DSA: Kerkergeschichten - Eevie Demirtel - E-Book

DSA: Kerkergeschichten E-Book

Eevie Demirtel

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Beschreibung

Da war Carolan ja wieder in einen schönen Schlamassel geraten! Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, hatte er sich doch so nahtlos in die Oberschicht von Khunchom eingefügt. Und trotz Phexens Hilfe – oder vielleicht auch gerade zu seiner Belustigung – saß er nun hier in diesem Kerker, wo ihn diese beiden trotteligen Gardisten hin verbracht hatten. Schon im Horasreich waren Kerkerinsassen ja fürwahr keine angenehme Gesellschaft, und auch die Tulamidenlande machten da keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Glücklicherweise war Carolan ja schon immer ein begnadeter Erzähler unterhaltsamer Geschichten gewesen. Und seine Gefährten würden es ihm sicher verzeihen, wenn er mit dem einen oder anderen Schwank herausrückte …

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Seitenzahl: 486

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25724Titelbild: Dagmara MatuszakAventurienkarte: Daniel JödemannLektorat: Frauke ForsterKorrektorat: Claudia WallerUmschlaggestaltung und Illustrationen: Nadine SchäkelLayout und Satz: Matthias Lück, Michael Mingers

DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems.Copyright © 2019 by Ulisses Spiele GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

ISBN 978-3-96331-321-9Ebook ISBN 9783963314414

Nikolai Hoch und Johannes Kaub (Hrsg.)

Kerkergeschichten

Neun Kurzgeschichten aus der Weltvon Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Mit Dank an Thorsten Brede, Nora-Leonie Jankoviç, Tim Laschinsky, Nora Lücke, Inge Reinwald, Nina Schellhas, Jun Zenz und Zoozaxa.

Inhalt

Vorwort

Um Kopf und Kragen

von Lena Zeferino

9

Das Ende der Kindheit

von David Nikolas Schmidt

51

Feuertaufe

von Thorsten Most

85

Unter Räubern

von Katja Reinwald

125

Ottajara

von David Nikolas Schmidt

157

Aus Licht und Trug

von Dominic Hladek

185

Stolz, Vorurteile und Ferkinas

von Thorsten Most

209

Ein Spaziergang im Park

von Eevie Demirtel

247

Mein Name sei Calavanti

von Josch K. Zahradnik

283

Vorwort

Sehr verehrte Besucherinnen und Besucher Aventuriens,

mehr als fünf Jahre sind bereits vergangen, seit die ikonischen Helden der 5. Regeledition von Das Schwarze Auge im Aventurischen Boten vorgestellt wurden. Die Riege der Helden, die immer wieder in den Publikationen von DSA5 vorkommen und der Edition somit einen höheren Wiedererkennungswert verleihen sollten, besteht aus der Magierin Mirhiban, dem Zwergen Arbosch, dem Söldner Geron, der Hexe Rowena, dem Geweihten Hilbert, der Elfe Layariel, der Kriegerin Tjalva und dem Streuner Carolan.

Immer wieder hatten diese acht in unterschiedlichen Regel- und Quellenbänden Gelegenheit, ihre Stimmen zu erheben und den Inhalt der Bücher in den sogenannten Phexensreden zu kommentieren, und auch auf vielen Coverillustrationen wird der gewiefte Beobachter den einen oder anderen unserer ikonischen Recken ausmachen können. Außer einzelnen Informationsfetzen über die Abenteuer und Erlebnisse der acht Helden, sowie über ihre Beziehungen untereinander, war bislang jedoch nicht viel Zusammenhängendes über sie zu erfahren …

Mit diesem Band, der einige der Erlebnisse dieser vielfältigen heroischen Archetypen beleuchtet, ändert sich das nun! Wir wünschen euch also viel Spaß bei der Ergründung der Hintergründe, die diese uns allen mittlerweile so vertrauten Figuren geprägt haben!

An einem warmen Spätsommertag im Taunus

Niko Hoch und Johannes Kaub

Um Kopf und Kragen

von Lena Zeferino

# 1

»Bei den Häftlingen halte Augenkontakt und sie werden deine Angst nicht sehen. Halte ihn zu lange und sie werden dich herausfordern.«

—ein Gardist zu einem neuen Häftling, aus ›Avestos und die Kerkerkönigin oder Arrest der Leidenschaft‹ von Gerion Brannthagen

»Ich sah in die Tiefe. Diesen Abstieg konnte nur ein Fassadenkletterer schaffen, der von Phex selbst gesegnet worden war. Es schien ausweglos. Vor meinem inneren Auge sah ich mich bereits einen Kopf kürzer oder als hässlicher roter Fleck in der prachtvollen Gartenanlage enden. Es ergab sich aber, dass weder das eine noch das andere das Schicksal dieses Tunichtguts sein sollte, denn in Phexens Sternenlicht sah ich plötzlich …«

»So, ihr stinkenden Söhne von Eseln, ihr bekommt neue Freunde! Also, alle aufstehen und an die Wand stellen. Zack zack, ihr elenden Maden! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Und danach ist hier Schicht im Schacht, klar? Kein lautes Gerede mehr oder die nächsten Tage lassen wir niemanden mehr rein, um euch was zu beißen zu bringen.«

Die laute Stimme des Gardisten hatte Carolan das Wort mitten seiner Erzählung abgeschnitten. Er ließ den Satz unvollendet und lächelte amüsiert und entschuldigend in die Runde seiner vier Zuhörer, die um ihn herum im Halbkreis saßen. Das Lächeln auf seinen Lippen schmerzte ihn regelrecht.

Der Einarmige Ali stand vom Boden auf. Der Stumpf seines linken Armes bewegte sich dabei und Carolan erinnerte sich plötzlich, wie sich der Schwinger angefühlt hatte, der ihn am ersten Tag in dieser Zelle wie einen nassen Sack zu Boden geschickt hatte. Er hatte später gehört, dass Ali wegen einer Messerstecherei in einer Kaschemme hochgenommen worden war. Es war nicht das erste Mal, so hatte ihm ein Insasse erzählt, dass der Einarmige mit einem blutigen Messer in der Hand festgesetzt worden war. Manchmal, wenn Carolan am Erzählen war, beobachtete er, wie Ali ab und an die Hand zu seinem Stumpf führte, um sich dort zu kratzen. Er war schnell mit seiner verbliebenen Faust, und Carolan fragte sich jeden Tag, ob ebendiese ihn wieder treffen würde, wenn seine Geschichten nicht Alis Interesse weckten.

