Dr. Norden Bestseller 15 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 15 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Es war ein kühler, windiger Morgen. Zwanzig Minuten vor acht Uhr trat Dr. Daniel Norden aus einem Miethaus auf die Straße. Kinder strebten in kleinen und größeren Gruppen zur Schule. Dr. Norden hatte schon eine schwere Stunde hinter sich. Die alte Frau Petruschke hatte ihre gütigen Augen für immer geschlossen. Sie war eine seiner treuesten Patientinnen gewesen, und mit ihren letzten Worten hatte sie ihm gedankt und ihm viel Glück für die Zukunft gewünscht. Als er seinen Wagen besteigen wollte, raste ein grünes Mofa knapp an ihm vorbei. Er sah nur flüchtig die Gestalt eines mageren halbwüchsigen Jungen, dann war der schon seinen Blicken entschwunden, als wäre der Teufel hinter ihm her. Da kann man reden, was man will, da kann man sie belehren, diese jungen »Helden«, ging es ihm durch den Sinn. Es nützt alles nichts. So oder so müssen sie ihre Aggressionen abbauen. Dr. Daniel Norden dachte immer menschlich, doch plötzlich hörte er eine laute drohende Stimme, die seine Aufmerksamkeit weckte. »Du Diebin, du falsches kleines Biest, endlich habe ich dich ertappt«, brüllte eine raue Männerstimme aus dem Lebensmittelgeschäft, das seit kurzem »Supermarkt« hieß. »Scher dich zum Teufel«

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Dr. Norden Bestseller – 15 –

Über allem steht die Liebe

… doch Rena geht einen schweren Weg

Patricia Vandenberg

Es war ein kühler, windiger Morgen. Zwanzig Minuten vor acht Uhr trat Dr. Daniel Norden aus einem Miethaus auf die Straße. Kinder strebten in kleinen und größeren Gruppen zur Schule.

Dr. Norden hatte schon eine schwere Stunde hinter sich. Die alte Frau Petruschke hatte ihre gütigen Augen für immer geschlossen. Sie war eine seiner treuesten Patientinnen gewesen, und mit ihren letzten Worten hatte sie ihm gedankt und ihm viel Glück für die Zukunft gewünscht.

Als er seinen Wagen besteigen wollte, raste ein grünes Mofa knapp an ihm vorbei. Er sah nur flüchtig die Gestalt eines mageren halbwüchsigen Jungen, dann war der schon seinen Blicken entschwunden, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Da kann man reden, was man will, da kann man sie belehren, diese jungen »Helden«, ging es ihm durch den Sinn. Es nützt alles nichts. So oder so müssen sie ihre Aggressionen abbauen.

Dr. Daniel Norden dachte immer menschlich, doch plötzlich hörte er eine laute drohende Stimme, die seine Aufmerksamkeit weckte.

»Du Diebin, du falsches kleines Biest, endlich habe ich dich ertappt«, brüllte eine raue Männerstimme aus dem Lebensmittelgeschäft, das seit kurzem »Supermarkt« hieß. »Scher dich zum Teufel«, schrie die Stimme weiter. »Geh mir aus den Augen!«, Und er sah einen grobschlächtigen Mann, der ein dürres junges Mädchen vor sich her trieb und diesem Ohrfeigen versetzte.

So was konnte nun den guten Dr. Norden doch in Rage bringen, was immer auch der Anlass zu solcher Tat sein mochte. Das Mädchen taumelte vorwärts, knickte zusammen und fiel fast vor seine Füße. Er riss es empor und zurück, sonst wäre es noch von einem Auto gestreift worden.

Der Mann dagegen war schnell wieder in seinem Laden verschwunden. Daniel Norden schob das zitternde Mädchen schnell in seinen Wagen. »Du wartest hier«, sagte er energisch, aber freundlich. »Ich bin Dr. Norden. Du wirst mir nachher erzählen, was da geschehen ist, jetzt pack’ ich mir erst den Burschen.«

»Ich hab’s nicht getan«, wimmerte das Mädchen. »Ich habe kein Geld genommen. Ich sollte den Laden saubermachen, bevor die Kunden kommen. Herr Zielke verdächtigt mich zu Unrecht.«

»Es ist in Ordnung, Kleine«, sagte Dr. Norden. »Ich rede jetzt mit ihm. Du bleibst schön hier sitzen.«

Das Mädchen nickte. »Die Frau Petruschke hat immer so lieb von Ihnen gesprochen«, flüsterte sie.

