Immanuel Kant - Jürgen Wertheimer - E-Book

Immanuel Kant E-Book

Jürgen Wertheimer

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Beschreibung

Kant für Anfänger: Die Grundfragen der Philosophie und der Geist der Aufklärung Immanuel Kant erscheint heute oft wie ein Koloss, der die Menschen vor Ehrfurcht erstarren lässt. Dem wirkt Jürgen Wertheimer mit seinem Kant-Lesebuch auf unterhaltsame Weise entgegen. Dafür verpackt er die großen und kleinen Dinge rund um Leben und Werk des Philosophen in 24 erhellende Episoden. Darin schildert er, wie der berühmte Philosoph versuchte, die menschliche Existenz zu ergründen und bringt Kant damit auf Augenhöhe mit den Leserinnen und Lesern. - Eine etwas andere Biografie: Thematische Kapitel zu Immanuel Kants Leben und Werk - Sapere aude: Die Philosophie der Aufklärung - Was ist der Mensch: Kantische Fragen und der Kategorische Imperativ - Mit Abbildungen von handschriftlichen Notizen Kants und weiteren Illustrationen Wer war Immanuel Kant? Ein besonderer Blick auf den berühmten Philosophen Der Literaturwissenschaftler zeigt auf, warum Kants Denken heute relevanter ist denn je. Er charakterisiert Immanuel Kant als fantasievollen und weltklugen "Magier der Vernunft" – und unternimmt Gedankenexperimente, wie sich der große Denker in ein Verhältnis zu heutigen politischen, gesellschaftlichen und auch technischen Entwicklungen wie KI bringen lässt. Frei nach dem lateinischen Sprichwort, das Kant zum Leitspruch der Aufklärung erklärte: Sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ein Lesebuch, das dazu einlädt, den Königsberger Philosophen noch einmal ganz neu zu entdecken.  

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Seitenzahl: 279

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JÜRGEN WERTHEIMER

IMMANUEL KANT

Der Magier der Vernunft in 24 Episoden

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2023 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – Wien, einer Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Neutra Text

Umschlaggestaltung: Thierry Wijnberg

Coverabbildung: © Science Photo Library / picturedesk.com

Bild S. 221: © DLA Marbach

ISBN 978-3-7109-0164-5

eISBN 978-3-7109-5152-7

INHALT

Vorrede

Gedanken-Spiele

Aude sapere

Zum ewigen Frieden

Grüne Gläser. Grüne Gardinen

Der Beginn der Kritik …

Die Blicke im Rücken

Der olle »Rassist«?

Kristallklare Pläne

Wo steht Kant, wo kommt er her? Wo führt er hin?

Hoffnungslos optimistisch

Die große Revolution

Hirngespinste

Lust und Unlust

Das »Superhirn«

Krummes Holz

Alma Mater

Die Sache mit Gott

Kraut, Rüben, Transzendenz

Raumzeiten und Zeiträume

Emotion

Zetteltraum

Ladys last

Kulturreport

Das Wunder KI?

Epilog

Dank

Anmerkungen

Zeitleiste

Glossar

Literaturverzeichnis

VORREDE

Tausende eng bedruckte Seiten voller abstrakter Maximen, logischer Schlussfolgerungen und moralischer Ansprüche. Das Ganze in endlosen Satzlabyrinthen, in denen man sich schier verirren kann. Ich könnte mir vorstellen, dass man vor Kant heutzutage ehrfürchtig erstarrt. Weil ich nicht in dieser Schockstarre verharren wollte, habe ich die Scheu überwunden und versucht, mich der Ikone Kant gewissermaßen aus der Froschperspektive anzunähern. Und mich, ausgehend von den eingängigeren seiner Texte, allmählich vorzuarbeiten. Ganz subjektiv und, wenn man so will, sogar unsystematisch. Wohl wissend, dass es eine methodische Todsünde ist, sich einem, ja DEM Systematiker schlechthin, unsystematisch zu nähern.

Aber vielleicht ist es doch möglich, gerade so, als Sammler von Anekdoten, Episoden und Fragmenten, aus vielen Splittern ein Bild zusammenzusetzen, das Konturen Kants – der Methode Kant, des Menschen Kant – erkennen lässt. Ohne den Anspruch des Spezialistentums, ohne Enthüllungswut, aber auch ohne die Absicht, ihn für etwas zu benutzen. Da wir gerade bei Bekenntnissen sind: Ich bin Literaturwissenschaftler, kein Philosoph. Statt diesen »Mangel« schamhaft zu verbergen, hoffe ich, ihn nutzen zu können, weil ich der Meinung bin, literarische Fantasie kann gelegentlich der abstrakten Philosophie etwas auf die Sprünge helfen. Sie kommt an den Menschen heran, ohne sich ihm anzubiedern. Sie hat die Fähigkeit, Situationen zu konkretisieren. Und nicht zuletzt widmet sie sich auch dem gerade bei Kant oft vernachlässigten Bereich der Gefühle und Emotionen. Und: Sie unterliegt nicht den Gesetzen strenger Logik, sondern möchte vor allem eines – Geschichten erzählen. Warum nicht auch eine Geschichte des Denkens.

Eines ganz besonderen Denkstils, mit dem er auch unter seinen Zeitgenossen bereits herausstach. Natürlich war er nicht von Anfang an der Superstar der Vernunft, als den wir ihn kennen und bewundern. Aber relativ früh, spätestens nach seiner Kritik der reinen Vernunft aus dem Jahr 1781, begann er Furore zu machen.

