DSA 136: Tod auf dem Mhanadi - Eevie Demirtel - E-Book

DSA 136: Tod auf dem Mhanadi E-Book

Eevie Demirtel

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Beschreibung

Neun Tage sollen die prunkvollen Feierlichkeiten zu Ehren der Geburt des khunchomer Prinzen Sheranbil andauern. Neun Tage, in denen Palastwesir Khorim ibn Tulachim durch die Niederhöllen gehen wird. Neun Tage, die den beiden Stadtgardisten Deniz ibn Seyshaban und Kasim ben Gaftar bleiben, den merkwürdigen Vorgängen in der Stadt auf die Spur zu kommen. Neun Tage, in denen ungewöhnlich viele Tote die Ufer des ehrwürdigen Mhanadi säumen ...

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Biografie

Eevie Demirtel wurde in Frankfurt am Main geboren und ist, nach einem kurzen Zwischenspiel in Neuruppin, gemeinsam mit ihrer Katze wieder in den Vordertaunus zurückgekehrt. Ihr Studium der Archäologie, Anglistik und Germanistik hat sie dem gedruckten Wort zuliebe an den Nagel gehängt und sich für eine grundsolide Ausbildung zur Sortimentsbuchhändlerin entschieden. Es gibt außerdem kaum einen kuriosen Nebenjob, in dem sie sich noch nicht zumindest versucht hätte. Nach ein paar Jahren hatte Eevie schließlich genug davon, die Bücher anderer Autoren zu verkaufen oder Korrektur zu lesen, und so ließ sie sich von Marco Findeisen dazu anstiften, Khunchomer Pfeffer zu schreiben. Seither schreibt sie und hat auch nicht vor, in naher Zukunft damit aufzuhören. Seit Oktober 2011 ist Eevie Demirtel Mitglied der DSA-Redaktion.

 

Marco Findeisen wuchs in Usingen, im beschaulichen Hochtaunus, auf und widmet sich zurzeit hauptberuflich seinem Studium der Literaturwissenschaft und der Mittleren und Neueren Geschichte in Gießen. Wenn er nicht gerade über Hausarbeiten brütet, Texte für den aventurischen Hintergrund beisteuert oder DSA spielt, engagiert er sich mit Feuereifer und ohne Rücksicht auf körperliche Verschleißerscheinungen im Tanzsport. Nach der erfolgreichen Teilnahme am Abenteuerwettbewerb Der Goldene Becher und Beiträgen in der Regionalspielhilfe Am Großen Fluss hat Marco gemeinsam mit Eevie Demirtel seinen ersten DSA-Roman Khunchomer Pfeffer geschrieben, der mit dem vorliegenden Band nun fortgesetzt wird. Marco kann gar nicht anders, als sich immer wieder neue Geschichten auszudenken, und so schreibt er schon jetzt an einem weiteren Roman, dem dritten Teil der Reihe Die Türme von Taladur.

 

Die beiden Autoren freuen sich über jede Art von Feedback und haben eigens dafür die E-Mail-Adresse [email protected] eingerichtet.

 

Titel

Eevie Demirtel & Marco Findeisen

Khunchomer Pfeffer

Tod auf dem Mhanadi

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

 

Impressum

Ulisses SpieleBand 11073PDFTitelbild: Anna SteinbauerAventurienkarte: Ralph HlawatschBuchgestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael MingersCopyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DERE sind eingetragene Marken. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Buch ISBN 978-3-86889-167-6E-Book-ISBN 978-3-86889-810-1

 

 

 

Danksagung

Allen voran danken wir von Herzen den Menschen, die es uns ermöglicht haben, diesen Roman zu schreiben: Werner Fuchs, Markus Plötz, Mario Truant und natürlich unserer wunderbaren Lektorin Catherine Beck.

Dann noch allen Teilnehmern unseres Wettbewerbs »Dein Held im Roman«: Ihr habt uns unglaublich inspiriert, allen voran Markus Bauer, Marcus Braam, Patrick Collins, Sebastian Kreppel, Florian Krockert, Diana Rahfoth, Claas Rhodgeß. Danke, dass ihr eure Figuren in unsere Hände gegeben habt. Wir hoffen, wir haben ihnen ein würdiges Denkmal gesetzt.

Chris Gosse, Stefan Küppers und Uli Lindner für die schnelle und unkomplizierte Beantwortung unserer gefühlten 99 Fragen, Mark Wachholz und Tyll Zybura für prompte Hilfe und Unterstützung sowie allen Mitarbeitern der großartigen Regionalspielhilfen Land der Ersten Sonne und Raschtuls Atem. Danken möchten wir an dieser Stelle auch dem Team und den Autoren der Wiki-Aventurica, die Recherchen für uns so viel einfacher gemacht hat.

Außerdem ganz besonderen Dank an die üblichen Verdächtigen, insbesondere Alex, Andrea, Carola, Daniel, Eco, Felix, Florian, Gabriela, Higgins, Jan, Lena, Martin, Melanie, Nicola, Philipp, Ramses, Riccarda, Robert, Susi, Thorsten, Tom, und Markus, den unerschütterlichsten und treuesten aller Testleser. Und natürlich an alle anderen, die ihren Teil zu unserer Geschichte beigetragen haben. Außerdem an Jakob Arjouni, dessen legendäre »Schrankszene« aus Kismet in diesem Buch, wie wir hoffen, ganz besondere Würdigung erfährt.

Mit Tränen in den Augen starrte ich hinaus auf See und sah gerade noch den Hauptmast in den schäumenden Fluten versinken – so also endete meine erste große Fahrt, kurz vor unserem Ziel, dem rettenden Hafen Rivas.

Der launische Herr der Meere hatte sich unseres Schiffes bemächtigt wie ein brünstiger Mann seines widerspenstigen Weibes. Uns aber ließ er, gleich deren Kinder, hilflose Zeugen dieser ungestümen Vereinigung werden, unfähig, dem tobenden Vater Einhalt zu gebieten. Wir selbst konnten uns glücklich schätzen, von seinem Wüten verschont geblieben zu sein. Völlig durchnässt standen wir am Strand und mussten mit ansehen, wie der stürmische Efferd, gepriesen sei sein Name, unsere bescheidenen Reichtümer hinab in sein erhabenes Reich zog. Mein tränenverklärter Blick fiel auf die wenigen Goldmünzen in meiner Hand, um die ich bis eben noch meine zittrigen Finger geschlossen hatte. Außer den durchnässten Kleidern waren sie das Einzige, was mir Sohn des Unglücks geblieben war.

Der Kapudan neben mir aber lachte laut auf, als er meinen verzweifelten Blicken folgte. Ich fragte mich, wie jemandem in seiner Situation nur zum Lachen zumute sein könne. Wie zur Erklärung griff er mit seiner mächtigen Pranke in einen aufgeblasenen Schafsdarm, so groß und prall wie eine reife Wassermelone – das Einzige, was er von Bord hatte retten können – und zeigte mir eine Handvoll schwarzer Pfefferkörner. O du armer Tor, dachte ich, da hat dir die Weise Herrin zu allem Übel auch noch den Verstand geraubt! Anstatt deine Reichtümer zu retten, nimmst du einen Sack wertloser Körner mit, die du in Khunchom an jeder Ecke zum Preis einer Prise Pfeifentabaks erstehen kannst!

Erst später erfuhr ich, dass Khunchomer Pfeffer in fernen Gefilden mit Gold aufgewogen wird.

—Ruban ibn Dhachmani, der Rieslandfahrer.

Gehört in einem Teehaus in Khunchom.

 

Prolog – Ein letztes Lachen

Tag eins der Festlichkeiten zu Ehren der Geburt des Prinzen ­Sheranbil Kulibin

Dicke Tränen rannen Krufix’ Wangen hinunter, und sein Körper bebte. Er lachte so heftig, dass er um ein Haar nach hinten vom Fass gekippt wäre, auf dem er sich im Schneidersitz niedergelassen hatte. Die kleinen Glöckchen an seinem Handgelenk klimperten, als er sich mit dem Ärmel seines hellroten Hemds über das Gesicht wischte und mit den Fingern durch das unbändig in alle Richtungen abstehende hellbraune Haar fuhr. Vergeblich versuchte er einen besonders feierlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen, nur um direkt wieder loszuprusten. Gerrik hatte seine Unterlippe bis über die Nase nach oben geschoben und sah wirklich zum Fürchten aus – oder zum Totlachen. Krufix klatschte sich begeistert auf die Schenkel. Kaum zu glauben, dass der Grimassenschneider nicht sofort Anschluss in Khunchom gefunden hatte, wo er doch ein derartig unterhaltsamer und geselliger Kerl war. Aber Krufix wusste nur zu gut, dass viele Menschen fürchteten, was sie nicht auf den ersten Blick zu deuten vermochten. Er selbst war dieser Ablehnung schon mehr als einmal in seinem Leben begegnet.

Gerrik ließ seine Unterlippe nach unten schnallen und sog begierig die laue Abendluft am Khunchomer Mhanadiufer ein, wo sie sich nach ihrem mittäglichen Besuch im Rahjatempel niedergelassen hatten. »Komm, Krufix, es ist Zeit, den gelungenen Abend zu feiern.«

Krufix gluckste vergnügt und antwortete ihm mit einer täuschend echten Kleinmädchenstimme. »Was gibt es denn zu feiern, Onkel Gerrik?« Dabei setzte er ein derart unschuldiges Gesicht auf, dass diesmal Gerrik lauthals zu lachen begann.

