Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller - Horst-Jürgen Gerigk - E-Book

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller E-Book

Horst-Jürgen Gerigk

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Beschreibung

Der international renommierte Dostojewskij-Forscher Horst-Jürgen Gerigk liefert mit dieser Einführung für den Leser von heute einen lebendigen Zugang zu den fünf großen Romanen, auf denen Dostojewskijs Weltruhm beruht: »Verbrechen und Strafe«, »Der Idiot«, »Böse Geister«, »Ein grüner Junge« und »Die Brüder Karamasow«.

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Horst-Jürgen Gerigk

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller

Vom »Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow«

Fischer e-books

Swetlana Geier (1923–2010) zu Ehren

Vorwort

Dostojewskijs Romane und Erzählungen haben es zu einer weltweiten Präsenz im kulturellen Bewusstsein unserer Zeit gebracht. In Tokio und Berlin, in Paris und New York, in Oslo und in Rom, in Sydney und in Rio de Janeiro halten Buchhandlungen den Meister aus Russland parat. Von Moskau und Petersburg ganz zu schweigen. Zahllos sind seine Leser.

Unanfechtbar ist sein Ruf als Klassiker der Weltliteratur. Und doch muss sich jede neue Generation ihre Kenntnis der Werke dieses Klassikers in eigener Lektüre erwerben. Und das geschieht nicht aus Pflichtbewusstsein gegenüber der großen Tradition, sondern aus purer Lust am Text, die dieser Meister aus Russland seit eh und je seinen Lesern garantiert hat.

Mit der vorliegenden Einführung soll dem Leser von heute der Zugang zu den Hauptwerken Dostojewskijs erleichtert werden. Die Darstellung orientiert sich primär an der Verständnislenkung, die vom Text selber ausgeht. Es kam darauf an, das natürliche Verstehen des Lesers, das nicht auf literaturwissenschaftliche Ausbildung angewiesen ist, zu bestärken. Gerade damit aber stoßen wir bei Dostojewskij auf eine Schwierigkeit, denn er hasst das »letzte Wort«, das heißt: er versteckt regelrecht programmatisch das Gemeinte, legt Fallen, die zunächst auf falsche Fährten locken, damit der Leser das Gemeinte selber findet. Das Verhältnis zwischen Text und Leser wird von Dostojewskij auf ganz besondere Weise dramatisiert. Er behält seinen Leser ständig im Auge, spielt mit dessen geheimsten Vermutungen und weiß genau, der Leser ist gern schlau. Kurzum: Dostojewskij serviert seine Wahrheit nicht auf einem Tablett, sondern verhält sich wie Sokrates in den platonischen Dialogen: der Gesprächspartner, und das ist hier der Leser, wird auf Umwegen dazu gebracht, die Wahrheit selber ans Licht zu bringen. Der russische Literaturwissenschaftler Leonid Grossman hat recht, wenn er vermerkt, Dostojewskij – das sei eine Mischung aus Platon und Eugène Sue.[1] Dem Philosophen ist hier tatsächlich zusammen mit dem Boulevard-Schriftsteller, dem wir die Geheimnisse von Paris[2] verdanken, ein einzigartiges Teamwork gelungen.

Dostojewskijs Weltruhm beruht auf seinen fünf großen Romanen und auf seinem Sträflingsreport Aufzeichnungen aus einem toten Haus. Mit diesen Werken hat sich Dostojewskij einen festen Platz in der Weltliteratur gesichert, flankiert von der Erzählung Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und dem Kurzroman Der Spieler.

In der Reihenfolge ihrer Entstehung gelesen und analysiert, lassen diese acht Texte Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller anschaulich werden. Für diese Entwicklung erweist sich der autobiographisch orientierte und dennoch radikal fiktionalisierte Sträflingsreport Aufzeichnungen aus einem toten Haus als Muttertext. Unter Verbrechern in Sibirien wird Dostojewskij, der Kriminologe und missionarische Christ, geboren. Sein literarisches Werk aus seinem Leben zu erklären darf aber deshalb nicht zum beherrschenden Prinzip der Auslegung werden. Die Details der Schaffenspsychologie bleiben im Folgenden durchweg Hilfsmittel zur attraktiven Beleuchtung der künstlerischen Sachverhalte.