Kant wurde Kult, eine Art Popstar des Denkens. Was seinem Beinahe-Zeitgenossen Wolfgang Amadeus Mozart scheinbar mühelos zuflog, musste er sich hart und diszipliniert erarbeiten. Dennoch: Was die Sogwirkung und Suggestionskraft seines Werkes betrifft, scheint der Vergleich mit dem genialen Salzburger Überflieger nicht ganz unangebracht. Es gab viele brillante Musiker – Mozart überspielte sie alle. So wie es in der Zeit der Aufklärung scharenweise gelehrte Vordenker der Vernunft gab und Kant sie dennoch wundersamerweise in den Schatten stellte. Und dies, obwohl er seinen Lesern, seinem Publikum, in keiner Weise entgegenkam. Im Gegenteil: Er entführte sie über schroffe Satzgebilde und spröde, »kantige« Begriffe in die Höhenluft abstrakten Denkens – und sie folgten ihm willig. Schon zu seinen Lebzeiten entstand eine regelrechte kleine Kant-Industrie: Brustbilder von Kant in Gips und Stein, Kant-Väschen mit erhabenem Kant-Porträt, dazu Medaillen, Kupferstiche, Gipsabdrücke. Das Superhirn als Nippesfigur.

Doch auch seine Ideen brannten sich ins kollektive Bewusstsein ein, und der Vordenker aus der Königsberger Provinz erreichte Millionen von »Followern«. Der »Kategorische Imperativ« wurde zum Credo ganzer Generationen, sein Glaube an die Kraft der »Kategorien« wurde zur Ersatzreligion, und Generationen armer Schüler wurden auf ein imaginäres Pflichtgefühl eingeschworen.

Etwas später begannen »Kantianer« und Kant-Kritiker und »Neukantianer« sich in philosophischen Seminaren weltweit hitzige Gefechte zu liefern, und Kant wurde mehr und mehr zum Tummelplatz von Kant-Spezialisten – ein Gehege, zu dem Außenstehende, Laien kaum mehr Zugang hatten. Kant begann ein eigener Kosmos zu werden, in dem man leben und überleben konnte.

Das sich anbahnende Jubiläum wird sicher genutzt werden, um den Mythos Kant neu zu besichtigen und einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Ich möchte dennoch einen etwas anderen, weniger ambitionierten Weg gehen. Dabei erhebe ich nicht den Anspruch, Kant besser und immer noch besser zu verstehen und in jede seiner gedanklichen Windungen eindringen zu können. Das bleibe das Vorrecht der Kant-Spezialisten.

Mir geht es in diesem Essay nur darum, dem Phänomen Kant etwas näher zu kommen, ohne sich ihm anzubiedern, ihn ernst, aber nicht todernst zu nehmen, nicht nur gebannt auf die Konturen seines Hauptwerks zu starren, sondern auch den kleinen Nebenwegen des großen Kant zu folgen. Keine der folgenden Episoden ist völlig frei erfunden – freilich gelegentlich ein wenig angereichert und weitergesponnen. Der historische Kern wurde sozusagen narrativ etwas ausgebaut. Nicht um der Übertreibung willen, sondern allenfalls um Eigenarten dieser ziemlich einzigartigen Figur zur Kenntlichkeit zu bringen.

Vor allem seinen bedingungslosen Einsatz für das beileibe nicht selbstverständliche Recht und die Verpflichtung, aus der Hängematte der Trägheit zu steigen und die Kraft des autonomen Denkens zu aktivieren. In Zeiten einer aufsteigenden KI, die uns das Denken abzunehmen scheint, eines »woke«-artigen Dogmatismus, der nichts mit Aufgewecktsein zu tun hat, und einer Gendermechanik, die das Denken und Sprechen weniger beflügelt als beschwert, ist dieser Impuls wichtiger denn je!

Also tun wir einen ersten Schritt und beginnen diese kleine Kant-Exkursion.

GEDANKEN-SPIELE

Er war im Bann dieses Spieles. Gut, er verdiente sich sein Geld damit. Seine Schüler mochten ihn. Aber es war doch mehr als nur ein Zeitvertreib oder Broterwerb. Es war auch mehr als das trockene Klackern der Billardkugeln, wenn sie sich touchierten. Jeden Morgen um halb zehn war Kant für eineinhalb Stunden in diesem Café hinter dem Hafen und spielte, meist mit seinen Schülern, denen er mit unendlicher Geduld beizubringen versuchte, den Queue nicht verkrampft, sondern ganz locker zu führen. Bei den allermeisten ein hoffnungsloses Unterfangen. Wenn er sah, wie sie mit verdrehtem Oberkörper über dem Tisch hingen und linkisch herumstocherten, hätte er schreien können. Für sie war der grüne Tisch ein Schlachtfeld, und die Elfenbeinbälle waren Kanonenkugeln.

Da fehlte jede Eleganz und Leichtigkeit, das war nur ein animalisches Gewürge, wenn sie mit gerötetem Gesicht unter den Rauchschwaden, die unter der Decke hingen, platt auf dem Tisch lagen und die Kugeln besinnungslos hin und her jagten.

Am liebsten spielte er aber allein und gegen sich selbst. Nur leicht gebückt, den Queue wie einen Geigenbogen oder ein Florett federnd, vibrierend. Angespannt, aber nicht verkrampft, dann der Stoß mit konzentrierter Kraft.