»Mein edler Gönner«, Gerrik strich über seinen neuen saf­ranfarbenen Kaftan, »hat auch an mein leibliches Wohl gedacht. Die lange Reise hierher war wirklich anstrengend. Bis vor zwei Tagen war ich nicht einmal sicher, ob ich es rechtzeitig zu Beginn der Feierlichkeiten nach Khunchom schaffe.«

Gerrik zog ein kleines Bündel hervor und wickelte die dünnen Stoffbahnen behutsam zur Seite. Krufix staunte nicht schlecht, als ihn neun kleine, in Sirup getränkte Kugeln anstarrten, mit einer kreisrunden Vertiefung in der Mitte, die ihn sehr an ein Auge erinnerte.

Begeistert klatschte er in die Hände. »Toll! Was ist das? Was ist das, Gerrik?«

»Khunchomer Pfeffergebäck. Er sagte, das sei eine lokale Spezialität.«

»Pfeffer?« Krufix beäugte das Backwerk skeptisch.

»Hier, nimm nur! Ich lade dich ein. Das beste Geschenk ist nur halb so schön, wenn man es nicht teilen kann, mein Freund.« Gerrik hielt Krufix eine der Kugeln hin.

»Nein, bitte nicht! Er will mich bestimmt essen!«, wimmerte es plötzlich hell. Gerrik starrte entsetzt auf das Gebäck, dann auf Krufix. Seine Lippen hatten sich nicht bewegt, doch sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen.

»Neeeiiin, bitte nicht!«, heulte der Keks auf, als Krufix ihn seinem verdutzten Freund aus der Hand nahm und zum Mund führte.

»Du Lump!«, lachte Gerrik. »Mich so zu erschrecken.«

Krufix kicherte und genoss die heftige Süße des Gebäcks. Im nächsten Moment aber weitete sich sein Blick vor Überraschung. Im Inneren seines Mundes breitete sich ein infernalisches Brennen aus. Blumige, würzige Schärfe erfüllte seinen Gaumen und trieb ihm die Tränen in die Augen.

»Scharf!« Krufix hustete und schlug heftig auf seine Brust. Schon oft hatte er anderen ähnliche Streiche gespielt, indem er vermeintlich süße Speisen sauer hatte schmecken lassen, nur um sich an den verdutzten Gesichtern seiner Gefährten zu erfreuen. Aber dass es ein Gebäck gab, das dies ganz offensichtlich ohne Zauberei zu Wege brachte – Krufix war begeistert und griff nach einem weiteren Stück Backwerk. Auch Gerrik versuchte sich daran und verzog sein Gesicht zu einer abscheulichen Grimasse, sodass es Krufix vor Lachen schüttelte. Schon bald waren die Gesichter der beiden puterrot, und der Schweiß stand ihnen auf der Stirn.

Krufix war gerade dabei, einen Witz zu erzählen, als Gerrik plötzlich unvermittelt aufschrie. Sein Gesicht war tiefrot, und er begann, sich am ganzen Körper zu kratzen. Er stürzte zu Boden und wälzte sich hin und her. Groß und hell traten seine Augen aus seinem Gesicht hervor, der Mund war weit aufgerissen, und Krufix starrte verstört auf den Kaftan, der wie durchnässt an Gerriks Haut klebte.

Von Panik ergriffen sprang Krufix auf und rief um Hilfe. Die Straße am Ufer des Stillen Mhanadi war verlassen. Die letzten Hafenarbeiter hatten schon kurz nach Einbruch der Dunkelheit ihre Arbeit niedergelegt. Die meisten Menschen hielten sich in der Altstadt oder im Basarviertel auf, um dort den Schaustellern zuzusehen, Einkäufe zu tätigen oder bei Schildkrötenrennen ihren Lohn zu verspielen. Lagerhäuser links, Lagerhäuser rechts.

Gerrik wand sich noch immer stöhnend am Boden. Krufix schlug sich hart gegen die Stirn. Er musste etwas tun. Ganz egal, was. Irgendetwas. Krufix packte seinen Wasserschlauch und leerte hilflos dessen Inhalt über seinen Freund aus. Schlagartig ging Gerriks Stöhnen in ein lautes Röcheln über. Sein Körper zuckte unkontrolliert, und es zischte. Die Haut an seinen Händen, mit denen er eben noch versucht hatte, sich die Kleidung vom Leib zu reißen, hatte begonnen sich aufzulösen, und weiße Wolken stiegen auf, als das Wasser verdampfte. Der Stoff über Gerriks Brust löste sich langsam auf und gab den Blick auf rotes, dampfendes Muskelfleisch frei. Krufix wollte schreien, doch alles, was er herausbrachte, war ein heiseres Krächzen. Was in aller Götter Namen hatte er getan? Gerriks Blick brach, seine von Entsetzen entstellten Züge erschlafften, und noch immer zerfraß etwas Unsichtbares unaufhaltsam seinen Körper. Der Geruch nach verbranntem Fleisch war Krufix schier unerträglich. Er raufte sich die Haare und begann hysterisch zu lachen, während dicke Tränen über seine Wangen kullerten.

War er schuld? Hatte er etwa seine Kräfte nicht unter Kontrolle gehabt?

Krufix heulte auf und rannte in die Nacht. Er hatte einen Menschen getötet. Er hatte einen Freund getötet. Er lachte, weil er niemals wirklich zu weinen gelernt hatte.

 

 

Eine Leiche am Morgen

Tag zwei der Festlichkeiten zu Ehren

der Geburt des Prinzen Sheranbil Kulibin

Erneut schlug etwas dumpf gegen das Holz des Hausboots und fand sein niederhöllisches Echo in dem Dröhnen seines Schädels. Deniz versuchte die Augen zu öffnen, doch es war viel zu hell. Als er die Hand unter seinem nackten Körper hervorzog und es ihm endlich gelang, Herr seiner widerstrebenden Lider zu werden, tropfte es dunkelrot von seinen Fingern auf das Laken.

»Châra!«, stieß er mit rauer Stimme hervor und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als es wieder einen lauten Schlag tat. War Shanya etwa zurückgekommen? Als er sich aufsetzte, wurde ihm schwindlig. Die Laken waren von ihrem Liebesspiel am Abend zerwühlt. Es war eine schwüle Nacht gewesen. Sie hatten wenig Zeit mit Worten verschwendet, und wieder einmal hatte er zu viel Wein getrunken. Wein, der jetzt eine dunkle Lache auf den Planken seines Hausboots gebildet hatte. Deniz konnte sich nicht daran erinnern, den Krug umgestoßen zu haben. Wenn er ehrlich sein sollte, konnte er sich an kaum etwas erinnern. Erneut schlug etwas gegen sein Boot. Deniz zog sich an einem Stuhl nach oben und fluchte, als er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.

»Was denn?«, brüllte er lauter als beabsichtigt in Richtung Tür und hasste sich im nächsten Augenblick selbst dafür, als der Schmerz von seinem Kopf durch den Nacken bis in die verspannten Glieder fuhr. Mit zittrigen Fingern griff er nach einer kleinen Flasche auf dem Tisch und leerte ihren Inhalt in einem Zug. Wenigstens half der Schnaps den widerlichen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben. Unter ihm gab der weingetränkte Teppich ein schmatzendes Geräusch von sich, als er nach seinem Hemd griff. An einem löchrigen Kamelhaarhocker vorbei bahnte sich Deniz seinen Weg über einen Haufen ungewaschener Kleidungsstücke zum Ausgang. Als er die Tür öffnete, war er für einen Moment geblendet. Schützend hielt er die Hand über seine Augen, bis sie sich an das gleißende Licht der Sonne gewöhnt hatten und der Schmerz in seinem Kopf langsam nachließ.

Doch auf dem Steg vor seinem Hausboot war niemand. Nur am Pier konnte er in einigen Schritt Entfernung ein paar Schemen ausmachen, die offenbar versuchten, einen Esel unter Aufbietung all ihrer Überzeugungskraft zum Weitergehen zu bewegen. Von den absurd hohen Wohntürmen des nahegelegenen Maraskanerviertels Dar-Marustani schrie eine alte Vettel in einer Lautstärke herunter, als ginge es ihr ans Leben, nur um einem Anverwandten von ihrem verbrannten Eintopf zu berichten. Erneut ging ein leichter Ruck durch das Hausboot, gefolgt von einem dumpfen Pochen. Kam das Geräusch etwa vom Wasser? Deniz wankte nach vorne auf den Steg zu. Die Fluten des Mhanadi bewegten sich kaum in dem stillen Seitenarm, in welchem er festgemacht hatte. Was zum Henker schlug also von unten gegen den kleinen Kahn, den Deniz seit über 15 Götterläufen sein Zuhause nannte? Wahrscheinlich handelte es sich wieder einmal um Unrat, den irgendein Hirnverbrannter achtlos in den Fluss geworfen hatte. Murrend schlurfte Deniz zum Heck seiner Wohnstatt und packte eine der losen Planken, die er vor über einem Jahr für Ausbesserungsarbeiten angeschafft hatte und die seither in der allgegenwärtigen khunchomer Schwüle vor sich hingammelten. Zurück am Steg beugte sich Deniz langsam nach vorn und schob das Holz behutsam in das dunkle Wasser. Die Bordwand des kleinen Boots war übersät von zahllosen dunklen Muscheln, und an den unteren dieser kleinen Schmarotzer hing tatsächlich ein Stück Stoff. Missmutig riss er das Holz nach links, als er plötzlich auf unerwartet großen Widerstand stieß. Deniz erstarrte, als er sah, was er soeben an die Wasseroberfläche befördert hatte. In den bräunlichen Fluten des Mhanadi trieb ein Unglücklicher, der sich mit den Resten seiner Hose offenbar zwischen Steg und Bordwand verfangen hatte. Langsam drehte sich die Gestalt im Wasser, und Deniz zweifelte nicht einen Herzschlag daran, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Der Körper war vom Hals an abwärts bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Brust und Bauch wirkten unnatürlich schmal, und Deniz erkannte verbranntes Fleisch und die Überreste seltsam unförmiger Eingeweide. Glucksend versank die Holzplanke im Mhanadi, als Deniz ibn Seyshaban über die Reling kotzte.

