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Dem Herzen zu folgen kann auf Abwege oder zum großen Glück führen.
Everly ist für ihre Recherche weitaus tiefer in die Welt illegaler Straßenrennen eingetaucht als geplant. Die Situation eskaliert, als sie bei einem der Rennen angefahren und verletzt wird. Case ist erschüttert, doch nicht nur aus Angst, Everly zu verlieren. Er versteht, dass die Tat vor allem ein Warnschuss für ihn war, sich nicht gegen seine Peiniger zu stellen.
Case und Everly müssen einen Ausweg finden, nicht für Ruhm oder für einen Artikel, sondern für ihre gemeinsame Zukunft. Zusammen mit ihren engsten Verbündeten stellen sie sich den Schatten der Vergangenheit, die dunkler sind, als sie erwartet hatten. Und je tiefer sie graben, desto gefährlicher wird es …
"Dreams Fly High" ist der zweite Band der "Case & Everly"-Dilogie von Katharina Pikos. Es ist ein spannender New Adult Liebesroman über die Hoffnung auf gemeinsame Freiheit am Ende der Strecke.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
CASE & EVERLY
BUCH 2
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Katharina Pikos
Cover: Zeilenfluss
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat:
Dr. Andreas Fischer,
TE Language Services – Tanja Eggerth
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-495-6
Für alle, die ihren Weg noch nicht gefunden haben.
Gebt nicht auf!
Ich bin mir sicher, ihr seid dem Richtigen auf der Spur!
Highway to Hell – AC/DC
Rusted from the Rain – Billy Talent
Gangsta’s Paradise – Coolio
Holding out for a Hero – Bonnie Tyler
Drop it like it’s hot – Snoop Dogg & Pharrell Williams
HUMBLE. – Kendrick Lamar
goosebumps – Travis Scott
Perfect – Ed Sheeran
Closer to the Edge – Thirty Seconds to Mars
Candy Shop – 50 Cent
Smells like Teen Spirit – Nirvana
Karma – Taylor Swift
»Eins wird dir jeder richtige Rennfahrer sagen:
Ob du einen Inch oder eine Meile Vorsprung hast –
gewonnen ist gewonnen.«
Dominic Toretto
Die Bremsen meines Hondas quietschten, sobald meine Füße gleichzeitig auf das Bremspedal und die Kupplung schnellten. Eine Vollbremsung in diesem Ausmaß hatte ich bislang nie hingelegt.
Selbst damals nicht …
Aber sobald ich sie über die Motorhaube fliegen sah, als wäre sie eine Stoffpuppe, reagierte mein Körper instinktiv. Ich hastete aus dem Wagen und eilte zu ihr, die reglos auf dem Boden lag. Mit den Händen fuhr ich ihr vorsichtig über die Wangen. »Everly«, krächzte ich und bemühte mich um einen mäßigen Ton. Das Letzte, was ich wollte, war, sie zu beunruhigen. »Kannst du mich hören?«
Sie antwortete nicht, sondern lag still da. Blass, mit geschlossenen Augen. Wie tot. Langsam, aber sicher schlich sich die Panik an und versuchte, Besitz von mir zu ergreifen. Nein! Jetzt nicht! Ich durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Bewusstes Atmen half mir, in der Realität zu bleiben und nicht durchzudrehen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, doch ich ignorierte es und lehnte mich vor zu ihrer Brust, um ihren Herzschlag zu hören.
Er war da! Schwach und leise zwar, aber er war da!
Sofort zog ich mein Smartphone aus der Hosentasche und wählte mit zitternden Fingern den Notruf. Schon wieder. Wie oft würde ich diese Nummer noch wählen müssen?
Der Mann am anderen Ende der Leitung versprach, dass Hilfe unterwegs sei. Ich solle mich kurz gedulden und sie auf keinen Fall alleine lassen.
Fast hätte ich gelacht. Als wäre mir das möglich gewesen.
Ich strich über ihre Haare und redete leise auf sie ein. Ob ich damit sie oder mich beruhigen wollte, wusste ich nicht. Es spielte keine Rolle.
Meine Sicht verschwamm, als ich bemerkte, dass sich der Asphalt allmählich mit dem Blut färbte, das unter ihrem Kopf hervorsickerte.
Die Verzweiflung in mir wurde unerträglich. Wann würde endlich Hilfe kommen?
Tropfen fielen auf meine Hände. Passenderweise hatte es anscheinend zu regnen begonnen. Ich sah nach oben in den Himmel, wo ich durch den Smog der Stadt keinerlei Sterne erkennen konnte. Doch es regnete nicht. Erst dann bemerkte ich, dass es Tränen waren, die unablässig aus meinen Augen strömten.
»Bitte, bitte«, flehte ich mit brechender Stimme, »bitte, bitte, lasst sie nicht sterben.« Ich wusste nicht, an wen sich mein Wunsch richtete, aber das war unwichtig. Hauptsache, er wurde erhört.
Endlich vernahm ich das Geheul der Sirenen, das sich aus der Ferne näherte. »Hilfe ist gleich da, Everly«, beschwor ich sie und nahm ihre leblose Hand in meine, »halte durch, gleich hast du es geschafft.«
Auf eine Antwort wartete ich vergeblich.
Sobald ich durch die Drehtür war, schüttelte ich schnaubend den Kopf und fragte mich, was ich hier überhaupt wollte.
Die Eingangshalle war mit hellgrauen Fliesen ausgelegt, über die ein Haufen Leute eilten. Einige in Uniform, manche in Begleitung einer weiteren Person in Handschellen, ein paar Bürger und Polizisten in Zivilkleidung. Man erkannte Letztere an ihren aufmerksamen Mienen. Das hatten scheinbar alle Cops gemein: diesen stechenden Blick, dem nichts entging.
Das Revier wirkte überhaupt nicht so, wie es in meiner Lieblingsserie Brooklyn Nine-Nine dargestellt wurde, was mich einerseits nicht wunderte. Andererseits war ich überraschend enttäuscht, dass mich weder ein Detective Peralta noch ein Captain Holt empfing. Mir war klar, dass ich mich im wahren Leben befand und nicht in einer Sitcom. Aber momentan wünschte ich, ich könnte wie bei der Serie die Pause-Taste drücken und für einen Moment durchatmen, ohne Angst haben zu müssen, dass die nächste Katastrophe folgte.