»Morgen erzählst du weiter!«, befahl Ali knapp. Die anderen zwei Männer und die Frau, die um ihn herumsaßen, nickten zustimmend.

»Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren wie es weitergeht«, sagte die Frau mit dem Namen die Rote Byalabeth. »Du hast Talent, kleiner Dschinn.«

Er nickte dankbar. Dieses Zeichen guter Laune verursachte in Carolan ein so intensives Gefühl der Erleichterung, dass er froh war, immer noch zu sitzen. Er war sich sicher, dass ihn seine Knie in diesem Moment nicht hätten tragen können. Ein anderer Insasse hatte ihm leise erzählt, dass der Beiname »die Rote« von den blutverschmierten Händen stammte, mit denen Byalabeth oft einen Abend des Geldeintreibens beendete. Nachdem Carolan diese Geschichte mit einigen zusätzlichen verstörenden Details erzählt bekommen hatte, wusste er genau, dass er auf diese Information dankbar hätte verzichten können. Seitdem war ihm im ersten Augenblick nach dem Aufwachen meistens so schlecht vor Angst, dass er nicht wusste, wie er auch nur ein Wort herausbringen sollte. Bisher hatte Carolan sich aber, den Göttern sei Dank, immer zusammenreißen können.

Gleich am ersten Tag in der Zelle des Gardehauses am Marktplatz in Khunchom war Carolan dieser Gruppe Halunken aufgefallen. Vielleicht waren es seine spitzen Ohren gewesen, vielleicht irgendetwas in seinem Gesicht, das den Missmut dieser Schläger geweckt hatte, oder es war einfach Pech gewesen, aber sie ließen selten von ihm ab. Den Wachmann vor der Zelle interessierte das nicht die Bohne und so hatte Carolan drei der grässlichsten Tage seines Lebens durchlebt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schikanierten sie ihn und nutzten dabei Fäuste, Füße und Worte mit Präzision.

Er hatte sehr schmerzhaft lernen müssen, wie lang drei Tage sein konnten.

Am ersten Tag war er durch seine Eskapade, die ihn hierher gebrachte hatte, gefährlich müde gewesen. Er hatte kaum einen Gedanken daran verschwendet, sich das grobe Dutzend Insassen genauer anzusehen oder ihnen wenigstens für einen kurzen Moment in die Augen zu sehen. Er war einfach zu erschöpft gewesen vom ständigen emotionalen Auf und Ab der Nacht, sodass er die Zeichen nicht gesehen hatte.

Die erste Backpfeife war gefallen, nachdem er das zweite Mal eingenickt gewesen war. Der Schlag hatte ihn desorientiert aufwachen lassen. Ali hatte ihn sogleich unsanft auf die Füße gezogen und er und drei andere Insassen, die er bis zum dem Zeitpunkt nicht beachtet hatte, hatten begonnen, ihn zwischen sich hin und her zu schieben. Carolan war wütend gewesen, und nachdem er seine Verwirrung abgeschüttelt hatte, hatte er begonnen, sich zu wehren. Ein gut gezielter Tritt Carolans hatte den glatzköpfigen Tulamiden am Knie getroffen und stolpern lassen. Carolan war einem Faustschlag ausgewichen und hatte den Angreifer von sich gestoßen. Schließlich war der Mann mit dem kurzen ergrauten Haar auf ihn zugekommen. Er hatte nach ihm gegriffen. Carolan hatte versucht, ihm auszuweichen, aber dem agilen Mann konnte er nicht entkommen. Der Rest des peinlich kurzen Kampfes war in einem Gemisch aus Schmerz und Bewegung untergegangen. Carolan hatte sich schließlich, krächzend nach Luft schnappend, auf dem Boden wiedergefunden. Seine Brust hatte sich so angefühlt, als lägen Ketten darum, die sich schmerzhaft immer weiter zuzogen und ihm die Luft abschnürten. Vor seinen Augen hatten weiße Flecken getanzt und ein Gefühl der Übelkeit hatte von ihm Besitz ergriffen. Er hatte versucht, sich zu bewegen und plötzlich einen stechenden Schmerz an seinem Hals gespürt. Der Mann mit den ergrauten Haaren hatte ihn mit einem Knie auf der Brust am Boden festgehalten und etwas Scharfes an Carolans Hals gepresst.

»Sei brav, kleiner Dschinn. Du wirst uns etwas Spaß bieten, aber ich warne dich: Ich hasse ungezogene Gören. Glaub mir, du willst nicht, dass ich dich erziehe. Die Erfahrung wird um einiges Schlimmer sein, als dich zu fügen.« Die Stimme des Mannes war leise und dunkel gewesen und hatte trotz ihrer Sanftheit etwas Abstoßendes besessen. Carolan hatte dem Mann, den er später als 71-Stunden-Malik kennen würde, in die Augen gesehen – und jede Gegenwehr war erlahmt. Er hatte geschluckt und das spitze Etwas an seinem Hals hatte sich etwas tiefer in seine Haut gebohrt. Carolan hatte nur kurz genickt. Diesen Kampf hätte er nicht gewinnen können. Der Mann hatte ihn schließlich aufstehen lassen. Das war der Moment gewesen, in dem Alis Schwinger ihn wieder hatte zu Boden gehen lassen.

Weitere Schläge und hämische Worte waren über den Rest des Tages gefolgt. Ab und an war ihm ein Moment vergönnt gewesen, in dem die Schläger mit etwas anderem als mit ihm beschäftigt gewesen waren. Es war in diesen Augenblicken, in denen die anderen Insassen ihm mit leisen schnellen Worten erzählt hatten, mit wem er es zu tun hatte. Carolan war sich sicher gewesen, dass sie ihm all das nur erzählten, damit er noch mehr Angst bekam. Leider war genau das der Fall gewesen. Kurz vor der Ausgabe des Essens an diesem ersten Tag war Carolan vor Müdigkeit noch einmal eingenickt und mit den Händen der Frau um seinen Hals erwacht. Er hatte in ihr verlebtes Gesicht gestarrt, während sie mit einem Lächeln auf den Lippen noch einmal fest zudrückte, bevor sie ihn endlich losließ. Carolan hatte im Anschluss an diese Begegnung auf das Essen verzichtet und sich in die Ecke der Zelle gedrückt.