Kasim ben Gaftar schob einen bärtigen Mann zur Seite, um sich in der engen Gasse Raum zu verschaffen. Schon seit Tagen war die Stadt so überfüllt mit Händlern, Gauklern und Schaulustigen, dass niemand mehr auf die blaueSchärpe der Stadtgardisten achtete, geschweige denn darin einen Grund sah, Kasim Platz zu machen. Sicher, es kam nicht alle Tage vor, dass Kronprinz Stipen und seiner Gemahlin Madra ein Thronfolger geboren wurde. Hätte Kasim aber bereits vorher gewusst, dass die anstehenden Feierlichkeiten zu gerade diesem Ereignis seine Heimatstadt in ein derartiges Chaos stürzen würden, er hätte liebend gern darauf verzichtet. Schon seit Tagen erinnerte ihn sein Hauptmann, Agha Nadrash, an einen Sklavenaufseher, der die Gardisten hinaus in die überfüllten Straßen peitschte. Nicht einmal war Kasim in den letzten drei Tagen pünktlich daheim gewesen, um seinen Kindern das Einschlafen mit einer Geschichte zu versüßen. Ganz zu schweigen von den Nächten, in denen sich seine Frau Neraida fragen musste, ob ihr Mann überhaupt noch nach Hause kam.

Er schob sich an einem Lastkarren voller verführerisch duftender reifer Melonen vorbei und verfluchte abermals seinen Leibesumfang, als er zwischen dem Gefährt und der Wand eines Wohnhauses eingeklemmt zu werden drohte. Vielleicht hatte es ja doch sein Gutes, dass er in den letzten Tagen einige Mahlzeiten hatte auslassen müssen.

Er war erst seit knapp einer Stunde in der Stadt unterwegs, und schon nach kurzer Zeit hatte ihm ob dieser Anstrengung der Schweiß auf der Stirn gestanden. Als er das Ufer des Stillen Mhanadi erreichte, atmete er erleichtert auf und lenkte seine Schritte auf der deutlich leereren Straße in Richtung von Deniz’ Hausboot. Wahrscheinlich wäre sein Kollege nicht sonderlich erfreut, ihn zu sehen, aber Kasim rechnete es sich hoch an, dass er ihn nicht schon zu weitaus früherer Stunde aus dem Schlaf gerissen hatte. Stattdessen hatte er seinen Rundgang durch die Stadt allein angetreten. Selbstredend würde der Agha niemals etwas von Deniz’ Pflichtvergessenheit erfahren. Kasim seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass Deniz nicht pünktlich zum Dienst erschienen war. Immer wieder hatte Kasim ihn frühmorgens volltrunken aus einer Schänke wanken sehen. Sein Freund bekämpfte Ifriitim mit Hilfe des Al’Kohols, die für Kasim wohl auf immer unsichtbar bleiben würden.

Der Novadi wischte sich den Schweiß von der Stirn und strich sich durch den kurz gestutzten Vollbart, bevor er den Steg betrat, den Blick fest auf die Tür geheftet. Bei Rastullahs ewigem Atem, er würde Deniz aus seiner Schwermut reißen und ihm die Annehmlichkeiten zeigen, die das Leben zu bieten hatte! Sie würden einen Imbiss zu sich nehmen, den Kasims knurrender Magen dringend einforderte, und dann würden sie in der Stadt für Recht und Ordnung sorgen. Vielleicht gelänge es ihnen, ein oder zwei Taschendiebe dingfest zu machen, die in der Stadt derzeit vermehrt ihr Unwesen trieben. Gerade hatte Kasim die Hand erhoben, um zu klopfen, als die Tür aufgerissen wurde und er vollkommen verdutzt in Deniz’ Gesicht starrte.

»Bei Rastullah, du bist ja wach!«, war das Einzige, was er in seiner Überraschung herausbrachte.

Deniz starrte ihn mit dunkel geränderten Augen an. Seinem Blick haftete etwas Fiebriges an, doch Kasim musste mit Genugtuung feststellen, dass sein Kollege, obwohl er wie so oft unrasiert war, bereits Uniform trug.

»Morgen auch dir, Kasim. Wenn’s auch kein guter ist.«

Deniz schob sich an dem Novadi vorbei und beugte sich zu etwas herunter, das direkt neben ihm auf dem Boden lag. Kasims Augen weiteten sich, als Deniz das Laken zurückzog und der Blick des Novadis auf den entstellten Körper fiel.

Sofort riss er die Hände gen Himmel und wandte sich unter lautem Wehklagen ab.

»Der All-Eine sei uns gnädig! Ich wusste doch, es ist nur eine Frage der Zeit, bis du irgendwann jemanden umbringst! Womit habe ich es nur verdient, o Beherrscher aller Sandkörner, dass du mich in so etwas …«

»Du denkst allen Ernstes, ich hab ihn so zugerichtet? Ich hab keine Ahnung, wer der Kerl ist. Er hing an meinem Hausboot.« Deniz warf das Laken wieder über die Leiche, während Kasim noch immer verzweifelt mit den Händen ruderte und versuchte, nicht hinzusehen.

»Hast du ihn etwa aus dem Wasser gezogen, du Sohn der Torheit?« Kasims Blick richtete sich anklagend auf Deniz, der sich gerade ungerührt ein Stück Kautabak in den Mund schob und anfing zu mahlen.

»Ja.«

Kasim zog sich den Turban vom Kopf und begann das Stück Stoff zwischen seinen Fingern zu kneten.

»Du weißt doch genau, was im Zuge der Feierlichkeiten auf uns zukommt. Rastullah schenke dir Erleuchtung! Was hast du dir nur dabei gedacht, du Sohn eines altersschwachsinnigen Dromedars! Siehst du denn nicht, dass es sich um eine Wasserleiche handelt? Sie lag im Wasser! Bis du sie rausgezogen hast.« Kasim erstarrte mitten in der Bewegung.

»Noch ist es nicht zu spät. Wenn wir ihn einfach wieder in den Mhanadi werfen, muss sich die Hafengarde darum kümmern.«

Deniz schüttelte den Kopf und baute sich schützend über dem Leichnam auf.

»Vergiss es, Kasim. Ich will wissen, was genau mit dem armen Kerl passiert ist. Die Hafengarde, vorausgesetzt sie übersehen ihn nicht, wird die ganze Sache sicher unter den Teppich kehren.«

»Aber manches Mal ist das nicht die dümmste Entscheidung, Deniz. Der Agha ist ohnehin schon unberechenbar in den letzten Tagen. Und wenn du ihm jetzt auch noch eine Leiche herbringst … ich wage mir gar nicht auszumalen, was er mit uns machen wird.« Kasim legte Deniz beschwichtigend die Hand auf die Schulter und fuhr dann versöhnlicher fort: »Außerdem liegt in der Sache für uns kein Profit. Wahrscheinlich vermisst niemand diesen armen Schlucker. Es ist also kein Bakshish zu erwarten. Du weißt doch genau, was der Agha von solchen Unternehmungen hält.«

Doch Deniz’ Blick war starr auf den verhüllten Körper geheftet. »Wir müssen ihn zum Hakim bringen, damit er die Leichenschau vornimmt. Ich will wissen, woran er gestorben ist. Wir brauchen einen Wagen.«

Kasim warf die Arme in die Luft und schüttelte schicksalsergeben den Kopf.

***

Mit der linken Hand spannte er die Haut unter seinem Auge, während die andere ruhig die ovale Linie seines Lids nachfuhr. Sein Atem bildete neblige Schlieren auf dem kühlen Glas des großen, goldgefassten Kristallspiegels, als das Elfenbeinstäbchen zwischen seinen Fingern eine dicke Linie aus schwarzem Ruß auf seiner Haut hinterließ.

Das Rascheln der Bettdecke ließ ihn aufblicken. Während seine Hand zielsicher das silberne Kästchen mit dem Khol-Pulver fand, in das er das Elfenbeinstäbchen ablegte, warf er durch den Spiegel einen Blick auf den großen Diwan. Hinter Hunderten von Perlenschnüren, die vom Baldachin herabhingen, zeichneten sich unter dem Laken die Umrisse eines Körpers ab. »Khorim, komm zurück ins Bett«, forderte eine Frauenstimme schlaftrunken und unterstrich ihr Begehren, indem sie ihren Arm kraftlos auf die freie Seite neben sich fallen ließ.

»Glaube mir, meine Morgenröte«, antwortete der Angesprochene, während er nach einem kristallenen Fläschchen griff, »ich täte nichts lieber, als mit dir noch einige Stunden im Bett zu verbringen. Doch mein Amt ist eine eifersüchtige Geliebte, die uns keinen weiteren Moment der Zweisamkeit gönnt.« Er träufelte einige Tropfen des Duftöls auf seine Handfläche, stellte die Kristallflasche zurück und verrieb das Öl mit beiden Händen auf seinen frisch rasierten Wangen.

»Das erzählst du mir jeden Morgen«, erklang es schmollend vom Bett. »Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, und du willst dich schon wieder in deine Arbeit stürzen.«

Khorim warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und sah die rotglühende Scheibe sich langsam über das nachtblaue Meer erheben. Die Luft war noch feucht, und die Pflanzen des Palastgartens begannen langsam ihre Knospen zu öffnen und ihren betörenden Duft zu verströmen.

»Es wird ein langer Tag«, stellte er tonlos fest. »Die Planungen für die Feierlichkeiten sind längst nicht abgeschlossen. Und heute werde ich wohl kaum dazu kommen, sie fortzusetzen. Hohe Staatsgäste haben sich angekündigt. Die Herrschaften wollen schließlich angemessen empfangen werden. Im Hof der dreiunddreißig Säulen veranstalten wir heute Abend auf Wunsch des Großfürsten ein kleines Fest für unsere Gäste.« Er drehte sich zu ihr um und blickte in ihre von tiefschwarzen Wimpern umrahmten dunklen Augen. Im einfallenden Licht glaubte er, darin nicht zum ersten Mal ein grünliches Schimmern zu erkennen. »Ich würde es gern sehen, wenn du dich auf der Feier zeigst«, fügte er hinzu.