Warum genau ich hier war, wusste ich nicht. Schließlich hatte ich meine Aussage zu dem Unfall bereits bei dem jungen Polizisten zu Protokoll gebracht, der zuerst an der Unfallstelle angekommen war. Was also wollte ich hier? Vielleicht meine Aussage berichtigen, in der ich angegeben hatte, ich wüsste nicht, wer Everly angefahren hatte? Meine Angst vor Sunnys Zorn, wenn sie erfuhr, dass ich den Cops von ihr erzählte, war zu groß. Aber ich musste anfangen, die Dinge zu regeln. Womöglich war es an der Zeit, es endlich auf die richtige Art zu machen. Scheiß auf Sunnys Zorn! Oder?
Aber meine Beine bewegten sich nicht. Noch immer stand ich vor der Eingangstür und haderte mit mir selbst.
»Stell dich doch nicht so in den Weg, du Kind, du!«, rief eine Frau mit rauer Stimme hinter mir und drängte sich an mir vorbei, wobei sie mir nicht nur einen, sondern mehrere Schubser mitgab. »Wir haben nicht alle ewig Zeit auf dieser Erde!«
Ich wollte schon reagieren und sagen, dass sie aufpassen sollte, wie sie mit anderen umging, als ich sah, dass die Frau um Ende achtzig war und auf einen Rollator gestützt zum Empfangstresen eilte. Ich schüttelte erneut den Kopf über mich selbst. Wenn ich ehrlich war, hatte die alte Dame nicht ganz unrecht.
Also folgte ich ihr zögernd in Richtung Empfang und beobachtete die Menschen um mich herum. Ich war mir sicher, alle würden mir ansehen, dass ich in illegale Straßenrennen verstrickt war. Dementsprechend schnell raste mein Puls, was meine Nerven nicht gerade beruhigte. Meine Atmung war ebenfalls viel zu hektisch.
Verdammt! Was tat ich hier? Ich musste schleunigst raus, bevor jemand mitbekam, dass ich in meiner persönlichen Höhle des Löwen war.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine freundliche Stimme hinter mir, wodurch ich mich prompt versteifte. So viel dazu, dass ich unbemerkt wieder aus dem Revier hinauskäme. »Sie sehen ein wenig verloren aus«, fügte sie hinzu und brachte mich so dazu, mich ihr zuzuwenden.
Vor mir stand eine Frau mit grau meliertem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Ihre Gesichtszüge waren weich und der Blick aus ihren braunen Augen herzlich. Anders konnte ich es nicht beschreiben. Sie trug eine schwarze Uniform, die sie als Cop auszeichnete.
»N-nein«, stotterte ich mit klopfendem Herzen und trat ein paar Schritte zurück, »ich wollte gerade gehen. Danke. Schönen Tag noch!« Damit drehte ich mich um und eilte aus dem Police Department.
Sobald mir die schwülwarme Luft in das Gesicht wehte, wurde mir bewusst, wie dämlich meine Reaktion gewesen war. So würde sich die Polizistin mehr an mich erinnern, als wenn ich normal mit ihr gesprochen hätte. Egal, ändern konnte ich es nun sowieso nicht mehr. Mit einem Blick auf mein Smartphone stellte ich fest, dass inzwischen früher Nachmittag war.
Ich musste meinen Kopf frei bekommen. Also lief ich los, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wohin ich wollte. Alles in mir drängte mich, zurück ins Dignity Health zu fahren, in das Krankenhaus, in dem Everly lag. Ich wünschte mir, da zu sein, wenn sie aufwachte. Wenn sie denn aufwachte … Meine Brust wurde eng, als mir in den Sinn kam, dass sie womöglich erst in Wochen, Monaten, Jahren oder … überhaupt nicht mehr aufwachen könnte. Frustriert fuhr ich mir mit den Händen durch die Haare. Ich war mir sicher, dass sie bald die Augen aufschlagen würde.
Doch Cole hatte deutlich gemacht, dass er mich nicht an ihrer Seite haben wollte. Selbst für ihre Eltern war es in Ordnung gewesen, dass ich bei ihr war. Dass ich Everly Gesellschaft geleistet hatte. Zumindest hatte ich das daraus geschlossen, dass sie mich nicht hochkant aus dem Zimmer hatten werfen lassen. Nachdem sie erfahren hatten, dass ich derjenige war, der den Notruf abgesetzt hatte, hatten sie ihre Skepsis mir gegenüber fallengelassen. Diese Menschen waren viel zu nett, was erklärte, weshalb Everly so herzlich war, wie sie nun einmal war. Und das trotz alldem, was sie in ihrer Kindheit durchgemacht hatte.
Ohne es zu bemerken, war ich an der Stelle gelandet, an der ich mein Auto geparkt hatte. Ich zog den Schlüssel aus der Hosentasche, sperrte auf und ließ mich auf den Fahrersitz fallen. Dann kreuzte ich die Arme auf dem Lenkrad und legte meine Stirn darauf ab. Seufzend schloss ich die Augen und fragte mich erneut, wie das letzte Rennen so dermaßen hatte in die Hosen gehen können.
Nachdem Sunny als Einsatz meine Freiheit geboten hatte, hatte mich nichts aufhalten können. Ich war mir sicher gewesen, dass ich als Erster über die Ziellinie rasen würde, und sie mich somit gehen lassen musste. Dass ich endlich frei sein würde von ihrer Tyrannei.
Ich war mir so sicher gewesen.
Wie hatte ich mich nur so täuschen können?
Mein Herz hatte einen, nein, zwei Schläge ausgesetzt, als ich Everly auf der Strecke gesehen hatte. Doch es schlug normal weiter, sobald mir bewusst gewesen war, dass sie sich auf dem Gehsteig nahe der Wohn- und Geschäftshäuser aufgehalten hatte. Womit weder mein Verstand noch mein Herz gerechnet hatte und womit die beiden auch jetzt nicht klarkamen, war die Tatsache, dass Sunny direkt und ohne zu zögern auf sie zugehalten hatte. Dass sie sie absichtlich umgefahren hatte.
Und warum?
Das waren nur Mutmaßungen, doch ich war mir relativ sicher, dass es darum ging, mir zu zeigen, wer der Boss war. Dass ich zwar um meine Freiheit kämpfen konnte, sie jedoch niemals gewinnen würde. Zumindest nicht auf die Art, durch die Rennfahrer wie ich gewannen.