Nach drei Tagen der besonderen Aufmerksamkeit durch die vier Schläger hatte eine simple Berührung in der Nachte dazu geführt, dass Carolan mit einem Schrei wild um sich schlagend aufgewacht war. Die aufkeimende Verzweiflung hatte ihn zu einer besonderen Waffe greifen lassen. Er hatte begonnen, wild drauf los zu reden und einfach nicht mehr aufgehört. Sein Flehen und seine Ausreden waren schnell zu Geschichten geworden. Solange seine Peiniger ihm zuhörten, schikanierten sie ihn nicht. Schnell hatte sich herausgestellt, dass die vier Schläger sich von seinen Geschichten gut unterhalten fühlten. Sie hatten verlangt, mehr davon zu hören. Wirklich alles war besser, als sich in diesem Loch mit sich selbst beschäftigen zu müssen.

Und so erzählte Carolan und erzählte und kam sich dabei vor wie in einer schlechten Fassung der Sage von Sherezad in 1.001 Rausch.

»Morgen, Byalabeth, werde ich weitererzählen, da kannst du sicher sein. Und ich verspreche dir, das Ende dieser Geschichte wird dich zum Lachen bringen.« Für Carolan klang das Vergnügen in seiner eigenen Stimme falsch und künstlich, aber den Vieren schien es nicht aufzufallen.

Handkanten-Hassan und 71-Stunden-Malik erhoben sich nun ebenfalls und stellten sich neben Byalabeth und Ali in die Reihe an der Wand. Mit einem stillen Seufzen stand Carolan ebenfalls vorsichtig auf. Er traute seinen Knien noch immer zu, ihm spontan den Dienst zu versagen. Er reihte sich ein und nutze den Moment, um seine Gedanken zu sammeln. Sein Kerkeraufenthalt würde nicht ewig dauern. Jedenfalls hoffte er das. Seine Kameraden würden ihn sicher finden. Carolan hatte Vertrauen in Gerons Fähigkeiten, ihn in der Stadt ausfindig zu machen. Sie würden seine missliche Lage entdecken und ihn hier herausholen. Ganz bestimmt! Morgen früh würde er erst einmal seine Geschichte weitererzählen. Er hatte nicht erwartet, dass ein Schwank aus seinem Leben und dem seiner Gefährten ihn einmal über die Tage in einer tulamidischen Gefängniszelle hinwegretten würde. Vor allem nicht, wenn er daran dachte, wie alles begonnen hatte. Nun ja, vielleicht sollte er nicht überrascht sein. Die meisten hanebüchenen Geschichten nahmen ihren Anfang an einem ganz gewöhnlichen Tag. Und genau dieser Umstand machte es besonders schwer, zu bemerken, wenn man drohte, in eine ebensolche hineinzugeraten.

# 2

»Bekommst du ein schlechtes Blatt, dann freue dich. Die anderen beobachten dich schließlich.«

—aus ›Avestos und der Humusritter oder Boltan der Intrigen‹ von Gerion Brannthagen

Carolan warf einen letzten Blick in den Spiegel. Die Schminke ließ sein Gesicht etwas schmaler erscheinen, und die Kohlestriche an seinen Augenlidern gaben diesen ein noch elfischeres Aussehen. Seine horasisch geschnittene Kleidung, für die er am Morgen auf dem Markt noch einiges an Zubehör erworben hatte, betonte zusätzlich seine fremdländische Herkunft. Darüber hinaus ließ ihn der Schnitt der Kleidung etwas schlanker aussehen. Das Haar war auf eine Art frisiert, die seine spitzen Ohren besonders betonte. Carolan war zufrieden und nickte seinem Spiegelbild zu. Wenn er sich Mühe gab, gab er einen passablen Elfen ab. Er präsentierte dem Spiegel seine beste Pose. Ja ja, der horasische Gesandte, Lorenzo Dicora, war schon ein schmucker Elfenmann, oder Dschinn, wenn er nach dem tulamidischen Aberglauben ging.

Seine Hand glitt zu dem Beutel mit Münzen und Edelsteinen, den er unter seiner Weste verstaut hatte. Darin befand sich ein Großteil der Reisekasse, mit der Carolan und seine Gefährten den Aufenthalt in Khunchom finanzierten. Wenn man es genau nahm, war der Inhalt sogar fast alles, was sie besaßen. Sollte dieser Abend für Carolan gut verlaufen, würden seine Gefährten das Fehlen des Geldes gar nicht bemerken. Er hatte die Reisekasse eigentlich bei Hilberts Habseligkeiten vermutet, aber entdeckt hatte er sie gut versteckt in Arboschs Reisetasche. Er hatte tatsächlich einige Minuten gebraucht, um sie zu finden. Das leise Klimpern der Münzen unter dem Stoff ließ sein Herz in freudiger Erwartung für einen Moment schneller schlagen. Er war sich sicher, würde er seine Augen jetzt schließen, könnte er das Klingen von Münzen auf einem Tisch und das Geräusch vom Mischen der Karten hören. Hoffentlich würde sich der Abend lohnen, sonst wäre der ganze Aufwand umsonst gewesen.

Zufrieden mit seinem Äußeren, wandte sich Carolan vom Spiegel ab, schloss das Schminkdöschen und schob es zurück in den Seidenbeutel. Er umrundete den Raumtrenner aus buntem Papier und legte ihn zurück auf Mirhibans Nachttisch. Einen Moment sah er auf den kleinen Beutel herab, musterte ihn kritisch und schob ihn dann zwei Finger breit nach rechts. Perfekt. Die tulamische Magierin hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, dass Carolan ihre Schminkutensilien auslieh, wenn er gefragt hätte. Es hatte sich aber einfach keine Gelegenheit ergeben. Sollte sie es wider Erwarten bemerken, würde er sich natürlich aufrichtig entschuldigen. Nach Carolans Erfahrung war es nur meistens einfach schneller und deutlich weniger umständlich, um Vergebung zu bitten als um Erlaubnis zu fragen. Gleiches galt natürlich für die Leihgaben in seinem Beutel.