Sie lächelte und streckte die Hand nach ihm aus. »Nur, wenn du mir einen Tanz versprichst.«

Khorim ließ sich zu ihr auf die schweren Decken aus Damast nieder. Er ergriff ihre Hand und erwiderte ihr Lächeln. »Ich befürchte, dass ich der gazellengleichen Anmut, mit der du deinen Körper zu bewegen verstehst, nichts entgegenzusetzen habe. Gegen dich, du katzenhafte Tochter der Geschmeidigkeit, wirkte ich wohl so plump und unbeweglich wie ein Elefant. Und wir wollen den Großfürsten doch nicht durch die ungelenken Bewegungen seines Dieners beschämen.«

Als er ihr mit der Hand durch das nachtschwarze Haar fuhr, lächelte sie.

»Die Gäste des Großfürsten könnten sich in ihrem guten Geschmack beleidigt fühlen«, ergänzte er in gespieltem Ernst. »Besonders der Sultan von Gorien soll ein großer Förderer der Tanzkunst sein. Es wurden schon Kriege aus nichtigeren Gründen erklärt.«

Sie lachte und küsste ihn. Khorim genoss es, ihre Lippen auf den seinen zu spüren, und schloss die Augen. Erst als sie versuchte, ihn mit sanfter Gewalt zu sich in die Laken hinunter zu ziehen, löste er sich von ihr und fuhr mit den Fingern über ihre rechte Wange. Dabei streifte er versehentlich die blassrote Narbe, die sich von ihrem Wangenknochen bis hinunter zum Kinn zog. Sie zuckte zusammen, und Khorim zog betreten die Hand zurück. Gerade wollte er etwas zur Wiedergutmachung sagen, als vom Durchlass zum Nebenzimmer ein Räuspern zu hören war. Marek, sein Sklave, hatte den schweren Vorhang zur Seite geschoben und verneigte sich tief. »Verzeih, Effendi. Der Gharbistani wartet bereits auf dich.«

Khorim nickte und bedeutete Marek, sich zurückzuziehen. Er erhob sich, schloss die elfenbeinernen Knöpfe seines weißen Kaftans, schlüpfte in die Schnabelschuhe und griff zu dem roten Fez, der noch immer auf dem Lacktisch vor dem großen Spiegel ruhte.

Bevor er ihn aufsetzte, strich er prüfend durch sein kurzes, lockiges Haar. Als er bemerkte, dass sich wieder einmal ein graues Haar dazugesellt hatte, verzog er das Gesicht. Wenn sich die Gelegenheit ergab, würde er wohl beim Barbier nach einer Färbung verlangen müssen.

»Ich muss los«, flüsterte er. »Schlaf noch ein wenig, meine Pfirsichblüte.« Dann griff er nach seinem Amtsstab aus Elfenbein und verließ den Raum.

Leila seufzte und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Sie würde sich von Khorims Arbeitswut ganz sicher nicht um ihren Schönheitsschlaf bringen lassen.

Als Khorim auf den Flur hinaustrat, wurde er bereits erwartet. Ungeduldig wippte Bosper mit einem Fuß auf und ab, während sein Blick auf die runde Apparatur in seiner Hand gerichtet war. Khorim kannte dieses Vinsalter Ei nur zu gut, denn sein gharbistanischer Diener ließ nahezu keine Gelegenheit aus, einen gehetzten Blick darauf zu werfen. Es sei ein Zeitmesser, hatte er ihn unterrichtet, und das genügte dem Mittelländer als Erklärung, sich vollkommen dem Diktat dieses winzigen Gegenstands zu unterwerfen. Geradezu akribisch richtete er seinen Tagesablauf nach dem tickenden Kleinod aus.

Bosper zog die Stirn in Falten und klappte die Taschenuhr zu, als er sah, wie Khorim auf ihn zuhielt. »Exzellenz!«

»Guten Morgen, Bosper.«

Während Khorim schon an ihm vorbeieilte, vollzog Bosper eine formvollendete Verbeugung. Strammen Schrittes eilten sie durch die hohen Flure, an Dienern und Sklaven vorbei, die dienstbeflissen ihren Aufgaben nachgingen.

»Es ist bereits viertel nach sechs, Exzellenz«, erklärte Bosper, der mit seinem steifen Gang sichtlich Mühe hatte, Schritt zu halten. Der aufdringlich süße Geruch seines schwarzen Haars stieg Khorim in die Nase. Der Gharbistani pflegte sie jeden Morgen mit einer Fettsalbe einzureiben und streng nach hinten zu kämmen. »Ich bin zu spät?«

»Gewiss nicht, Exzellenz«, beschwichtigte Bosper, der mit beiden Händen eine Wachstafel vor die Brust gedrückt hielt. »Ganz sicher habe ich gestern Abend meine Uhr wieder nicht ordnungsgemäß aufgezogen. Wenn Ihr gestattet, werde ich den Fehler sogleich korrigieren.« Er klemmte die Wachstafel unter den Arm, holte die Apparatur aus seiner Hosentasche und begann, an einem kleinen Rädchen herumzuschrauben.

Khorim war derweil vor einem großen, prunkvoll gerahmten Spiegel stehen geblieben und überprüfte noch einmal die elfenbeinernen Knöpfe seines weißen Kaftans. »Danke, Bosper, aber das ist nicht nötig.«

»Exzellenz?« Der Diener sah auf.

Khorim korrigierte den Sitz der goldenen Seidenschärpe um seine Hüfte. »Ich schätze deine gharbistanische Penibilität«, erklärte er, während sie ihren Weg fortsetzten. »Sie ist der Grund, warum ich dich eingestellt habe. Seit du hier bist, sind unserer Flure sauberer als die Straßen von Wehrheim.«

»Ihr schmeichelt mir, Exzellenz«, gab Bosper zurück. »Dennoch sehe ich es als meine unabdingbare Pflicht, mich nach Euch zu richten. Was ist schon das Vermögen eines horasischen Mechanicus gegen die Macht des Khunchomer Palastwesirs? Die Uhren schlagen hier nach Eurem Takt, nicht umgekehrt. Nicht umsonst nennt man Euch hier den Erhabenen Meister der vollkommenen Ordnung.«

Khorim lachte. »Oh, du listiger Sohn eines Khunchomer Krämers! Man könnte meinen, du seist in unserem Land aufgewachsen, so sehr hast du dir bereits unsere Gepflogenheiten zu eigen gemacht. Du solltest wissen, dass sie mich hinter meinem Rücken auch Gnadenloser Meister der vollkommenen Ordnung nennen.«

»Sicherlich ein Detail, das mir aufgrund meiner nicht vollkommen ausgereiften Sprachkenntnisse bislang entgangen ist, Exzellenz.« Bosper deutete ein Lächeln an. »Ich bitte Euch, es mir nachzusehen.«

Die Palastwachen am Eingang salutierten, als sie hinaus auf den Hof der innigen Aufnahme traten. Die aufgehende Sonne blendete Khorim, sodass er seine Augen abschirmen musste. »Was sehen die Planungen für heute vor?«, fragte er schließlich und deutete auf die Wachstafel in Bospers Arm.

»Oh, ich befürchte, eine Menge, Exzellenz.« Bedauernd hob der Diener die Augenbrauen. Dann fuhr er fort, ohne einen Blick auf die Wachstafel zu werfen. »Zentrales Ereignis ist natürlich die Ankunft Hasrabals von Gorien. Wir erwarten sein Schiff zum Nachmittag.«

»Ist alles vorbereitet?«

»Selbstverständlich, Exzellenz. Wir quartieren ihn im Haram ein, in direkter Nähe zu seinem Urenkel, wie von Euch gewünscht. Ich habe vor nicht einmal einer halben Stunde die Dienerschaft angewiesen, seine Räume noch einmal zu kontrollieren und sie mit Obstschalen und Blumengestecken zu schmücken.«

Khorim nickte. »Sehr gut. Sobald er eingetroffen ist, wünsche ich, dass du dich ausschließlich um die Etage bemühst, auf der er untergebracht ist. Dem Sultan soll es an nichts fehlen.«

»Sehr wohl, Exzellenz.«

Sie durchquerten das tulamidisch geschwungene Tor der inneren Palastmauer, die Neben- und Haupthof voneinander trennte. Das Mosaik auf dem Hof der Rechtschaffenen Klarheit, welches das Familienwappen der Großfürstenfamilie zeigte, glänzte im Licht der aufgehenden Sonne und wurde nur von der prächtigen Messingkuppel überstrahlt, die über dem marmornen Palastgebäude thronte, auf das sie nun zuhielten. Das Haupthaus war ein tulamidischer Prachtbau mit hohen, schattigen Arkaden, die hoch wie ein Riese vor dem Besucher aufragten. Darüber erstreckte sich über die gesamte Breite des Baus ein Al‘Tan, der, teils freiliegend, teils wieder von Arkaden beschattet, der Fürstenfamilie als Ort der Muße, aber auch im Kreis enger Vertrauter als Ort der Repräsentation diente.

»Wie Ihr wisst, erwarten wir neben Hasrabal ben Yakuban noch weitere Gäste von politischer Bedeutung«, fuhr Bosper fort. »Bereits gestern sind die Gesandten aus Al’Anfa und Fasar eingetroffen, Pedresco Bonareth und Nareb ben Khajid. Ich habe sie im Gästehaus unterbringen lassen. Die bornische Gesandte Elkwinja Stoerrebrandt hat es dagegen vorgezogen, ein Haus ihrer Familie in der Stadt zu beziehen.«

Khorim nickte.

