Drei Mal Stunde Null? - Richard Weizsäcker - E-Book

Drei Mal Stunde Null? E-Book

Richard Weizsäcker

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Beschreibung

1949 entstanden aus dem Deutschen Reich zwei Republiken. Der tiefste Einschnitt in unserer Geschichte führte uns hart an eine Stunde Null. Für vier Jahrzehnte war die Teilung Deutschlands und Europas besiegelt. Der Autor schildert aus eigenen Begegnungen die führenden Persönlichkeiten. Eingehend untersucht er Kontinuitäten und neue Anfänge im politischen Personal, in der Verfassung und in den Institutionen von Staat und Gesellschaft und setzt sich mit dem Vorwurf des restaurativen Charakters auseinander.Mit 1969, dem ersten Jahr eines sozialdemokratischen Kanzlers, verbindet der Autor die Frage nach einem Neubeginn im Inneren. Die neue Ostpolitik war eine zweite tiefe Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Es ging um Entspannung zwischen Ost und West unter deutscher Anleitung. Richard von Weizsäcker gehörte zur verschwindenden Minderheit seiner Partei, der damaligen Opposition, die diesen Kurs nachhaltig unterstützte. Sein Herzensanliegen war von jeher die Aussöhnung mit Polen. 1989 kam der Kalte Krieg zu seinem Ende. Als erstes Staatsoberhaupt des geeinten Deutschland hat Richard von Weizsäcker diesen fundamentalen Neubeginn mitgestaltet. Erneut analysiert der Autor Kontinuität und neuen Anfang, Erfolge, Gefahren und Versäumnisse des Einigungsprozesses. Wo es ihm erforderlich schien, hat er Differenzen mit der damaligen Regierung unter Helmut Kohl nicht gescheut. Er bewertet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Arbeit der Institutionen unserer Verfassung, die Dominanz der politischen Parteien und die Leistungen und Fehlleistungen im Machtkampf der demokratischen Politiker. Das Ziel ist die Vollendung ganz Europas ohne das bisher alleinige Präfix »West«. So gibt er Antworten auf die dreifache Frage nach der Stunde Null und nach den Kontinuitäten in der geistigen und politischen deutschen Geschichte unserer Zeit.

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Richard von Weizsäcker

Drei Mal Stunde Null?

1949 · 1969 · 1989

Deutschlands europäische Zukunft

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Copyright © 2001by Siedler Verlag Berlin,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten, auch das der fotomechanischen Wiedergabe

Lektorat: Thomas Sparr

Register: Matthias Weichelt, Berlin

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

ISBN 978-3-89480-756-6V002

www.siedler-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

ZUM GELEITKapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IVKapitel VKapitel VINamenverzeichnisÜber das BuchÜber den Autor

ZUM GELEIT

Stunde Null

I

Die Null wurde im fünften Jahrhundert durch Inder eingeführt. Sie wanderte weiter nach China, später nach Arabien. Von dort erreichte sie uns Europäer im Mittelalter. Wir verwenden sie auf vielfache Weise, in der Mathematik, als Normal-Null zur Höhenmessung, in der Thermometerskala als Nullpunkt, für Nullsummen-Spiele oder gar im übertragenen Sinn für ein Herzensthermometer, das auf Null stehen kann.

Religionen und traditionsempfindende Gesellschaften beschäftigen sich mit der Herkunft von Mensch und Welt. Ursprungserzählungen finden sich bei den indischen Upanischaden, im Gilgamesch-Epos, in Schöpfungs- und Paradiesschilderungen. Offenbarungsreligionen haben und hüten einen Beginn. Das gilt für die vedische und die Zarathustra-Religion, ist so im Judentum, auch im Christentum und im Islam. Die Null markiert den Anbruch eines neuen Zeitalters mit seinem Ursprung von Glaube und Lehre, vielleicht auch von Ordnung und Herrschaft.

Vom Umgang der Wissenschaften mit den Ursprüngen sei hier nicht die Rede, sondern von der politischen Geschichte. Dort stoßen wir mit höchst unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Empfindungen auf die Null. Sie kann das Gefühl eines unwiderruflichen Zusammenbruchs ausdrücken, ein Verlangen nach vollkommenem Auslöschen erlebter Geschehnisse. Oder es ist die Gewissheit eines neuen Anfangs. Revolutionen markieren mit Vorliebe den Anbruch eines neuen Zeitalters durch eine eigene Zeitrechnung. Im Zuge der Französischen Revolution galt 1792 als das Jahr Eins. Am ersten Abend der Pariser Julirevolution 1830 wurde – Walter Benjamin hat daran erinnert – auf die Turmuhren geschossen: ein Stopp-Befehl an die alte Zeit, ein neuer Beginn bei Null. Schon zuvor hatte die amerikanische Revolution auf die Vergilsche Formel von der neuen Ordnung der Zeitalter, dem novus ordo saeculorum, zurückgegriffen, mit der die Regierung des Augustus gefeiert wurde.