»Lorenzo, mein Freund, es wird Zeit zu gehen«, sagte Carolan zu sich selbst, »bevor Layariel und Rowena zurückkommen.« Um seine anderen Gefährten machte sich Carolan weniger Sorgen. Das Khunchomer Nachtleben würde sie schon beschäftigt halten.

Vergnügt verließ er die Herberge, in der er und seine Gefährten sich einen Schlafsaal teilten, und machte sich auf in den Stadtteil Thalusim’Al’Awal. Am Vorabend hatte er zufällig ein Gespräch zwischen Mirhiban und einer ihrer alten Kommilitoninnen aus Akademiezeiten mitgehört. Diese hatte seiner Reisegefährtin von einer Feier erzählt, auf der sie eingeladen war. Tänze und Akrobatik sowie Essen und Spiele würde es für die Gäste geben, und die Gastgeberin war bekannt dafür, oft auch ungeladene interessante Gäste auf ihrer Feier willkommen zu heißen. Bei diesem Gespräch war außerdem mehrfach das Wort Boltan gefallen. Carolan juckten die Finger nach einer guten Partie. Nicht die abendliche kleine Runde in der Schenke, bei der man um ein paar Kreuzer spielte. Nein, Carolan vermisste das Boltan mit hohen Einsätzen. Das Spiel, bei dem man Silber und Gold in die Mitte des Tisches schob, und bei dem man das Boltangesicht seiner Gegner nach Zeichen studierte, um einen Hinweis auf ihr Blatt zu erhaschen. Der Nervenkitzel und die Aufregung, wenn die letzten Goldstücke nach einer langen Partie in die Mitte geschoben wurden und niemand sicher sein konnte, ob Phex einem die Gunst erweisen würde, waren unvergleichlich. Das Gespräch zwischen Mirhiban und ihrer Freundin schien Carolan wie ein göttlicher Fingerzeig, der ihm den Weg zu diesem Genuss wies.

Carolan umrundete den blumengeschmückten Pavillon, der im Garten des Teehauses eigens für die Feier aufgebaut worden war. Er konnte die Musik und die Stimmen der Gäste hören, die sich bereits auf der Feier vergnügten. Jetzt musste er nur noch eingelassen werden, und er rechnete fest damit, dass seine Aufmachung ihm die Türe öffnen würde zu gutem Essen, schönen Tänzerinnen und stattlichen Akrobaten, zu Gesang und Wein und vor allem zu einem guten Boltantisch und Spielern mit goldgefüllten Börsen.

»Ich habe gehört, hier findet eine Feier statt«, murmelte Carolan leise, während er die letzte Ecke zum Eingang des Teehauses umrundete. Er wiederholte den Satz noch ein paarmal, um die Stärke des horasischen Akzents in seinem Tulamidya auf ein exotisches und angenehmes Maß zu bringen. »Perfekt!« Mit einem Lächeln auf den Lippen hielt Carolan auf den Eingang des Teehauses zu. Der elfische Gesandte des Horasreiches, Lorenzo Dicora, würde hier das Amüsement, die Kurzweil und den Nervenkitzel finden, nach denen er sich sehnte.

Der Türsteher war ein besonders repräsentatives Exemplar seiner Zunft. Aber nur ein Dummkopf vertraute darauf, dass viele Muskeln zwangsweise mit wenig Verstand einhergingen. Das war ein Fehler, den Carolan in seiner Karriere ein einziges Mal begangen hatte. Ein plumper Anfängerfehler. Carolan änderte seine Gangart. Er verlor den bequemen Gang und verlängerte seine Schritte. Brust nach vorne und Schultern nach hinten, den Kopf leicht gehoben, das Lächeln aber freundlich und einladend. Der Trick war es, den Kopf in einem unauffälligen Halbprofil zu halten, damit die Spitze seines Ohres zwischen den Haaren prominent zum Vorschein kam.

Personen von Stand sind oft arrogant und abwertend und viele Bedienstete erwarten genau das, dachte sich Carolan. Daher entwaffne dein Gegenüber durch Freundlichkeit und vor allem durch Ehrlichkeit. Carolan erreichte den Türsteher und wurde von diesem kritisch gemustert.

»Tsa zum Gruße. Ist dies hier die Feier, die ausgerichtet wird von der ehrenwehrten Neraida Kemalsunni al’Shabra?«, fragte Carolan den Türsteher. Er war sehr zufrieden damit, wie sich sein vom horasischen Zungenschlag gefärbtes Tulamidya anhörte.

»Zum Gruß, Fremder. Das ist richtig. Dies ist die Feier der Herrin.«

»Ah, welch ein Glück! Mein Name ist Lorenzo Dicora, Gesandter aus dem Reich des Horas. Du wirst meinen Namen nicht auf deiner Liste finden, aber, mein Bester, ich habe gehört, dass die Gastgeberin auch den einen oder anderen unerwarteten Gast auf ihrer Feier begrüßt. Und so habe ich gedacht, ich versuche mein Glück.« Carolan schenkte dem Türsteher sein gewinnendstes Lächeln.

»Ähm, manchmal …« Der Türsteher brach ab, als Carolan zur Seite trat und einem Herrn in Begleitung zweier junger Damen höflich Platz machte. Er vollführte eine vollendete Verbeugung im Belhankaner Stil und wartete geduldig, bis die Gäste das Teehaus betreten hatten. Carolan fühlte den aufmerksamen Blick des Mannes und der beiden Frauen auf sich. Sie blieben sogar kurz im Eingang stehen, um ihn neugierig zu betrachten. Carolan lächelte.

»Entschuldige bitte«, sagte Carolan zu dem Türsteher. Dieser blickte von den Gästen zu Carolan und sein Blick blieb einen Moment länger an Carolans spitzen Ohren hängen.

»Trete ein, Lorenzo ibn Djinn. Ich denke, du wirst die Feier der Herrin bereichern«, sagte der Türsteher und machte Carolan Platz.

»Ich danke dir für das Kompliment, mein Bester.« Er reichte dem Türsteher die Hand und übergab ihm diskret zwei Silbermünzen. Dann drehte er sich dem Eingang zu und betrat die Feier.