»Die Aranier nutzen den Anlass, um ihre Botschaft in Khunchom dauerhaft neu zu besetzen. Wie Ihr Euch sicher erinnert, Exzellenz, ist die letzte Botschafterin im vergangenen Phex während der Laila-al-Drakorim ums Leben gekommen.«

»Ja, ich erinnere mich. Sie starb auf der Fürst-Istav-Allee, als ihre Sänfte von den panischen Massen in den Mhanadi gedrängt wurde, nicht wahr?«

»Das ist korrekt, Exzellenz. Die neue Emissärin wird am heutigen Tag erwartet. Ich war so frei, ein Blumengesteck als Gastgeschenk zu organisieren. Ich nahm an, es wäre dem tsagefälligen Anlass angemessen.«

»Sehr gut«, nickte Khorim erstaunt.

Bosper sah zu ihm auf und hob bedeutungsschwanger die Augenbrauen. »Bitte, Exzellenz, vergesst nicht, dass ihr als Vertreterin eines wichtigen Nachbarreichs die Ehre gebührt, von Euch persönlich in Empfang genommen zu werden.«

Khorim nickte schicksalsergeben. Eine weitere Verantwortung, der er sich nicht entziehen konnte. Er wünschte, dieser Tage hätten weit weniger bedeutsame Ereignisse auf einmal angestanden. Ein Eselkarren in Begleitung einiger kräftiger Männer und einer Frau kam auf den Haupthof gerollt. Sie trugen breite Gürtel mit Schlaufen und Tragetaschen um ihre Kaftane und Pluderhosen, in denen Werkzeuge steckten. Auf dem Kutschbock saß ein älterer Mann mit graumeliertem Bart, einem wettergegerbten Gesicht und abgetragenen Turban, der ehemals weiß gewesen, inzwischen jedoch durch den Staub seines Tagwerks verdreckt war. Auf der Ladefläche türmten sich Kisten, Fässer und Säcke. »Salâm, Baba!« Eilig näherte sich Khorim dem Karren.

Der ältere Mann auf dem Kutschbock stoppte die Fahrt und hob erfreut die Arme. Khorim streckte sich zu dem Alten hinauf, legte ihm die Hände auf die Schultern und presste seine Lippen links und rechts auf die Wangen des Mannes. Bosper runzelte überrascht die Stirn.

»Benam!«, rief der Alte aus und erwiderte die Umarmung. Dabei hinterließ er graue Staubspuren auf dem strahlendweißen Seidenkaftan des Palastwesirs. Bosper rümpfte die Nase. Hoffentlich würde man die Flecken durch einfaches Klopfen wieder herausbekommen.

»Preise den Fleiß dieses alten Mannes, mein Sohn!«, sprach der Alte, während er die Hand des Palastwesirs drückte. »Während sich die ganze Stadt im Freudentaumel an der Großzügigkeit des Fürsten erfreut, üben wir Kinder des Tatendrangs uns in Bescheidenheit und erscheinen pünktlich bei Sonnenaufgang zur Arbeit.«

Khorim lachte. »Ich danke lieber der Mutter der Weisheit, dass sie dich nicht vergessen ließ, wessen Großzügigkeit du hier jeden Tag genießt, Vater des Fleißes.« Dabei klopfte er ihm mit dem Knauf seines Elfenbeinstabs herausfordernd auf die Brust.

»Oh, sei unbesorgt«, erwiderte der Alte ernst. »Deine Mutter und ich schließen den Großfürsten und seine Familie jeden Abend in unsere Gebete ein.«

Einen Moment lang blickten sie sich schweigend an. Dann zwinkerte der Alte und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. Schließlich wurde daraus ein geselliges Lachen, und er klopfte Khorim auf die Schulter, dass es staubte.

»Kein Grund zur Sorge, mein Junge. Ich habe meinen Sohn doch nicht zum Palastwesir gemacht, um nun leichtfertig seine Gunst aufs Spiel zu setzen. Es wäre doch sehr schade, wenn sich in diesem großen Palast keine Arbeit mehr für einen alten Edelhandwerker und seine Gesellen finden ließe.« Dabei drehte er seinen Kopf in großem Bogen von der einen zur anderen Seite, als könne er dadurch die Größe des Palastgeländes besser verdeutlichen.

Bosper beäugte unterdessen misstrauisch die anderen Handwerker. Besonders der bohrende Blick eines Handwerksgesellen behagte ihm nicht. Der Mann, der mit seinem dunkelblonden Schnauzbart wie ein Mittelländer aussah, jedoch gänzlich tulamidisch gekleidet war, hatte ihn schon die ganze Zeit so unangenehm angestarrt. Hörbar klappte er seine Taschenuhr zu und versuchte, die Gaffer damit aus ihrer Lethargie zu reißen. Dann räusperte er sich. »Ich bitte um Verzeihung, Exzellenz, aber es ist schon spät, und es gibt viel zu tun.« Er schwenkte die Wachstafel in seiner Hand und warf einen Blick in die Runde. »Ich bin sicher, die Herrschaften können es kaum erwarten, endlich ihrem Tagwerk nachzugehen.«

***

Die gequälten Töne einer Kabasflöte erfüllten den Straßenzug und entfalteten sich zu einer hypnotisierenden Melodie, der nicht nur die Schlange in ihrem Bastkorb hilflos ausgeliefert war. Vom gefährlich anmutigen Tanz des giftigen Tiers angezogen, kamen die Menschen herbei und bildeten eine Traube Schaulustiger vor dem abgewetzten Teppich ihres Beschwörers.

»Sie feiern, als wüssten sie bereits, dass Khunchom eine große Zukunft bevorsteht«, erklang eine tiefe Stimme und ließ den Narbengesichtigen aufhorchen.

Er sah zu dem Neuankömmling auf, der sich auf ein Sitzkissen sinken ließ und ihn mit seinen braunen Augen musterte. Der Verschleierte lehnte seinen linken Unterarm lässig auf die Kante des kleinen Kupfertischs und fuhr verspielt mit den beringten Fingern über die kunstvoll eingeätzten Verzierungen.

»Die Prinzessin hat einen gesunden Jungen zur Welt gebracht«, entgegnete der Narbengesichtige. »Gibt es einen besseren Anlass, den Feuern der Hoffnung neue Nahrung zu spenden?«

Ein Knabe in Pluderhose und Weste eilte herbei, ein Tablett in der Hand. Stumm platzierte er ein kleines Auffangbecken auf dem Tisch und stellte zwei Teeschalen darauf. Während er mit der einen Hand das Tablett balancierte, gab er mit der anderen Teeblätter in eine Porzellankanne. Dann goss er aus einem Kupferkessel heißes Wasser darüber, schloss den Deckel und ließ die Blätter ihr Aroma entfalten.

»Ich will es hoffen.« Der Verschleierte griff nach einer Dattel, und seine Finger glitten mit der Frucht unter die Stoffbahn des Turbans, mit der er Mund und Nase bedeckte. Kauend sprach er weiter. »Getragen von dieser Hoffnung habe ich gestern dreißig Marawedis verloren.«

Der Knabe hob den Deckel von der Kanne und goss das dampfende Getränk in die bereitstehenden Schälchen. Dann entfaltete er einen kleinen Fächer und verteilte den Aufguss des guten Geruchs gleichmäßig auf seine beiden Gäste. Der Vermummte schloss die Augen und atmete tief ein. Der Narbengesichtige schien vom Aroma des Tees nichts wahrzunehmen, oder er schätzte es schlichtweg nicht. »Das tut mir leid«, entgegnete er teilnahmslos.

Der Verschleierte hob ablehnend die Hände, während seine Kiefer weiter mahlten. »Gräme dich nicht meinetwegen. Ich werde es verschmerzen.« Er ließ seine Hand erneut in die Dattelschale gleiten. »Der Hahnenkampf war manipuliert, dessen bin ich mir sicher.«

Stumm hob der Knabe den Deckel von der Porzellankanne und übergoss die Teeblätter erneut mit heißem Wasser. Den ausgeschenkten Tee gab er derweil in das Auffangbecken.

»Wenn ein stolzer Hahn nach zwei Kratzern anfängt zu torkeln, als hätte er vergorene Früchte gefressen, muss etwas faul sein. Der alte Gerbhold sieht zwar aus wie ein naiver Gharbistani, tatsächlich aber ist er mit allen Wassern des Mhanadi gewaschen. Der überlässt nichts dem Zufall.«

Der Knabe nahm die Kanne und goss den Aufguss des Guten Geschmacks in die Teeschalen. Dabei wechselte er zwischen beiden Schalen, wodurch der Tee in beiden Tassen die gleiche Qualität erhalten sollte. Mit gesenktem Blick reichte er den Gästen das Getränk und verbeugte sich.

»Shokran«, bedankten sich die beiden Männer. Der Verhüllte schnippte ihm einen Muwlat zu, und der Knabe entfernte sich.

Auf der Straße wich die Menschentraube vor einer anmutigen Frau mit Fußkettchen und Hennamalereien zurück, die die Schlange aus dem Korb geholt hatte und sie nun auf ausgestreckten Armen der Menge präsentierte. Die Kabasflöte spielte weiterhin ihre quengelnde Melodie. Die beiden Männer hatten sich über den Tisch gebeugt und unterhielten sich mit gesenkten Stimmen. Niemand würde ihnen lauschen können.

»Warst du erfolgreich?«, fragte der Verschleierte.

Der Narbengesichtige stellte die geleerte Tasse auf den Tisch zurück. »Es wirkt, wie du es mir beschrieben hast.«

Trotz der Stoffbahn vor Mund und Nase glaubte er, ein Grinsen im Gesicht des Verhüllten zu erkennen. »Wunderbar. Ich wusste genau, dass du der Richtige für dieses Unterfangen bist.«

Geschmeichelt senkte der Narbengesichtige den Kopf. »Ich danke dir für dein Vertrauen.«

Der Verschleierte beugte sich, die heiße Teeschale in Händen haltend, zu seinem Gesprächspartner herüber. »Und die Leiche?«

»Schwimmt mit den Krokodilen im Mhanadi. Allerdings …« Der Narbengesichtige senkte den Blick.