Leben und Werk hängen zwar bei Dostojewskij eng zusammen, und doch entziehen sich seine literarischen Texte den Bedingungen ihrer Entstehung. Ihre Bedeutung lässt sich weder auf ihren ursprünglichen Kontext reduzieren, innerhalb dessen sie verfasst worden sind, noch haben sie eine moderne Lesart nötig, um ihr Wirkungspotential zu entfalten. Dostojewskijs nicht zu leugnende Aktualität besteht vielmehr in der Eigentümlichkeit der von ihm gestalteten Sachen, die uns unmittelbar ansprechen: als verstandene Welt, die perfekt »ins Werk« gesetzt wurde. Diese jeweilige Eigentümlichkeit ist es, die der Interpret freizulegen hat.

Solche Überlegungen müssen zwangsläufig sehr abstrakt wirken. Deshalb ist mein Vorwort hier auch schon zu Ende, und es beginnt das Abenteuer der Interpretation.

 

Heidelberg, im Januar 2013

H.-J. Gerigk

Erstes Kapitel

Unter Verbrechern in Sibirien

Probleminfekt: Kriminologie und Christentum

Die vier Jahre, die Dostojewskij im sibirischen Zuchthaus verbrachte, haben ihn für immer stigmatisiert. Mit den Aufzeichnungen aus einem toten Haus arbeitet er einen Teil seiner traumatisierenden Erfahrung auf: in literarischer Form. Das heißt: Er berichtet zwar über ein Milieu, das er selbst erlebt hat, dieser Bericht aber gehorcht künstlerischen Intentionen: Dostojewskij fiktionalisiert seinen Zuchthausaufenthalt, indem er alle Szenen aus dem toten Haus dichterisch überhöht. Auch ist ja der Erzähler kein politischer Sträfling wie Dostojewskij selbst, sondern ein Mörder, der seine Ehefrau umgebracht hat. Und: In der Dichtung ist alles Metapher. Dostojewskij weiß das und erfasst alle alltägliche Erfahrung, die er selber »gesammelt« hat, mit dem metaphorisierenden Blick. Dem Kunstergebnis ist seine ursprüngliche Nähe zur Dokumentation nicht mehr anzusehen. So wurden etwa am Beispiel von Hund und Adler zwei Grundtypen des Verhaltens der Arrestanten verdeutlicht.

Ohne sich das vorzunehmen, wird Dostojewskij unter Verbrechern in Sibirien zum Kriminologen: Wie wird jemand zum Mörder? Wie verhalten sich die verschiedenartigen Täter nach der Tat? Gibt es den geborenen Verbrecher? Hat jeder Mensch Gewissen? Welchen Einfluss hat der Strafvollzug auf die Täterpsyche? Lässt sich Schuld sinnvoll in Strafe umrechnen? Muss überhaupt Strafe sein? Wie hätte das Idealbild eines Untersuchungsrichters auszusehen? Sollte der Strafverteidiger von der Unschuld seines Mandanten überzeugt sein? Ist der Straftäter immer auch Opfer seines Milieus, oder hat er unter allen Umständen einen freien Willen? All diese Fragen tun sich für Dostojewskij im Toten Haus auf. Aus all diesen Fragen beziehen seine fünf großen Romane, die er zwischen 1866 und 1880 veröffentlicht, ihre leitenden Problemstellungen. Verbrechen und Strafe, der Titel des ersten seiner fünf großen Romane, liefert programmtisch die Stichworte für den Menschen im Fadenkreuz von Gewissen und Strafgesetz, der hier ins Zentrum der dichterischen Phantasie gerückt wird. Ja, Dostojewskij sieht den Menschen als Angeklagten: mit einem Tabu in seiner Seele, das den Zugriff blockiert, wie Olga Meerson erläutert hat.[18]

Verhör, schlechtes Gewissen und Strafe sind die Realitäten, mit denen Dostojewskij seine Leser ständig konfrontiert, denn sie sind die Auslöser seines eigenen Probleminfektes, den er sich im sibirischen Zuchthaus als Resultat seiner Verurteilung zuzieht. Rodion Raskolnikow (Verbrechen und Strafe), Parfenij Rogoschin (Der Idiot), Pjotr Werchowenskij (Böse Geister), Pawel Smerdjakow (Die Brüder Karamasow), sie alle sind, bildlich gesprochen, dem Toten Haus entsprungen. Nur Maurice Lambert (Ein grüner Junge) hat bislang, wenn man so sagen darf, keine Straftat begangen, die ihn nach Sibirien bringen könnte.