Die Festivität war wahrlich ein Genuss für die Sinne. Das Essen war eine Komposition aus kalten und warmen Häppchen, aufwendig dekoriert und kunstvoll angerichtet. Carolan war nicht in der Lage, dieser Rahjafliegenfalle zu entkommen und pflückte sich einige Zeit lang kleine Köstlichkeiten von silbernen Tellern. Die Tänzerinnen verzauberten mit ihren fließenden Bewegungen und fallenden Schleiern die Zuschauer, und Akrobaten demonstrierten in beeindruckender Weise die Grenzen der menschlichen Beweglichkeit. Diese Feier war ein deutliches Zeichen für den Reichtum der Gastgeberin und dieser würde sich, so hoffte Carolan, auch positiv auf die Einsätze seiner Boltanpartner auswirken. Die tanzenden und sich biegenden Körper hypnotisieren Carolan derart, dass er länger bei diesem Schauspiel verweilte, als er vorgehabt hatte. Als er sich gerade losreißen wollte, bemerkte er das offenkundige Interesse eines Akrobaten, das ihm galt. Der wohlgeformte Mann stand an der Seite der Bühne, und als sich ihre Blicke trafen, versank Carolan einen Moment in dem satten Grün seiner Augen. Die Einladung war offensichtlich und wäre er nicht für andere Genüsse hier gewesen, so wäre Carolan dieser Verlockung nur zu gerne gefolgt. Aber es gab noch viel zu tun an diesem Abend, und so nickte er lediglich freundlich und machte sich auf den Weg, um ihre gut gefüllte Reisekasse noch etwas aufzubessern.

Carolan wanderte durch die Räume des Teehauses, vorbei an Tanz, Spiel und feiernden Gästen. Als er in den kleinen Hof des Teehauses trat, wehte ihm eine kühle Brise um die Nase. Mit steigender Vorfreude brachte er die wenigen Schritte zum Eingang des Pavillons hinter sich, an dem sich kunstvoll arrangierte Blumenranken emporwanden. Jetzt würde sich herausstellen, ob sich der Aufwand für den Abend gelohnt hatte.

Er schob den Vorhang zur Seite und trat in den mit bunten Papierlampen erleuchteten Raum. Unter dem großen Zeltdacht waren mehrere niedrige Tische und Sitzkissen platziert worden. An einem kleinen Tresen an der Seite wurden für die Spieler Getränke und Speisen angerichtet. Carolan zog sofort interessierte Blicke auf sich, als er den Pavillon betrat. Er zählte fünfzehn potenzielle Spieler. An jedem der Tisch waren die Partien bereits in vollem Gange.

»Heda, Fremder!« rief jemand von einem der hinteren Tische. Carolans Blick folgte dem Ruf und er sah einen schmalen Tulamidenjüngling mit einem dünnen schwarzen Bart, der die Hand erhoben hielt. Carolan zeigte auf sich und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ja du, Fremder!«

Carolan schlängelte sich an den Tischen und Spielern vorbei, bis er den Mann erreichte. »Tsa zum Gruße«, sagte er.

»Die junge Göttin zum Gruße, Fremder. Ich bin Khadim ibn Faizal. Bist du zum Spielen hier?«

Carolan und der Tulamide reichten sich zur Begrüßung die Hand.

»Lorenzo Dicora, es ist mir eine Ehre. Ich bin in der Tat zum Spielen hier. Ist noch ein Platz frei in dieser Runde?«

»Setz dich, setz dich.«

Carolan folgte der Einladung und ließ sich auf einem der seidenen Sitzkissen nieder. Das Spiel konnte beginnen.

Die ersten Runden an Khadims Tisch waren für Carolan sehr erfolgreich. In zwei Spielen schlug er seinen Gegner knapp mit einem stärkeren Zwilling. In der fünften Runde hatte er sogar eine Finte durchbekommen. Einzig eine Maraskanerin mit bunten Bändern in den geflochtenen Haaren hatte mit ihm mitgezogen. Der Rest ihres Tisches war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgestiegen. Mit jeder Runde war eine weitere Silbermünze in die Mitte des Tischs gewandert. Letztlich hatte Carolan eine Handvoll Marawedi gesetzt und der Bruderschwester ein siegesgewisses Lächeln geschenkt. Sie stieg aus und er gewann eine stattliche Summe – mit absolut nichts auf der Hand. Nachdem sich die Gruppe auflöst hatte, verbrachte Carolan etwas Zeit mit Khadim am Tresen und sie tranken Wein. Dank der Erzählungen und Erklärungen seines neu gewonnenen Freundes hatte er nach einer Weile einen recht guten Überblick über die Spieler im Pavillon.

Ihre Wege trennten sich schließlich bei einem Tisch, an dem für Carolan ein Platz frei wurde.

»Du willst nicht mit einsteigen?«, fragte Carolan Khadim.

»Verliere ich zu viel, muss ich mich vor meinem Onkel verantworten, und ich sage dir, Lorenzo, ich würde eher mit einer Maraskantarantel eingesperrt werden, als mir das anzutun«, entgegnete Khadim und verabschiedete sich.

In der ersten Runde verlor Carolan so spektakulär, dass er über die Hälfte seines Geldes loswurde. Es fühlte sich ein wenig an, wie frontal von einer Kutsche gerammt zu werden. In der nächsten Stunde setzte Carolan jedes Bisschen seines Könnens ein, um wieder aufzuholen. Scharfes Beobachten, ablenkende charmante Pointen, einladendes Lecken über die Unterlippe, falsche Ticks, um die Gegner in die Irre zu führen, alles nutzte er.

Sein erbitterter Kampf brachte ihm letztlich eine Einladung an den Tisch der Gastgeberin ein. Auf diesen einen Moment hatte er hin gespielt, mit Karten, aber auch mit vollem Körpereinsatz. Es war ihm gelungen, als vollkommen unbekannter Spieler genug Talent und Unterhaltungswert zu beweisen, dass Neraida Kemalsunni al’Shabra Gefallen an ihm gefunden hatte.