»Allerdings was?«

»Es ist nicht alles nach Plan verlaufen«, gestand sein Gegenüber ein. Unsicher beobachtete er die Reaktion seines Auftraggebers. »Es gab einen Zeugen.«

Der Vermummte zog scharf die Luft ein, sagte aber nichts. Er hob die Teeschale zum Mund und trank. Wind blähte den Baldachin, unter dem sie saßen, und trug das Jubeln der Menge heran, die sich noch immer um den Teppich des Schlangenbeschwörers scharten. Seine anmutige Helferin hatte sich eines der Tiere um ihren schlanken Körper gewunden und vollführte, Auge in Auge mit der züngelnden Bestie, einen rahjanischen Tanz, bei dem sie sich fast ebenso gelenklos zu verbiegen schien wie eines ihrer Tiere.

Der Vermummte setzte die Tasse abrupt ab. »Wer?«

»Ein fahrender Gaukler«, antwortete der Narbengesichtige ruhig. »Er war mit ihm unterwegs, als es passierte. Er hat alles mit angesehen.«

»Hat er dich gesehen?«

Der Narbengesichtige schüttelte den Kopf.

»Soll ich ihn beseitigen?«, fragte er nach einem Moment des Schweigens.

Der Vermummte winkte ab. »Er weiß von nichts. Ein weiterer Toter würde nur unnötig Aufmerksamkeit auf uns lenken.« Er erhob sich, straffte seine schwarze Kleidung und warf dem Narbengesichtigen einen Beutel mit Münzen zu. »Ich bin trotz allem zufrieden mit deiner Arbeit.«

Der Mann mit dem rostroten Haar verneigte sich dankbar.

»Halte dich zu meiner Verfügung. Ich werde deine Dienste möglicherweise noch einmal benötigen.« Er erhob sich, strich seinen Kaftan glatt und war kurz darauf in der Menge verschwunden.

 

 

 

Tote Zahlen kein Bakshish

»Mir scheint, es fehlt das Fleisch, Exzellenz«, bemerkte Bosper, als sie wenig später im Hof der dreiunddreißig Säulen Platz genommen hatten. Sie hatten sich hier eingefunden, das Essen vorab zu kosten, welches am Abend den hohen Herrschaften gereicht werden sollte. Auf einem kleinen runden Tisch vor ihnen dampften Fladenbrot und Kuskus, daneben stand eine Schale mit gebackenem Obst. Nur der Topf mit dem Lammfleisch, die Hauptspeise, fehlte.

»Wenn das Gröbste überstanden ist, möchte ich, dass du dir ein paar Tage freinimmst«, entgegnete Khorim, ohne auf Bospers Feststellung einzugehen. Im Hof war bereits alles für das Fest am Abend vorbereitet. Unter den Arkaden gruppierten sich Sitzkissen um kleine Tische, an denen die hohen Herrschaften speisen und ihre Wasserpfeifen genießen würden, während in der Mitte des Hofs Platz für die Gaukler, Tänzer und Musiker blieb, die der Palastwesir bestellt hatte.

»War mein Ton Eurem Vater gegenüber nicht angemessen, Exzellenz, dass Ihr mir diesen Vorschlag unterbreitet?« Bosper klang sichtlich betroffen.

»Nicht doch, Bosper. Herausragende Leistungen erfordern besondere Anerkennung. Du, der diensteifrige Vater der Beflissenheit, wirst nicht müde darin, gute Arbeit zu leisten. Also sollst du den Lohn dafür erhalten. Nimm dir frei, du hast es dir verdient«, sagte Khorim.

Bospers Gesicht hellte sich auf und er verneigte sich. »Vielen Dank, Exzellenz. Ihr seid zu großzügig. Doch versichere ich Euch, dass es für mich keinen größeren Lohn gibt, als Euch zu dienen.«

Der Palastwesir staunte. Bosper verstand sich schon sehr gut auf die heuchlerische Höflichkeit seiner Landsleute.

Gerade wollte er zu einer Erwiderung ansetzen, als ein kleiner, runder Mann mit Halbglatze und dickem Bauch aus dem Hauptgebäude gestürzt kam. Über dem Kaftan trug er eine mit Flecken besudelte Schürze. Sein Gesicht war rot angelaufen. Khorim glaubte Angst darin zu erkennen. Hastig warf sich der Mann vor dem Palastwesir und seinem Diener auf den Boden und vollführte eine ehrerbietige Verbeugung. Dabei knetete er nervös seinen weißen Turban in den Händen. »Effendi«, keuchte er. »Etwas Furchtbares ist geschehen, Effendi. Eine Katastrophe!«

Khorim bedeutete ihm, sich zu erheben. Mit dem zerknautschten Turban in seiner Hand fuhr er sich über die schweißbedeckte Stirn. »Das Essen, Effendi! Es war alles umsonst. Und ich sagte ihm noch, du musst immer wieder rühren. Die ganze Nacht. Sonst brennt es an«, jammerte der Koch.

Khorim wurde hellhörig. Er richtete sich auf.

»Was genau?«, erkundigte sich der Palastwesir.

»Na das Fleisch! Der dumme Junge muss sich heute Nacht auf das Fest gestohlen haben. Als ich ihn heute Morgen fand, war er sturzbetrunken. Châra!«, fluchte er und zuckte mit der zur Faust geballten Hand, als wollte er einem unsichtbaren Gegner in den Magen boxen. Dann wurde ihm bewusst, was er gesagt hatte, und er hielt sich die Hände vor den Mund, während er eine Entschuldigung murmelte.

»Und es ist nichts mehr zu retten?«, fragte Khorim mit sorgenvoller Miene.

»Normalerweise schon. Aber dieser feige Prinz der Heimlichkeit hat seinen Fehler zu vertuschen versucht und kräftig umgerührt. Nun schmeckt alles verbrannt.« Er sank auf die Knie. »Aber er ist auch nur ein fehlbarer Geselle, Effendi. Ich bin sein Meister und selbstverständlich bereit, die Schmach seines Versagens auf mich zu nehmen.«

Nachdenklich drehte Khorim den Knauf seines Elfenbeinstabs zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann winkte er ab. »Kannst du es neu kochen?«

Der Küchenmeister hielt den Kopf gesenkt. »Natürlich, Effendi. Aber dann werden die Süßspeisen nicht mehr rechtzeitig fertig.«

Khorim erhob sich. »Dann mach dich an die Arbeit. Ich schicke dir jemanden, der dir in dieser Stunde der Not helfen wird.«

»Ich danke dir, o Vater des Großmuts.« Der Koch verneigte sich und entfernte sich langsam, ohne dabei dem Wesir den Rücken zuzudrehen.

Khorim wandte sich an Bosper. »Sein Geselle soll zwölf Peitschenhiebe erhalten«, urteilte er kalt. »Und wehe ihm, wenn er danach nicht mehr arbeiten mag! Sorge auch dafür, dass das gesamte Küchenpersonal zusieht. Ich dulde keine Pflichtvergessenheit.«

»Sehr wohl, Exzellenz.« Bosper verneigte sich und machte eine kurze Notiz auf seiner Wachstafel.

»Und schick Arif in die Küche. Er soll sich um die Süßspeisen kümmern.«

Bosper sah auf und hob fragend eine Augenbraue. »Der Leibkoch des Kronprinzen, Exzellenz? Prinz Stipen wird sicherlich nicht erfreut sein, das zu hören.«

»Er wird es verstehen – hoffe ich.« Aufmunternd klopfte er Bosper auf die Schulter. »Und nun entschuldige mich. Wenn ich mich recht erinnere«, er klopfte mit seinem Stab gegen Bospers Hosentasche, wo sich die Umrisse seiner Uhr abzeichneten, »ist es nun an der Zeit, mich meiner Korrespondenz zu widmen.« Er deutete einen knappen Gruß an, dann verließ er den Hof.

***

Ein Klopfen ließ Khorim wenig später von seinem Schreibpult aufblicken. Sein Sklave Marek stand in der Tür und kündigte einen Besucher an. »Beruddin ben Tabbuleh, Effendi.«

»Soll reinkommen!«, befahl er. Er stellte die Schreibfeder zurück in ihr Tintenfass und bestreute die geschriebenen Zeilen eilig mit Löschsand, ehe er das Papier zusammenrollte und in eine Lederhülle schob. Gerade hatte Khorim sie an ihren angestammten Platz im Regal zurückgelegt, als der Vertraute Stipen Kulibins seine Schreibstube betrat. Er verneigte sich knapp, ohne Khorim dabei aus den grauen Augen zu lassen. Sein Gesicht mit den speckigen Wangen und dem viel zu kleinen Kinn glänzte im Licht der einfallenden Sonne. Der Mund offenbarte ein zaghaftes Lächeln, von dem Khorim nicht sagen konnte, ob er es freundlich oder hinterhältig nennen sollte.

»Rastullah aley ak, erhabener Meister der vollkommenen Ordnung«, grüßte er unterwürfig.

»Salâm«, erwiderte Khorim den Gruß und wies mit dem ausgestreckten Arm auf eine Sitzecke, neben der eine Wasserpfeife stand. »Setz dich«, forderte er ihn auf.