Immer wieder ist von einer Stunde Null die Rede, weil sie von uns Menschen im Leben und Zusammenleben so empfunden wird. Es kann so tiefe Abstürze oder einen so radikal neuen Anfang geben, dass wir keine Orientierung vorfinden oder dass wir sie neu schaffen müssen und wollen.

Dennoch hat jede Geschichte ihre Vorgeschichte. Im historischen Sinne gibt es nichts dem religiös geglaubten oder dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Nullpunkt Vergleichbares. Alle Gegenwart folgt aus einer Vergangenheit. Darüber gibt es keinen Streit. Zur Debatte steht aber das Maß an Abbruch oder Kontinuität.

Generationenfolge ist zunächst Kontinuität. Leben wird gegeben, Erfahrung angeboten. Für eine zivilisatorische Entwicklung ist dies lebensnotwendig. Allen Rückschlägen zum Trotz ringen wir uns vorwärts von der Wolfsnatur zu Friedensregeln, von mauerbefestigten zu offenen Städten. Es gibt tragende, positive, entwicklungsoffene Kontinuitäten, aber auch niederziehende, stickige, reaktionäre oder restaurative.

Für eine neue Generation beginnt die Welt zunächst von vorn. Sie will kein Austauschmotor in einem vorfabrizierten Gehäuse sein. Es sind ihre eigenen Grundstimmungen, ihre Probleme, ihre Zeitgenossenschaft, die sie steuern werden. Gleichwohl wird sie der Kontinuitäten gewahr werden, die sie vielleicht als bewahrenswert zu empfinden lernt oder die sie verändern und abbrechen will. Sie kann selbst spüren, dass Erinnerung ausschlaggebend für sie ist: Ich war schon vor mir da, also bin ich. Dabei wird sie entdecken können, dass ihre heutigen Herausforderungen und Chancen auf wundersamen, einst unvorstellbaren Entwicklungen beruhen.

So ist es mir selbst in einem langen Leben ergangen. Was ich hier berichte, sind keine Ergebnisse wissenschaftlicher Quellenforschung. Ich bin kein Historiker, sondern Politiker. Vielmehr beschreibe ich die Entwicklungen so, wie ich sie als Zeitgenosse unmittelbar erlebt habe. Es waren für uns alle und auch für mich ganz unterschiedliche Lebensabschnitte. 1949 war ich beim Abschluss meiner Berufsausbildung als junger Strafverteidiger tätig. 1969 war ich frisch gewählter Bundestagsabgeordneter. 1989 begann meine zweite Amtszeit als Bundespräsident. Die Aufgaben veränderten sich und mit ihnen die Einsichten in die Gründe und Folgen der tiefen Zäsuren unserer Zeit.

Es waren zwei entscheidende historische Wendepunkte, die die Erfahrungen meiner Generation prägten. Der eine fiel mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Das Deutsche Reich hörte auf zu bestehen und wurde geteilt. Eine »Generation ohne Heimat und ohne Abschied«, so nannte uns der Dichter Wolfgang Borchert. Gedanken und Reflexionen über Wege umkreisten die Stunde Null.

Fast ein halbes Jahrhundert später fand ohne Gewalt der Kalte Krieg seinen Abschluss. Damit eröffnet sich zum ersten Mal in der europäischen Geschichte die Aussicht auf eine friedliche Vereinigung unseres Kontinents. Gewiss, die Geschichte hat uns gelehrt, behutsam zu bleiben. Aber es ist eine früher nie für möglich gehaltene Chance, die uns heute die Aufgaben für die Zukunft stellt.

Diesen tiefgreifenden Wendepunkten und dem Verlauf des Weges vom ersten über den zweiten bis zum dritten ist der nachfolgende Gedankengang gewidmet.

II

Je stärker die Wucht der Veränderungen wirkt, desto lebhafter wird über den historischen Nullpunkt debattiert. So erlebte man es in Deutschland schon am Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Doch erst am Ende des Zweiten Weltkriegs rückte der Nullpunkt in das Zentrum der Empfindungen. Alfred Weber nahm »Abschied von der bisherigen Geschichte«. Alexander Mitscherlich verstand die Ereignisse als die »größte materielle und moralische Katastrophe unserer Geschichte«. In der deutschen Literatur wurde die Stunde Null zur alles beherrschenden Mitte, und sie blieb es noch Jahrzehnte. Sie hat das Werk von Wolfgang Koeppen und Heinrich Böll nicht weniger geprägt als Uwe Johnsons »Jahrestage« und Christa Wolfs »Kindheitsmuster«.