Die ersten Runden am großen Tisch waren von Zurückhaltung geprägt. Die insgesamt sechs Spieler tasteten sich vorsichtig an das Spiel heran, um sich einen ersten Eindruck von ihren Gegnern zu verschaffen. Nach einer Handvoll schneller Runden wurden die Samthandschuhe ausgezogen und Carolan war mittendrin. Krieg brach aus am großen Tisch und er wurde mit der Ehre von Halsabschneidern geführt. Karten wurden gegeben, Gold wurde gesetzt und der Gegner mit Adleraugen beobachtet. Jedes Detail zählte.

Der Abend fand seinen Höhepunkt in einer Partie, die Carolan später als einen wahren Gottesdienst an Phex bezeichnen würde. Nach einem schnellen Tausch von Karten und langen Runden des Setztens verblieben letztlich nur drei Spieler am großen Tisch.

Carolans Hand lag auf seinen fünf Karten, direkt vor ihm auf dem Tisch. Es war einer seiner wenigen Ticks, die er sich im Boltan noch nicht hatte abgewöhnen können. Zog sich die Runde hin und war sein Blatt gut, tendierte Carolan dazu, deutlich zu oft nachzuschauen, auch wenn er genau wusste, was er in der Hand hielt. So landeten die Karten meist umgedreht vor ihm auf den Tisch, damit der dem Drang nicht nachgeben konnte. Eine schlechte Angewohnheit, um eine schlechte Angewohnheit zu überdecken. Boltan war eine komplizierte Angelegenheit.

Um sich abzulenken, begann Carolan, seine verbliebenen drei Mitspieler zu mustern. Ein hochgewachsener, schlanker Tulamide mit Adlernase, einem spitzen Turban und einem schneeweißen langen Bart erschien ihm besonders aufmerksam. Die wachen graubraunen Augen unter den buschigen Brauen hielten, da war sich Carolan sicher, nach jedem Detail Ausschau, das etwas über die Karten und die Stimmung der Spieler verraten könnte. Ihre dunkelhaarige Gastgeberin hatte ihren bezaubernden Körper zu diesem festlichen Anlass in ein fließendes, hellblaues Seidenkleid gehüllt. Sie lächelte milde, doch ihr rechter Mundwinkel bog sich dank zahlreicher Lachfältchen ein kleines bisschen weiter nach oben, was ihrem Lächeln eine verspielte Note gab. Ihre Wangen hatten über die Zeit des Spiels an Röte gewonnen. Dies lenkte aber kaum von ihren mit Khol umrandeten kastanienbraunen Augen ab. Ihr Blick war weich, aber Carolan konnte den scharfen Verstand dahinter erahnen. Ihre Karten lagen auf ihrem Schoß, und mit jeder kalkulierten Bewegung ihrer Hand hörte man das leise Klimpern ihrer goldenen Armreife.

Carolan vermutete, dass Sahil ibn Mustafa eine spektakuläre Finte vorbereitet hatte. Er konnte sich vorstellen, dass der ältere Herr bei schlechten Karten konsequent zu Beginn der Runde gepasst hätte, um dann im richtigen Moment mit einem niedrigen Blatt den großen Gewinn zu machen. Und dieser Moment war nun gekommen. Carolan war beeindruckt von diesem alten Fuchs. Er würde sich diesen Trick für die Zukunft merken.

Ein weiteres Mal trafen sich Neraida Kemalsunni al’Shabras und sein Blick. Die Gastgeberin war eine chaotische Spielerin und Carolan hatte ihr Spiel bisher noch nicht einschätzen können. Er vermutete, dass ihr großes Vermögen Neraida zu einer Spielerin machte, die am Gewinnen nicht wirklich interessiert war, sondern vielmehr am Schlagabtausch mit ihren Gegnern. Er war sich recht sicher, dass Neraida Sahils Finte ebenfalls durchschaut hatte. Er nickte ihr höflich zu, und sein Lächeln wurde erwidert.

Unter seinen Fingern fühlte er die Unterseite seiner Karten. In Gedanken ging er jede einzelne von ihnen durch. Sein Blatt war solide und sollte Phex auf seiner Seite sein, dann würde er Neraida schlagen können. Ein Tropfen Schweiß rann ihm den Rücken herunter. Sein Gesicht dagegen zeigte einen neutralen, aber freundlichen Ausdruck. Es war Carolans Boltangesicht, das er üblicherweise stundenlang aufrechterhalten konnte, aber die Anspannung in dieser Runde machte es ihm zusehends schwerer. Sein Herz schlug schnell, aber er hielt seinen Atem so gleichmäßig wie möglich. Sahil schob geradezu bedächtig den letzten Einsatz dieser Runde in die Mitte des Tisches. Es war ein stattlicher Haufen Gold. Der gesamte Inhalt von Carolans Geldbeutel plus seine gesamten Gewinne des Abends, mit der Ausnahme von zwei einsamen Zechinen, befanden sich auf diesem Tisch. Der Anblick dieses kleinen Reichtums ließ den Nervenkitzel weiter steigen.

Die drei Spieler tauschten einen letzten Blick aus. Nahezu gleichzeitig deckten sie ihre Karten auf. Carolans erster Blick ging von seiner Lanze zu Neraidas Maraskaner. Seine Lippen bogen sich zu einem breiten Lächeln.

Das war es wohl, meine Schöne, dachte Carolan und leckte sich bei dem Gedanken an sein erspieltes Vermögen die Lippen. Es war Neraidas helles Lachen, das ihn aus seinen Gedanken riss. Die schöne Gastgeberin hatte sich nach hinten in die Kissen fallen lassen und lachte lauthals. Ihr Körper schüttelte sich mit jedem Ton, der über ihre Lippen kam. Carolan sah von Neraida zu Sahil, der einen überraschten, aber vor allem zufriedenen Gesichtsausdruck zeigte. Seine knochigen Finger ruhten noch immer auf seinen Karten: einem elementaren Pfeil.

Für einen Moment erwartete Carolan ein Gefühl von Enttäuschung, aber es war eine schelmische und kindliche Freude, die ihn stattdessen übermannte. Er lachte. Laut und aus dem Bauch heraus und wie Neraida ließ auch er sich nach hinten sinken. Dieser Spielzug war eine dem Listigen würdige List gewesen, wenn es auch nicht die Finte war, mit der er oder Neraida gerechnet hatten.

»Phex, heute hast du mich wohl Demut lehren wollen«, sagte er laut. Sein Ausruf an den himmlischen Fuchs ließ Neraida erneut lachen und auch der alte Sahil warf den Kopf in den Nacken und stimmte mit ein.