Beruddins Blick blieb an Khorims Hand mit dem polierten Ring aus Elfenbein hängen. Schließlich deutete er erneut eine Verbeugung an und erwiderte: »Shokran. Aber es wird nicht nötig sein, Effendi. Mein Anliegen ist schnell vorgetragen.«

Umso besser, dachte Khorim. Er konnte die Hofschranze Prinz Stipens nicht ausstehen. Der junge Prinz hatte ihn während seiner Studien in Mherwed kennengelernt. Seitdem wich er ihm nicht mehr von der Seite und hatte sich in den wenigen Jahren zu einem bedeutenden Berater entwickelt. Erst die kürzliche Hochzeit mit Madra saba Yakuban hatte den Einfluss Beruddins geschmälert. Doch Khorim war sich sicher, dass dem Günstling, so er sich keine Fehler erlaubte, ein kometenhafter Aufstieg bevorstand, wenn der Prinz seinem Vater erst einmal auf den Thron gefolgt war. Lang lebe Selo Kulibin, dachte er.

»Sprich!«, forderte Khorim ihn auf. »Was liegt dir auf der Seele?«

»O Effendi, mein Herz ist voll der Sorge um deines lieben Vaters Zukunft«, heuchelte er. »Und um deine natürlich auch.«

Argwöhnisch musterte Khorim den Günstling, der nun damit begann, selbstgefällig durch seine Arbeitsstube zu schlendern. »O du selbstloser Spender von Mitleid«, höhnte er, »welches Schicksal mag dich wohl zu solcher Sorge gerührt haben?«

Beruddin blieb stehen und verschränkte die Arme hinter seiner mit Edelsteinen besetzten Weste. »Ist es nicht so, dass du deinen ehrbaren Vater und seine Handwerker in diesen Mauern beschäftigst?«

»Sie errichten den Surâdeq der Elementaren Harmonie«, antwortete er. Dabei betrachtete er mit Missbilligung Beruddins Schuhe, die er aller Höflichkeit zum Trotz anbehalten hatte und deren Dreck er nun auf seinem Teppich verteilte.

Beruddin verzog die Stirn in gespielter Verwunderung. »Seltsam. Und ich glaubte, stets Baulärm aus dem Haram vernommen zu haben.«

»Sie verzieren außerdem die Bögen und Säulen in den Gängen«, ergänzte Khorim trocken. »Die Stuckarbeiten dauern länger als erwartet.«

»Ach, so ist das.« Er kam näher und musste aufsehen, um Khorim in die Augen zu blicken. Der Palastwesir überragte ihn um fast einen Kopf. Dann nickte er verständig. »Das erklärt natürlich, warum Prinz Stipen in den letzten Tagen so missgestimmt ist.«

Khorim sah ihn fragend an.

»Na, der ganze Lärm«, fuhr Beruddin gedehnt fort. »Das ist doch kaum auszuhalten. Und wenn dann noch der berühmte Großvater des Eheweibs zu Besuch kommt. Stell dir das einmal vor: Wenn auch Hasrabal den ganzen Tag diesem Lärm ausgesetzt sein sollte.« Er schüttelte sich. »Furchtbar. Man will schließlich einen Palast präsentieren, keine Baustelle.«

»Wenn das alles ist, was du zu sagen hast …«, erwiderte Khorim knapp.

Beruddin hob pikiert die Hände zur Brust, als habe Khorim ihm einen Dolchstoß verpasst. »Aber Effendi? Ich habe doch nur dein Bestes im Sinn. Es würde mein mitfühlendes Herz schmerzhaft kränken, wenn dein armer Vater auf seine alten Tage noch seiner Arbeit verlustig ginge.«

»Raus hier«, befahl Khorim knapp und wies zur Tür.

Beruddin seufzte. »Wie du wünschst, Effendi.« Er grinste zufrieden. »Ich werde dem leidgeplagten Prinzen bestellen, dass er sich in der Tugend der Geduld wird üben müssen. Gut Ding will bekanntlich Weile haben.« Den Blick noch immer auf das Gesicht des Palastwesirs gerichtet, streifte er seine Schuhe an Khorims teurem Teppich ab. »Ich bin mir sicher, er wird Verständnis haben.«»Yalla barra!«, schrie Khorim. Sein ausgestreckter Zeigefinger zitterte. Sein Blick blieb auch dann noch auf der Tür haften, als Beruddin die Arbeitsstube längst verlassen hatte.

***

»Ich muss kein Wahrsager sein, um dir die hoffnungslosen Aussichten deines wahnsinnigen Vorhabens vorherzusagen.« Keuchend folgte Kasim seinem Kollegen zur Garnison. Immer wieder hatte er Schwierigkeiten gehabt, mit Deniz Schritt zu halten. Während die Leute auf den engen Gassen seinem bedrohlich wirkenden Kollegen ausgewichen waren, hatte er Bekanntschaft mit unzähligen Ellbogen, Schultern und Schienbeinen gemacht. Es war, als ob sich die Flut der Festbesucher vor Deniz teilte, wie die Wassermassen eines Flusses, denen ein Elementarist gebot. Ihn jedoch, Kasim, schienen die Menschen überhaupt nicht wahrzunehmen. Die aufgestauten Massen, die sich bis in die hintersten Ecken der engen Straßen gezwängt hatten, gaben, kaum dass Deniz sie passiert hatte, dem Druck nach und schlugen wie die Fluten eines Sturzbachs über Kasim zusammen. Rastullah allein wusste, wie viele blaue Flecken er bis zum Abend davontragen mochte.

»Wir werden sehen«, erwiderte Deniz uneinsichtig, als sie den Marktplatz überquerten. Der Basar war trotz der frühen Tageszeit von Dutzenden Besuchern belagert. Die Rufe der Marktschreier drangen an ihre Ohren, ebenso wie der quälende Klang der Kabasflöten, zu deren Takt sich irgendwo eine Tänzerin mit hell klingelnden Glöckchen bewegte. Ein Haimamud pries in allen Farben des Regenbogens die Großartigkeit des mächtigen Zaubersultans Hasrabal von Gorien, der die Stadt zu den bevorstehenden Feierlichkeiten mit seinem Besuch beehren sollte. Es roch nach Gebratenem und Gesottenem. Der Duft frischer Früchte und herzhafter Gewürze mischte sich mit dem Rauch der Wasserpfeifen, an denen Händler und Kunden während ihrer Verhandlungen zogen.

Kasim schüttelte den Kopf. »Warum kannst du dich nicht einmal an die einfachsten Anweisungen halten? Musst du ihn immer derart gegen dich aufbringen? Der Agha hat ausdrücklich angeordnet, dass wir uns während des Stadtfests nur den Arbeiten widmen sollen, die auch Geld einbringen. Und Tote zahlen nun mal kein Bakshish.«

»Jemand wurde ermordet. Oder glaubst du, er hat sich selbst so zugerichtet? Unsere Aufgabe ist es, diese Scheiße zu verhindern.«

»O du selbstloser Hadjin der Gerechtigkeit! Hör auf, Dinge verhindern zu wollen, die bereits geschehen sind! Wie willst du auf diese Weise die Gewinnquote erbringen, die der Agha festgesetzt hat? Vergiss nicht, dass am Ende auch etwas für dich übrig bleiben muss.« Er sah demonstrativ an Deniz herunter, rümpfte die Nase und sog zweimal scharf die Luft ein. »Und das nicht zu knapp«, ergänzte er, »wenn ich an all die sündhaften Laster denke, denen du genusssüchtiger Sohn der Rauschhaftigkeit verfallen bist.«

Die beiden erreichten die Garnison, deren großes Tor weit geöffnet stand. »Sieh nur!« Kasim wies auf eine dunkle Rädersänfte, die neben dem Eingang geparkt worden war. Der Fahrer hatte sich unweit davon an die Garnisonsmauer gelehnt, den breiten Strohhut ins Gesicht gezogen. Offenbar hatte er beschlossen, den entgangenen Schlaf der frühen Morgenstunden nachzuholen. »Die Riqja des Aghas. Offenbar ist Nadrash ibn Marwan schon zugegen.«

Sie passierten das Tor und schritten durch den breiten Gang, der auf den Innenhof führte. »Ich bitte dich, Deniz, ärgere ihn nicht.« Kasim sah zu seinem Kollegen auf. »Nach Dienstschluss kannst du so viele Leichen aus dem Mhanadi ziehen, wie du willst. Aber bis dahin lass der Hafengarde auch ihren Spaß und kümmere dich um das, was der Agha uns aufträgt.«

Deniz schien Kasims Bitten überhört zu haben und deutete stattdessen auf den Innenhof. Laute Schreie und Rufe drangen von dort herüber, wie man es sonst nur aus dem Schmiede- oder Maraskaner-Viertel gewohnt war. Staub wurde aufgewirbelt und wehte in einer dichten Wolke über den Platz. Auf dem Hof ging es zu wie bei der Sklavenauktion auf dem Kamelmarkt. Eine Gruppe von mehr als einem Dutzend Menschen hatte sich um einen Handkarren gruppiert, auf dem der dickbäuchige Gardist Rhukeyef Stellung bezogen hatte, der von dort versuchte, die Menge zu koordinieren. Dabei wirkten seine weit ausladenden Gesten ebenso verloren wie sein Versuch, gegen die Meute anzuschreien. Noch ehe Deniz und Kasim die Situation erfasst hatten, mussten sie vor drei Kollegen zurückweichen, die einen wild zappelnden und um sich schlagenden Gharbistani in Richtung der Arrestzellen abtransportierten. »Das ist eine bodenlose Unverschämtheit! Ihr seid doch alle gekauft!« Der Mann war puterrot angelaufen, sein blonder Spitzbart zitterte vor Zorn, und immer wieder reckte er die geballte Faust in Richtung der umstehenden Gardisten. »Ist selbst Gerechtigkeit nur eine Ware in diesem Land, die sich wie eine billige Hure dem Meistbietenden an den Hals wirft? Wollt ihr denn nicht sehen, dass Hasrabal euer aller Untergang bedeutet? Hat euch die Nacht der Drachenträume nicht vor Augen geführt, wozu er fähig ist?«, brüllte er aus vollem Hals, während die Gardisten ihn weiterzogen.