Er wollte ihr jetzt nicht sagen, dass Frau Petruschke vor vierzig Minuten gestorben war. Daniel Norden konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sich ein kräftiger Mann an einem hilflosen Kind vergriff, und dieses Mädchen war noch ein Kind.

Mit der ihm eigenen Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit betrat er den modernen Laden. Alles roch noch neu.

Er hatte das Geschäft schon gekannt, als die Fassade grau war und bröckelte und der Laden im Innern kein sehr appetitliches Durcheinander aufwies. Und dann hatte man darüber gesprochen, dass der Zielke plötzlich zu Geld gekommen sei. Frau Petruschke hatte ihm so manches erzählt, wenn er Krankenbesuche bei ihr machte, und er hatte die alte Dame reden lassen. Sie war eine Dame gewesen und hatte es sehr fein ausgedrückt, dass sie den Zielke nicht mochte. Nun betrat er also den Supermarkt. Der wuchtige Mann baute sich vor ihm auf.

»In einer halben Stunde wird aufgemacht«, knurrte er.

»Die Tür war offen, und ich möchte Sie sprechen. Ich bin Dr. Norden und sah soeben, dass Sie ein junges Mädchen geschlagen haben. Sie haben sich strafbar gemacht.« Deutlicher konnte er sich nicht ausdrücken.

»Und was mischen Sie sich ein?«, fragte Zielke gereizt. »Sie hat gestohlen.

Sie ist an die Ladenkasse gegangen. Endlich habe ich sie ertappt, wie sie vor der Kasse stand und sie gerade noch zuschieben wollte. Durchgefüttert habe ich das Krott. Jetzt ist Schluss. Ich werde wohl das Recht haben, eine Kriminelle rauszuschmeißen, und an ihr habe ich noch mehr auszusetzen.«

»Sie werden Ihre Behauptungen beweisen müssen, Herr Zielke«, sagte Dr. Norden ruhig. »Wie viel Geld fehlt Ihnen in der Kasse?«

»Mindestens zweihundert Euro. Ich kann’s noch nicht überblicken. Das Wechselgeld bleibt über Nacht immer drin«, erwiderte Zielke nun schon ein bisschen gemäßigter. »Aber ich weiß, dass die Rena sie genommen hat.«

»Das Mädchen sitzt in meinem Wagen. Sie kommen jetzt mit, und wir werden feststellen, ob sie das Geld bei sich hat.«

»Ich denke gar nicht dran. Ich muss hier für Ordnung sorgen. Ich muss noch eine finden, die sauber macht. Hören Sie auf mit Ihrem Getue.«

»Dann werde ich Anzeige gegen Sie erstatten wegen tätlicher Misshandlung. Ich werde mit dem Mädchen sofort zur Polizei fahren.«

»Tun Sie’s doch. Ist so ein Fürsorgezögling. Entfernte Verwandte von meiner Frau. Hat man ihr was Gutes tun wollen und jetzt dankt sie es einem so. Der Herr Doktor will sich aufspielen«, spottete er. »Werden ja sehen, wer Recht kriegt.«

»Ja, das werden wir sehen«, sagte Dr. Daniel Norden und ging zu seinem Wagen zurück, in dem das Mädchen angstbebend zusammengekauert saß.

»Ich war’s nicht«, wimmerte sie wieder. »Nicht zur Polizei. Dann treiben sie den Dieter auch noch ins Unglück, und Tante Martha kann sowieso nicht gegen ihn an.«

»Frau Zielke ist Ihre Tante?«, fragte Daniel.

»Ja, so etwas ähnliches«, erwiderte das Mädchen stockend.

»Und wie heißt du?«

»Renate Lauterbach. Bitte, Herr Doktor, lassen Sie mich laufen.«

»Nein, mein Kind, du kommst jetzt mit in meine Praxis, und ich werde dich erst mal untersuchen.«

»Er macht Ihnen nur Ärger. Ich will das nicht. Frau Petruschke hat mir immer erzählt, wie gut Sie sind und dass ich doch ruhig mal zu Ihnen gehen könnte, wenn ich Schmerzen habe. Sie hätte ja nicht beim Zielke gekauft. Nur weil der Laden im gleichen Haus war und ich ihr die Sachen immer raufbringen konnte.«

Wie hatte Frau Petruschke in ihrer Sterbestunde gesagt? »Die Rena, wenn sich doch einer ein bisschen um die Rena kümmern würde, sie ist so ein gutes Kind.«

Jetzt klang es wieder in seinen Ohren. Jetzt wusste er, wen sie gemeint hatte.