Weiß über Grün, Rot über Grün, immer innerhalb des Raumes, der nur zwei Quadratmeter grünen Filzes umschloss. Das war sauber, trocken und genau. Er spielte schon lang nicht mehr nach Regeln, wollte nicht Serien spielen, Points sammeln. Er stieß eine Kugel an, manchmal hart, touchierte sie seitlich, gab ihr Effet – sie zeichnete, indem sie die beiden anderen berührte, für ihn jedes Mal eine neue geometrische Figur aus dem grünen Nichts. Wenn die Kugeln aufeinandertrafen, sich die Energien von einer auf die andere übertrugen, sie lautlos wie von Zauberhand präzise Bahnen über das grüne Feld zogen, konnte ihn das berauschen. Eine Maschinerie, in der es keinen Zufall gab, nur logische Kraftverlagerungen. Die Manifestation einer Gesetzmäßigkeit und Ordnung, die keinen Anfang und kein Ende kannte. Nur er allein setzte Anfang und Ende, bestimmte den Plan, organisierte das Spielsystem. Jeden Morgen aufs Neue, auf die Minute genau. Er allein war dann Herr des Verfahrens. Später, wenn sie endlich ihren Rausch vom Vorabend ausgeschlafen hatten, trudelten allmählich die anderen mit verquollenen Gesichtern ein. Er unterrichtete sie lustlos, professionell. Nahm das Geld, das sie ihm gönnerhaft zusteckten, ging seiner Wege. Ihr Spiel war nicht sein Spiel.

Wieder an der frischen Luft ging er oft runter zum Hafen an der Pregel. Die Schiffe der preußischen Seehandlungssozietät kannte er alle. Die meisten von den polnischen, litauischen, spanischen auch. Die Sloops, die mit ihren dreieckigen Großsegeln hereingedümpelt kamen, die Barques, Briggs und Brigantinen, ab und zu ein Klipper mit schlankem Rumpf aus Übersee. Manche davon mit vielen kleinen Zusatzsegeln bestückt, um auch bei Flaute Fahrt aufzunehmen. Er mochte es, wenn sie mit klatschnassen, gerefften Segeln anlegten und, kaum angelandet, von einem Heer von Schauerleuten, ameisenartig gebückt mit mächtigen Ballen auf dem Rücken, gelöscht wurden. Er sah ihnen gebannt zu, ohne jemals auch nur für einen Moment in Versuchung zu geraten, ein Schiff besteigen zu wollen oder gar über das Meer zu fahren: Polen, Litauen, Cadiz waren ihm bloße Namen ohne irgendeinen Geschmack, ein Aroma wie Elemente einer mathematischen Gleichung. In seinem kleinen grünledernen Notizbuch notierte er dennoch penibel alle Schiffsnamen, die Zeiten des Anlandens, die Art der Ladung, ihre Herkunft. So als wollte er ergründen, nach welcher Regel sie die blauen Flächen der Meere durchkreuzten.

Wann das begonnen hatte, diese Sucht, die Dinge und die Menschen aus der Entfernung wie durch eine Linse zu beobachten, wusste er nicht mehr. Seine Kindheit war für ihn nicht von großem Interesse. Eltern und Geschwister standen wie hölzerne Schachfiguren vor ihm. Es genügte ihm, sie zu beobachten – an ihren Geschäften teilzunehmen war nicht seine Sache. Dennoch mochte man ihn. Er verkehrte mit den Gefährten an den Schulen und später der Universität, galt als höflich und unauffällig, vielleicht ein wenig schrullig – aber niemand hatte Angst vor Immanuel Kant.

Was dann allmählich im Lauf der Jahre mit ihm geschah, war gänzlich unerwartet. Dass er zu einem Monument, einem Koloss der Philosophie werden würde, konnte niemand ahnen. Inzwischen ist er von seiner eigenen Legende überwuchert. Kategorischer Imperativ, Transzendentalphilosophie. Man erstarrt in Ehrfurcht. Oder gibt sich überlegen. Es fällt leicht, im spöttischen Tonfall über Kant herzufallen und sich über seine vermeintliche Weltfremdheit lustig zu machen oder sich in philosophischem Fachjargon über ihn zu stülpen. Sehr viel reizvoller ist es, einen unbefangenen Blick auf ihn zu werfen und mit einem Mal einen fantasievollen, weltklugen, weisen Magier der Vernunft zu entdecken. Einen, der manisch, nein systematisch versucht, dem Leben und dem widersprüchlichsten Lebewesen dieser Erde auf die Spur zu kommen: dem Menschen, diesem Rätsel, dieser kuriosen Mixtur aus Rationalität und Irrwitz, Verstand und Affekt, Kalkül und Trieb, Unterwürfigkeit und Anarchie, Neugier und Stumpfsinnigkeit. Missratenes Tier? Krone der Schöpfung? Halbgott? Zufallsprodukt?

Er konnte nicht anders – musste wissen und ergründen, warum die Kugeln so und nicht anders rollten. Was geschah, wenn sie eine »Karambolage« hatten, manchmal sogar über die Bande sprangen und auf den Fußboden kullerten. Waren die Menschen, war die menschliche Gesellschaft etwas anderes als ein groß angelegtes Billardexerzierfeld? Konnte man die Laufwege ihrer Existenz nach logischen Gesetzen beschreiben, steuern – das blinde Schicksal ausschalten? Herr des Spieles, Herr des Verfahrens werden?

Anstatt sich dem Chaos Mensch ungeschützt auszusetzen, unternimmt Kant einen wahrhaft groß angelegten und mutigen Rettungsversuch. Mittels dreier ebenso einfacher wie elementarer Fragen versucht er Licht ins Dunkel unserer dubiosen Existenz zu bringen. Gleichsam die trügerischen »Zauberlaternen« unserer Illusionen zu löschen. Seine Fragen:

Was kann ich wissen?

Was soll ich tun?

Was darf ich hoffen?

Alle seine Schriften, auch seine Ehrfurcht gebietenden drei großen »Kritiken«, Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790), beziehen sich letztlich auf diese eine, für ihn allein entscheidende, finale Frage:

Was ist der Mensch?