Kasim sah dem Abtransportierten einen Moment lang kopfschüttelnd nach. Dann ließ er seinen Blick suchend über die Menge gleiten. Eine junge, hochgewachsene Tulamidin mit straff zurückgebundenem schwarzen Zopf in Uniform der Stadtgarde versuchte verzweifelt, die Namen und Anliegen der Bittsteller in eine lange Liste einzutragen. Nishat war die einzige Frau unter den fünfzig Stadtgardisten, und nicht nur Kasim zweifelte immer wieder an ihrer ungewöhnlichen Berufswahl. Viele gaben sich nur äußerst widerwillig mit ihr ab und lästerten hinter ihrem Rücken. Aber sie konnte Kasim vielleicht erklären, was der ganze Trubel zu bedeuten hatte. Er ließ Deniz zurück und wand sich durch die Menge der Feilschenden. Soeben bot ein Mann in weißem Kaftan und Keffiya, der Bedeckung für einen größeren Gewürzwarenstand suchte, einen Marawedi für jeden Gardisten, den man ihm zur Bewachung zur Verfügung stellte. Kasim sah noch einmal zurück zu Deniz, doch der machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Er schien ein anderes Ziel zu haben.

»Bitte!« Ein Mann packte Kasim unvermittelt bei den Schultern. Er trug ein Seidenhemd und eine Hose aus feinem, dünnem Stoff. Die Kleidung war an einigen Stellen eingerissen. Seine Weste mochten einmal Edelsteine geziert haben, nun klafften an jenen Stellen Löcher und offene Nähte. Sein Gesicht war blutverschmiert, das blonde Haar klebte ihm im Gesicht. »Ihr müsst mir helfen! Sie haben mir alles genommen«, flehte er. »Aufgelauert haben sie mir. Bei Tag. Mitten in der Stadt.« Er wies auf die Wunde an seinem Kopf. »Nichts ist mir geblieben, außer den Kleidern, die ich am Leib trage.«

»O du unglücklicher Vater der Traurigkeit«, stimmte Kasim in das Lamentieren mit ein und legte dem Mann mit dem Mitleid eines Wasserhändlers, dem in der Wüste ein Verdurstender begegnet, die Hand auf die Schulter. »So preise Rastullah für seine Gnade, dass du ausgerechnet an Kasim ben Gaftar geraten bist, den großherzigen Streiter für Gerechtigkeit.«

Das Gesicht des Mannes hellte sich auf.

»Für eine kleine Geste der Dankbarkeit will ich dir helfen, diese hinterhältigen Straßenköter ihrer gerechten Strafe zuzuführen«, fügte Kasim hinzu und erntete wieder Blicke der Verzweiflung.

»Aber sie haben mir doch alles genommen. Wie soll ich das Bakshish bezahlen?«

Kasim biss sich auf die Unterlippe. Dann hellte sich sein Gesicht wieder auf, und er erwiderte überschwänglich: »O du Züchter der Sorgenfalten, auch das ist kein Grund zu verzagen.« Er drehte den Fremden mit der Front in Richtung des Karrens. »Siehe, mein Freund Rhukeyef dort wird dir helfen. Sein Herz ist ebenso massig wie sein Körper und voll des Mitleids für die Kinder der Armut.« Sanft schob er ihn auf die feilschende Menge zu.

»Aber«, begann der Fremde zu protestieren. »Aber dort habe ich es doch schon versucht. Deswegen kam ich doch …«

Kasim war eilig weitergegangen, und das Flehen des Fremden ging schon bald im Geschrei der Menge unter. Dieser Sohn des Unglücks konnte ihm leidtun. Aber wenn er die Mühen, die er verursachte, nicht bezahlen konnte, machte Kasim ein schlechtes Geschäft, wenn er sich auf sein Bitten einließ. Noch einmal betrachtete er die vielen Menschen, die sich um den Karren gruppierten. Etwas unheimlich waren sie ihm schon. Sie erinnerten ihn an Hungerleider, denen nach Wochen der Entbehrungen endlich ein kläglicher Happen zugeworfen wurde.

»Wir sind völlig unterbesetzt«, begrüßte ihn Nishat, die Kasims Blick richtig gedeutet hatte. »In der Stadt ist mehr los als beim alljährlichen Gauklerfest, und ein paar unserer Kollegen nehmen wohl lieber an den Feierlichkeiten teil, als ihre Pflicht zu erfüllen.« Ein verächtlicher Unterton lag in ihrer Stimme. »Andere machen es wie Rafid, erscheinen zum Dienst, sind aber voll wie zwanzig Bornländer und zu nichts zu gebrauchen.« Sie wies mit dem Kopf in Richtung der Menge. »Der Agha hat befohlen, ohne Bakshish keinen Finger zu rühren. Dass wir gar nicht dazu kommen, uns um alles zu kümmern, treibt die Preise nur noch weiter in die Höhe.«

»Ein Segen für uns!«, sagte Kasim.

»Aber auch eine Menge Arbeit und viel Ärger.« Sie deutete auf den rotgesichtigen Gharbistani mit dem Spitzbart, der sich krampfhaft im Türrahmen zu den Kerkerzellen festhielt. Die drei Gardisten hatten ihre liebe Mühe, ihn von dort loszueisen. »Außerdem dachte ich, wir wären zu Höherem bestimmt, als auf Handelswaren und Marktstände aufzupassen.«

Dann reckte sie den Hals und sah sich um. Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass Kasim allein war. »Sag mal, wo ist eigentlich Deniz?«

»Der Handkarren bleibt hier, basta!« Mit verschränkten Armen stand Hauptmann Nadrash ibn Marwan vor dem schmalen Fenster seiner Schreibstube und sah zufrieden hinunter auf den Innenhof, wo Rhukeyef noch immer von der Ladefläche des Gefährts die Gesuche der Menge entgegennahm. »Er wird hier gebraucht, wie du siehst.«

Die Luft im Amtszimmer war von einem aufdringlichen Hibiskus-Duft geschwängert und machte das Atmen zur Qual. Der Agha liebte sein Duftwasser und schien täglich darin zu baden.

»Warum veranstaltest du deinen Basar der Gefälligkeiten nicht einfach in diesem Zimmer?«, zischte Deniz.

Das zufriedene Lächeln des Hauptmanns, mit dem er gerade noch das Treiben im Hof verfolgt hatte, erstarb. Er wandte sich vom Fenster ab und begegnete Deniz’ herausforderndem Blick. Der fuhr in lockerem Plauderton fort: »Ich meine, wenn sie dir schon Goldstaub in den Arsch blasen, sollten sie doch wenigstens gebührend empfangen werden, findest du nicht?« Betont lässig schwang sich Deniz auf den Schreibtisch des Hauptmanns, stützte die Arme nach hinten und kaute demonstrativ auf der zähen, braunen Masse in seinem Mund.

Der Agha verzog verärgert das Gesicht. Für einen kurzen Augenblick sah er hinüber zu Jamal, der gerade die zahlreichen Bittbriefe auf einem Tisch ausgebreitet hatte und ihren Inhalt prüfte. Dann ruckte der Kopf des Aghas wieder zu Deniz herum. Mit lauerndem Blick kam er auf ihn zu. »Runter da!«, knurrte er, als sie nicht einmal mehr ein Spann voneinander trennte. »Ich will deine Wichsgriffel nicht auf meinem lackierten Edelholz haben.« Beinahe liebevoll strich er über die glatte Oberfläche des Tischs.

Deniz rührte sich nicht. Wider Erwarten hielt er Nadrashs stechendem Blick stand und biss unablässig weiter auf seinem Stück Kautabak herum. Als wäre das noch nicht genug, fuhr er mit flachen Händen und abgespreizten Fingern so fest über den Tisch, dass es quietschte. Fettige Spuren entstanden auf dem polierten Holz. Der Agha schnaubte wie ein Stier. Deniz glaubte, ein nervöses Zucken um sein rechtes, mit dunklem Khol umrandetes Auge auszumachen. Doch obwohl sich auf seiner Stirn bereits eine steile Zornesfalte gebildet hatte, beherrschte er sich. Je länger die beiden versuchten, einander niederzustarren, umso unwahrscheinlicher wurde einer von Nadrash ibn Marwans typischen Wutausbrüchen. Vorausgesetzt, Deniz reizte ihn nicht noch weiter.

»Du versoffener Bastard einer elburischen Lustsklavin«, zischte der Hauptmann. »Ich sollte dich von meinen Männern züchtigen lassen, bis du dir die Seele aus dem Leib kotzt, und dich zwingen, die Sauerei danach wieder aufzulecken!«

»Glaubst du wirklich, ich nehme dir ab, dass du meinetwegen jemanden dafür abstellst?« Deniz lachte verächtlich. »In der Zeit, in der sie mich durchprügeln, könnten deine Gardisten auf der Straße ebenso gut Bakshish für dich eintreiben. Nein, Nadrash, spar dir die Mühe. Ich will bloß den Karren, sonst nichts.«

»Vergiss den verdammten Karren!« Nadrash ibn Marwan riss die Teetasse von seinem Schreibtisch und warf sie mit solcher Wucht zu Boden, dass sie in tausend Teile zersplitterte. »Mach mit deinem Toten, was du willst! Von mir aus versenk ihn im Mhanadi oder verfüttere ihn an die Krokodile. Es ist mir scheißegal!« Der Agha hatte die Hände zu Fäusten geballt, sein Gesicht hatte sich kirschrot verfärbt. »Aber verschwende nicht Zeit und Ausrüstung der Garde für das Schicksal eines Toten! Kein Angehöriger ist zu mir gekommen. Da ist niemand, der ihn vermisst. Also bezahlt uns auch keiner für die Aufklärung dieser Tat! Wenn keiner zahlt, rühren wir keinen Finger – so einfach ist das.«