»Frau Petruschke ist heute Morgen gestorben«, sagte er leise. »Ich kam gerade von ihr.«

Rena begann zu schluchzen. Leise, jammervoll, als hätte sie den liebsten Menschen der Welt verloren.

»Sie hätte nie geglaubt, dass ich stehle«, stammelte sie.

»Ich glaube es auch nicht, Rena«, sagte Dr. Norden, und da sah ihn das Mädchen aus tränenvollen Augen mit einem Blick an, der ihm durch und durch ging.

»Danke, Herr Doktor.«

Molly schaute sehr verwundert, als Dr. Norden mit dem Mädchen kam. Helga Moll, die überaus verlässliche Hilfe, fragte leise: »Unfall?«

Dr. Norden schüttelte den Kopf. Er schob Rena mit sanfter Gewalt in das Sprechzimmer, als sie verschüchtert zur Tür zurückwich, weil ein Mann mittleren Alters aus dem Wartezimmer kam und hastig sagte: »Bitte, geben Sie mir meine Spritze, Herr Doktor. Ich halte es heute gar nicht mehr aus.«

Ein paar Minuten musste Rena warten. Herr Popp litt unter heftigen Ischiasschmerzen, und er übertrieb nicht, wenn er so kläglich sagte, dass er es kaum noch aushalten könne.

»Sie müssen zur Kur, Herr Popp«, erklärte Dr. Norden, »unbedingt.«

»Kann ich nicht, Herr Doktor. Nachher verliere ich meine Stellung. In der jetzigen Situation wird man doch ganz rasch abserviert, wenn einem was fehlt.«

Ja, die Existenzangst! Es war noch gar nicht so lange her, dass die Angestellten wegen der geringfügigsten Beschwerden krankgeschrieben werden wollten, jetzt schleppten sie sich sogar mit starken Schmerzen und manchmal auch mit Fieber an ihre Arbeitsplätze.

Herr Popp war immer ein gewissenhafter Buchhalter gewesen. Dr. Norden kannte auch seinen Chef, und er beschloss, einmal mit dem zu sprechen.

Die Spritze verschaffte Erleichterung, heilen konnte sie nicht. Herr Popp enteilte. Dr. Norden konnte sich Rena zuwenden. Molly bedeutete ihm zwar, dass das Wartezimmer voll sei, aber Daniel wollte das verängstigte Mädchen nicht länger auf die Folter spannen.

»Wie alt bist du, Rena?«, fragte er.

»Achtzehn«, erwiderte sie leise.

Dr. Norden war bestürzt. Sie sah aus wie eine Fünfzehnjährige. »Dann muss ich Sie sagen«, meinte er, sich zu einem Lächeln zwingend.

»Nein, nein, alle sagen du«, flüsterte sie.

Sie war voller Hemmungen, wurde abwechselnd rot und blass, als sie ihre Kleidung ablegte. Sie schlug die Augen nieder. Ihre Arme und ihr Rücken wiesen eine ganze Anzahl blauer Flecke auf.

»Im Laden stößt man sich oft«, erklärte sie bebend, als er fragte, wie sie dazu gekommen sei.

Man konnte dieses Mädchen nicht in ein paar Minuten ausfragen. Dazu brauchte es Zeit und Diplomatie. Man konnte sie auch nicht wegschicken. Wohin sollte sie gehen? Das alles musste er in Erfahrung bringen.

Er telefonierte zu seiner Wohnung hinauf. Fee meldete sich. Sie fragte sofort nach Frau Petruschke, und er spürte, wie bekümmert auch sie war, als er ihr die traurige Nachricht geben musste. Dann fragte er sie, ob er ihr einen Schützling hinaufschicken könne.

Fee fragte nie viel, wenn er eine Bitte äußerte. Ein paar Stichworte genügten ihr. Selbst Ärztin war sie zu jeder Hilfeleistung sofort bereit.