Ich hatte sofort angehalten und war zu Everly gerannt, die regungslos am Boden lag, hatte die Rettungskräfte gerufen und keinen weiteren Gedanken an das Rennen verschwendet. Ich war bei ihr geblieben, bis die Sanitäter sie in den Krankenwagen verfrachtet hatten, in den ich nicht steigen durfte, hatte meine Aussage bei dem jungen Cop abgegeben und war dann mit meinem Auto hinter dem Notarzt hergefahren. Zittrig und vorsichtig, doch ich konnte nicht zurückbleiben.
Mit einem tiefen Atemzug hob ich den Kopf, wo ich mich im Hier und Jetzt wiederfand. Es war schwierig, aus dem Gedankenkarussell zu flüchten, wenn ich einmal darin gefangen war. Daher zündete ich den Motor und fuhr ohne Ziel los. Früher oder später würde ich irgendwo ankommen, und dann konnte ich weitersehen.
Im Radio sangen AC/DC von dem Highway in Richtung Hölle, was mir ein Schmunzeln entlockte. So fühlte sich derzeit jede Strecke an, als würde sie mich mit jedem Kilometer ein wenig tiefer in die Unterwelt ziehen.
* * *
»Was machst du hier, Junge?«, ertönte Moes kratzige Stimme, sobald er mich entdeckte.
Ich konnte nicht länger ziellos durch die Gegend fahren. Das tat ich inzwischen seit fast einer Woche, und es brachte mich nirgendwohin.
»Arbeiten«, erwiderte ich und legte die alte verschlissene Lederjacke ab, die mir von Dad überlassen worden war.
»Mhm«, machte mein Boss und wischte sich die schmutzigen Hände an seinem dunkelblauen Overall ab. »Hatte ich dir nicht gesagt, dass du erst wiederkommen sollst –«
»Wenn sie aufgewacht ist«, unterbrach ich ihn und nickte. »Hast du. Aber ich halte das Nichtstun nicht länger aus.« Seufzend fuhr ich mir mit der linken Hand über den Nacken. »Cole will nicht, dass ich bei ihr bin, was ich ihm ehrlich gesagt nicht verübeln kann.«
»Und das hält dich davon ab?« Moe runzelte seine faltige Stirn und sah mich ungläubig an.
»Es ist meine Schuld, dass sie dort liegt. Dass sie womöglich nicht mehr …« Es war mir nicht möglich, diesen Satz auszusprechen. Sollte es dazu kommen, dass sie nicht mehr aufwachen würde, könnte ich mir das niemals verzeihen. In mir verkrampfte sich alles, doch ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, und fuhr fort: »Es ist meine Schuld, und wenn er mich nicht in ihrer Nähe haben will, respektiere ich das.«
»Junge.« Lange war es her, dass die Stimme meines Chefs so barsch klang. Er kam zu mir und hielt mich an den Schultern, ehe er mir fest in die Augen sah. »Warst du es, der sie angefahren hat?«
Es war unmöglich, seinem Blick auszuweichen. »Nein.« Ich räusperte mich und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«
Seine Finger gruben sich in meine Schultern. »Und wieso zum Geier bist du dann schuld daran, dass sie im Krankenhaus liegt?«
»Weil …«, krächzte ich und bemerkte, wie mir Tränen in die Augen schossen. Doch ich weigerte mich, sie fließen zu lassen, und atmete tief durch, um den Druck in meiner Brust abzuschwächen. »Sie hat Lucas angerufen. Davor. Sie wollte zu mir. Sie wollte mich sehen. Hätte sie mich nicht sehen wollen, würde sie jetzt nicht im Koma liegen.«
»Sagt wer?« Moe sah mich an und schüttelte bedauernd den Kopf. »Wenn Sandra Chen es tatsächlich auf die Kleine abgesehen hat, hätte nichts und niemand sie aufhalten können. Das solltest du doch wissen.«
»Und wieso hat sie es auf sie abgesehen?« Ich erwartete keine Antwort, sondern sprach weiter: »Wegen mir.« Nach einem kurzen, aber festen Atemzug schlussfolgerte ich: »Ergo ist es doppelt meine Schuld.«
»Okay«, erwiderte mein Chef, hob die Arme in einer verzweifelten Geste und ging zurück zu der Hebebühne, auf der ein Toyota aufgebahrt war. »Wenn du dich besser fühlst, bist du halt an allem schuld.«
Obwohl ich davon überzeugt war und wusste, dass er es nur laut ausgesprochen hatte, damit ich meinen Willen bekam, schmerzte es überraschend hart, diese Worte aus seinem Mund zu hören. Ohne darauf zu reagieren, ging ich an ihm vorbei in den hinteren Bereich und zog meinen Arbeitsoverall an.
Wortlos trat ich neben ihn, nahm mir das Klemmbrett, auf dem der Arbeitsauftrag notiert war, und tat endlich etwas mit den Händen, das ich kontrollieren konnte: Autos reparieren.
Es war keine Überraschung, dass ich mich, nachdem mich Moe aus der Werkstatt geworfen hatte, vor dem Krankenhaus wiederfand, dessen Fassade aus roten Backsteinen bestand.
Ich respektierte Coles Wunsch, mich von ihr fernzuhalten. Wie könnte ich auch nicht, schließlich trug ich eine große Schuld an der Tatsache, dass sie hier lag. Doch ich musste in ihrer Nähe sein.
Alle Wege führten mich zu ihr.
Warum ist mein Mund so trocken?
Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss. Danach setzten nach und nach meine weiteren Sinne ein.
Der Geruch nach Desinfektionsmittel, vermischt mit dem Duft, der meinen Bruder immer umgab – Motoröl und Seife.
Das Piepen, das in regelmäßigen Abständen ertönte.
Das grelle Licht, das durch meine geschlossenen Lider drang.
Der Finger, der über meinen Handrücken strich.
Moment, was? Das Piepen wurde parallel zu meinem Herzschlag schneller. Ich riss die Augen auf und kniff sie im nächsten Moment wieder zu. Es war viel zu hell.