Selbstverständlich ist das Thema unseren Historikern wohl vertraut, und sie leisten dazu immer neue erhellende Beiträge. Denn wie einem Menschen für sein Leben und Zusammenleben ein verständiges Selbstbewusstsein und eine vernünftige Selbstsicherheit hilft, so braucht dies auch eine Staatsnation für ihre verantwortliche Existenz. Dazu bedarf es eines begründeten Urteils über die politische und geistige Bedeutung von Abbruch und Neubeginn, von Nullpunkt und Kontinuität.

Die Auseinandersetzung über diese Frage bleibt notwendig und fruchtbar, da wir immer wieder die Erfahrung machen, wie sehr sich die Urteile unter dem Einfluss neuer politischer Entwicklungen verändern können. So hat beispielsweise kaum ein Autor die Ereignisse des Jahres 1989 wirklich vorhergesehen und in ihren Folgen zutreffend einzuschätzen vermocht. Nun sprossen kühne Analysen aus dem Boden. Auf seine Weise schoss der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama den Vogel ab. Er verkündete, als der Kalte Krieg verebbte, das »Ende der Geschichte«. Er meinte den Zusammenbruch kommunistischer Diktaturen und die erfolgreiche Ankunft der Welt bei den liberalen, zumal den amerikanischen Zielen für die Geschichte der Menschheit.

Der große Umbruch des Jahres 1989 führte nicht nur neue Zukunftsperspektiven herbei. Er brachte auch im Rückblick Revisionen von allerlei herkömmlichen Meinungen und von alten Bewertungen früherer Wenden hervor. Es sind weniger die Historiker als die Politiker, die sich darin hervortun. Immer wieder wird die Deutung der Vergangenheit zum Politikum. Einerseits können Politiker nur selten der Versuchung widerstehen, im Lichte ihrer gegenwärtigen Ziele die Geschichte neu zu interpretieren und somit als Instrumente im Kampf um die heutige politische Meinungshoheit zu nutzen. Nicht viel besser ist es, wenn sie lieb gewordene, bewährte Argumente aus der Geschichte auch dann noch am Leben erhalten, wenn sich inzwischen die Zeit tatsächlich verändert hat. Wie dem auch sei, mit oder ohne besondere Absichten lohnt es, angesichts frischer Herausforderungen sich an der Vergangenheit zu messen. Gerade dabei bleiben die Fragen nach Nullpunkten, Kontinuitäten und Neubeginn aktuell.

III

Zum Charakteristikum Deutschlands gehört seine im europäischen Vergleich noch immer junge Lebensdauer als politischer Staat. Es sind erst einhundertdreißig Jahre. In dieser historisch knappen Zeitspanne zeigt sich ein zweites hervorstechendes deutsches Merkmal: In kurzen geschichtlichen Abständen kam es zu grundstürzenden Brüchen, zu Wenden und neuem Beginn. Blieb es jeweils überhaupt dasselbe Deutschland, gemessen an seiner durch einschneidende Gebietsverschiebungen geprägten geographischen Lage, an einer schwankenden Orientierung in der Mitte des Kontinents, nach Osten oder nach Westen oder eben auf einem deutschen Sonderweg, seinen wechselnden Staatsformen, seinen neuen Institutionen, seinen sich wandelnden Herrschaftsschichten, seiner Entwicklung zu einer Bürgergesellschaft? In seiner binnenkontinentalen Lage, umgeben von mehr Nachbarn als alle anderen Länder, hatte es stets einen prägenden Anteil an der europäischen Geschichte, die ihm nie allein gehört hat. Sie ist eine Kette der Konflikte, die von innen nach außen reichen oder umgekehrt.

Heute leben wir mit unseren Nachbarn über verbindende Grenzen hinweg ohne gegenseitige Forderungen und Ansprüche. Mit jedem von ihnen arbeiten wir freundschaftlich zusammen, als Bundesgenossen, als europäische Partner, aber auch mit der gemeinsamen gewaltigen Aufgabe einer Vereinigung. Dabei wird es entscheidend auf den Beitrag von uns Deutschen ankommen. Dem Verständnis dieser Herkunft und Zukunft soll zunächst ein Rückblick auf den Werdegang unserer Nation als Staat dienen. Ihm soll eine Bewertung unserer heutigen inneren Verfassung und unseres politischen Standorts an der Schwelle zu einem neuen europäischen Zeitalter folgen.

