Dr. Norden Bestseller 10 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 10 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

4,5

Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Dr. Daniel Norden und seine Frau Fee hatten ein sonniges, frohes Wochenende im Kreise der Familie auf der Insel der Hoffnung verbracht. Es war beschlossen gewesen, dass Fee noch die Woche über hierbleiben sollte, da nun der letzte Monat ihrer Schwangerschaft anbrach. Als sehr früh am Montagmorgen der Wecker klingelte, war sie jedoch wieder anderen Sinnes geworden. »Ich komme mit dir, Dan«, flüsterte sie. »Nein, du bleibst hier«, erklärte er kategorisch. »Du lässt dich verwöhnen, Feelein. So war es abgemacht und dabei bleibt es.« »Ich werde aber ganz schreckliche Sehnsucht nach dir haben.« »Wir werden jeden Morgen und jeden Abend telefonieren, mein Liebes, und dazwischen würde ich für dich zu Hause auch kaum Zeit haben. Hier kannst du Sauerstoff tanken noch und noch. Es ist mir wirklich lieber, wenn du bei dem grässlichen Wetter nicht in der Stadt bist.« »Es ist aber schönes Wetter«, widersprach Fee. »Hier ja, aber hör mal, was der Rundfunk über München berichtet. Dort macht sich der Föhn so narrisch bemerkbar, dass die Menschen kaum noch Luft bekommen. Die Krankenhäuser können die Herzkranken schon gar nicht mehr unterbringen. Du willst doch nicht, dass ich mich um dich auch noch sorgen muss, Liebstes.«

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Dr. Norden Bestseller – 10 –

Man nahm ihr das Kind

Alle bangen um den kleinen Toby

Patricia Vandenberg

Dr. Daniel Norden und seine Frau Fee hatten ein sonniges, frohes Wochenende im Kreise der Familie auf der Insel der Hoffnung verbracht. Es war beschlossen gewesen, dass Fee noch die Woche über hierbleiben sollte, da nun der letzte Monat ihrer Schwangerschaft anbrach.

Als sehr früh am Montagmorgen der Wecker klingelte, war sie jedoch wieder anderen Sinnes geworden.

»Ich komme mit dir, Dan«, flüsterte sie.

»Nein, du bleibst hier«, erklärte er kategorisch. »Du lässt dich verwöhnen, Feelein. So war es abgemacht und dabei bleibt es.«

»Ich werde aber ganz schreckliche Sehnsucht nach dir haben.«

»Wir werden jeden Morgen und jeden Abend telefonieren, mein Liebes, und dazwischen würde ich für dich zu Hause auch kaum Zeit haben. Hier kannst du Sauerstoff tanken noch und noch. Es ist mir wirklich lieber, wenn du bei dem grässlichen Wetter nicht in der Stadt bist.«

»Es ist aber schönes Wetter«, widersprach Fee.

»Hier ja, aber hör mal, was der Rundfunk über München berichtet. Dort macht sich der Föhn so narrisch bemerkbar, dass die Menschen kaum noch Luft bekommen. Die Krankenhäuser können die Herzkranken schon gar nicht mehr unterbringen. Du willst doch nicht, dass ich mich um dich auch noch sorgen muss, Liebstes.«

»Mir geht es aber blendend«, entgegnete Fee.

»Hier geht es dir blendend, und darüber bin ich sehr froh. Am Freitag, bevor wir wegfuhren, ging es dir gar nicht so gut, wenn ich dich daran erinnern darf.«

»So eine ganz kleine vorübergehende Schwäche wird sich eine werdende Mutter doch mal leisten dürfen«, begehrte Fee auf. Fast hätte Daniel ihrem bittenden Blick nicht mehr widerstehen können, aber da kam ihm sein Schwiegervater zu Hilfe.

»Das Frühstück steht bereit, Dan«, sagte er. »Mit leerem Magen fährst du nicht weg.«

»Ich werde doch mit heimfahren, Paps«, erklärte Fee.

»Nein, das wirst du nicht«, erklärte Dr. Cornelius energisch. »Nur für ein kurzes Wochenende nimmst du die Strapazen der Fahrt nicht auf dich, mein liebes Kind.«

Daniel warf ihm über Fees Schulter hinweg einen dankbaren Blick zu. Er wurde ja doch weich, wenn sie auf einem Wunsch beharrte.