»Ev?« Die Hand, die meine gehalten hatte, ließ mich abrupt los. Ich vernahm das Geräusch eines Stuhls, der über den Boden schrammte, ehe es klang, als würde eine Tür aufgerissen werden. »Doktor? Sie wacht auf!« Die Stimme meines Bruders überschlug sich beinahe.
Vorsichtig blinzelnd öffnete ich die Lider und schaute zu einer weiß getäfelten Decke, an der lange Leuchtröhren hingen und ihr Werk verrichteten. Während meine Augenlinsen das einfallende Licht bündelten und das Bild auf meiner Netzhaut scharf stellten, versuchte ich, mich zu orientieren. »Ju…«, krächzte ich und räusperte mich. Noch nie hatte sich meine Kehle so trocken angefühlt. »Jules?«
Er drang in mein Sichtfeld und bedachte mich mit einem besorgten Blick. »Ich bin hier, Ev. Alles ist gut.«
Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zunge, zumindest bemühte ich mich, das zu tun.
»Wasser?«, wisperte ich mit rauer Stimme.
Ehe ich mich versah, hielt er mir ein Glas vor die Nase, in dem ein Strohhalm steckte, und führte diesen an meinen Mund. Ich trank zwei kleine Schlucke und bedankte mich nickend bei ihm.
»Was ist passiert?«, wollte ich wissen. Mein Hals war noch immer belegt, doch die Silben kamen nicht mehr als Krächzen heraus.
Bevor er antworten konnte, kam eine Frau mit hellbraunen Haaren und freundlich lächelndem Gesicht auf mich zu. Sie trug einen lavendelfarbenen Kasack, was meine Befürchtung bestätigte.
»Ich bin im Krankenhaus?«, fragte ich, als die Dame näher an mein Bett trat.
»Ihre Auffassungsgabe ist bemerkenswert, Ms Cole.« Sie nickte und schenkte mir einen liebevollen Blick. »Sie sind im Dignity Health. Mein Name ist Marianne«, stellte sie sich vor. »Wenn es für Sie in Ordnung ist, hätte ich ein paar Fragen an Sie.«
»Wenn Sie das Bett aufrichten würden, gerne«, erwiderte ich leise und versuchte, mich aufzusetzen.
»Bleiben Sie bitte liegen«, bat Marianne, trat neben mich und zeigte mir ein kleines Bedienfeld, das an dem Bett befestigt war. »Hiermit können Sie das Kopfteil anheben und wieder absenken.«
Ich nahm die Fernbedienung in die Hand, drückte den Knopf, den sie mir gezeigt hatte, und bemerkte, wie mein Oberkörper langsam in eine aufrechte Position glitt. »Danke.« Jetzt, da ich auf Augenhöhe mit ihr war, war ich bereit für ihre Fragen. »Dann schießen Sie mal los.«
»Wissen Sie, wie Sie heißen?«
Mit gerunzelter Stirn antwortete ich ihr, dass ich Everly Cole hieß.
Sie nickte wohlwollend. »Wie alt sind Sie?«
Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete sie argwöhnisch.
»Dreiundzwanzig Jahre«, erwiderte ich und räusperte mich, weil mein Hals wieder trocken wurde. Marianne hielt mir das Glas Wasser hin, das ich dankend annahm. Ich wunderte mich, warum sie das Getränk trotzdem noch festhielt, bis ich bemerkte, dass meine Hand schwach war und mir das Glas beinahe aus den Fingern geglitten wäre. Sie half mir, den Strohhalm an meine Lippen zu führen, und ließ mich in Ruhe trinken.
Irgendetwas Schlimmes musste geschehen sein, sonst hätte ich kaum Schwierigkeiten damit, ein Glas festzuhalten. Außerdem machten mich die Fragen misstrauisch. Das stetige Piepen um uns herum wurde schneller. Genau wie mein Herzschlag, der wild in meiner Brust pochte. Mein Blick suchte Jules, der in der hintersten Ecke des Raums stand und uns mit glänzenden Augen beobachtete. »Was ist passiert?«, fragte ich ihn und wandte mich dann wieder Marianne zu, die mich interessiert betrachtete. »Wieso stellen Sie mir diese Fragen?«
»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«
»Warum ist das wichtig?«, entgegnete ich und sah hilfesuchend zu meinem Bruder. Panik wallte in mir auf, und es würde nicht besser werden, wenn man mich im Unklaren ließ. »Jules, was ist passiert?«
Endlich kam er zu mir und nahm meine Hand in seine. Das kleine Stück Vertrautheit schenkte mir das, was ich brauchte: Mut, mich dem zu stellen, was auf mich zukam. »Ich werde dir alles erzählen, wenn du Marianne die Fragen beantwortest, ja?«
Blinzelnd schaute ich von meinem Bruder zu der Krankenpflegerin und nickte langsam. Dann atmete ich tief durch und bemerkte, wie mein Puls sich allmählich beruhigte.
»Was wollten Sie wissen?«, erkundigte ich mich bei Marianne, die uns mit einem wohlwollenden Blick beobachtete, denn ihre Frage hatte ich beim besten Willen nicht mehr im Kopf.
»Was das Letzte ist, woran Sie sich erinnern können, Everly.«
Ich ging in mich und dachte nach. »Ich war in der Redaktion und hatte ein Gespräch mit meiner Chefin Mrs Richardson«, murmelte ich und kniff die Augen zusammen. »Sie wollte, dass ich meinem investigativen Bericht mehr Drama einhauche, egal, ob es fiktiv wäre oder nicht. Das hat mich sehr erschüttert«, bemerkte ich mehr zu mir selbst und vergaß beinahe, dass ich nicht alleine im Raum war. Langsam schüttelte ich den Kopf und fuhr fort: »Am Abend habe ich mit Sydney gesprochen –«
»Wer ist Sydney?«, grätschte die Krankenpflegerin dazwischen und lächelte mich an. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber –«
»Ist schon okay.« Ich winkte ab. »Sydney ist meine beste Freundin und Mitbewohnerin.« Einen Moment überlegte ich, wo ich gewesen war, weil ich den Faden verloren hatte. Sobald ich ihn wiederfand, erzählte ich weiter. »Es war mir nicht möglich, bei ihr ins Detail zu gehen, aber sie hat mich in meiner Ansicht unterstützt.« Ich war so erleichtert gewesen, dass sie es genauso sah wie ich. Dass sie mich nicht für verrückt hielt, weil ich mich dem Willen meiner Chefin nicht beugen wollte, sondern mir den Rücken stärkte und mir zurief, dass ich es auf jeden Fall schaffen würde. Dass ich in der Lage wäre, eine investigativ hochwertige Berichtreihe zu verfassen, ohne mich an Fiktion bedienen zu müssen.