Molly begleitete das Mädchen hinauf zum Penthaus, während Dr. Norden schon den nächsten Patienten versorgte.

Fee begrüßte das Mädchen freundlich, das die bezaubernde junge Frau andächtig anblickte.

»Herr Doktor war so nett«, flüsterte Rena, »aber ich möchte Sie nicht belästigen, gnädige Frau.«

»Sie belästigen mich nicht«, erwiderte Fee. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie mir sogar ein bisschen helfen.«

»Ja, gern«, sagte Rena. Fee hatte immer das richtige Gefühl, wie man Menschen über Hemmungen hinweghelfen konnte. Bei Rena würde das zwar sehr schwierig sein, da sie eigentlich nur aus Komplexen bestand, aber ein Anfang war schon gemacht.

Voller Entzücken betrachtete Rena dann den kleinen Danny, der in seinem Kinderwagen auf der Dachterrasse in der Sonne strampelte und juchzte.

»Ist der süß«, sagte sie.

»Sie mögen Kinder?«

Rena nickte. »Ich wäre gern Kindermädchen geworden, aber Tante Martha hat gesagt, dass sie mich im Geschäft brauchen, und die von der Fürsorge haben das ja gewollt.«

Fürsorge? Tante Martha? Wie passte das zusammen?

Na, das werden wir schon noch erfahren, dachte Fee und ließ Rena ein paar Minuten allein, um Lenchen, die in der Küche wirtschaftete, zu informieren, dass das Mädchen da wäre, sonst war die gute Alte wieder tief gekränkt.

Als Fee zurückkam, stand Rena noch immer am gleichen Fleck.

»Ich habe nichts angerührt«, stammelte sie.

Guter Gott, was haben sie denn mit diesem armen Kind gemacht, ging es Fee durch den Sinn.

»Wir hängen jetzt die Babywäsche auf den Trockner«, schlug sie vor.

»Das kann ich doch machen, gnädige Frau«, sagte Rena. »Ich kann es. Tante Martha ist sehr eigen.«

»Wer ist denn Tante Martha?«, fragte Fee nebenbei.

»Frau Zielke. Wissen Sie, die jetzt den Supermarkt haben.«

Fee hob leicht die Augenbrauen. Dieser Unsympath, dachte sie, das ist der Onkel von der Kleinen? Aber sie sprach nicht von einem Onkel, sondern nur von einer Tante.

»Hast du dort auch verkauft?«, fragte Fee.

»Nein, nur aufgeräumt und saubergemacht. Es ist ja auch Selbstbedienung. Aber ich habe kein Geld genommen, das habe ich dem Herrn Doktor schon gesagt, und er hat mir auch geglaubt. Herr Doktor hat auch mit Herrn Zielke gesprochen.«

Es dauerte noch eine ganze Zeit, bis Rena auftaute. Lenchen brachte Kakao und Hörnchen, aber Rena rührte zuerst nichts an.

»Jetzt wird gegessen«, sagte Fee energisch. »Hast du heute überhaupt schon gefrühstückt?«

Rena schüttelte den Kopf. »Es kam doch der Krach, weil die Kasse offenstand. Aber ich weiß gar nicht, wie man sie aufmacht.«

»Wer weiß es denn?«, fragte Fee nebenbei.

Schweigen folgte. »Es war noch niemand da außer Herrn Zielke. Und ich kann Dieter doch nicht hereinlegen.«

»Wer ist Dieter?«

»Zielkes Sohn. Er ist fünfzehn, sie haben ihn auf ein Privatgymnasium geschickt. Da sind alles Kinder von Reichen, und Dieter findet sich da nicht zurecht. Manchmal braucht er Geld. Ich weiß, dass er an der Kasse war, aber wenn er es selber nicht zugibt, bleibt es doch an mir hängen.«

»Nimmt er öfter was?«, fragte Fee.

Rena senkte den Kopf. »Ich mag ihn eigentlich ganz gern«, murmelte sie. »Er war nie gemein zu mir. Wir sind beide arme Schweine, hat er neulich zu mir gesagt. Entschuldigung für den Ausdruck.«

Sich da ein klares Bild zu machen, war wirklich nicht einfach, aber Rena hatte Vertrauen zu Fee gewonnen, und aus zusammenhanglosen Bemerkungen ergab sich dann eine sehr unerfreuliche Geschichte.