I

Der deutsche Nationalstaat bis zur Teilung

Deutsches Reich bis neunzehnhundertachtzehn

Das 1871 neu gegründete Reich erlebte zu seinem Beginn seine längste Friedensperiode, bevor es zu einschneidenden Veränderungen kam. Am Übergang von der Bismarckzeit zum Wilhelminismus gab es 1890 eine schwerwiegende Wende, deren Folgen bis heute zu spüren sind.

Die politische Nation zu schaffen, war überfällig geworden. Allen verfehlten bisherigen Anläufen und Kämpfen zum Trotz wurde sie im Innern fast einhellig begrüßt. Den neu gegründeten Staat aber als Deutsches Reich zu bezeichnen, erwies sich nicht als gute Tradition, sondern als eine aufreizende Scheinkontinuität. Es war eine unselige Entscheidung. Sie verlockte zum Missverständnis, man könne den alten universalen Reichsgedanken aus ferner Vergangenheit wiederbeleben. Sie hatte schon als Begriff dem beim Wiener Kongress 1815 angestrebten kontinentalen Machtgleichgewicht widersprochen. Bismarck selbst hat später die Weisheit der Namensgebung bezweifelt und sich während seiner Amtszeit darum bemüht, daraus kein Unheil entstehen zu lassen. Er wollte kein von den anderen europäischen Ländern abgehobenes und unvergleichbares altes Modell revitalisieren, sondern eine Nation unter Nationen schaffen.

Auf der Suche nach den prägenden Merkmalen des Reichs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gilt es, wie auch in den späteren Zeitabschnitten, zwischen der Lage im Innern und der Außenpolitik zu unterscheiden. Das Reich war eine Gründung der Fürsten. Es war die kleindeutsche Lösung, ohne Habsburgermonarchie und noch weitgehend ohne die konstitutionellen Freiheiten, um die doch 1848 in der Paulskirche gerungen worden war. Mit der Harmonie in der Gesellschaft stand es nicht zum Besten. Einerseits ging es auf dem Weg vom Agrarland zu einem Industriestaat zügig voran. Andererseits war Bismarcks Innenpolitik durch seinen hartnäckigen Kampf mit der politischen Repräsentanz der Arbeiterschaft und des katholischen Bevölkerungsteils belastet.

Im Lichte ihrer frühen Gründungsmotive stand die Sozialdemokratische Partei bei Bismarck unter dem Verdacht von Internationalismus und revolutionären Zielen. Aber dass er sie deshalb als »Reichsfeinde« verstand und bezeichnete, war unbedacht und in den meisten Fällen unrecht. Von bösen Attacken des rechten politischen Lagers gegen das linke wegen unzulänglicher vaterländischer Gesinnung hat sich vergiftete Munition bis in die Gegenwart erhalten. Man durfte und musste ja über vieles streiten, nach dem Zweiten Weltkrieg über eine Wiederbewaffnung im Westen, über die Zwangsvereinigung der linken Parteien im Osten, über die moralischen und historischen Bedingungen der Wiedervereinigung, man muss über den heutigen Umgang mit der PDS streiten, in Gottes Namen auch über einen Stolz der Deutschen. Davon wird später die Rede sein. Aber mit uralten, abgelebten Argumenten immer wieder einmal die Streitaxt gegen »vaterlandslose Gesellen« aus dem Geschichtsmuseum zu entleihen, ist ein prekäres Erbe aus jener frühen Zeit.

Das katholische »Zentrum« war im Gegensatz zu den anderen Parteien des Kaiserreichs nicht an Klassen und Schichten der Bevölkerung gebunden. Bismarck aber witterte unheilvolle Einflüsse der Weltkirche Rom auf die nationale Politik. Dies führte ihn zu seinem verfehlten, das Zentrum letzten Endes freilich eher stärkenden Kulturkampf.

Andererseits und durchaus als Bestandteil seiner Abwehrversuche gegen die Sozialdemokratie leitete er eine umfassende Sozialversicherungspolitik ein, zu der es damals außerhalb Deutschlands nirgends eine Parallele gab. Damit machte er den entscheidenden ersten Schritt für sein Land als ein Vorbild des modernen Sozialstaats.

Seine großen Leistungen lagen jedoch in der Außenpolitik. Ständig blieb er besorgt um eine französische Revanche wegen der provozierenden Annexion von Elsass-Lothringen, die er am Ende des Krieges 1870/71 nicht hatte verhindern können. Aufs Ganze gesehen fügte Bismarck äußerst konsequent das Reich in das Gesamtsystem einer europäischen Balance ein und erwarb für sein Land damit Anerkennung für seine Friedenspolitik.