Natürlich fragt Kant auch nach Universalien wie Gott, Natur und Universum. Der Bezugspunkt all dessen jedoch bleibt immer einzig und allein der Mensch. Alles andere als eine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, in der die Schatten der Mystik und Metaphysik, der Religion und des Grundgefühls der Allmacht Gottes noch immer alles Denken und Verhalten bestimmten. Das entschiedene »Erstens der Mensch!« der Philosophie Kants kam so gesehen einem gesellschaftlichen Weckruf gleich. Und seine zum Programm gewordene Aufforderung »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« war nichts anderes als ein aktionistischer Appell von säkularer Wucht. Revolutionär vor allem durch den Mut, an die Kompetenz jedes einzelnen Individuums zu appellieren, sein eigenes Geschick selbst in die Hände zu nehmen.

Manche fragen sich, wie das sein kann. Wie es sein kann, dass ein einzelner, damals sicher nicht ganz unbekannter, aber auch nicht omnipräsenter Philosoph aus der Provinz sich einen solchen Auftrag zu übernehmen zutraut. Noch dazu ein Mann, der, wie ja immer wieder betont wird, die Grenzen seiner mittelgroßen preußischen Provinzhauptstadt an der Ostsee – Königsberg – kaum verlassen hat. Der nicht in einer der großen, mondänen Metropolen des Geisteslebens wie Paris oder London zu Hause war oder zumindest als Teil einer Denkfabrik wie der der Enzyklopädisten brillierte. Einer, der sich allenfalls ab und an ein Fässchen Spreewälder Gurken gönnte und auf die Minute genau seine Runden im Park zog. Nach riskanten Abenteuern und leidenschaftlichen Amouren sucht man in seiner Vita vergebens. Im Meer geschwommen ist Kant vermutlich nie, und einen 3000er wie Petrarca hat er auch nicht erklommen. Die Schrecken des Krieges hat er nie unmittelbar erfahren, und der Atem der großen Zeitenwende der Französischen Revolution streifte ihn nur mit großem Abstand. Die Frage, wie ein solcher Mann, der das, was man im Allgemeinen mit dem Begriff der Welterfahrung bezeichnet, eher vom Hörensagen als aus persönlicher Erfahrung kannte, es sich zutraute, ein Projekt dieser Dimension zu stemmen und die Denkwelt nachhaltig aus den Angeln zu heben, ist dennoch vergleichsweise einfach zu beantworten. Man muss nicht gleich von »Genialität« sprechen, wenn man feststellt, dass Künstler und manchmal auch Wissenschaftler ganz offenbar über ein besonders fein austariertes Sensorium verfügen. So wie es Weltreisende gibt, die bei all ihren Erkundungen nichts wirklich sehen und erkennen, so gibt es auch gegenteilige Begabungen. Individuen, die nur eine Prise, eine Spur, eine winzige Dosis Wirklichkeit benötigen. Ein bisschen Realität, das aber ausreicht, um eine Welt im Ganzen zu konstruieren. Diese Form der natürlichen Intelligenz benötigt vergleichsweise wenige Daten, um ein Maximum an Erkenntnissen zu generieren – anders als die künstliche Intelligenz, die mit einer Unmenge von Daten gefüttert werden muss, um daraus ein Minimum an komplexen Ergebnissen ableiten zu können. So vermochte Shakespeare es, von seinem mickrigen Provinzstädtchen Stratford-upon-Avon aus das Weltwissen seiner Zeit zu erschließen. Mit seinen im Vergleich zu den heutigen Riesenteleskopen geradezu dilettantisch wirkenden optischen Apparaturen schaffte es Kopernikus, das All neu zu denken. Warum also sollte es Kant nicht gelingen können, aus ein paar Körnchen Wirklichkeit eine Welt, seine Welt, neu zu konfigurieren. Zumal Königsberg damals bereits eine florierende Hansestadt war und mit vielen Anrainerkulturen in regem Austausch stand. Ein geopolitischer Hotspot wie jetzt war Königsberg seinerzeit sicherlich nicht, wenngleich die Nähe zu Russland, den baltischen Ländern und Polen auch damals schon kulturelle Unterschiede und Spannungen erkennbar werden ließ. Ungestört von höfischen Interessen und brandenburgischen Regularien flossen Warenströme aus weit entlegenen Landschaften in die Stadt – oft organisiert durch die Königsberger Juden. Güter, Geld, Kulte, Ideen konnten in diesem kommunalen Gemeinwesen freier und ungestörter als in vielen anderen Regionen zirkulieren, englische und schottische Handelshäuser gründeten Niederlassungen, selbst zwischen Königsberg und Lissabon florierte der Handel. In den Buchhandlungen wurden die Thesen der internationalen Vordenker – Philosophen wie John Locke, David Hume, Jean-Jacques Rousseau, Gottfried Wilhelm Leibniz – diskutiert; Menschen, die bereits das Großprojekt »Europäische Aufklärung« gedanklich auf Kiel gelegt hatten. Was fehlte, war eine Art Synthese, eine methodologische Vertiefung all dieser gedanklichen Ansätze, und genau diese sollte der gewitzte Erkenntnisexperte von der Uni Königsberg liefern. Ein Kompendium, eine Summe und eine Hochrechnung all dessen, was sich Europa im Verlauf von 2000 Jahren so ausgedacht hatte. Bestandsaufnahme dessen, was gut ist, dessen, was fehlt, und ein scharfer Blick dorthin, wo die Schwachstellen liegen könnten.

