Dr. Norden Bestseller 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 4 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

0,0

Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Dr. Daniel Norden war mit einigen Untersuchungsbefunden beschäftigt, die ihm einiges Kopfzerbrechen bereiteten, als Helga Moll, seine Sprechstundenhilfe, an seinen Schreibtisch trat. »Ist noch etwas, Molly?«, fragte er freundlich. »Frau Hollenberg ist eben gekommen. Sie möchte nur ein Rezept. Sie sieht sehr elend aus.« Dr. Norden sah Helga Moll geistesabwesend an. Die Untersuchungsbefunde, mit denen er sich gerade befasst hatte, bezogen sich auf eben diese Frau Hollenberg. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle er düstere Bilder wegwischen. »Einen Augenblick noch«, sagte er heiser. Was hat er nur? dachte Helga Moll. Was mag ihn so sehr beschäftigen, dass er so geistesabwesend ist? Dr. Daniel Norden betrachtete die beiden Karten, die vor ihm lagen. Astrid Hollenberg, zweiundvierzig Jahre alt, Ehefrau des Bankdirektors Matthias Hollenberg, Mutter eines zweiundzwanzigjährigen Sohnes und einer zwanzigjährigenTochter, war noch nicht lange seine Patientin. Doch waren schon zwei Karten mit vielerlei Bemerkungen gefüllt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 157

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dr. Norden Bestseller – 4–

Fast wäre es zu spät gewesen

Patricia Vandenberg

Dr. Daniel Norden war mit einigen Untersuchungsbefunden beschäftigt, die ihm einiges Kopfzerbrechen bereiteten, als Helga Moll, seine Sprechstundenhilfe, an seinen Schreibtisch trat.

»Ist noch etwas, Molly?«, fragte er freundlich.

»Frau Hollenberg ist eben gekommen. Sie möchte nur ein Rezept. Sie sieht sehr elend aus.«

Dr. Norden sah Helga Moll geistesabwesend an. Die Untersuchungsbefunde, mit denen er sich gerade befasst hatte, bezogen sich auf eben diese Frau Hollenberg.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle er düstere Bilder wegwischen.

»Einen Augenblick noch«, sagte er heiser.

Was hat er nur? dachte Helga Moll. Was mag ihn so sehr beschäftigen, dass er so geistesabwesend ist?

Dr. Daniel Norden betrachtete die beiden Karten, die vor ihm lagen. Astrid Hollenberg, zweiundvierzig Jahre alt, Ehefrau des Bankdirektors Matthias Hollenberg, Mutter eines zweiundzwanzigjährigen Sohnes und einer zwanzigjährigenTochter, war noch nicht lange seine Patientin. Doch waren schon zwei Karten mit vielerlei Bemerkungen gefüllt.

Vor vier Monaten hatte man ihn zum ersten Mal in das Haus des Bankdirektors gerufen, einem der schönsten Häuser weit und breit, da hatte Astrid Hollenberg eine schwere Grippe gehabt.

Nein, jetzt hatte er keine Zeit mehr, dies alles zu überdenken. Schnell steckte er die Karten weg, damit Frau Hollenberg sie nicht zufällig sah. Gleich darauf betrat sie das Sprechzimmer.

Vor vier Monaten war sie, trotz der Grippe, eine auffallend schöne Frau gewesen, jetzt war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, eher mager als schlank zu nennen, durchsichtig blass, die Augen tief umschattet.

Daniel Norden war aufgestanden und schob ihr schnell einen Stuhl hin. Er sah, dass ihre Hände zitterten und sich Schweißtropfen auf ihrer Stirn bildeten. Sprechen konnte sie momentan gar nicht.

»Es geht Ihnen nicht gut«, stellte er fest. »Warum haben Sie mich nicht rufen lassen?«

»Es braucht niemand zu wissen, dass ich mich nicht wohl fühle«, erwiderte sie bebend. »Übermorgen wollen wir die Verlobung meiner Tochter feiern, da muss ich wohlauf sein. Bitte, verschreiben Sie mir ein Medikament, das mir wenigstens über die paar Tage hinweghilft.« Müde und kraftlos klang ihre Stimme.

Sie gehört ins Bett, dachte Daniel Norden, besser noch gleich in eine Klinik. Er konnte die Befunde nicht vergessen. Es musste etwas geschehen. Das konnte und durfte er ihr nicht verheimlichen.