Nach seiner Entlassung, in der Zeit des Wilhelminismus, verwandelte sich die innenpolitische Atmosphäre, wenn auch in widersprüchlicher Weise. Politische Parteien waren aktiv, aber es gab kein parlamentarisches Regierungssystem. Disziplin herrschte vor. Die Uniform stand hoch im Kurs. Carl Zuckmayers »Hauptmann von Köpenick« wurde später zur Symbolfigur, vermutlich weit realistischer als Heinrich Manns »Untertan«. Doch die Gesellschaft löste sich mehr und mehr aus der Statik, wandelte sich zunehmend rascher und vielfältiger.

Wirtschaft, Wissenschaft und Technik blühten auf wie nie zuvor. Im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung und im Sozialwesen kam es zu wirksamen weiteren Reformen. Damit entstand noch keine politische Bürgergesellschaft im Sinne der citoyens. Das Bürgertum war aber von geistiger und kultureller Liberalität geprägt. Die Kritik spielte eine wachsende Rolle, von Maximilian Harden bis zu Lily Braun, der Tochter eines preußischen Generals, mit ihren aufsehenerregenden »Memoiren einer Sozialistin«. Allmählich entwickelte sich eine moderne Architektur. Das Theater gewann prägende Einflüsse mit den Stücken von Ibsen und Hauptmann. Der Expressionismus in der Malerei, der Jugendstil mit seinem umfassenden Einfluss auf die Künste und das Kunsthandwerk – auf vielfachen Wegen drängte man in die Moderne.

Ganz anders als zur Bismarckzeit und umso abenteuerlicher verlief dagegen die Außenpolitik von Kaiser Wilhelm II. Die friedliche Balance wurde in einen Wettbewerb mit den europäischen Mächten verwandelt. Erreicht werden sollte ein Vorsprung auf dem Kontinent vor Russland und Frankreich, und Deutschland sollte mit Großbritannien um die koloniale und flottenpolitische Vormacht in der Welt konkurrieren. Hinzu trat ein quasi ideologischer Gegensatz zu den Westmächten, fast ein »Religionskrieg« (Sebastian Haffner) von deutscher »Kultur« gegen westliche politische »Zivilisation«.

Dem Wilhelminismus war es nicht um einen neuen europäischen Krieg zu tun. Aber die »verspätete Nation« rang um einen verspäteten Imperialismus. Mit unkritischer Beurteilung der Mächteinteressen, mit unkontrollierten Sprüchen, mit schimmernder Wehr und mit einer oft leichtfertigen Kabinettspolitik fast aller Regierungen kam es zur »Urkatastrophe des Jahrhunderts« (George Kennan), dem Ersten Weltkrieg.

Innenpolitisch gab es nun einen nie gekannten tiefen Einschnitt. Die Sozialdemokraten hatten sich ihres revolutionären Flügels entledigt und waren zu einer Reformpartei geworden. Als stärkste Partei im Reichstag waren sie schon bei Kriegsausbruch der Parole des Kaisers gefolgt, der keine Parteien mehr kannte. Sie machten den Krieg mit. Kurz vor Kriegsende setzten sie die Parlamentarisierung der Monarchie durch. Danach aber ließen sie sich von den Hauptverantwortlichen für Krieg und Niederlage, insbesondere vom schamlos-verblendeten, allmächtigen Ludendorff auch noch die erdrückende Bürde aufladen, die Niederlage nach außen und innen zu vollziehen, also die Kapitulation zu tragen und mit den Unruhen zu Hause fertig zu werden, während Ludendorff nach Skandinavien entschwand.

Deutsches Reich bis neunzehnhundertdreiunddreißig

Die Geschichte des Deutschen Reichs erlebte ihren ersten entscheidenden Bruch. Der Krieg war aus, der Kaiser ins Ausland geflohen. Friedrich Ebert, der die Revolution hasste, wollte die monarchische Staatsform erhalten. Aber Philipp Scheidemann, der zweite in der sozialdemokratischen Führung, hatte aus Sorge vor der revolutionären Gewalt auf den Straßen schon die Republik ausgerufen. Die Weimarer Verfassung trat in Kraft.

Der Friedensvertrag von Versailles wurde unterzeichnet. Was er vor allem nicht zu schaffen vermochte, war ein dauerhafter Frieden. Er war den Ursachen und Folgen des verhängnisvollen europäischen Nationalismus nicht auf die Spur gekommen.