»Und dann?«, fragte Marianne, während ich noch in meinen Gedanken gefangen war.
Blinzelnd kehrte ich von unserer Wohnung zurück in das Krankenzimmer, in dem ich lag. »Dann …« Ich dachte nach. »Sydney hat mir ihr Telefon gegeben, und ich habe jemanden angerufen …« Mit gerunzelter Stirn versuchte ich, mich zu erinnern, mit wem ich gesprochen hatte. Je mehr ich mich anstrengte, desto ängstlicher wurde ich. Warum konnte ich mich nicht daran erinnern? Was war geschehen? Der Herzmonitor, an den ich angeschlossen war, teilte sowohl Jules als auch der Krankenpflegerin mit, dass ich an meine Grenzen kam. Meine Sicht verschwamm, als mir Tränen in die Augen stiegen. »Ich erinnere mich nicht«, krächzte ich und sah meinen Bruder verzweifelt an. »Jules, wieso erinnere ich mich nicht?«
»Atmen Sie tief durch, Ms Cole«, bat Marianne und legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Sie hatten einen Unfall.«
»Einen Unfall?« Mein Blick huschte zu meinem Körper, der unter der weißen Decke verborgen lag, und ich versuchte, in mich zu horchen. Bis auf ein stetiges Pochen im Kopf hatte ich keine Schmerzen. »Wie?«
»Du wurdest angefahren«, erklärte Jules und drückte meine Finger, »hattest anscheinend aber einen Schutzengel bei dir. Bis auf ein paar blaue Flecken, eine Platzwunde am Hinterkopf und eine Gehirnerschütterung ist dir nichts passiert.«
»Aber …« Ich befeuchtete meine Lippen und schluckte, um den Kloß, der in meinem Hals Platz genommen hatte, zu vertreiben. »Wieso kann ich mich dann nicht mehr erinnern?«
»Vielleicht ist es besser, wenn ich den Arzt hole, Ms Cole«, meinte Marianne. »Er kann Ihnen das näher erläutern.« Was blieb mir anderes übrig, als dem zuzustimmen? Schließlich wollte ich wissen, was mit mir passiert war. »Dann checke ich noch schnell Ihre Vitalwerte und sage Doctor Callahan Bescheid, dass Sie wach sind.«
Und das tat sie. Sie prüfte meinen Blutdruck, den Herzmonitor und was auch sonst noch alles, bevor sie aus dem Zimmer verschwand.
»Jules?« Mein Blick fand die sorgenvollen braunen Augen meines Bruders, und er wusste, ohne dass ich etwas sagen musste, was ich wissen wollte.
Seufzend fuhr er mir über die Wange. »Willst du nicht warten, bis der Arzt da war?«
»Würdest du das wollen, wenn du an meiner statt hier liegen würdest??«, stellte ich die Gegenfrage und bemerkte, wie in mir etwas zupfte. Gegenfragen. Warum war das wichtig? Ich kniff die Augen zusammen, als der pochende Schmerz in meinem Kopf drängender wurde.
»Nein, wahrscheinlich nicht«, gab er zu und griff nach meiner Hand. Ob er sich oder mich damit bestärken wollte, wusste ich nicht. Jules atmete tief durch. »Mit Sydneys Telefon hast du Lucas angerufen, du erinnerst dich an ihn?«
Ich runzelte die Stirn und dachte nach. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Lucas war der Freund von … »Case!«, hauchte ich und sah mich in dem Krankenzimmer um, obwohl ich wusste, dass er nicht da war. »Ist mit Case alles in Ordnung?«
»Mitchell ist nicht derjenige, der mit Erinnerungslücken im Krankenhaus liegt«, brummte mein Bruder und sah mich streng an. »Du wolltest zu einem Spot, als dich ein Fahrzeug erfasst hat. Du hast mehr Glück gehabt als sonst was. Bei einem Aufprall mit dieser Geschwindigkeit hättest du tot sein können.«
Momentaufnahmen dieses Augenblicks prasselten auf mich ein: Scheinwerfer, die auf mich zukamen, pinker Lack, Schmerzen und Schwärze. Case war ein wichtiges Rennen gefahren, zumindest hatte Lucas mir das am Telefon gesagt. Er konnte es nicht gewesen sein, der mich angefahren hatte, schließlich war sein Auto nicht pink lackiert.
»Case?«, fragte ich im selben Moment, als meine Eltern zusammen mit einem Mann im weißen Kittel in das Zimmer traten.
»Everly!« Ehe ich mich versah, lag Mom halb auf mir drauf, um mich in den Arm zu nehmen. »Wie geht es dir?« Sie zog sich zurück und umrahmte mit ihren warmen Händen mein Gesicht. »Hast du Schmerzen?«
»Mi amore«, hörte ich Dad sagen. »Gib ihr ein wenig Raum.«
»Du hast recht, mein Lieber«, antwortete Mom und trat zurück, sodass mein Vater in mein Blickfeld drang.
»Hey Mom, hey Paps«, krächzte ich und nahm dankbar das Glas Wasser an, das Jules mir anbot.
»Ms Cole, schön, dass Sie wieder wach sind«, sprach der Mann in dem Kittel und trat an das Fußende des Betts. »Mein Name ist Dr. Callahan. Wie geht es Ihnen?«
»So weit ganz gut, denke ich«, murmelte ich und sah meinen Bruder fragend an. »Mein Kopf schmerzt ein wenig, aber sonst –«
»Das ist kaum verwunderlich. Am Hinterkopf haben Sie eine Platzwunde erlitten, die wir nähen mussten. Es kann sein, dass sich die Schmerzen über die nächsten Tage hinweg ziehen. Doch dagegen können Sie ein leichtes Mittel einnehmen.« Er prüfte das Klemmbrett, das die Pflegerin zuvor an meinem Bett befestigt hatte, und fuhr fort: »Marianne hat mir erzählt, dass Sie Probleme mit der Erinnerung haben?«
»Hatte«, korrigierte ich ihn und fügte hinzu, dass ich mich inzwischen wieder erinnern konnte.