Und er wusste doch nicht, wie er anfangen sollte, als die schönen kummervollen Augen ihn anblickten.

»Bitte, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Es muss doch etwas geben, das mich von diesen grässlichen Schmerzen befreit.«

»Vorübergehend ja«, erwiderte er. »Aber wie lange ein solches Mittel wirkt, ist von Fall zu Fall verschieden. Ist Ihre Gesundheit nicht wichtiger als die Verlobungsfeier? Ihre Tochter würde das doch sicher einsehen.«

»Trixi schon, aber soll ich ihr denn alles verderben? Sie ist jung, sie freut sich so sehr. Sie ist glücklich. Und auch mein Mann hat an unserem zukünftigen Schwiegersohn nichts auszusetzen. Er würde denken –«, sie unterbrach sich und blickte auf ihre Hände, die sich fest ineinander verschlungen hatten.

»Was würde er denken?«, fragte Dr. Norden behutsam.

»Dass ich diese Verlobung hintertreiben will. Ich bin nicht so ganz damit einverstanden damit wie er«, flüsterte sie.

Das allerdings waren nun sehr private Dinge, in die er sich nicht einmischen konnte und wollte, aber Astrid Hollenberg war seine Patientin. Er trug die Verantwortung für sie.

»Ich werde Ihnen jetzt eine Injektion machen, die Ihnen helfen wird«, sagte er. »Aber dann müssen wir uns doch noch unterhalten, gnädige Frau.«

Sie nickte automatisch. Schnell hatte Daniel die Injektion aufgezogen und ebenso schnell gespritzt.

»Bleiben Sie liegen«, sagte er, »ruhen Sie sich ein bisschen aus, bis die Wirkung eintritt.«

Sie nickte wieder.

Er lehnte sich in seinen Sessel zurück.

»Ich halte eine klinische Untersuchung für dringend erforderlich«, sagte er. »Bitte, erschrecken Sie nicht, es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Meine Mittel reichen nicht aus, um die Ursache Ihrer Schmerzen festzustellen. Es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass die Blutsenkung und das Blutbild zu äußerster Vorsicht mahnen.«

Er beobachtete sie, während er dies sagte. Die tiefe Resignation, die ihr Gesicht anfangs so schmerzzerrissen erscheinen ließ, schwand mehr und mehr. Ihre Augen bekamen wieder Glanz.

»Es geht mir schon viel besser«, sagte sie. »Warum haben Sie mir dieses Mittel nicht schon längst gespritzt? Es hilft doch. Ja, es hilft!«

Ihre Stimme war lauter und kräftiger geworden, auch freudiger, obgleich doch ein leiser Vorwurf in ihr schwang.

»Es ist ein Betäubungsmittel, das unter Umständen Süchtigkeit nach sich ziehen kann«, erklärte Dr. Norden, »ich habe es Ihnen nicht gegeben, damit Sie die Verlobung gut überstehen, sondern von den quälenden Schmerzen befreit werden. Aber ich denke, dass Sie sich nicht nur betäuben, sondern gesund werden wollen. Deshalb möchte ich Sie nochmals eindringlich ermahnen, auf meinen Rat zu hören und sich einem Facharzt anzuvertrauen.«

»Welchem?«, fragte sie.

Daniel zögerte. »Dr. Gordon«, sagte er.

»Was ist das für ein Arzt?«

Die Frage hatte er gefürchtet, da ihr der Name nicht bekannt war.

»Ein Neurochirurg.«

Ihre Augen weiteten sich. Sie wirkten riesengroß in dem schmalen Gesicht.

»Ich bin doch nicht nervenkrank«, sagte sie bebend. »Ich bilde mir diese Schmerzen nicht ein.«

»Das soll damit nicht gesagt sein. Ich nehme an, dass ein Gliom diese Schmerzen bewirkt. Es kann durchaus ein gutartiges Gliom sein, das auf das Nervensystem drückt, aber wenn Sie nicht davon befreit werden, werden die Schmerzen immer schlimmer.«

»Immer schlimmer«, wiederholte sie schleppend. »Noch schlimmer? Aber jetzt geht es mir doch gut. Ich spüre gar nichts mehr.« Sie lachte auf. »Kommen Sie zu der Verlobungsparty«, fuhr sie heiter fort. »Überzeugen Sie sich, wie gut es mir geht.«

Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, ihre Augen glänzten. Sie glänzten unnatürlich, aber das würde wohl nur ein Arzt bemerken. Doch aller Charme, der sie in gesunden Tagen so begehrenswert machte, zeigte sich auch jetzt. »Und meinetwegen bringen Sie auch Ihren Neurologen mit, wenn Sie ihn so gut kennen. Ja, es würde mich freuen, Sie bei uns begrüßen zu können.«

Sie kramte in ihrer Handtasche, nahm eine Büttenkarte heraus und sagte nahezu euphorisch: »Bitte, da ist die Einladung.«

Sie sprach phantastisch auf dieses Medikament an, aber Dr. Daniel Norden wusste nur zu gut, dass seine Wirkung nicht länger als vierundzwanzig Stunden anhalten würde. Er ließ sich nicht so täuschen von ihren beschwingten Schritten wie Molly.

»Nanuchen?«, fragte sie verdutzt, »sind Sie unter die Wunderheiler gegangen? Vorhin konnte sich Frau Hollenberg doch kaum aufrecht halten.«

Er sagte einen Namen, und da wurde die gute Molly blass.

»Guter Gott«, seufzte sie, »und was kommt danach?«

»Meiner Meinung nach nur eine Operation, und dann können wir nur hoffen, dass sie gelingt.«

»Dann waren es ihre Befunde, über denen Sie so gebrütet haben?«, kombinierte sie.

»Ja, Molly, und jetzt ist mir mies. Sie wollen übermorgen die Verlobung ihrer Tochter feiern, und dazu hat sie mich auch noch eingeladen.«

»Was werden Sie tun?«

Er überlegte ein paar Sekunden. »Hingehen, um eventuell das Schlimmste zu verhindern. Und jetzt werde ich gleich mal Michael Gordon anrufen und ihn fragen, ob er nicht mit von der Partie sein will.«

*

Dr. Michael Gordon war seit vier Monaten Chefarzt an der Neurochirurgischen Klinik. Vom gleichen Jahrgang wie Dr. Norden, hatte er bereits eine steile Karriere gemacht, die er allerdings keiner Protektion, sondern seinen besonderen Fähigkeiten verdankte. Dazu war er ein sehr interessanter Mann, bei dessen Erscheinen in dieser Klinik sogleich die Herzen aller Schwestern höher geschlagen hatten, auch das Herz der Narkoseärztin Cornelia Kuhlmann, deren Herz allerdings leicht entflammbar war.

In diesen vier Monaten war es allerdings keiner gelungen, diesem ernsten Männergesicht auch nur ein einziges Lächeln zu entlocken.

Das gelang nur kranken Kindern, die ihm anvertraut waren. Wenn Dr. Gordon mit ihnen allein war, entfaltete sich der ganze Gefühlsreichtum dieses Mannes, der sich diesem Beruf verschrieben hatte, weil er hatte miterleben müssen, wie seine jüngere, über alles geliebte Schwester an einem inoperablen Gehirntumor gestorben war.

Mit aller Leidenschaft und innerer Beteiligung wollte er solchen Leiden Einhalt gebieten, helfen und heilen, wo andere schon aufgegeben hatten. Aber immer und immer wieder musste er die deprimierende Erkenntnis gewinnen, dass auch noch so heißes Helfenwollen seine Grenzen hatte. Das hatte ihn über seine Lebensjahre hinaus ernst und reif gemacht. Ein Privatleben kannte er kaum. Ab und zu traf er sich mit Daniel Norden, aber als dieser ihn anrief, um ihn zu einer Party einzuladen, war er doch verwundert.

»Was soll ich da, Daniel?«, fragte er.

»Das erkläre ich dir. Es hat seinen guten Grund. Es geht um eine Patientin. Ich brauche deine Hilfe. Michael.«

Seine Hilfe versagte er niemandem, und er wusste mittlerweile auch, dass Daniel genauso wenig an Partys gelegen war wie ihm. Daniel war schließlich verlobt, und ihm stand der Sinn nicht nach Amüsements.

»Komm vorher noch auf einen Drink zu mir, dann erkläre ich dir das Wichtigste«, hatte Daniel gesagt. »Wir fahren gemeinsam hin.«

Der Freitagabend war herangekommen. Michael Gordon war recht müde von einem anstrengenden Arbeitstag, einer schweren Operation, die allerdings so günstig verlaufen war, dass er einen zufriedenen Eindruck machte.