»Ihr Männer«, sagte Fee vorwurfsvoll, »ihr seid euch doch immer einig.«

»Wir lieben dich und sind besorgt um dich«, erklärte Dr. Cornelius. »Und du bist eine vernünftige kleine Mama, die das Beste für ihr Baby will.«

Und wie gut es war, dass sie beide standhaft blieben und Fee doch nachgab, sollte sich schon hundert Minuten später beweisen.

»Fahr vorsichtig! Pass auf dich auf!«, hatte Fee ihrem Mann unter zärtlichen Abschiedsküssen ins Ohr geflüstert, obgleich es solcher Ermahnungen nicht bedurft hätte. Daniel Norden war ein besonnener Fahrer. Er war immer auf der Hut. Er beharrte nicht auf Vorfahrtsrechten, und rechnete immer mit der Unzulänglichkeit und Unachtsamkeit der anderen.

Er kannte die Straße genau. Oft genug war er diese Strecke schon gefahren. Er kannte jede Kurve und auch jeden Bahnübergang, die beschrankten und die unbeschrankten.

Er wurde doppelt aufmerksam, als er Motorengeräusch über sich vernahm und er schon die Türme von München vor sich sah.

Ein Rettungshubschrauber flog dicht über den Bäumen in der gleichen Richtung, in der er fuhr. Er sah das rote Kreuz auf weißem Rund, und sofort waren seine Nerven aufs Äußerste gespannt. Er wusste, dass ganz nahe ein beschrankter Bahnübergang war. Und bald darauf wurde es ihm auch schon zur Gewissheit, dass dort etwas geschehen sein musste.

Eine Wagenkolonne stand vor ihm. Er stoppte und sprang aus dem Wagen. Er vernahm erregte Stimmen, in die sich angstvolle und stöhnende Schreie mischten.

»Was ist geschehen?«, fragte er einen Mann.

»Ein Bus ist in den Zug gerast«, schrie der aufgeregt zurück.

»Mein Gott, mein Gott, die armen Kinder«, rief eine Frau, die die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte.

»Er hat die Schranke nicht geschlossen«, rief eine andere.

Mechanisch nahm Daniel seinen Arztkoffer, den er immer mit sich führte, aus dem Wagen. »Ich bin Arzt«, sagte er tonlos. »Geben Sie mir bitte den Weg frei. Wann ist das passiert?«

»Vor ein paar Minuten«, erwiderte jemand.

Wenig später sah er die Stätte des Grauens und hielt den Atem an. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er an Fee und was es für sie bedeuten würde, dies sehen zu müssen, sie, die doch auch Ärztin war.

Metallteile, Kleiderfetzen – Grauen, nur Grauen sah er. Aber er war Arzt. Wenn man Hilfe brauchte, mussten Erschütterung und menschliche Erregungen zurückgedrängt werden.

»Dr. Norden!«, rief eine Stimme von irgendwo, doch sie ging unter im Lärm des landenden Rettungshubschraubers. Auch er hörte sie nicht. Er ging dem Stöhnen und Weinen nach, das an seine Ohren drang. Er sah im Gebüsch eine Frau liegen und unweit ein kleines Kind. Er bemerkte, dass beide lebten, und vielleicht entschieden die nächsten Sekunden schon darüber, ob diese beiden Leben erhalten bleiben konnten.

Eine fremde Stimme fragte ihn, ob man denn helfen könne. »Ich habe nämlich einen Kombiwagen«, sagte der grauhaarige Mann, der sich jetzt neben Daniel niederkniete.

»Helfen Sie mir, diese beiden in die Klinik zu bringen«, sagte Daniel.

»Gern, Herr Doktor. Es ist ja so schrecklich!«

Wie unterschiedlich die Menschen unter einem solchen Schock reagierten, wurde Daniel Norden in diesen Minuten nicht bewusst. Ihm zur Seite stand ein Mann, dem fremdes Leben mehr wert war, als sein neuer Wagen, als seine Polster, die bald vom Blut einer jungen Frau und eines Kindes rotgefärbt wurden.

