und Leben nicht differenziert, sondern ineinander verschwimmen lässt und zum Beispiel den Werther nachahmt, indem auch er sich eine Kugel vor den Kopf schießt. Vollends absurd wird es immer dann, wenn ein Text aus Buchstaben den Konsumenten nicht nur zum Nach-Leser, sondern zum Nach-Leber werden lässt. Schwärmerischer Minne-Dienst von Rittern ist bedenklich; imitierende Selbstverwandlung in einen verspäteten Pseudo-Ritter ist, der Verfasser lässt keinen Zweifel daran, Verrücktheit, ›loco‹ eben.

Kopf-geboren

Literarisch gesehen hat diese radikalisierte Art des Wahnsinns nicht nur Methode, sondern ist geradezu Schlüssel zum Erfolg. Gedankenspiele und ›als ob‹-Tändeleien sind banal. Sich wie ein Tier zu fühlen, metaphorisch, ist keine Kunst. Ist Normalität. Aufzuwachen und ein Käfer mit Chitinpanzer und Zappelbeinchen zu wie in Kafkas – dies ist der Trick, der aus einem vagen Gefühl, das man zu kennen glaubt, eine ästhetische und existenzielle Erfahrung von besonderer Konkretheit wie Schärfe entstehen lässt, die es ermöglicht, ein ganz neues Gespür für das Phänomen der ›Verwandlung‹ zu entwickeln. Sich in die Rolle eines Verteidigers der Schwachen und Rächers der Verfolgten hineinzuphantasieren ist eine eher langweilige Geschichte. Wer kennt nicht dergleichen Tagträume, bei denen man sich als einen anderen/eine andere denkt oder empfindet oder wünscht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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