Nachdem die Kontrahenten sich beruhigt hatten, wurden Gratulationen ausgetauscht. Carolan sah mit einem Kopfschütteln zu, wie Sahil seinen Gewinn einsammelte. So viel Gold. Eifersucht schnürte ihm für einen Moment die Luft ab. Was er mit diesem Reichtum nicht alles in dieser Stadt noch hätte anfangen können. Er hatte einen Besuch in Abu Silimhas Haus der Spiele geplant, um einige Wetten abzuschließen. Diesen Ausflug konnte er nun getrost von seiner Liste streichen. Der Verlust der Reisekasse schmerzte sehr, aber er hatte auch eine Menge Spaß gehabt. Er seufzte. Phex gibt und Phex nimmt, so lautete nun mal das Sprichwort. Gönnerhaft klopfte er dem Tulamiden noch einmal auf die Schulter.

»Es war ein fantastisches Spiel, Sahil. Ich werde noch lange daran denken«, sagte er.

»Deine Anwesenheit, Freund Dschinn, hat mir wohl Glück gebracht«, kommentierte Sahil immer noch mit einem Lachen in der Stimme. »Dieser Sohn des unverschämten Glücks wird heute Abend zu zwei sehr erfreuten Frauen heimkehren.«

»Das will ich hoffen, Freund. Kauf deinen Damen ein paar schöne Geschenke«, gab Carolan zurück und stand vom Spieltisch auf.

Es war ein interessanter und aufregender Abend gewesen. Wahrscheinlich war dies aber nichts im Vergleich zu der Aufregung, die der Verlust ihrer Reisekasse bei seinen Gefährten auslösen würde. Carolan seufzte erneut und schlenderte in Richtung des Ausgangs des Pavillons. Eine Berührung an seinem Unterarm ließ ihn innehalten. Neraida war neben ihn getreten und hatte sich bei ihm eingehakt. Sie lächelte zum ihm auf.

»Meine liebliche Boltan-Königin. Was darf ich für dich tun?«, fragte Carolan.

»Lorenzo war dein Name, richtig?«

Carolan nickte.

»Es wäre vermessen, zu behaupten, dass irgendetwas an diesem Abend ähnlich spannend sein könnte wie unser Spiel. Aber ich hatte gehofft, dass dies noch nicht das Ende sein muss.«

»Ich denke, du hast Recht, meine Teuerste«, sagte Carolan und legte seine Hand über ihre. »Hier wird es kaum etwas geben, das dem Nervenkitzel unseres Spiels gleichkommen wird. Ich bin mir jedoch sicher, dass wir beide gemeinsam eine deutlich bessere Chance haben, eine ähnlich erregende Beschäftigung zu finden.«

»Du liest meine Gedanken, mein schöner Dschinn. Lass uns in meinem Hause dieser Idee genauer nachgehen«, gab Neraida lächelnd zurück.

Carolan schob den Vorhang beiseite und trat gemeinsam mit Neraida hinaus in die Kühle der Nacht. Wieder einmal bestätigte sich das alte Sprichwort: Pech im Spiel, Glück in der Liebe.

Die kühle Nachtluft strömte durch die offene Balkontüre in das schummrig erleuchtete Zimmer. Kleine Tischlampen erhellten den Raum mit einem warmen, sanften Licht. Die nächtliche Brise strich über Carolans erhitzten Körper und eine leichte Gänsehaut bildete sich auf seinem Rücken. Für Runde Zwei würde er sich Zeit lassen. Neraida räkelte sich vor ihm auf dem Bett. Ihre langen, dunklen Haare flossen über die bunte Seide der Laken und Kissen. Er kniete zwischen ihren Schenkeln und fuhr mit seinen Händen über die weiche Haut ihrer Beine. Er verlor sich einen Moment in dem wunderschönen Kontrast seiner Hände auf ihren Oberschenkeln. Seine Hände mit ihren Schwielen und Narben aus Jahren des Fechtens und der Handhabung von Werkzeug auf ihrer weichen, makellosen Haut. Mit den Fingern zeichnete er die Kurven ihrer Hüfte und die kleine Wölbung ihres Bauches nach, weiter nach oben, bis er ihre Brüste erreichte. Er umfasste ihre Rundungen und entlockte seiner Gastgeberin ein leises Stöhnen. Carolan lächelte. Sein Atem war schwer und er beugte sich vor, strich mit seiner Nasenspitze über die Haut ihres Bauches, leckte über die Haut zwischen ihren Brüsten, bevor er die dunkle Knospe …

»Ich senkte meine Lippen auf ihre dunkle Knospe …«

»Aufstellen! Essen fassen, ihr Söhne und Töchter räudiger Schakale! Wer pennt, kriegt nichts.« Die Stimme des betagten Wächters unterbrach Carolan in seiner Erzählung und ließ ihn und seine Zuhörer aufblicken.

»Wirklich? Ausgerechnet jetzt?«, stöhnte die Rote Byalabeth.

»Rhukeyef kommt immer genau zur falschen Zeit, der elende Sohn eines fetten Hundes«, beschwerte sich Handkanten-Hassan.

»Nach dem Essen erzähle ich gerne weiter«, bot Carolan mit gespielt froher Stimme an.

»Oh ja, unbedingt«, stimmte Hassan zu.

»Nein!«, schnaubte der Einarmige Ali dazwischen und warf Carolan und den andern Halunken einen aggressiven Blick zu. »Muss noch was klären. Ich will auch wissen, wie es weitergeht. Kein Erzählen ohne mich! Verstanden?”

»Drohst du uns, Ali? Ich hoffe nicht«, fragte 71-Stunden-Malik, der Stillste aus Carolans Publikum. Der raue Klang seiner Stimme ließ den Halbelfen trocken schlucken. Von allen Halunken, die er bei Laune hielt, hatte er vor 71-Stunden-Malik am meisten Angst. Er hatte zwar von den anderen Insassen über ihn am wenigsten blutige und brutale Geschichten gehört, aber Carolans Instinkt warnte ihn deutlich, und er war klug genug, sein Bauchgefühl nicht zu ignorieren. Er beschloss, sich abseits zu halten, während die anderen die Sache klärten.