Ein Mann, mindestens sechzig Jahre alt, steuerte seinen Wagen zur Behnisch-Klinik, wie Daniel es ihm geheißen hatte. Ein Mann, den nicht Sensationsgier in Bann geschlagen hatte, sondern der Leben retten wollte, genau wie er.

Er war von ihm mit seinem Namen angesprochen worden. Und als sie die Frau und das Kind in seinem Wagen getragen hatten, sagte er: »Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie nicht lange fackeln und erst Fragen stellen. Da kann es doch manchmal um Minuten gehen.«

Und wie oft dauerte es viel zu lange, bis ärztliche Hilfe kam. Gerade bei Katastrophen wurde später darüber immer wieder Kritik laut.

Daniel Norden dachte jetzt nicht darüber nach. Das Kind begann sich schon zu regen. Es schrie nach seiner Mami. Die junge Frau war bewusstlos, aber das Schreien holte sie für Sekunden ins Leben zurück.

»Mein Kind«, murmelte sie, »mein Kind«, dann wurde sie wieder bewusstlos.

Sie waren bei der Behnisch-Klinik angelangt. Dort war man bereits in Alarmzustand versetzt, wie alle anderen umliegenden Kliniken auch. Noch wusste man ja nicht, wie viele Tote und Verletzte es gegeben hatte.

»Dich erwischt es aber auch immer«, sagte Dr. Dieter Behnisch zu seinem Freund Daniel.

»Mich hat’s zum Glück nicht erwischt«, brummte Daniel. »Um ein paar Minuten«, und dabei dachte er an Fee, die ihn mit ihren Abschiedsküssen diese Minuten aufgehalten hatte.

Schwester Melanie hatte sich des Kindes angenommen, das fast noch ein Baby war. Es war ein kleiner Junge mit gelocktem Haar, bestens gekleidet, wenngleich die Sachen, genau wie er, auch jetzt schmutzverkrustet waren. Aber außer ein paar Schrammen schien er ganz wie durch ein Wunder keine Verletzungen davongetragen zu haben.

Die junge Frau hatte es schlimmer erwischt. Ihre Kleidung war arg mitgenommen, und sie hatte eine beträchtliche Menge Blut verloren, dazu schwere Prellungen erlitten und einen Unterarmbruch. In Anbetracht der Katastrophe würde aber auch sie von Glück sagen können, so davongekommen zu sein, wenn sie erst wieder zu sich kommen würde.

Schwester Melanie hatte das Kind beruhigt. Es jammerte jetzt nur noch leise nach seiner Mami und schien müde zu sein.

Dr. Jenny Lenz hatte Dr. Behnisch assistiert und blieb bei der jungen Frau, nachdem sie ärztlich versorgt worden war. Nun wurden auch andere Verletzte gebracht, und jeder in der Klinik wurde gebraucht.

Dr. Norden rief in seiner Praxis an. Molly meldete sich schon aufgeregt und brach gleich verschreckt in Tränen aus, als er ihr sagte, was geschehen war, beruhigte sich aber schnell, als sie erfuhr, dass Fee auf der Insel geblieben war. Sie musste den wartenden Patienten nur erklären, warum der Doktor die Sprechstunde nicht pünktlich beginnen konnte.

Indessen kamen schon die ersten Radiomeldungen über das Unglück, und Fee hörte sie. Schreckensbleich lief sie zu ihrem Vater, der schnell sein Radio ausschaltete, als sie hereinkam.

»Ich habe es schon gehört, Paps«, flüsterte sie. »Es ist unsere Strecke. Daniel muss etwa zu der Zeit dort gewesen sein.«

»Beruhige dich, Kindchen«, sagte Dr. Cornelius, der seine eigene Erregung kaum verhehlen konnte. »Ich rufe gleich in der Praxis an.«

Dort war das Telefon dauernd besetzt, und Dr. Cornelius war heilfroh, als er Molly endlich an den Apparat bekam, denn Fee bebte am ganzen Körper und war außer sich vor Angst. In ihrem Zustand war das bedenklich, aber als Dr. Cornelius dann erfuhr, dass Daniel in der Behnisch-Klinik mit Erste Hilfe leistete, war er erleichtert, dass Fee nicht mit ihm gefahren war. Der grässliche Anblick hätte schlimmere Folgen haben können als die Minuten der Angst.