Eine Welt, in der Verhör, schlechtes Gewissen und Strafe die maßgebenden Realitäten sind, ist allerdings keine angenehme Welt. Deshalb beschwört Dostojewskij als Gegenkraft, die Licht in die Finsternis bringen soll, das Christentum. Das Tote Haus endet für den Ich-Erzähler mit der »Auferstehung«, als die er seine Entlassung empfindet. »Auferstehung« ist auch ein Leitbegriff in den fünf großen Romanen Dostojewskijs. In Verbrechen und Strafe liest Sonja, die Prostituierte, dem Mörder Raskolnikow aus dem Neuen Testament die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus vor (Johannes 11), mit ausführlichen wörtlichen Zitaten (Teil IV, Kap. 4). Den Bösen Geistern und den Brüdern Karamasow sind Bibelzitate als Motto vorangestellt. Das Motto zu den Bösen Geistern fasst das Geschehen des Romans gleichnishaft zusammen: »Es war aber dort auf dem Berg eine große Herde Säue auf der Wiese. Und sie baten ihn, dass er ihnen erlaube, in die Säue zu fahren. Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die bösen Geister von den Menschen aus und fuhren in die Säue; und die Herde stürmte den Abhang hinunter in den See und ersoff. Als aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündeten es in der Stadt und den Dörfern. Da gingen die Leute hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu Jesus und fanden den Menschen, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und sie erschraken. Und die es gesehen hatten, verkündeten ihnen, wie der Besessene gesund geworden war« (Lukas 8, 32–36). Und das den Brüdern Karamasow vorangestellte Motto lautet: »Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein, wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte« (Johannes 12, 24). Es fällt auf: in allen drei Fällen ist Jesus die Hauptperson der Textstelle. Seine Handlungen und Worte sind es, die zitiert werden. Jedes Mal wird die Sinnbewegung, die der Roman veranschaulicht, im Bibelzitat zusammengefasst. Raskolnikow fällt, nachdem er gemordet hat, in einen geradezu totenähnlichen Schlaf, und das mehrere Tage lang, aus dem er dann erwacht und von Sonja ins lebendige Leben zurückgeführt wird: ein auferweckter Lazarus. Nikolaj Stawrogins kreativer Nihilismus ist ganz auf Selbstauslöschung angelegt, und die drei Brüder Karamasow werden im Strudel der Ereignisse um die Ermordung ihres Vaters von ihrer jeweils anders motivierten Ich-Wichtigkeit geheilt: Weizenkörner, die Früchte tragen werden. In solchem Licht lesen sich Böse Geister und Die Brüder Karamasow wie Predigten über das vorangestellte Bibelzitat. Im Grünen Jungen ist das erste, was der von langer Wanderschaft zurückgekehrte Makar Dolgorukij zu seinem »Sohn« Arkadij sagt: »Herr Jesus Christ, unser Gott, erbarme dich unser« (Teil III, Kap. 2). Und im Idiot unterhalten sich Fürst Myschkin und Rogoschin in dessen düsterem Haus, wo eine große Kopie von Holbeins Der tote Christus im Grabe zu sehen ist, über die Frage, ob man im Anblick dieses Bildes den Glauben verlieren könnte.

Wie man sieht, ist Dostojewskijs Christentum ganz und gar in der Gestalt des Erlösers zentriert, den er nur ein einziges Mal persönlich auftreten lässt, das allerdings ungemein wirksam, in der Legende vom Großinquisitor, die im fünften Kapitel des Fünften Buches der Brüder Karamasow zu finden ist (Schauplatz: Sevilla im 16. Jahrhundert). Wie René Fülöp-Miller in seiner Monographie Macht und Geheimnis der Jesuiten (1929) feststellt, war diese gegen Rom gerichtete Anklage Dostojewskijs »gefährlicher als alle vorausgegangenen antijesuitischen Schriften zusammengenommen, denn ihr Verfasser verfügte über jene visionäre Gestaltungskraft, die allein seiner Anklage Wucht und ewige Dauer zu verleihen vermochte«.[19] In unserem Zusammenhang kommt es darauf an, zu realisieren, dass der Ideologe Dostojewskij, der diesen Text in seinem letzten Roman unterbrachte, im sibirischen Zuchthaus geboren wurde. Dostojewskijs Christologie sperrt sich dort, und das für immer, gegen Judentum und Katholizismus, eine Haltung, die in der exzessiven und einzig erlaubten Lektüre des Neuen Testaments ihre Grundlage fand.