AUDE SAPERE

Eigentlich wollte er immer alles wissen. Jetzt, mit Mitte 20, rollten die Kugeln in seinem Kopf unaufhörlich, und es gab kein Gebiet, das ihn nicht beschäftigte: Hat sich die Erdachse im Lauf der Jahrmillionen möglicherweise etwas verschoben, und ist die Welt dadurch ins Wanken gekommen? Brennt in der Seele ein Feuer ähnlich der natürlichen Glut? Wäre das Erdbeben von Lissabon, das die westliche Welt in Aufruhr versetzte, vorauszusagen gewesen? Saugen sich die Westwinde über dem großen Meer mit Wasser voll? In welchem Verhältnis stehen Bewegung und Ruhe zueinander? Sind im Reich der Vernunft Nischen für Gespenster und Götter zu finden? So ging das weiter und weiter, kaum eine Woche, in der er keinen naturwissenschaftlich-mathematischen oder philosophisch-theologisch grundierten Aufsatz über Gott und die Welt schrieb. Gelegentlich ging es auch um Menschen, und er stellte sich Fragen wie die, ob im Optimismus nicht auch Trägheit steckt? Warum man sich durch übertriebene Neigung zur Spitzfindigkeit nicht auch zu Tode denken könne? Was verstehen wir unter dem »Schönen« eigentlich? Kann man moralisch träumen? Und kann der Kopf wie jedes andere Organ krank werden? Er sprach nicht gern über sich selbst, es sei denn, er bekam sich als Gegenstand seiner Forschung zu fassen. Noch keine 30, verspürte er dennoch bereits gelegentliche Affektionen der Nerven, über die er sich Notizen machte. Den metallenen Klang in seinem rechten Ohr, dieses leise Sirren, konnte er durch das kratzende Geräusch seiner Schreibfeder fast übertönen. Dennoch registrierte er jedes Zucken und Pochen der Nerven in seinem Kopf – den er doch brauchte, den er keinesfalls verlieren durfte. Das war doch alles, was ihn ausmachte. Der musste ihm noch 30, 40 Jahre gehorchen. Man musste Mut haben, um gegen dieses zerstörerische Rauschen im Kopf, dieses Rauschen in der Welt, anzugehen. Man musste mutig und kühn sein. Gerade er mit seinem kleinen Körper, der sich in dieser Welt der Riesen durchsetzen musste. Manchmal huschte er morgens, wenn es noch etwas dämmrig war, beim Anziehen nackt am Wandspiegel in seiner Kammer vorbei und erschrak vor dem verbogenen Gespenst, das er da erblickte. Dann warf er sich schnell in den hechtgrauen, halblangen Rock, den er sich vom Angesparten sündhaft teuer hatte schneidern lassen, und schrieb. Morgens früh um fünf. Doch er saß bereits da, im Hofstaat der Gedanken, kampfbereit. Und er schrieb sich in Rage. Jahrzehnte später, 1795, brachte er es auf den Punkt:

»Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, andere sagen »erkühne dich, weise zu sein« – jeder wird pflichtschuldigst in diesen Leitsatz der Aufklärung einstimmen und zustimmend nicken. Ganz so, als ob wir, gerade wir, heutzutage noch den Mut hätten, so einfach auf uns selbst zu bauen, und uns trauten, die eigene Meinung ohne Rückendeckung durch die breite Masse in den Mittelpunkt zu stellen. Selbst die »Querdenker«, die selbst ernannten Aufklärer von heute, quaken nach, was ihnen ihre Vordenker eingeben. Wir anderen sichern uns reflexartig ab und sondieren den Wind der öffentlichen Meinung, meist des »Mainstream«, bevor wir das Wagnis eingehen, die eigene Meinung zu äußern. Die Forderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, setzt in der Tat einiges voraus. Vor allem, dass man davon genug hat. Angenommen, dies wäre der Fall, gilt es weitere Hürden zu überwinden. Vor allem die Hürde der eigenen Faulheit und Feigheit. Kant wird sehr deutlich, weil er spürt, dass die breite Masse sich mit der Rolle des hilflosen Opfers abgefunden hat, denn: »Es ist so bequem, unmündig zu sein.«

Für das Denken hat man ja gottlob seine Experten, Berater und all die klugen Leute, die einem sagen, wo es langgeht – zu Kants Zeiten wie heute. Rudel von Ratgebern, Coaches, Seelsorgern, Meinungsmachern jeder Couleur, die alle davon leben, und zwar gut leben, das Hausvieh bei der Stange zu halten, denn mündige Menschen sind keine Kunden mehr. Früher hat man sich seiner Sünden durch Ablasszahlungen entledigt. Heute bezahlen wir intellektuelle Dienstleister dafür, dass sie uns erst verdummen, gefügig machen und dann überwachen, dass wir auch brav in der gewünschten Denkbahn bleiben. Dabei konnte nicht einmal Kant ahnen, dass der folgenreichste Schritt in Richtung einer freiwilligen Unterwerfung und Selbstentmündigung uns erst noch bevorsteht. Bald wird eine superschlaue künstliche Intelligenz das für uns offenbar viel zu anstrengende Geschäft des Selberdenkens übernehmen, während wir uns bequem zurücklehnen, intellektuell die Segel streichen und fröhlich dabei zusehen, wie man für uns denkt und unser Leben durchtaktet. Der Triumph einer Verdummungsstrategie unter eifriger Mitwirkung ihrer späteren Opfer. Offenbar hat man noch immer nicht begriffen, dass wir dabei sind, genau das abzuschaffen, was die Aufklärung schaffen wollte: den autonomen Menschen, das kreative, für sich selbst verantwortliche Individuum, das all seine mentalen Kräfte optimiert und bündelt. Stattdessen perfektionieren wir die Technologie der Gehirnprothetik und vernachlässigen das eigene Potenzial.