Auch einem Mann, von dem sie bis zu diesem Tage noch nicht gehört hatte, blieb fast das Herz stehen, als er aus dem Autoradio die Meldung hörte.

Er fuhr an den Straßenrand und stoppte. Penny und Tim waren in diesem Zug. Er hatte sie selbst zum Bahnhof gefahren.

»Warum sollst du erst diesen Umweg machen, Dirk«, hatte Penny gesagt. »Tim macht es sicher Spaß, mit der Eisenbahn zu fahren, und du bist schon an der Grenze, wenn der Verkehr dort richtig losgeht.«

Er, Dirk Holzmann, Verkaufsleiter der Schott-Gesellschaft, hatte eine kurze Geschäftsreise nach Wien machen müssen. Die drei Tage seiner Abwesenheit wollte Penny dann mit dem kleinen Tim bei seinen Eltern verbringen.

Dirk wurde es schwarz vor Augen. Er konnte minutenlang keinen klaren Gedanken fassen, dann aber wendete er seinen Wagen und fuhr zurück. Wie hätte er auch weiterfahren können, ohne zu wissen, was mit Penny und Tim war. »Mein Gott, hätte ich sie doch nur hingebracht«, murmelte er unaufhörlich.

Vielen Menschen erging es ähnlich wie ihm an diesem Morgen. Und manch einer wusste bereits, dass jede Hoffnung auf ein Wiedersehen mit einem geliebten Menschen vergeblich war. Mütter weinten um ihre Kinder, Frauen um ihre Männer, ein dürsterer Schatten des Grauens breitete sich über die Unglücksstätte, als Dirk Holzmann sie erreichte. Und dann begann das Suchen nach seiner Frau und seinem Kind, die entsetzlichsten Stunden seines Lebens, das bisher so glücklich und unkompliziert verlaufen war. Ein Telefongespräch mit seinen Eltern nahm ihm die winzige Hoffnung, dass Penny sich bei ihnen gemeldet haben könnte.

Es wurde später Nachmittag, bis er erfuhr, dass seine junge Frau schwerverletzt ins Kreiskrankenhaus eingeliefert worden war, doch von seinem kleinen Tim hatte man keine Spur gefunden. Es war nicht zu beschreiben, was Dirk Holzmann durchmachte, als man ihm Kleiderfetzen zeigte, einen winzigen Schuh, ein kleines, ensetzlich zugerichtetes Bündelchen, das er nicht ansehen konnte. Der Schock war zu entsetzlich! Und wie hätte es ein Trost für ihn sein können, dass es vielen anderen ebenso erging an diesem Tage wie ihm.

Er musste sein Kind, seinen geliebten kleinen Tim verloren geben. Pennys junges, blühendes Leben hing an einem hauchdünnen Faden. Es würde sofort verlöschen, wüsste sie, dass es keinen Tim mehr gab.

Noch nie hatte Dirk einen solchen lähmenden Schmerz kennengelernt. Ohne jeden Schicksalsschlag war sein Leben bisher verlaufen, immer in der goldenen Mitte, Schritt für Schritt vorwärts und aufwärts.

Als seine Eltern am Abend kamen, fanden sie einen um Jahr gealterten Dirk vor, grau im Gesicht, sie blicklos anstarrend, als wären sie Fremde.

»Junge«, sagte Walter Holzmann erschüttert, und von seiner Mutter wurde Dirk stumm in die Arme genommen.

»Sie lassen mich nicht mal zu Penny«, brachte er nach langer Zeit mühsam über die Lippen. »Sie haben mich weggeschickt, als hätte ich ihr etwas zuleide getan. Und Tim …«, er konnte nicht mehr weitersprechen. Trockenes Schluchzen schüttelte ihn.

»Vielleicht ist er gar nicht tot, vielleicht haben sie ihn in eine andere Klinik gebracht«, flüsterte Renate Holzmann.