Dem Einblick in die Natur des Menschen inmitten reueloser Schwerverbrecher tut sich ein Abgrund auf: Dostojewskijs Glaube aber weicht diesem Abgrund nicht aus, sondern will sich gerade in diesem Abgrund einrichten, muss sich allerdings in diesem Abgrund immer neu bewähren und bezieht genau daraus die Überzeugungskraft des Notwendigen – so der amerikanische Slawist Edward Wasiolek[20] mit Bezug auf das Tote Haus. Künstlerisch gesehen jedoch, und das ist nun ein ganz anderer Gedanke, lässt das Christentum als anthropologische Folie dem Verbrechen überhaupt erst die beirrende Leuchtkraft zukommen, die der Kriminologe wissenschaftlich neutralisiert.

Der Mechanismus, der den Abgrund des Zweifels und den Willen zum Glauben in ewiger Polarität aufeinander bezieht, ist uns von Dostojewskij selbst kenntlich gemacht worden. Aus Omsk schreibt er an Natalja Fonwisin: »Ich bin ein Kind dieser Zeit, ein Kind des Unglaubens und des Zweifels, war es bislang und werde es sogar (das weiß ich) bis an mein Lebensende bleiben. Welch schreckliche Qualen hat mich dieses Lechzen nach Glauben bisher gekostet, und das immer noch, das meine Seele umso stärker heimsucht, je mehr gegenteilige Schlussfolgerungen ich habe« (zu datieren Ende Januar bis 20. Februar 1854).[21] Im selben Brief, ja sogar noch auf derselben Seite schreibt Dostojewskij: »Würde mir jemand beweisen, dass sich Christus außerhalb der Wahrheit befindet, und wäre es wirklich so, dass die Wahrheit außerhalb Christi läge, dann würde ich lieber bei Christus bleiben wollen als bei der Wahrheit.« (Dieses Diktum kehrt später, 1872, in den Bösen Geistern wieder.)

Kurzum: die Tatsache des Abgrunds bringt den Willen zum Glauben hervor. Dieser Wille aber steht ständig in der Gefährdung durch den gesichteten Abgrund. Um diese Gefährdung auszuschalten, wären ständige Exerzitien nötig. Darauf aber lässt sich Dostojewskij nicht ein. Ignacio de Loyola kann für ihn kein Vorbild sein. »Nicht-wissen-wollen, was wahr ist«, so hatte Nietzsche verächtlich definiert, was »Glaube« bedeutet.[22] Dostojewskij aber fordert nichts anderes als den rechten Blick auf das »lebendige Leben«. Dieser Begriff ist als Bezeichnung der Substanz der sittlichen Weltordnung sein Leitbegriff.

Der soeben zitierten berühmten Briefstelle ist hinzuzufügen: Sie gilt für ihren Autor, aber nicht für sein poetisches Universum, das in den fünf großen Romanen seine Veranschaulichung findet. Die Konzeption dieser Veranschaulichung kennt keinen Zweifel, sondern ist zentriert im »lebendigen Leben«, das für Dostojewskij unsichtbar und allgegenwärtig die Steuerung des Laufs der Dinge enthält. Nirgends stellt Dostojewskij die christliche Eschatologie in Frage: die fünf großen Romane entwerfen die Geschichte der russischen Gesellschaft als Heilsgeschehen: als Sinngeschehen vom Dunklen ins Helle. Handlung und Charaktere gehorchen dem »lebendigen Leben«. So haben beispielsweise Dostojewskijs Selbstmörder am »lebendigen Leben« gefrevelt: Swidrigajlow (Verbrechen und Strafe), Ippolit Terentjew (dem im Idiot der Selbstmord misslingt), Kirillow und Stawrogin (Böse Geister), Krafft (Ein grüner Junge) und Smerdjakow (Die Brüder Karamasow). Sie alle sind »todunglücklich«, weil sie mit ihrer Subjektivität das »lebendige Leben« verfehlt haben.