Unter den Siegermächten hatte es Streit gegeben. Ein scharfsinniges Urteil über die Verhältnisse unter ihnen hat uns der führende Ökonom der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Lord Keynes, hinterlassen. Als Teilnehmer an den Friedensverhandlungen kennzeichnete er die drei verantwortlichen Staatsmänner der Siegermächte: Woodrow Wilson der moralische, Clemenceau der noble, Lloyd George der intelligente. Zu dritt aber hätten sie ein Werk »ohne Edelmut, ohne Moral, ohne Verstand« zustande gebracht. Schließlich verweigerte Amerika die Ratifizierung, zog sich aus Europa zurück und überließ dort seine Verbündeten und Gegner ihren Konflikten.

Natürlich lag nun die ganze Härte der Friedensbedingungen auf den deutschen Schultern. Aber auch Frankreich hatte seine Kriegsziele nicht erreicht. Es fühlte sich für die Zukunft weiterhin seinem östlichen Nachbarn nicht gewachsen. Und so waren beide, Deutschland und Frankreich, vom Augenblick der Unterzeichnung an auf Revision der durch Versailles geschaffenen Verhältnisse bedacht.

Die schwere Last des Friedensvertrags, eine immer wieder strangulierende Völkerbundspolitik und später die Weltwirtschaftskrise waren wesentliche Ursachen für die Machtübernahme Hitlers. Entscheidend dafür aber war die innenpolitische Entwicklung im Weimarer Deutschland. Die Niederlage blieb in weiten Teilen der Bevölkerung unbegriffen. Die Inflation schuf eine tiefe Verbitterung. Thomas Mann schrieb später: »Es geht ein gerader Weg von dem Wahnsinn der deutschen Inflation zum Wahnsinn des Dritten Reiches.« Aber es war nicht nur der materielle Verlust. Die neue Staatsform wurde von den meisten Bürgern als fremd empfunden. Der Republik fehlten genügend Republikaner. Es hatte in der Weimarer Zeit nicht zu früh zu viele Nazis gegeben, aber zu lange zu wenige Demokraten.

Auch in der kurzen Geschichtsspanne der Weimarer Republik findet sich ein fühlbarer Einschnitt. Er kam 1925 mit der Wahl von Hindenburg zum Reichspräsidenten. Diese der Kaiserzeit verhaftete Persönlichkeit gab der Republik einen quasi monarchischen Anstrich. Das rechte Lager, das die Republik bis dahin nicht akzeptiert hatte, arbeitete danach in den Regierungen mit. Es folgten die wenigen relativ ruhigen Weimarer Jahre in der zweiten Hälfte der Zwanziger.

Die Republik von Weimar war von dem tiefen Geschichtsbruch des verlorenen Krieges und der neu gegründeten Republik gezeichnet und stand zugleich in einer unübersehbaren Kontinuität zu den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kaiserreichs. Nach 1918 folgten weder eine Bodenreform noch Verstaatlichungen. Die alten Führungsschichten wurden partiell entmachtet und wandelten sich, wurden aber kaum ihrer gesellschaftlichen Stellung beraubt. Der Adel wurde abgeschafft, die Adelsprädikate wurden jedoch rechtlich zum Bestandteil des bürgerlichen Namens gemacht, eine seltsame und zugleich für die Zeit in Deutschland – anders als in Österreich – nicht uncharakteristische konservierende Lösung. Die wesentlichen Institutionen in Staat und Gesellschaft, insbesondere der öffentliche Dienst, das Rechtswesen, die Kirchen, die Wirtschaft und die Wissenschaft, blieben von substantiellen Änderungen weitgehend unberührt.

Aufs Ganze gesehen vollzog sich also der Übergang vom Kaiserreich zur ersten Republik höchst ambivalent. Einerseits war die Atmosphäre in der Gesellschaft um die Jahrhundertwende durchaus nicht so stur und obrigkeitsfromm, wie es dem Ruf des Wilhelminismus nachklingt. Dies wirkte sich nach dem Krieg vielfach als Kontinuität aus. Andererseits war das klägliche Ende der Monarchie eine tiefe Zeitenwende, ohne dass die Gesellschaft die politische Kraft und Beteiligung entwickelt hatte, um die neue Staatsform auszufüllen: ein Antagonismus zwischen halbem Bruch und halber Kontinuität.

Deutsches Reich als Drittes Reich

Als die Wahlergebnisse nach 1929 eine Bildung stabiler Regierungen immer mehr erschwerten, die Wirtschaftskrise gefährliche soziale Folgen auslöste, die radikalen Parteien wuchsen und Hindenburg mit seiner Schar konservativer Ratgeber in die Phase der Notverordnungen überleitete, war der Weg für Hitler geebnet. Nach seiner Machtübernahme gelang es ihm, an die Stelle eines republikanischen Parteienstaats in kürzester Zeit den Führerstaat zu setzen, bewaffnet mit seinem Ministerium für »Volksaufklärung und Propaganda« und mit der Geheimen Staatspolizei. Bald herrschte willkürlicher, später systematischer Terror, eine Verflechtung von Taten und Tätern, von Denunziation und Überwachung, von amtlichen Helfern, ein System des Terrors, das erst heute ganz in den Blick historischer Erforschung gerät.