Daniel servierte ihm dann noch seinen Wundercocktail, der kolossal belebend wirkte. In seiner Gesellschaft war Michael auch lebhafter als sonst.

»Willst du mir jetzt nicht erklären, warum du mich unbedingt auf dieses Fest schleppen willst?«, fragte er. »Wohin geht es eigentlich?«

»Zu Bankdirektor Hollenberg. Seine Tochter verlobt sich heute.«

Der Name sagte Michael nichts. Sein schmaler gutgeschnittener Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln.

»Braucht sie dafür ärztlichen Beistand?«, fragte er.

»Nein, es handelt sich um ihre Mutter. Die sollst du dir genau anschauen. Ich will vorher nichts sagen. Du sollst ganz unbefangen sein. Ich kann mich schließlich auch täuschen.«

»Du hast aber schon eine Diagnose gestellt«, sagte Dr. Gordon nachdenklich.

»Über die reden wir später.«

Während sie sich auf den Weg machten, trafen im Hause Hollenberg schon die ersten Gäste ein. Einige wollten sich gar nichts entgehen lassen von diesem gesellschaftlichen Ereignis.

Gemunkelt wurde genug über die Hollenbergs in letzter Zeit. In der Ehe sollte es kriseln, der Sohn sollte sich zu einem Playboy entwickeln, und die Tochter Beatrice wurde häufig mit dem einzigen Sohn des steinreichen Industriellen Brugger gesehen.

Vor allem die jungen Damen unter den Geladenen wollten es ganz genau wissen, ob es ernst wurde zwischen den beiden, denn manch eine war unter ihnen, mit der Rolf Brugger auch schon einen heißen Flirt gehabt hatte.

So waren Neugierde, Neid und Missgunst die hauptsächlichen Gefühle bei den Damen, verdeckt von scheinfreundlichen Mienen.

Beatrice Hollenberg, meist nur Trixi genannt, war ein bezauberndes Geschöpf. Sie war viel zu natürlich und unverdorben, um auch nur entfernt zu ahnen, von welchen Empfindungen die Gäste bewegt waren. Sie machte allerdings nicht den strahlend glücklichen Eindruck, den zumindest ihr Vater erwartet hatte.

Immer wieder irrten ihre Blicke zu ihrer Mutter, die in einem sehr dezenten, schwarzweiß gemusterten Abendkleid zerbrechlich zart wirkte.

»Mama scheint heute wieder ihre schmerzhafte Migräne zu haben«, raunte Trixi ihrem Zukünftigen zu.

»Launen«, sagte Rolf wegwerfend. »Sie scheint jetzt schon in die Wechseljahre zu kommen. Verdirb mir nicht vollends die Laune mit so was«, sagte er. »Es langt mir schon, dass dein Bruder meine Eltern mit seinem Aufzug schockiert hat.«

Bei Jörg hatte alles Bitten und Zureden nichts genützt. Er lasse sich nicht in solchen Affenfrack zwängen, hatte er aggressiv erklärt.

Wie man auf den Gedanken kommen konnte, Jörg Hollenberg als Playboy zu bezeichnen, war wahrhaft nicht zu ergründen. Dass er zur grauen Hose ein dunkelblaues Samtjackett angezogen hatte, war das äußerste Zugeständnis, das er seiner Mutter gemacht hatte. Am liebsten wäre er der Party überhaupt ferngeblieben. Die feindseligen Blicke, die er seinem zukünftigen Schwager zuwarf, ließen deutlich darauf schlie­ßen, dass dieser ihm als Familienmitglied mehr als unwillkommen war.

Ja, Rolf Brugger konnte man schon eher als Playboy bezeichnen. Natürlich trug er den extravagantesten Abendanzug, der überhaupt aufzutreiben gewesen war.

Astrid Hollenberg hielt sich an der Seite ihres hochgewachsenen, sehr imponierend wirkenden Mannes mühsam aufrecht. Bis vor einer Stunde hatte sie sich noch so wohl gefühlt, dass sie Dr. Nordens Prognose Lüge gestraft hätte, aber schlagartig machte sich bei ihr nun ziemlich schnell fortschreitende Erschöpfung bemerkbar, die auch ihrem Mann nicht entgehen konnte, obgleich er damit beschäftigt war, Hände zu schütteln und den Damen Komplimente zu machen.