»Das ist gut. Aber machen Sie sich keine Sorgen, falls noch nicht alles sofort wieder da ist. Eine kurzzeitige Amnesie ist der Schutzhaltung des Körpers geschuldet.« Der Doktor warf erneut einen prüfenden Blick auf das Klemmbrett. »Schließlich lagen Sie sieben Tage im Koma.«
»Wie bitte?« Ich hörte meinen Puls rasen, bevor ich ihn in meiner Brust spürte. »Ich lag im Koma?«
»Beruhigen Sie sich«, bat der Arzt und erklärte, dass sich mein Körper damit hatte schützen und die Heilung anregen wollen. »Bei Schädel- und Hirnverletzungen infolge von Unfällen ist das nichts Ungewöhnliches.«
Ich ließ diese Information sacken, doch mein erster Gedanke galt Case. Hoffentlich machte er sich keine Vorwürfe und noch weniger Sorgen. Am liebsten hätte ich über mich gelacht. Natürlich würde er sich die Schuld geben und vor Besorgnis die Wände auf und ab laufen.
»Was ist mit Case?«, wollte ich schließlich wissen. Dieses Mal würde ich nicht nachgeben, bis ich eine Antwort erhalten hatte. Wenn Jules mir die nicht geben würde, vielleicht konnte das einer der anderen.
»Case Mitchell?«, fragte der Doc, der einen kurzen Blick auf mein Krankenblatt geworfen hatte. »Hier steht, dass das der junge Mann ist, der den Notruf abgesetzt hat. Ihm ist nichts passiert, und er ist kein Patient, falls Sie das erleichtert.«
Ich nickte, denn es beruhigte mich in der Tat ein wenig.
»Der liebe junge Mann saß jeden Tag für viele Stunden bei dir«, meinte Mom mit einem entzückten Ausdruck im Gesicht, der ihre Augen zum Strahlen brachte. »Ich wusste nicht, dass es jemanden in deinem Leben gibt.«
Bei Moms Worten wurde mir wohlig warm. Case war hier gewesen. Jeden Tag. Kleine Fahrzeuge wirbelten in meiner Magengegend herum, sodass sich wie von selbst ein Lächeln auf mein Gesicht legte.
»Hier und jetzt ist wohl kaum der richtige Moment, um über Evs Liebesleben zu diskutieren«, murrte Jules und verschränkte die Arme.
Bei diesem Tonfall wurde ich hellhörig. Ich betrachtete meinen Bruder mit einem aufmerksamen Blick. »Wo ist Case jetzt?«
Er zuckte kurz und fast unauffällig zusammen. Die Betonung lag auf fast.
»Woher soll ich das wissen?«, meinte er schließlich lapidar und versuchte dabei, locker zu bleiben.
»Okay, Ms Cole«, beeilte sich der Doc zu sagen und beugte sich zu mir herunter. »Wenn Sie mich noch kurz die Wunde an Ihrem Hinterkopf prüfen lassen, lasse ich Ihnen die Zeit mit Ihrer Familie.« Nickend richtete ich mich nach seinen Anweisungen aus und bemerkte, wie er an einer Stelle, die etwas stach, herumdrückte. »Die Wunde scheint gut zu verheilen. Ein paar Tage lasse ich Sie zur Beobachtung noch hierbleiben, dann können Sie nach Hause.«
»Danke«, murmelte ich. Irgendwie war ich enttäuscht, weil ich dachte, dass ich sofort entlassen werden könnte. Natürlich war das eine sehr naive Hoffnung gewesen, aber trotzdem …
Dr. Callahan verließ das Zimmer, was den Ausschlag für unsere Eltern gab, so nah wie möglich an mein Bett zu kommen. Jules hingegen zog sich ein wenig zurück, was mir nicht entging.
»Wie geht es dir, Mäuschen?«, wollte Mom wissen und legte ihre Hand an meine Wange.
»Bis auf die Tatsache, dass Jules meinen Fragen ausweicht, ganz gut«, erwiderte ich und sah meinen Bruder fest an. Um Mom aber nicht zu vernachlässigen, wandte ich mich zu ihr und fügte hinzu, dass mein Kopf ein wenig pochte, ansonsten alles so weit in Ordnung war.
Dad beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Stirn, ehe er Mom den Arm um die Schultern schlang. »Komm, mi amore. Lassen wir die Kinder, damit sie ungestört miteinander sprechen können.«
Ihre Augen glänzten, als sie mir ein letztes Mal über die Haare strich. »Okay. Aber Everly, ich möchte alles erfahren, ja? Es muss nicht heute sein oder morgen. Verarbeite erst einmal, was vorgefallen ist. Doch lass Dad und mich bitte nicht im Unklaren, ja?«
»Versprochen«, erwiderte ich und wartete ab, bis die Tür hinter unseren Eltern zuschlug. »Was hast du zu Case gesagt?«, wollte ich von Jules wissen und ließ an meinem Tonfall erkennen, dass mir nicht nach Spaß zumute war. Ich war mir sicher, dass er irgendetwas Dummes von sich gegeben hatte, weswegen mein Lieblingsrennfahrer nicht hier war, und ich wollte verdammt nochmal wissen, was das war.
»Vielleicht habe ich ihm gesagt, dass er es nicht verdient hat, bei dir zu sein«, murmelte er und schaute betreten zu Boden.
»Wie kommst du denn auf die Idee?« Fassungslos strich ich mir über die zerzausten Haare. Mir war bewusst, wie hart es Case getroffen haben musste, dass Jules das zu ihm gesagt hatte. Ebenso musste es seine Schuldgefühle angestachelt haben. Verdammt! Ich musste ihn sehen. Der Herzmonitor spiegelte meinen aufgescheuchten Puls wider, sodass es Jules kaum entgehen konnte, wie ich mich fühlte.
Ihm war anzumerken, dass er mit sich kämpfte. Einerseits glaubte er, im Recht zu sein. Auf der anderen Seite sah er, wie es mir mit dieser Information ging.
»Er ist schuld daran, dass du hier bist«, stieß er schließlich bockig wie ein kleines Kind aus.