»Du hast keine Eltern mehr?«, fragte Fee.

»Ich bin unehelich«, erwiderte Rena verlegen. »Meine Mama war Tante Marthas Schwester, aber Zielke wollte nicht, dass das jemand erfährt. Aber wie Mama vor drei Jahren gestorben ist, da kam die Fürsorge und hat mit Zielkes geredet, und Tante Martha hat gesagt, dass sie uns im Geschäft schon brauchen könnten und die Mansarde bekam ich als Zimmer. Mit der Schule war ich fertig. Ich hatte auch gute Zeugnisse.«

»Und dann hast du bei den Zielkes gearbeitet«, sagte Fee. »Was alles?«

»Geputzt halt, gewaschen, im Geschäft sauber gemacht und abends aufgeräumt. Ja, gebügelt habe ich auch, was eben alles so kommt.«

»Und was hast du dafür bekommen?«

»Essen und zehn Euro Taschengeld. Tante Martha hat mir manchmal noch ein paar Euro zugesteckt, aber das durfte ihr Mann nicht wissen. Ich hätte so gern was gelernt, wenn ich das sagen darf. Was Richtiges gelernt, damit ich mal wegkomme von da, aber der Fürsorgerin haben sie erzählt, dass ich Verkäuferin werde und gut verdienen kann. Ich durfte doch nichts anderes sagen.«

Sie bot einen trostlosen Anblick in dem verwaschenen Kleid, das selbst für ihren überschmalen Körper zu eng geworden war. Das Gesicht war hager und blutleer, und auch die Lippen hoben sich kaum ab. Die großen Augen waren glanzlos und schwermütig. Ja, erbarmungswürdig sah das Mädchen aus, und auch Fee konnte es nicht glauben, dass sie bereits achtzehn Jahre alt war.

*

Dr. Norden war mit seinen Patienten beschäftigt, aber er nahm sich dennoch ein paar Minuten Zeit, um das Fürsorgeamt anzurufen, und man sagte ihm zu, dass man die Fürsorgerin schicken würde, die Renate Lauterhach betreut hatte.

Der Zielke hatte ihm das Kraut ausgeschüttet mit seiner Gemeinheit. Daniel war in solchen Situationen nicht zu bremsen, und als Molly von dem Zwischenfall erfuhr, blies sie selbstverständlich mit in sein Horn.

Sie meinte allerdings, dass sich die Fürsorge überhaupt nicht mehr einzumischen hätte, da man jetzt mit achtzehn Jahren bereits mündig wäre.

»Aber geklärt werden muss der Fall. Man kann es nicht auf dem Mädchen sitzen lassen, als Diebin aus dem Haus gejagt zu werden. Sie hatte keinen Cent bei sich.«

»Vielleicht hat er nur einen Anlass gesucht, sie loszuwerden, und nachdem sie nun achtzehn ist, kann sich auch das Vormundschaftsgericht nicht mehr einmischen.«

»Nein, da steckt mehr dahinter. Diesmal habe ich es im Gefühl, Molly«, sagte Dr. Norden. »Dieses Mädchen ist behandelt worden wie in früheren Zeiten eine Leibeigene und so eingeschüchtert, dass sie sich nicht gewehrt hat. Und die Fürsorge, die sich in alles einmischt, hat die Augen davor verschlossen.«

Die Frau mittleren Alters, die dann eine Stunde später kam und sich mit dem Namen Erna Gerber vorstellte, machte einen völlig konsternierten Eindruck, als Dr. Norden ihr seine Eröffnungen machte. Sie sah den Arzt fassungslos an.

»Aber die Zielkes leben doch in den besten Verhältnissen, und Renate ist immerhin eine Verwandte«, sagte sie. »Ein etwas schwieriges, kontaktarmes Mädchen, aber sie hat nie Klagen geäußert.«

»Das wäre ihr schlecht bekommen. Ihr wird wohl oft genug vorerzählt worden sein, welch armseliges Leben sie als unehelich geborene Waise fristen müsste, wenn man sie nicht aus Gnade und Barmherzigkeit in der Familie aufgenommen hätte.«

Frau Gerbers Gesicht färbte sich purpurn. »Man kann uns keinen Vorwurf machen. Wir haben kontrolliert, wie sie untergebracht ist, wir haben sie befragt, ob sie Klagen hätte, wir haben nie negative Auskünfte bekommen. Und jetzt ist sie sowieso achtzehn Jahre und kann für sich selbst sorgen.«

»Würden Sie mir bitte sagen, wo und wie?«, fragte Dr. Norden.