Er war schon immer ein blendender Gastgeber gewesen, und bis vor einigen Monaten hatte man ihn und seine Frau als »das« Paar bezeichnet. Jetzt aber wurde wieder getuschelt.

Dr. Norden und Dr. Gordon kamen zuletzt. Astrid zuckte leicht zusammen, als sie eintraten. Daniel hatte es bemerkt.

Ob sie vergessen hat, dass sie uns eingeladen hat? ging es ihm durch den Sinn. Er sah Michael an, aber dessen Blick war nicht erreichbar. Er ruhte auf Beatrices Gesicht. Sie stand mitten im Raum, an der Seite ihres Verlobten, denn so konnte man ihn jetzt wohl doch schon bezeichnen, aber jetzt schien sie wie erstarrt.

Als die beiden Männer eingetreten waren, hatte sie zufällig zur Tür geblickt, und dann hatte sich ihr Blick in dem von Michael Gordon verfangen. Sie stand da, in ihrem zartgelben Chiffonkleid, blauschwarzes Haar umgab ihr elfenbeinzartes Gesicht. Sie verkörperte alles in sich: Anmut, Jugend und trotz dieser schon Persönlichkeit.

Es war unmöglich, sie zu vergessen, wenn man sie einmal gesehen hatte. So jedenfalls dachte Michael Gordon, denn er sah sie heute nicht zum ersten Mal. Er hatte nur nicht daran geglaubt, dieses Mädchen noch einmal zu sehen, dem er vor mehr als einem Jahr auf dem Champs Elysees in Paris begegnet war.

»Ich möchte dich jetzt den Hollenbergs vorstellen, Michael«, sagte Daniel, doch der Arzt hörte es nur im Unterbewusstsein.

»Wer ist das? Warum starrt dich dieser Mann so an?«, zischte Rolf Brugger indessen Trixi zu.

»Dr. Norden hat einen Freund mitgebracht«, erwiderte das Mädchen tonlos. »Ich weiß seinen Namen nicht.«

Aber auch sie wusste, wo sie ihn gesehen hatte. Sofort hatte sie es gewusst. Blitzartig hatte sich das Bild vor ihre Augen geschoben. Jener Frühlingstag in Paris. Allein war sie durch die Stadt gebummelt, an der Seine entlang und dann auf dem Champs Elysees hatte sie diesen Mann getroffen. Traumverloren, erfüllt von all dem Schönen, was sie in diesen Tagen gesehen hatte, war sie mit ihm zusammengestoßen. Ein paar Sekunden lang hatte sie an seiner Brust gelegen, seine Hände hatten ihre Arme umschlossen, der Blick aus dunklen Männeraugen hatte sie in tiefste Verwirrung gestürzt. Und dann, plötzlich, hatte die Stimme ihres Vaters ihren Namen gerufen. Hastig hatte sie sich von diesem Mann gelöst und war weggelaufen, um es später lange zu bereuen.

Und nun war er hier, hatte sie angesehen mit dem gleichen Blick wie damals, und nun neigte er sich über die Hand ihrer Mutter.

»Entschuldige«, sagte sie gedankenlos zu Rolf. »Ich muss mich um Mami kümmern.«

»Ein schönes Fest«, sagte er ironisch. »Kümmere dich, aber vergiss nicht, dass heute unsere Verlobung bekanntgegeben werden soll.«

Trixi gelangte in dem Augenblick zu ihrer Mutter, als diese flehend sagte: »Bitte, geben Sie mir noch einmal eine solche Injektion, Herr Doktor. Nur noch eine.«

Und dann sah sie, wie ihre Mutter schwankte, wie Dr. Norden sie auffing. Sie dachte jetzt nicht mehr an jenen Fremden. Sie dachte nur noch an ihre geliebte Mami. Und da war auch schon Jörg zur Stelle.

»Mami«, stieß er heiser hervor.

Dr. Norden und Dr. Gordon stützten Astrid Hollenberg. Fast unbemerkt konnten sie sie zu ihrem Zimmer bringen, dessen Tür Trixi bereits geöffnet hatte.

Daniel trug die Halbohnmächtige zum Bett. Trixi stand mit tränenerfüllten Augen an der Tür. Verschwommen sah sie jetzt Michaels Gesicht.

»Was fehlt Mami?«, fragte sie ent­setzt.

»Ihre Mutter ist sehr krank«, erwiderte Dr. Gordon, und in diesem Augenblick schob er die Erinnerung an jenen Augenblick, der bis zum heutigen Tag seinen Zauber für ihn nicht verloren hatte, beiseite.