Dostojewskijs poetisches Universum ist eine erfundene Welt, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Es besteht aus der Wirklichkeit des Glaubens. Die empirische Wirklichkeit, in der Dostojewskij seinen Brief an Natalja Fonwisina schreibt, ist mit dieser »Wirklichkeit des Glaubens« nicht identisch. Für diese Wirklichkeit aber ist Baron Münchhausen am Werk gewesen und hat sich am »eigenen Haarschopfe, mitsamt dem Pferde« aus dem Morast gezogen.[23] Das heißt: Die Zweifel des Autors sind in seinem poetischen Universum nur noch als die Zweifel seiner Gestalten real und bestimmen nicht die Konzeption des Ganzen.

Dostojewskijs Glaube wie auch die thematische Fixierung seiner fünf großen Romane auf das Verbrechen erweisen sich somit als Resultate seines Lebensvollzugs. Unter Verbrechern in Sibirien gelangt er zu einer festen Lebensperspektive, in der die fünf großen Romane Fragmente eines einzigen Projektes sind, das als Leben eines großen Sünders zwar von ihm nicht ausgeführt wurde, aber hinter seinen Romanen, wie sie uns vorliegen, anzunehmen ist. Macht man sich in diesem Sinne den fragmentarischen Charakter der großen Fünf klar, so entstammen sie alle einem übergreifenden Entwurf des Glaubens, eines Glaubens, der sich als helfende Fiktion selbst bestätigen will und bestätigt.[24]

Zweites Kapitel

Die geistige Situation der Zeit

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Mit diesen Aufzeichnungen schuf Dostojewskij seine in ideologischer und künstlerischer Hinsicht bedeutendste Erzählung. Nietzsche nennt dieses Werk »einen wahren Geniestreich der Psychologie«, sieht darin »eine Art Selbstverhöhnung« des delphischen Imperativs »Erkenne dich selbst!«.[25] Thomas Mann bewundert den »radikalen Zynismus der seelischen Preisgabe« und zeigt sich tief beeindruckt von der Fähigkeit Dostojewskijs, »auch das Ernsteste, Böseste, Abgründigste in einem höchsten Sinne amüsant« zu machen.[26] Walter Kaufmann bezeichnet den diskursiven Teil dieser Aufzeichnungen als »die beste Ouvertüre zum Existentialismus, die jemals geschrieben wurde«,[27] und Hans Sedlmayr konstatiert, Dostojewskij habe hier den »tiefsten Kommentar« zu den Manifesten des Surrealismus geliefert, »der je geschrieben worden ist, ante festum, und der je geschrieben werden kann«.[28] Lionel Trilling sieht in der Kulturverneinung als Möglichkeit des Glücks eine bemerkenswerte Affinität zu zentralen Überlegungen Sigmund Freuds, wie sie insbesondere in der Abhandlung Jenseits des Lustprinzips (1920) formuliert wurden.[29]

Als ebenso intensiv erweist sich die Auswirkung dieser Erzählung auf die literarische Praxis des 20. Jahrhunderts. Sartres Ekel (1938) kommt sofort ins Gedächtnis, und der Vergleich der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch mit Camus’ Der Fall (1956) ist zu einem regelrechten Forschungszweig geworden.[30] Ralph Ellisons Invisible Man (1952) wurde dem Antihelden aus dem Kellerloch als Bruder im Geiste an die Seite gestellt, und Charles Bukowskis Notes of a Dirty Old Man (1969) sind ein weiteres Zeugnis für die Vielfalt der Rezeptionsmöglichkeiten.

Aus der deutschen Literatur wurden insbesondere Thomas Manns Der Bajazzo (1897), Franz Kafkas Die Verwandlung (1916) sowie die Romane Gustav Sacks zu Dostojewskijs Erzählung in Beziehung gesetzt. Innerhalb der russischen Literatur ist die Stimme aus dem Untergrund, wie Robert Louis Jackson gezeigt hat, nicht nur aus Fjodor Sologubs Kleinem Teufel (1907) herauszuhören, sondern auch aus Samjatins Wir (1921/22) und Oleschas Neid (1927), die sich mit der menschenfeindlichen Legalität sowjetischer Wirklichkeit kritisch auseinandersetzen.[31]

Was ist der Grund für eine derart überwältigende Ausstrahlung? Dostojewskijs Antiheld pocht auf die Autarkie des Subjekts inmitten der modernen Leistungsgesellschaft. Solche Autarkie ist aber nur als Rückzug von den angebotenen Glücksmöglichkeiten realisierbar. Der Kellerlochmensch findet sein Vergnügen deshalb dort, wo es üblicherweise nicht gesucht wird: in sorgfältig ausgeklügelten Kränkungen, die er sich und anderen zufügt, ja sogar im Aushalten körperlicher Schmerzen.