Dennoch gab es deutliche Merkmale gesellschaftlicher Kontinuität. Wichtige Sektoren existierten ähnlich weiter wie zuvor, die Beamtenschaft, weite Teile der Justiz, vor allem aber die Wirtschaft und zumal die Wehrmacht, die sich ihrer nachhaltigen neuen Förderung erfreute und doch auch eigene Bräuche wahrte.

Um die Macht zu sichern, aber auch um den Dunst neuer ideologischer Marschrichtungen auszubreiten, wurde mit dem Mittel der »Gleichschaltung« operiert. Die schwersten Spannungen und den größten Aderlass gab es im Bereich der Kultur. Nur zum geringsten Teil fanden sich begeisterte Anhänger der neuen Zeit. Groß war die Gruppe der Mitläufer. Bedeutende Künstler bemühten sich, ihren Bereich zu pflegen und zu schützen, ohne sich untreu zu werden und kaufen zu lassen. Wieder andere tauchten ins Dunkel dessen, was sie als innere Emigration suchten. Einschneidend für die Kultur aber wurden die unersetzlichen Verluste durch die erzwungene oder die alsbald entschlossen gewählte Emigration großer Geister.

Der entscheidende Abbruch von allem, was das Reich bisher geprägt hatte, war die Rassenpolitik. Zweifellos hatte es in Deutschland wie auch anderwärts Antisemitismus gegeben. Das Ausschlaggebende wurde nun aber Hitlers barbarischer Entschluss zur Vertreibung und Vernichtung der Juden, zur »Endlösung«, zum millionenfachen Mord an den Juden. Keine Volksbewegung stand dahinter. Die schweigende dumpfe Reaktion in der Bevölkerung auf die Pogrome der »Kristallnacht« veranlassten ihn, seine Mordpläne zu verbergen und sie ganz überwiegend im okkupierten Ausland ausführen zu lassen, vor allem in Polen.

Hitlers wahnwitziges außenpolitisches Ziel war die Herrschaft über Osteuropa. Offenbar spekulierte er zunächst darauf, mit einem abhängig verbündeten Polen über Russland herzufallen oder, falls die Polen ihm diesen Weg versperrten, nach ihrer Unterwerfung von Polen als Aufmarschgebiet aus gegen Russland zu Felde zu ziehen. Die Reichsregierung war 1914 mit der Forderung des Generalstabs konfrontiert gewesen, sofort einen Blitzkrieg gegen Frankreich zu führen. Hitler dagegen fühlte sich von allen Ratschlägen frei, verschob den Angriff gegen Frankreich auf später und befahl Schritt für Schritt die Ausweitung des Krieges in fast alle Himmelsrichtungen bis hin zur ebenso sinnlosen wie verheerenden Kriegserklärung an Amerika. Am Ende stand die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht. Der folgenreichste, der historisch und moralisch tiefste Bruch in unserer Geschichte hatte sich vollendet.

Deutsches Reich 1945 – 1949

Noch bestand das Deutsche Reich, jedoch ohne eigenen Staat. Es gab keine deutsche Souveränität mehr. Die vollziehende Gewalt lag in der Hand der vier Siegermächte. Was hatten sie vor? Wenige Tage nach dem 8. Mai 1945 las man in einem Beitrag der wichtigsten Zeitung des Siegerlagers, der »New York Times«, nun solle Berlin dasselbe Schicksal wie Karthago erleiden. Künftige Generationen sollten den Platz nicht mehr finden können, von dem die Angriffskriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgegangen waren. Vermutlich haben ernsthafte Pläne dieser Art nicht bestanden. Dennoch musste man auf alles gefasst sein. Der so genannte Morgenthau-Plan ließ Schlimmstes befürchten.

In der Bevölkerung waren keine Stimmen wahrzunehmen, die nach Ausflüchten suchten. Es gab auch kein Verlangen danach, wie am Ende des ersten Krieges. Vielmehr herrschten Hunger und Ratlosigkeit im zerstörten Land. Jeder hatte sein Schicksal. Für viele folgten nun erst Flucht, erneute Unfreiheit, Leid, Not oder der Tod. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Man suchte die Seinen, mitunter jahrelang. Eine Katastrophe ohnegleichen.