»Nein, ist er nicht«, hielt ich dagegen. Denn das war er nicht. »Er hat mich nicht angefahren. Case hat den Notruf gewählt.«
»Verdammt, Ev! Es ist nicht das erste Mal, dass er in einen Unfall verwickelt ist!«, brauste Jules auf. »Hast du vergessen, was ich dir erzählt habe?«
»Wie könnte ich? Aber dann erinnerst du dich sicher auch daran, dass du nicht weißt, ob er den Unfall damals verursacht hat.« Ich atmete einmal tief durch, um meine Nerven zu beruhigen. »Dieses Mal saß er ebenfalls nicht am Steuer, war aber involviert, weil er den Notarzt gerufen hat. Das heißt nicht, dass es seine Schuld war. Und ich hoffe sehr, dass du ihm den Unfall nicht vorgeworfen hast«, schloss ich, um Ruhe bemüht, und fügte noch leise hinzu: »Er wird sich selbst genügend Vorwürfe machen.«
»Vielen Dank, Mr Mitchell, dass Sie sich so gut um meinen Toyota gekümmert haben«, sagte Miss Oyewo und fuhr mit ihrer Hand an meiner Schulter entlang. Weder ihr Blick noch die Art, wie sie mich berührte, gefiel mir. Doch der Kunde war König. Also ließ ich es über mich ergehen. »Wie kann ich mich revanchieren?«
»Sie könnten die Rechnung begleichen, Liebes.« Moe trat genau zur rechten Zeit an meine Seite, mit der besagten Quittung in der Hand, die er ihr überreichte.
»Natürlich, Mr Wilkins«, beeilte sich die gut betuchte Dame zu versichern und zog ein Portmonee aus ihrer Handtasche.
Sie folgte Moe zu dem Tresen, auf dem die Kasse stand, und ich erlaubte mir endlich, durchzuatmen. Keine Ahnung, was ich an mir hatte, dass die Frauen dachten, sie könnten ständig mit mir flirten oder mich gar anfassen.
Nun aber war sie Moes Kundin, und ich konnte mich wieder den Dingen zuwenden, von denen ich etwas verstand: Autos.
Auf der Hebebühne war ein Volkswagen, dessen Auspuff ausgetauscht werden musste. Ich rieb mir die Hände in freudiger Erwartung, zog meine Arbeitshandschuhe an und machte mich ans Werk. Miss Oyewo hatte ich zum Glück schnell aus meinem Kopf verdrängt.
Dafür machte sich eine andere Miss in meinen Gedanken breit: Everly. Zwar fuhr ich jeden Tag zum Dignity Health, aber ich respektierte Coles Wunsch, mich von ihr fernzuhalten. Daher saß ich täglich vor dem roten Backsteingebäude im Auto und sprach in meinen Gedanken zu ihr.
Ich hoffte, es ging ihr gut.
Ich hoffte, sie war inzwischen aus dem Koma erwacht.
Ich hoffte, sie kam mit den Nachwirkungen des Unfalls zurecht.
Ich hoffte, sie hasste mich jetzt nicht.
Verdammt! Mein Herz schlug bei dem Gedanken so wild, dass meine Hände zitterten. Es war unmöglich, so zu arbeiten. »Moe, ich mach kurz fünf Minuten Pause.«
Seine Erwiderung bekam ich kaum mit, zu laut klang der Puls in meinen Ohren. Sobald ich im hinteren Bereich der Werkstatt angelangt war, nahm ich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, ehe ich mich mit beiden Armen auf die Arbeitsplatte der Kochzeile stützte. Fuck! Ich musste doch irgendwie herausfinden können, wie es ihr erging.
Aber natürlich! Lucas! Dass ich nicht eher darauf gekommen war. Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche, wählte die Nummer meines besten Freundes und hoffte, dass er nicht gerade in einer Vorlesung saß.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Luc abhob: »Hey Alter! Was geht?«
»Hast du was wegen Everly gehört?«, kam ich sofort auf den Punkt. Für Smalltalk hatte ich keine Geduld.
»Mir geht’s gut, danke der Nachfrage, mein lieber Freund. Wie geht es dir?«
»Sorry, Alter.« Ich atmete tief durch und öffnete die Flasche. »Alles klar bei dir?« Während ich auf eine Antwort wartete, trank ich einen Schluck des kalten Wassers.
»Ich verarsche dich doch nur.« Ich sah förmlich vor mir, wie er mit komischen Handbewegungen abwinkte. »Von Sydney habe ich noch keine Neuigkeiten bekommen, falls du das wissen willst.«
Ich gab einen undefinierbaren Laut von mir und ballte meine freie Hand zur Faust, ehe ich sie öffnete und erneut schloss. Irgendwohin musste ich meine Frustration schließlich lenken. Syd hatte versprochen, Luc Bescheid zu geben, wenn Everly aufwachte. Obwohl sie nicht das beste Bild von mir hatte, nach dem, was Ev zugestoßen war. Sie hatte sich offensichtlich zusammengereimt, dass das Ganze etwas mit mir zu tun hatte. Bisher hatte sie Lucas und mich nicht darauf angesprochen, was genau bei uns im Busch war, aber ich war mir sicher, dass das nicht mehr allzu lange dauern würde. Die Schonfrist würde bald vorbei sein.
Apropos Schonfrist … von Sunny hatte ich seit dem Unfall nichts gehört, der inzwischen eine Woche her war, was mich einerseits erleichterte, denn ich hatte keinerlei Bedürfnis, mit ihr zu reden. Auf der anderen Seite hatte ich Sorge, dass der unweigerlich folgende Knall umso größer werden würde. Vor allem wenn sie erfuhr, dass ich eine Aussage bei den Cops hatte machen müssen … hoffentlich war ihr bewusst, dass ich sie nicht verpfiffen hatte. Die erzwungene Loyalität ihr gegenüber brachte mich beinahe um den Verstand. Und doch war es mir unmöglich, sie abzuschütteln und von mir zu stoßen.