»Aber sie hat doch Verkäuferin gelernt. Die werden auch heute noch gesucht.«

»Wir wollen mal eins richtigstellen«, sagte Dr. Norden. »Es geht nicht um Renates Zukunft, im Augenblick nicht. Es geht jetzt darum, dass ich Zeuge war, wie sie als angebliche Diebin aus dem Hause gejagt wurde, und ich erwarte, dass dieser Fall geklärt wird. Haben sich die Zielkes damals angeboten, Renate nach dem Tode ihrer Mutter bei sich aufzunehmen?«

»Nein, das nicht gerade. Frau Zielke wollte nicht, dass bekannt wurde, dass ihre verstorbene Schwester ein uneheliches Kind hatte. Sie sind Geschäftsleute und in manchen Dingen auch noch altmodisch, aber sie zeigten sich dann doch bereit, Renate aufzunehmen, und das war immer noch besser, als wenn das Mädchen in ein Heim gekommen wäre, und eine Pflegestelle findet man für eine Vierzehnjährige schon gar nicht mehr.«

»Sie haben sich nicht überzeugt, dass dieses arme Kind schwere körperliche Arbeit leisten musste, dafür aber nur ein lächerliches, geringes Taschengeld erhielt? Was bekommt denn ein Lehrling während seiner Lehrzeit? Sie brauchen mich nicht zu informieren, ich weiß da Bescheid. Sie ist außerdem misshandelt worden. Ich habe das bei einer Untersuchung festgestellt.«

»Aber sie hätte doch zu uns kommen und mit uns sprechen können«, sagte Frau Gerber.

»Sie hat vor der Fürsorge genausoviel Angst gehabt wie vor den Zielkes und vor einem Heim. Als Arzt muss ich feststellen, dass die fürsorgerischen Pflichten in diesem Fall arg vernachlässigt wurden. Ich werde jedenfalls nachträglich versuchen, Renate zu ihrem Recht zu verhelfen. Vielleicht sollten Sie sich mal um den Dieter Zielke kümmern.«

»Dieter? Aber das ist doch der richtige Sohn. Ihm wird es bestimmt an nichts mangeln.«

»Vielleicht bekommt er zu viel und doch noch nicht genug. Ich werde jetzt Renate herunterkommen lassen, damit Sie sich mit ihr unterhalten können. Ich hoffe jedenfalls, dass Sie Ihren Beruf so ernst nehmen, dass auch von Amts wegen Sorge dafür getragen wird, dass ein junger, einsamer Mensch in ein selbständiges Leben entlassen wird, das er nicht mit einem Makel behaftet beginnen muss. Ich erwarte, dass Herr Zielke seine Anschuldigungen widerruft und sich dafür bei Renate entschuldigt.«

»Wir werden selbstverständlich alles überprüfen«, sagte Frau Gerber.

Renate kam. Fee begleitete sie. Das Mädchen begann zu zittern, als sie Frau Gerber erkannte.

»Ich gehe nicht mehr zurück«, stieß sie hervor. »Frau Dr. Norden hat gesagt, dass ich nicht zurück muss.«

»Du brauchst keine Angst zu haben, Rena«, sagte Dr. Norden. »Ich habe Frau Gerber bereits geschildert, was vorgefallen ist. Sie wird dir jetzt noch einige Fragen stellen, die du beantworten solltest. Du brauchst auch in dieser Beziehung keine Angst zu haben. Wir werden schon etwas für dich finden.«

»Rena wird vorerst bei uns bleiben«, warf Fee ein. »Sie kann Lenchen entlasten.« Dann warf Fee Frau Gerber einen flammenden Blick zu. »Sie können sich die Frage ersparen, ob Rena Geld aus der Kasse genommen hat. Sie hat es nicht.«

»Aber wenn mich nun die Polizei fragt, was soll ich dann sagen?«, fragte Renate leise.

»Die Wahrheit, mein Kind«, sagte Dr. Norden,