Oder verhält es sich möglicherweise genau umgekehrt, und wir sind im Begriff, dank einer tiefen KI in den Bereich dessen vorzudringen, was Kant möglicherweise vorgeschwebt haben mag, als er von einem vernunftgesteuerten Individuum träumte? Wir werden später einen Versuch unternehmen, dies zu ergründen.

Wie auch immer: Kants Verdacht, dass wir dazu neigen, uns domestizieren und im »Gängelwagen« der Mächtigen nach Belieben herumkutschieren zu lassen, wiegt schwer. Und man fragt sich unwillkürlich, was er dagegensetzen wollte. Was schlägt er vor, um uns aus dieser Abhängigkeit herauszuführen? Und welches Menschenbild schwebte ihm eigentlich vor?

Wollte er irrlichternde Libertins auf dem Egotrip, die sich selbst für die Klügsten und Größten hielten? »Quer«-Denkende, die sich für klüger als alle anderen hielten und alles, was von »oben« kam, misstrauisch betrachteten und letztlich verachteten? Ganz sicher nicht – und so nimmt seine Argumentation eine steile und nicht ganz unbedenkliche Wendung nach der Devise: »Räsoniert, soviel ihr wollt, aber gehorcht.«

Was das konkret heißt? Was diese Argumentation markiert? Nun, nichts anderes als den Beginn des deutschen Sonderwegs. Man könnte auch sagen, eine dezidierte Absage an jene Revolution, die er gedanklich eben eingeleitet zu haben schien – mithin die mentale Entschärfung eines politischen Sprengsatzes. Der Akzent seines Emanzipationsappells liegt nämlich allein auf dem Denken, nicht auf dem Handeln. Anwendungsbeispiele finden sich zuhauf. Ein Lehrer findet eine verordnete Unterrichtsmethode falsch und erbärmlich und verweigert deshalb den Dienst. Nein, sagt Kant. Er hält seinen Unterricht wie vorgesehen, schreibt aber gleichzeitig eine scharfe Polemik gegen diese Methode. Ein Soldat hält eine gewisse Form der befohlenen Kriegsführung für barbarisch und menschenverachtend – und desertiert oder verweigert den Dienst. Falsch, sagt Kant. Er schlägt vor, den Befehlen vorschriftsmäßig zu gehorchen, ordnungsgemäß an dem Gemetzel teilzunehmen, sich das Blut von den Händen zu wischen, dann aber eine geharnischte Kritik über die unhaltbaren Zustände im Heer zu schreiben – nicht für die Schublade, sondern für ein geeignetes öffentliches Medium, um so eine Diskussion anzustoßen, an deren Ende möglicherweise eine Änderung der fatalen Praxis stehen könnte. Keiner hat also das Recht – so die Theorie Kants –, gegen geltendes Recht zu verstoßen. Jeder Bürger soll jedoch das Recht haben, seine Meinung, seine Überlegungen unzensiert öffentlich mitzuteilen. Keine ganz geringe Forderung zu einer Zeit, in der nahezu jede auch nur ansatzweise kritische Publikation strenger kirchlicher oder staatlicher Zensur unterlag. Kant kontert und protestiert energisch gegen permanente Denkverbote und fordert stattdessen nicht nur Gedanken-, sondern Publikationsfreiheit oder, in seinen Worten, die bedingungslose Freiheit, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«, eben getreu dem Motto »Räsoniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!«

Hört sich gewiss griffig an … aber ist diese Denkweise nicht auch gefährlich? Eine Art verklausulierter Doppelbeschluss oder der Einstieg in praktizierte und philosophisch legitimierte kollektive Schizophrenie? Das eine tun und das andere nicht lassen. Man baut Mist, hat aber ein gutes Gewissen dabei, denn man arbeitet ja gedanklich an dessen Beseitigung … In Frankreich ging man in solchen Fällen auf die Barrikaden. In England war man traditionell pragmatischer und orientierte sich am Gegebenen. Das deutsche Modell, das Kant hier auf die Schiene setzt und gewaltig ins Rollen bringt, ist einzigartig. Hochkultivierte Gedankenakrobatik, die man später mit der Formel »handlungsarm und gedankenschwer« nobilitieren wird und dann im Allgemeinen mit der Floskel, das sei eben »deutscher Idealismus«, abhakt.

In seiner Kritik der praktischen Vernunft wird Kant diese Denkfigur wieder und wieder durchdeklinieren, sie uns förmlich einhämmern und dieses »So-als-ob«-Denken trainieren: Verhalte dich immer so, als ob das Gewicht und Gesicht der Welt von dir und deinen Taten abhinge. So, als ob man aus allem ein Gesetz, ein Naturgesetz, ableiten könnte. Als ob von deiner Entscheidung das Schicksal der Welt abhinge – unabhängig davon, wie diese Welt im Ganzen tatsächlich beschaffen ist.

Was man freilich tun kann, falls andere nicht gewillt sein sollten, sich entsprechend dieser Maximen zu verhalten – die Antwort darauf bleibt Kant uns schuldig. Und wir arbeiten uns bis zum heutigen Tage noch immer an ihr ab. Deshalb die Perfektion unserer moralischen Regelwerke (siehe die Menschenrechtskonventionen, die Grundrechte). Deshalb aber auch die Hilflosigkeit gegenüber entschlossenen Aggressoren, die davon ausgehen, dass unser Denksystem und ihres nichts miteinander zu tun haben. Wir sagen »die Würde des Menschen ist unantastbar«. Aber was tun wir, wenn sie angetastet wird?