»Das wird schon, mach dir keine Sorgen«, versuchte mein bester Freund mich zu besänftigen. »Da bin ich mir sicher.«
Sicher war ich mir auch. Und zwar, dass sie danach nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Also brummte ich etwas Unverständliches und wechselte das Thema. »Wie läuft es in der Uni?«
»Immer das Gleiche«, erwiderte er und fügte dann mit guter Laune hinzu: »Heute ist doch Freitag. Falls du nicht schon anderweitig eingespannt wurdest …« Lucas machte eine kurze Sprechpause, in der er mir Zeit gab, zu antworten. Da von mir nichts kam, fuhr er fort: »Bei uns auf dem Campus wird heute eine fette Party geschmissen. Quasi eine After-Halloween-Party für all diejenigen, die den gruseligen Feiertag nicht zelebrieren konnten.«
»Und bei einer Halloween-Party denkst du allen Ernstes an mich?« Mich schauderte bei dem Gedanken an das Halloween von vor sechs Jahren, das mich sehr geprägt hatte. »Danke, aber ich verzichte.«
»Oh.« Schweigen scholl mir entgegen. Dann: »Das hatte ich nicht bedacht, ich … also …«
»Kein Thema, Luc«, milderte ich die Worte ab, die ich ihm zuvor entgegengeworfen hatte, und trank noch einen Schluck aus der kalten Wasserflasche. »Dann mach dich mal fertig für die Party. Ich wünsche dir viel Spaß!«
»Danke, Mann! Sagst du mir Bescheid, falls du am Wochenende Gesellschaft möchtest?«
»Ich melde mich. Danke.«
Nachdem ich aufgelegt und das Smartphone auf der Arbeitsplatte abgelegt hatte, lehnte ich den Kopf gegen die Küchenschränke und schloss die Augen. Ich hatte gehofft, dass er etwas Neues wusste. Doch mir war klar, dass er mich in dem Fall bestimmt schon informiert hätte. Dennoch war ich in gewisser Weise frustriert. Als das Handy neben mir durch die Vibration einen Tanz aufführte, zuckte ich zusammen. Wahrscheinlich war Lucas noch irgendwas eingefallen, das er zuvor vergessen hatte. Dass er in der kurzen Zeit etwas Neues erfahren hatte, bezweifelte ich. Also griff ich mit geschlossenen Lidern nach dem Telefon und nahm den Anruf blind entgegen. »Was gibt’s, Luc?«
»Mitchell?«, fragte eine mir bekannte Stimme.
Das war nicht Luc! Wie von selbst richtete ich mich kerzengerade auf, riss die Augen auf und starrte auf den hängenden dunkelgrauen Küchenschrank vor mir. »Cole?«, krächzte ich und ärgerte mich im nächsten Moment, weil ich so verzweifelt klang. »Ist etwas mit Everly …«
Ich traute mich nicht einmal, es auszusprechen. Was würde ich tun, wenn er mich anrief, um mir zu sagen … nein, dann würde er mich nicht anrufen. Das würde er doch nicht, oder? Nein, bestimmt nicht. Ich versuchte, mich zu entspannen. Es konnten nur gute Nachrichten sein, etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Obwohl ich mich bemühte, mir das einzureden, schien mein Herz noch nicht viel davon mitbekommen zu haben. Oder es war ihm schlichtweg egal. Denn es pochte wie einhundertsechzig Pferde auf einmal.
»Everly ist aufgewacht«, sprach Cole die erlösenden Worte aus. Keine Ahnung, wie das passiert war, doch im nächsten Moment fand ich mich auf dem Boden wieder. Mein Körper hatte seine Anspannung verloren, war in sich zusammengesackt und hatte keine Kraft mehr, aufrecht zu stehen. Ich atmete tief durch und war bemüht, nicht zu hyperventilieren. Das waren gute, nein, großartige Neuigkeiten! »Case?«, hörte ich ihren Bruder leise sprechen. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich das Telefon vom Ohr genommen hatte. Sofort hielt ich es wieder dagegen.
»Das ist super!«, krächzte ich und konnte nicht verhindern, dass mir Tränen der Erleichterung in die Augen schossen.
»Alles okay, Mann?«
Ich nickte, wohl wissend, dass er mich nicht sehen konnte, doch das war mir einerlei.
»Wie geht’s ihr?«, stellte ich die einzig wichtige Frage, die mir im Moment durch den Kopf ging.
»Komm her und finde es selbst heraus.«
Nie zuvor war ich so schnell aus der Werkstatt verschwunden. Ich hatte meinen Schlüssel und den Geldbeutel aus dem Spind geschnappt, hatte Moe zugerufen, dass ich wegmusste, und saß, ehe ich mich versah, hinter dem Steuer meines Hondas.
Und nun? Jetzt hockte ich noch immer im Auto und umklammerte das Lenkrad, nur vor einem anderen Gebäude. Der Besucherparkplatz war mir inzwischen wohlbekannt. Auch der Ausblick auf das rote Backsteingebäude war nichts Neues für mich. Dennoch … Irgendetwas hielt mich davon ab, sofort rauszustürmen und zu Everly zu rasen. Ich sah an mir hinunter und stellte fest, dass ich noch immer meinen Arbeitsanzug trug. Super. Das würde sicher Eindruck machen.
Was hinderte mich daran, zu ihr zu gehen? War es Angst? Aber wovor fürchtete ich mich? Der Anruf von Cole war genau das, worauf ich gewartet hatte. Ich musste nur noch die Tür öffnen, durch das Gebäude spazieren und an ihrem Zimmer klopfen. Das konnte doch nicht so schwer sein? Verdammt, was war nur los mit mir? Ich verhielt mich wie ein Feigling.
»Los jetzt!«, sprach ich mir selbst Mut zu, atmete tief durch und öffnete die Autotür, ohne mir weitere Zeit zum Überlegen einzuräumen. Was sollte schon passieren? Außer, dass sie mir mitteilte, dass sie nichts mehr von mir wissen wollte, oder mit dem Finger auf mich zeigte. Als würde sie das tun! So war sie nicht. Ich schüttelte den Kopf und damit die Befürchtungen ab, die an mir nagten, ehe ich kurz entschlossen die Fahrertür öffnete und ausstieg.
Die für Los Angeles typische schwülwarme Luft schlug mir entgegen, als ich in Richtung des Eingangs marschierte.
»Da sind Sie ja! Case, richtig? Everly hat schon so oft nach Ihnen gefragt, junger Mann!« Mrs Cole stand in dem Flur des Krankenhauses, in dem Evs Zimmer lag.
»Guten Tag, Mrs Cole«, grüßte ich die kleine Frau mit den voluminösen schwarzen Haaren und den stechend grünen Augen, die mir einen Heidenrespekt verursachten. »Wie geht es ihr?«