Dostojewskijs Erzählung zerfällt in zwei Teile, die sich in der Darstellungsform wesentlich unterscheiden. Im ersten Teil entwickelt der namenlose Räsoneur aus dem Dunkel der Großstadt seine Philosophie. Dieser Teil trägt die Überschrift: »Das Kellerloch«. Solcher Begriff ist im übertragenen Sinne zu verstehen; gemeint ist der Untergrund als jener Ort, an den all das verdrängt wird, was in der guten Stube der herrschenden Kultur keine Existenzberechtigung hat. In dieser Zone des Verpönten richtet sich der Kellerlochmensch ein, aus dieser Zone spricht er zu uns.

Er ist vierzig Jahre alt, und es wurde ihm durch eine Erbschaft möglich, sich aus seinem ungeliebten Dienst als Beamter in einer Kanzlei zurückzuziehen. Jetzt lebt er am Stadtrand in bescheidener Unabhängigkeit.

Im zweiten Teil seiner Aufzeichnungen berichtet er unter dem Titel »Bei nassem Schnee« über eine Reihe von Erlebnissen, die vierzehn bis sechzehn Jahre zurückliegen. Das Erlebnis mit einem Offizier, der ihn auf dem Newskij Prospekt absichtslos dazu zwingt, beiseitezutreten, eröffnet ihm in aller Deutlichkeit seine Unfähigkeit, sich Achtung zu verschaffen. Aber diese Unfähigkeit wird sofort kultiviert, ohne dass der Wunsch, an seinem Beleidiger Rache zu nehmen, aufgegeben würde.

Eine Zusammenkunft mit ehemaligen Schulkameraden wächst sich zu bitterster Selbstvergiftung aus. Schließlich landet er in einem Bordell, wo er die Prostituierte Lisa kennenlernt. Er überzeugt sie von der Schändlichkeit ihres Lebens. In dem Moment, wo sie sich ihm mitfühlend zuwendet, gesteht er, dass er sein Bekehrungsmanöver nur zum Spaß betrieben hat, und verlacht sie. Lisa verschwindet verstört in der Petersburger Nacht, deren nasser Schnee sich wie ein Leichentuch über die Menschen legt.

Dieser zweite Teil der Aufzeichnungen spielt im Unterschied zum ersten Teil in den vierziger Jahren. Soll hier die Romantik dieses Jahrzehnts verhöhnt werden? Soll hier die private Genese des Kellerlochmenschen verdeutlicht werden? Ist er durch bestimmte unglückliche Umstände zu dem geworden, was er ist? Haben ihn unglückliche Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend, die angedeutet werden, derart vorgeprägt, dass er bereits seit zwanzig Jahren so ist wie heute?

Dostojewskij wollte offenbar zeigen, dass ein bestimmter Kulturzustand notwendig zum Kellerlochdasein führen muss, wenn jemand über die Sensibilität und die hohe Intelligenz des hier vorgeführten Antihelden verfügt. 1873 hat Dostojewskij im Rahmen grundsätzlicher Überlegungen zur russischen Literatur seiner Zeit Folgendes zu den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch notiert: »Ich bin stolz darauf, als erster den wirklichen Menschen der russischen Mehrheit gestaltet und als erster seine häßliche und seine tragische Seite bloßgelegt zu haben.« Die vergleichbaren negativen Helden bei Lermontow, Gontscharow und Tolstoj seien nur »schlecht erzogen«, denn die Welt, in der sie leben, kenne durchaus die Verwirklichung positiver Ideale. »Nur ich allein«, so fährt Dostojewskij fort, »habe die Tragik des Kellerlochs sichtbar werden lassen …« Worin aber besteht solche Tragik? Sie besteht »im Leiden«, in der »Selbstbestrafung« und vor allem »in der Erkenntnis des Besseren« und »in der Unmöglichkeit, es zu erreichen«. Diese »Unglücklichen« leben »in der festen Überzeugung, daß alle so sind wie sie selbst«, dass es sich mithin nicht lohne, sich zu ändern. Solche Argumentation gipfelt in der Feststellung: »Die Ursache des Kellerlochs ist die Vernichtung des Glaubens an allgemeine Prinzipien. ›Es gibt nichts Heiliges mehr.‹«[32]