Aber so weit sind wir noch nicht. Vorerst begnügen wir uns, mit Kant darüber nachzusinnen, wie man mit der Unterscheidung zwischen »öffentlichem« und »privatem« Vernunftgebrauch umzugehen hat. Immer wenn es heikel wird, jongliert er virtuos mit seinen Begriffen. Und es wird heikel und auch ein wenig paradox, wenn er den Begriff der »Öffentlichkeit« allein den wissenschaftlichen Studien, die einer schreibt, vorbehält und alles andere – die Predigt eines Pfarrers, die Übergriffe eines Soldaten, den Dogmatismus dubioser Lehren – als bloß »privaten« Vernunftgebrauch verharmlost. Wenn es um gewisse gesellschaftliche Mechanismen geht, ist nämlich plötzlich Schluss mit »räsonieren« – dann ist »gehorchen« angesagt: letztlich im Beruf, bei der Arbeit, im gesellschaftlichen Verkehr. Schreiben kann einer, was er will – freilich nur schreiben. Die Öffentlichkeit ist aus Papier.

Ist das wirklich ein Ausweg? Der Ausgang aus der angeblich selbst verschuldeten Unmündigkeit, nach dem wir uns sehnen? Wie Maschinen entgegen der eigenen Überzeugung zu funktionieren und weiterzumachen wie bisher, und dabei insgeheim – im kleinen Zirkel – den Aufstand zu proben? Geht dieser Spagat ohne mentale Verbiegungen? Andererseits: Verhalten wir uns nicht eigentlich mehr oder weniger alle so? Macht Kant nicht einen für uns taktische Duckmäuser geradezu maßgeschneiderten Vorschlag? Gehorchen, mitmachen. Und dabei das Gefühl haben, alles zu durchschauen und auf dem richtigen Weg zu sein. Die geballte Faust in der Tasche als Logo. Wäre es nicht sehr viel besser, wenngleich wesentlich riskanter, in laufende Verfahren einzugreifen und etwas aufklärerischen Sand in allzu glatt laufende Getriebe zu streuen? Sicherlich, Aufklärung ist ein langwieriger Prozess, der Geduld und Zeit braucht – nur, so viel Zeit wie vor 300 Jahren sollte man sich nicht mehr lassen. Wir haben sie schlicht nicht mehr.

Wie auch immer: Es ist schon ein ganz eigenwilliger und letztlich auch irreführender argumentativer Trick, den der Vordenker aus Königsberg im Namen einer gestundeten Revolte da schlägt und vorschlägt. Auf der Kanzel opportunistisch gehorchen (»privater Vernunftgebrauch«) und im Hinterstübchen der Ideen für die happy few subversive Gedanken ausbrüten … ein etwas fragwürdiges, vielleicht sogar etwas ironisches Plädoyer für ein Weiter-so. Eine Art unsichtbare Revolte.

Wir sind nun mal, damals ebenso wenig wie heute, keine Mitglieder einer Gelehrtenrepublik, die durch Schriften zum »eigentlichen Publikum, nämlich der Welt«, sprechen. Sein Hass gegen die »Vormünder« und elitären Gehirnvernebler ist unbedingt bewundernswert. Das angebotene Mittel, um diese Herrschaft zu durchbrechen, hält hingegen der kruden Wirklichkeit schlicht nicht stand. Dafür hat das Langfristexperiment der letzten 200 Jahre den Beweis erbracht. Im Gegenteil: Unser ganzes aufklärerisches Vorausdenken findet in einer Blase statt und hat immer weniger mit der Welt außerhalb dieser Blase zu tun. Die Welt der schönen Theorien und Vorschläge hat immer weniger mit der des Alltags zu tun. Wir predigen Konsens und stiften Konfrontation – und die beiden Welten wissen nichts voneinander. Und wollen auch gar nichts voneinander wissen. Denn das Entscheidende findet ja in der Blase statt, dort, wo das vermeintlich »eigentliche Publikum« sitzt. Den Beginn dieses fatalen Abspaltungsprozesses können wir bei Kant lokalisieren. Ob er den blinden Fleck seiner Theorie ahnte, wissen wir nicht. Es wäre ein Wunder, wenn nicht. Es wäre ein Wunder, wenn ein Analysator seines Formats die Fragilität seiner Kopfgeburten nicht durchschaut hätte. Und dennoch hat er – wider besseres Wissen – an ihnen verbissen weitergearbeitet. Und sei es nur, um die Wirksamkeit seiner Mittel, der Mittel des Verstandes, durchzusetzen. Notfall unter zeitweiliger Ausblendung all dessen, was sich gleichzeitig da »draußen« wirklich abspielt. Zugegeben, das Ganze ist schon ein wenig skurril, und gelegentlich wurde Kant klar, dass das »System« an allen Ecken und Enden knirschte. Aber immerhin war das Erkunden möglicher Freiräume besser als der sture Dogmatismus vieler seiner Kollegen an der Königsberger Universität, der Albertina. Magister und Privatdozent war er nun endlich geworden, und in seinen Vorlesungen konnte er sich von den schulischen und verschulten Schikanen und inspirationslosen Stunden erholen. Wenn sich der Hörsaal bis zu den Türen füllte und die jungen Männer sich um ihn drängelten, lebte er auf. Ohne Brille, die er zum Lesen stets abnahm, konnte er ihre Gesichter zwar nur verschwommen erkennen – aber er glaubte zu spüren, dass sie bei ihm waren. Sonst im sozialen Verkehr eher zurückhaltend, hatte er hier eine Bühne und streifte alle Hemmungen ab. Er brachte sie zum Lachen. Nein, sie lachten nicht über ihn, sondern mit ihm. An manchen Tagen – und das morgens um sieben Uhr – verwandelte er das Auditorium in ein Theater, sprühte vor Witz, kommentierte Kabalen, veralberte Sekten und Vorurteile. Er vergaß sein Manuskript, improvisierte, assoziierte, die Worte begannen förmlich zu fliegen. »Euch kann man alles erzählen, und ihr glaubt es«, hörte er sich einmal sagen. »Sogar dass Goethe ein großer Schriftsteller ist. Er schreibt grässliche Romane!«