»Es war sein Schuh, den sie mir gezeigt haben«, murmelte Dirk tonlos. Und dann redete er wirres Zeug, das den Regierungsdirektor Walter Holzmann veranlasste, sich genauer zu informieren.

*

Nachdem der panische Schrecken abgeklungen war, herrschte in den verschiedenen Kliniken wieder die gewohnte Nüchternheit, jedoch nicht in der Behnisch-Klinik. Dort weinte ein kleines Kind wieder schmerzlich nach seiner Mami. Antwort geben konnte es noch nicht auf die Fragen, die ihm gestellt wurden.

Der Kleine hatte ein paar Stunden geschlafen, aber nun schrie er jammervoll nach seiner Mami und dann auch nach seinem Papi.

Dr. Jenny Lenz befasste sich mit dem Kleinen, aber er war nicht zu beruhigen.

»Wie heißt du?«, fragte sie, aber er schüttelte nur wild das Köpfchen. »Will zu Mami, will zu Mami.«

Was sollten sie nur machen? Die junge Frau war noch immer bewusstlos, und wenn man den Kleinen zu ihr brachte, würde er womöglich erschrecken, sie mit dem verbundenen Kopf zu sehen. Und noch wusste man den Namen der jungen Frau nicht. Dr. Behnisch hatte sich sehr bemüht, aber von allen Verletzten war sie die wirklich einzige, die von niemandem gesucht zu werden schien.

Die Liste der Todesopfer war schlimm genug. Zweiundzwanzig Menschenleben hatte es gefordert, darunter fünf Kinder und zwei Babys.

Fünf Personen waren zur Behnisch-Klinik gekommen, aber niemand von ihnen hatte in der jungen Frau jene erkannt, die von ihnen gesucht wurde, niemand hatte das Kind vorher gesehen.

Dr. Behnisch ging ins Ärztezimmer, wo Jenny den Kleinen abzulenken versuchte. Mit verweinten Äuglein sah das bildhübsche kleine Kerlchen ihn an.

»Dotto?«, fragte er. »Kiekiek?« Und nun bekamen seine Augen auch noch einen ängstlichen Ausdruck.

»Nein, der Dotto macht nicht kiekiek«, erwiderte Dieter Behnisch, und Jenny konnte nur staunen, wie er sofort diese Kindersprache verstand und darauf einging.

»Sagst du dem Dotto, wie du heißt?«, fragte Dieter. Wieder schüttelte der Kleine den Kopf. Dann legte er ihn schief und blinzelte. »Bärle?«, fragte er.

»Bist du ein Bärle?«, fragte Dieter.

»Bärle haben, Hoppi. Mami gehn.«

Dieter Behnisch nahm den Kleinen auf den Arm. »Mami ist krank und muss im Bett liegen. Mami hat sich wehgetan.«

»Heile, heile machen.«

»Reden kann er. Wir müssen ihm Zeit lassen. Schätze, dass er zwei Jahre ist.«

»Sehr gepflegt, sehr gut gekleidet«, sagte Jenny. »Ein süßes Kind.«

»Papi fott?«, fragte der Kleine. »Tutauto fott. Mami gehn.«

»Du musst aber ganz lieb sein und Mami nicht erschrecken. Sie schläft«, sagte Dr. Behnisch.

Dr. Jenny Lenz war nicht ganz damit einverstanden, dass er den Kleinen in das Krankenzimmer brachte, aber Dieter hörte nicht auf ihre Warnung.

Erschrocken drückte das Kind sein Köpfchen an die Schulter des Arztes.

»Mami?«, wisperte es ängstlich. Und dann begann er doch wieder laut zu weinen.

»Mein Kind«, stöhnte die Kranke auf, »mein Kind.« Das Weinen hatte sie wieder aus der Bewusstlosigkeit geholt.

»Nicht Mami«, jammerte der Junge.

»Mein kleiner Toby«, hauchte die Kranke.

»Papi gehn«, flüsterte das Kind ängstlich.

Dr. Behnisch ging mit ihm hinaus. Er hat sich vor dem verbundenen Kopf erschrocken. Jenny hatte doch recht gehabt, sagte sich der Arzt.

Jenny war bei der Patientin geblieben. Sie streichelte deren Hand.