Dostojewskijs ideologische Position, die ihren positiven Rückhalt ausschließlich in der Verklärung der Realität durch die orthodoxe Glaubenshaltung hat, lässt die kapitalistische Wirklichkeit und die sozialistische Utopie in gleicher Weise verwerflich erscheinen. Der unmittelbare politische Gegner ist in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch Nikolaj Tschernyschewskij, der in seiner Abhandlung Das anthropologische Prinzip in der Philosophie (1860) geschrieben hatte: »Bei aufmerksamer Untersuchung der Motive, von denen sich die Menschen leiten lassen, stellt sich heraus, daß alle Handlungen, gute wie schlechte, edle wie niedrige, heroische wie feige ein und derselben Quelle entspringen: der Mensch handelt so, wie es ihm angenehmer ist, und läßt sich von der Berechnung leiten, die ihn veranlaßt, auf den geringeren Nutzen oder das geringere Vergnügen zu verzichten, um den größeren Nutzen, das größere Vergnügen zu gewinnen.« Durch solche Überlegungen kommt Tschernyschewskij zu der Schlußfolgerung: »Das Gute ist sozusagen der Superlativ des Nutzens, ist so etwas wie ein sehr nützlicher Nutzen.«[33]

Aus solcher Lehre sieht Dostojewskij die Idee des »Kristallpalastes« hervorgehen, eines bis ins Kleinste vernünftig durchgeregelten Gemeinwesens. Der Kristallpalast wird dem Kellerlochmenschen bezeichnenderweise zum Wahrzeichen eines Fortschritts, der das Wesen des Menschen ausklammert. Dostojewskij hatte ganz konkret den Kristallpalast der Londoner Weltausstellung von 1851 vor Augen, den er während seines Englandbesuchs im Jahre 1862 besichtigte. Tschernyschewskij hatte das Ideal des Kristallpalastes mit »Vera Pawlownas viertem Traum« in seinem Roman Was tun? (1863) positiv geschildert.

In aggressivem Gegenzug zu solcher Fortschrittsgläubigkeit bekennt sich der Kellerlochmensch zu Zerstörung und Chaos, zur Absage an das Wohlergehen. Sogar Zahnschmerzen empfindet er als einen Genuß! Mit der konsequenten Ablehnung der Vernunft kann er jedoch auch in der Position der Verneinung nicht zur Ruhe kommen, sondern beginnt plötzlich mit der Bejahung dessen, was er soeben verneint hat. Jegliche Haltung provoziert den Akt des Widersprechens, so dass keinerlei Haltung zustande kommt. Solche Konsequenz der Inkonsequenz führt zu obsessiv wiederkehrenden Themen und Argumenten und bringt, wie Wolfgang Holdheim treffend bemerkt, »eine Art von alpdruckhafter Gedankenlyrik« hervor.[34]

Mit den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch gelangt Dostojewskijs Diagnose der geistigen Situation seiner Zeit zu einem explosiven Fazit. Keines seiner nachfolgenden Werke verlässt das mit diesen Aufzeichnungen kenntlich gemachte Problemfeld.

Dostojewskij eröffnet mit den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch einen Denkraum, in dem es keine Werte mehr gibt. Der Kellerlochmensch lebt in einem sittlichen Vakuum, ist darin exemplarisch für die geistige Situation der Zeit. In dieses Vakuum setzt nun Dostojewskij, der Kriminologe und christliche Missionar, seine eigenen Wertvorstellungen. Er macht sich nicht nur die Mühe, eine publizistisch benennbare Analyse seiner Zeit zu liefern, sondern setzt die Analyse sofort um in die Anschauung. Das Resultat sind seine fünf großen Romane.

Seine Entwicklung als Schriftsteller von den Aufzeichnungen aus einem toten Haus, dem Muttertext seiner Fusion von Kriminologie und Christentum, bis zu den Brüdern Karamasow