Kaum war die Stunde vorbei und er durch den kalten Korridor in sein kleines Zimmerchen zurückgetrippelt, war der Zauber verflogen, und eine öde Melancholie holte ihn wieder ein. Alles sinnlos, ich spiele doch nur den Hofnarren – selbst denken würde diese Herde niemals. Am Abend würde er zu seinem Freund Reccard gehen, Lehrer für Astronomie. Ein wieselflinker getaufter Jude, der sich auf dem Dach der Schule ein kleines Observatorium eingerichtet hatte. Er würde ihm seine neuesten Entdeckungen über den Lauf des Planeten Venus zeigen. Das waren ihm dann die liebsten Stunden.

ZUM EWIGEN FRIEDEN

Man sollte die etwas kauzigen, skurrilen Seiten Kants nicht unterschätzen und ihn nicht immer im Verhältnis 1:1 und vor allem nicht nur ganz ernsthaft lesen. Seine Denkschrift Zum ewigen Frieden ist ein glänzendes Beispiel für diese mögliche Doppelbödigkeit, für die er deutliche Signale setzt. Schon das Wirtshausschild, auf das er zu Beginn hinweist, ist ein makabrer Witz. Darauf abgebildet ein Friedhof – darunter in krakligen Lettern die Schrift »Zum ewigen Frieden«.

Kirchhofsruhe als Friedensbotschaft – wer würde da nicht stutzig? Zumal Kant gleich darauf zum Schlag gegen kriegslüsterne Staatsoberhäupter ausholt, die ihre Kriege skrupellos und mit großer Selbstgefälligkeit in Szene setzen. Und der Philosoph wusste, wovon er sprach – immerhin löste der Überfall seines verehrten Königs Friedrichs II. auf Sachsen 1756 mit dem Siebenjährigen Krieg eine europaweite und verlustreiche Auseinandersetzung aus.

Zugleich eröffnet Kant eine bis heute aktuelle, prinzipielle Debatte über den Umgang der Politik mit Ratschlägen philosophischer und ethischer Natur, die meist als realitätsfern und sachunkundig beiseitegeschoben werden. Was kann man gegen diesen Missstand, dieses generelle Einandermissverstehen tun? Nun, vielleicht den Politprofis ein Schriftstück unter die Nase halten, das ihrem Tun entspricht und sie somit dort abholt, wo sie stehen. Also keinen philosophischen Essay, sondern eine Art Sachstandsbericht, einen Gesetzesentwurf mit einer Präambel, also einer feierlichen Einleitung, Paragrafen und allem sonstigen vertragsartigen Brimborium. In offizieller Form. Und genau das wird Kant tun. Belesen wie er war, kannte er sicher die beißende Satire seines literarischen Aufklärerkollegen Jonathan Swift, der unter dem Titel Ein bescheidener Vorschlag in perfektem Verwaltungs- und Technokratenjargon der Öffentlichkeit den Vorschlag unterbreitete, das Fleisch von armen Kindern nationalökonomisch optimal zu verwerten. Diese Satire könnte ihm als Modell gedient haben. Wollte Swift mit diesem perfiden Vorschlag auf den grenzenlosen Utilitarismus des kapitalistischen Systems des frühindustriellen England verweisen, so verfolgte Kant ein anderes Ziel. Ihm ging es offensichtlich darum zu dokumentieren, wie unbelehrbar und durch Argumente unerreichbar die Mächtigen und der Apparat ihrer Entscheidungsträger sind. Kant wäre vermutlich über die Tatsache, dass sich an diesem Sachverhalt bis heute, immerhin fast 300 Jahre später, wenig bis nichts geändert hat, nicht sonderlich erstaunt.

»Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin« – der berühmte Slogan der Friedensbewegung aus den 80ern ist in Anbetracht der Realität geradezu naiv. Der Krieg ist omnipräsent, und nahezu jeder macht mit. Obwohl viele ethische und logische Argumente gegen ihn sprechen. Die Kriegs-(Be-)Treiber werden nicht müde, ihr Tun zu legitimieren, und Kant scheut sich nicht, diesen Manipulationsprozess bis ins sprachliche Detail zu verfolgen und zu entlarven. Bereits im ersten Präliminarartikel wirft er den rhetorischen und notorischen Kriegsgewinnlern ihr falsches Spiel vor:

Ihre »Ausspähungsgeschicklichkeit«, ihre »geheimen Vorbehalte« und Zusatzklauseln, ihre dubiose »Jesuitenkasuistik« – all diese Tricks seien einem republikanischen Staatswesen unwürdig, aber nach wie vor gängige Praxis. Machtspielchen der übelsten Sorte, die genauso verboten gehören wie angeheuerte stehende Heere, Söldnertruppen, die sich waffenstarrend gegenüberstehen und so die Gefahr kriegsauslösender Handlungen begünstigen. Töten und Getötetwerden gegen Bezahlung, mechanisch wie Maschinen. Ganz abgesehen vom Spekulationsobjekt »Krieg« mitsamt seinem System von Anleihen und Krediten, seinen in Kauf genommenen Kollateralschäden.

Lange vor Brechts Mutter Courage zeigt Kant, dass man am Krieg wie an einer Börse verdienen und verlieren kann. Sein Zeit- und Denkungsgenosse Voltaire, den er immer wieder zitiert, behandelt in seinem satirischen Roman Candide oder der Optimismus