»Toby kommt wieder. Er ist jetzt müde«, sagte sie beruhigend.

»Sie hat ihn mir weggenommen. Sie hat mir mein Kind weggenommen«, stöhnte die Kranke.

»Wie heißen Sie?«, fragte Jenny Lenz. »Wir müssen es wissen. Wir möchten Ihre Angehörigen benachrichtigen.«

»Toby – nein, nein«, tönte es klagend an ihr Ohr und dann nichts mehr. Eine schreckliche Angst ergriff Jenny Lenz, dass das Herz versagen könnte, aber die junge Frau war nur wieder in einer tiefen Ohnmacht gefangen.

*

Für Dr. Norden hatte dieser Tag auch das schlimmste Grauen gebracht. Etwas so Entsetzliches hatte er noch nicht erlebt, wenngleich ihm als Arzt schon manches Schlimme nicht erspart worden war.

Nachdem er mit Fee telefoniert hatte, war er etwas ruhiger geworden, aber die furchtbaren Bilder gingen ihm nicht aus dem Sinn. Es war nur ein Glück, dass er heute nicht von seinen Patienten herumgehetzt wurde.

Lenchen hatte das Abendessen fast unberührt wieder abräumen müssen und meinte, dass er damit auch niemandem nütze, wenn er nichts esse.

Das gute schwerhörige Lenchen hatte nicht alles verstanden, was im Rundfunk berichtet wurde, weil ihr Hörgerät manchmal bockte, aber sie hatte wieder einmal Grund gehabt, der Technik für alles die Schuld zu geben, und es war müßig, ihr einreden zu wollen, dass gerade diesbezüglich an Bahnübergängen zu wenig getan würde.

Daniel hörte die neuesten Meldungen. Er hörte sie innerlich beteiligt

und mit Erregung und Anteilnahme. Staatsanwaltschaftliche Untersuchungen, fahrlässige Tötung? Menschliches Versagen? Auch damit waren die Toten nicht zum Leben zu erwecken, die Hinterbliebenen nicht zu trösten.

Der Gong schlug an. Daniel glaubte sich verhört zu haben. Es war schon nach zehn Uhr. Wenn ein Patient ihn brauchte, rief er an. Sollte etwa Fee …? Er dachte nicht weiter, sondern eilte zur Tür, aber vor ihm stand ein fremder Mann, so um die Fünfzig, sympathisch, aber sichtlich erschöpft und erregt.

»Verzeihung, Herr Dr. Norden, mein Name ist Holzmann. Es ist spät, aber ich muss Sie wegen des Unglücks sprechen. Meine Schwiegertochter …«, er geriet ins Stocken, fasste sich an die Kehle. Daniel stützte den schwankenden Mann, schob ihn in die Wohnung.

»Beruhigen Sie sich bitte erst«, sagte er fürsorglich, drückte den Mann in den Sessel, holte ein Glas Wasser und gab ein paar Beruhigungstropfen hinein, von denen er heute selbst welche genommen hatte.

»Ich bitte Sie um einige Auskünfte«, begann Walter Holzmann, nachdem er tief Luft geholt hatte. »Meine Schwiegertochter liegt schwerverletzt im Kreiskrankenhaus, aber ich hörte, dass Sie an der Unglücksstelle waren. Es geht um unser Enkelkind.«

Er fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, rang sichtlich nach Fassung.

»Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann«, sagte Daniel gepresst, obgleich er nicht wusste, wie da zu helfen wäre.

»Mein Sohn ist unfähig, etwas zu unternehmen«, fuhr Walter Holzmann heiser fort. »Ich bin jetzt seit Stunden unterwegs, aber ich konnte unseren kleinen Enkel nicht identifizieren. Es war so schrecklich, was ich sehen musste. Entschuldigen Sie …«, er wischte sich Tränen aus den Augen.

»Ich verstehe Sie. Ich empfinde auch so«, sagte Daniel leise.

»Man sagte mir, dass Sie eine junge Frau und ein kleines Kind weggebracht hätten«, sagte Walter Holzmann stockend. »Es ist eine so winzige Hoffnung, aber vielleicht ist es unser Tim.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Daniel. »Es schien, als gehörten die Frau und das Kind zusammen.«