Und dennoch wurde der 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte zu einem Tag der Befreiung. Mit ihm verbinden sich das Ende des Terrors der Lager, der mörderischen Schlachten, der Bombennächte, die Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Er brachte das Ende eines barbarischen Irrwegs unserer Geschichte und barg den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Für eine solche Hoffnung war und blieb die Einsicht in die Brüche und Kontinuitäten, in die Ursachen jenes Irrwegs von fundamentaler und zwingender Unausweichlichkeit.

Zunächst ging es jedoch um die Suche nach einem Weiterleben. Konkrete politische Schritte wurden fällig. Die Entscheidungen lagen in den Händen der Siegermächte. Zwischen ihnen herrschten schärfste Gegensätze. Ihr Kampf um Macht und Einfluss in Europa hinderte sie vor allem auch an einer Einigung über das künftige deutsche Schicksal. So nahm die Teilung Europas, Deutschlands und der Hauptstadt Berlin ihren schwer bedrückenden Anfang. Niemand hatte es wirklich vorausgesehen. Anstelle des Deutschen Reichs nun zwei Republiken, das war der nie geahnte Einschnitt in seiner Geschichte, wahrlich nahe Null!

Die Teilung währte fast ein halbes Jahrhundert und führte uns schließlich an die Schwelle zur Vereinigung unseres Kontinents. Dies ist der historische Ort, an dem wir gegenwärtig stehen. Um uns hier zu orientieren und für die künftigen Aufgaben zu wappnen, wird noch einmal eine geschichtliche Bewertung des ganzen politischen und gesellschaftlichen Weges von uns Deutschen durch Nationalismus, zwei Weltkriege, die Verbrechen der Hitler-Zeit und die diktatorischen Systeme nötig. Zuvor brauchen wir einen Überblick über Nullpunkte und Kontinuitäten von 1949 über 1969 bis 1989.

II

Neunzehnhundertneunundvierzig

Die Siegermächte nahmen ihre Besatzungszonen in eigene Regie und bauten sie Schritt für Schritt in die jeweils eigene Front beim ausbrechenden Kalten Krieg ein. Zwei deutsche Staaten entstanden in zwei grundverschiedenen, scharf rivalisierenden Welten.

In der sowjetischen Besatzungszone vollzog sich ein radikaler Neubeginn. Man nannte dort das Programm: Antifaschismus als Antwort auf den Faschismus. Die neue kommunistische Führung kam aus Moskau und anderen Exilorten. Mehrere ihrer Mitglieder hatten jahrelang in Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten gelitten. Zahlreiche emigrierte Intellektuelle wandten sich der neuen DDR zu, um den von ihnen dort erhofften Ansatz zur Antwort auf die Vergangenheit zu unterstützen. Sie empfanden es als einen notwendigen Ausdruck der Kontinuität ihrer eigenen lebenslangen antifaschistischen Überzeugungen. Aber nicht wenige, unter ihnen Ernst Bloch und Hans Mayer, kehrten der DDR später den Rücken, als sich dort der Stalinismus verfestigte.

Die DDR wurde ein von außen beherrschter diktatorischer Staat mit einem grausamen Überwachungsmechanismus, der so genannten Staatssicherheit. Gleichwohl wurden trotz anhaltender sowjetischer Demontage wirtschaftliche Leistungen von großer Bedeutung für den gesamten Moskauer Herrschaftsbereich erbracht. Die DDR wurde der von außen erzwungene unter den beiden deutschen Versuchen zum Neubeginn nach der Katastrophe. Er scheiterte an seinem ideologischen und politischen System, nicht an den Menschen.

Die weitaus größere Zahl der Deutschen lebte im Bereich der drei westlichen Siegermächte. Der neue politische Anfang vollzog sich hier ganz demokratisch und föderal. Rasch entstanden lebensfähige Kommunen, mit der wirksamen Überlieferung von Selbstbestimmung noch aus den Zeiten des Freiherrn vom Stein. Die Bundesländer wurden gegründet. Dies entsprach nicht nur dem alliierten Verlangen, sondern vor allem auch eigenen deutschen Vorstellungen und Traditionen.

Die Parteien knüpften im Wesentlichen an Weimar an. Eine echte Neugründung war die Christlich-Demokratische Union. Sie stützte sich nicht nur auf die Geschichte des alten Zentrums, welches auch schon eine schichtenunspezifische Volkspartei gewesen war. Vielmehr ging es den Gründern vor allem darum, die übereinstimmenden schweren Erfahrungen von Katholiken und Protestanten aus der Zeit des Nationalsozialismus zu nutzen, um nicht wieder wie in alten Zeiten in die traditionellen Konflikte zwischen den Konfessionen zurückzufallen, sondern in Zukunft gemeinsam aufzutreten. Dies war ein historisch und aktuell hochbedeutsamer Schritt.