»Bitte, lassen Sie uns jetzt mit Ihrer Mutter allein«, sagte er leise.

*

Es wurde nichts mit der Verlobung. Matthias Hollenberg war wie vor den Kopf gestoßen, als Jörg ihn von der Gesellschaft wegholte.

»Krank? Astrid ist krank?«, fragte er.

»Du hast ja ein Brett vor dem Kopf«, sagte Jörg erbittert. Er bekam aber keinen Verweis für diese Bemerkung.

Sein Vater machte sich Vorwürfe in mancherlei Hinsicht. Er wurde kalkweiß, als Dr. Norden ihm eröffnete, dass seine Frau sofort in die Klinik gebracht werden müsse.

»Ich dachte doch, dass es nur Migräne sei«, stotterte der sonst so selbstsichere Mann.

Was es nun wirklich war, ließ sich nicht mit ein paar Worten erklären. Matthias Hollenberg hätte es auch gar nicht begriffen. Er hielt die Hand seiner Frau und flüsterte: »Es wird schon alles gut werden, Astrid.« Aber sie hörte es nicht mehr.

»Schmeiß doch diese Gesellschaft hinaus«, stieß Jörg erbittert hervor.

»Was soll ich denn sagen?«, fragte Matthias Hollenberg heiser.

»Die Wahrheit, Vater, nichts als die Wahrheit. Dass deine Frau sich mühsam auf den Beinen gehalten hat, um dieses makabre Schauspiel nicht zu gefähr­den.«

Makaber, dachte Dr. Gordon, aber rasch wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Kranken zu, Trixi saß zusammengekauert auf dem Teppich. Sie zuckte zusammen, als eine laute Stimme ertönte, die nicht zu überhören war.

»Was ist nun eigentlich los?«, tönte Rolf Bruggers Stimme empört durch die Tür. »Hat sich die Familie zur Beratung zurückgezogen?«

Jörg stieß ihn zurück, als er in derTür erschien. »Die Gesellschaft ist aus«, sagte er rau. »Unsere Mutter ist in der Klinik.«

Rolf besann sich auf die Formen. »Verzeihung«, sagte er, »warum werde ich nicht informiert?«

»Weil dazu noch keine Zeit war. Ich werde es hochoffiziell besorgen«, erklärte Jörg.

Er nahm alle Kraft zusammen, aber die Beherrschung verließ ihn dann doch wieder, als Rolf nach Trixi rief.

»Lass sie in Ruhe. Ihr ist nicht nach Verlobung zumute.«

»Ruhe«, stöhnte Matthias Hollenberg.

Jörg ging zu den Gästen. Und während er mit zitternder Stimme die Situation erklärte, hörte man draußen schon die Sirene des Krankenwagens.

*

So falsch die freundlichen Mienen der Gäste beim Erscheinen zum größten Teil gewesen waren, so gemischt waren sie beim Gehen. Es war schon ein gewaltiger Schock gewesen, dass die Gesellschaft unter solchen Umständen aufgelöst wurde. Auch das Mitgefühl mit Astrid war teilweise nicht echt, manche aber waren erschüttert. Der erwartete Höhepunkt des Abends aber, die Verkündigung der Verlobung, hatte nicht stattgefunden, darüber empfanden einige junge Damen Schadenfreude. Wenn man in alle hätte hineinsehen können, die nun die prächtige Villa verließen, hätte sich wohl auch Matthias Hollenberg gefragt, ob sein Geld keine bessere Verwendung finden könne, als das zu repräsentieren, was ihm so viel bedeutete.

Ansehen und Reichtum!

Dieser Abend machte ihm deutlich, dass es Wichtigeres gab. Schließlich war er seit dreiundzwanzig Jahren mit Astrid verheiratet. Überaus glücklich, wie er selbst immer gemeint hatte. Dass auch ihre Ehe zur täglichen Gewöhnung geworden war, musste ihm durch diesen Schicksalsschlag klargemacht werden.

Hatte er nicht auch so manches liebe Mal gedacht und auch gesagt, dass Astrid launenhaft sei, dass sie ihm die Freizeit verderbe mit ihren ewigen Kopfschmerzen? Hatte das nicht bewirkt, dass er öfter abends ausging als früher, dass er sich manchen kleinen Flirt gestattete?