»Reg dich nicht auf, Malik«, sagte Ali und hob beschwichtigend die Hand. »Wir wollen doch alle wissen, wie es weitergeht, oder?«

Malik nickte nur.

»Kommt. Lasst uns was zu essen abgreifen. Ihr elenden Hunde wisst schon, wie man die gute Stimmung zerstört«, sagte Byalabeth und stand von der kleinen Bank auf. »Lorenzo. Hol nachher noch mal aus. Ich will keine Einzelheit verpassen. Klar?”

»Aber sicher«, bestätigte Carolan und stand ebenfalls auf, in der Hoffnung, heute ein bisschen mehr von dem kargen Essen abzubekommen und vielleicht einen zweiten Becher Wasser. Seine Stimme würde es ihm danken.

# 3

»Wenn ihre Schenkel süß duften, zögere nicht.«

—aus ›Avestos in Khunchom oder Die verbotene Frucht‹ von Gerion Brannthagen

Sein Atem ging schwer und er beugte sich vor, strich mit seiner Nasenspitze über die Haut ihres Bauches, leckte über die Haut zwischen ihren Brüsten, bevor er die dunkele Knospe …

»Herrin, ich habe eine Nachricht für dich!«

Eine laute und eindringliche Frauenstimme zerschnitt ohne Gnade die sinnliche Stimmung. Carolan brauchte einen Moment, bevor er sich so weit von diesem Schreck erholt hatte, dass er sich aufrichtete und sich somit auch Neraida aufsetzen konnte.

»Was ist, Jasmina?«, fragte sie in ein einem scharfen Ton, der deutlich machte, dass sie von der Unterbrechung nicht angetan war. Carolan musste schmunzeln.

»Der Herr ist gerade zurückgekehrt, Herrin. Ich denke, dass er vorhat, dich aufzusuchen, nachdem er gebadet hat.« Die Dienerin Jasmina hatte ihre Stimme gesenkt, aber ihre Worte hämmerten weiter auf Carolan ein und verpassten seiner sinnlichen Nacht in der Tradition von 1.001 Rausch gerade ein al’anfanisches Grinsen und ließ sie blutend auf dem Teppich zurück.

»Von welchem Herren genau ist hier die Rede?«, fragte Carolan etwas missmutiger als beabsichtigt.

»Mein Ehemann«, antwortete Neraida knapp. Sie schob Carolan sanft, aber bestimmt von sich und stand auf. Die Dienerin war sofort mit einer Seidenrobe an ihrer Seite, die Neraida hastig überwarf. Beide Frauen begannen schnell und effizient, die Spuren von Neraidas und Carolans enthusiastischem Rahjadienst zu beseitigen. Obwohl er genau wusste, in welche Falle er unwissend getappt war, brauchte Carolan einen Augenblick, bevor ihm klar wurde, dass jeden Moment der Ehemann dieser verführerischen Frau ins Zimmer stürmen konnte. Jasmina riss ihn aus seinen Gedanken, als sie ihm ein Bündel in die Arme drückte, das aus seinen zusammengerollten Kleidern und Schuhen bestand. Noch halb in Gedanken nahm er es entgegen.

»Es tut mir wirklich leid, mein süßer Dschinn, aber ich werde dich schweren Herzens fortschicken müssen – und das leider nicht durch die Türe«, entschuldigte sich Neraida, die immer noch hastig die Spuren des Geschehenen zu verbergen versuchte. Sie begann Carolan, der noch kein einziges Stück seiner Kleidung angelegt hatte, sanft, aber bestimmt in Richtung des Balkons zu schieben.

»Moment. Da geht es ziemlich weit runter! Wie stellst du dir das vor?«, fragte Carolan entsetzt.

»Lorenzo, ich hoffe, dass du es schaffst. Ich hoffe es wirklich, und ich werde zu Phex und zu Rahja beten, aber das Letzte, was du willst, ist hier erwischt zu werden! Der letzte Liebhaber, der meinem Ehemann nicht entkam, wurde gehäutet. Das ist ein Schicksal, dass ich dir wirklich ersparen will. Deswegen bitte ich dich, versuche zumindest die Flucht.« Neraida schob ihn den letzten Schritt aus dem Zimmer, hinaus auf den Balkon.

»Ich werde ein kleines Geschenk für dich im Teehaus abgeben«, sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, »und hoffe, dass du es abholen wirst.« Dann schloss sie die Gardine vor seiner Nase.

Carolan blinzelte, erstarrt für einen Moment, und setzte sich dann mit einem Mal in Bewegung. Er ließ das Bündel Kleidung fallen, wühlte darin nach seiner Unterkleidung und begann hastig, sich anzuziehen.

»Ich kann es nicht glauben. Das ist wie die Nacht bei Donna Florentia …«, lamentierte er dabei leise. »Nur dass ihr Balkon im ersten Stock eines Stadthauses war.« Carolan sah vorsichtig über das niedrige Geländer in die Tiefe. Er schluckte. »Nein, es ist weitaus schlimmer! Wie die Flucht aus dem Harem des Kalifen in Avestos von Khomabien. Oh Phex, was hast du heute gegen mich? Habe ich etwas getan, das deinen Missmut geweckt hat? Ich hab das verdammte Buch damals nicht mal zu Ende gelesen.«

Er besah sich die Wand und spürte, wie ihm die Angst langsam die Kehle zuschnürte. Er hatte nichts, was er zum Abseilen benutzen konnte, und die Wand war zu glatt zum Klettern ohne Hilfsmittel. Er würde keinen Halt finden, vor allem nicht mit diesen Geckenstiefeln. Ein Absturz war nicht nur möglich, sondern eine sichere Sache. Und auf dem Balkon selbst gab es kein einziges brauchbares Versteck. Man musste schon annähernd blind sein, um ihn nicht sofort zu entdecken.

»Keine Panik. Nur keine Panik. Es gibt immer mehr als einen Ausweg«, murmelte er leise und nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu konzentrieren. Er konnte die leisen Stimmen von Neraida und ihrer Dienerin noch aus dem Zimmer hören, also war der Ehemann vermutlich noch nicht angekommen. Carolan kehrte noch einmal zum Rand des Balkons zurück und blickte hinunter. Das Problem war nicht nur der unverletzte Abstieg. Es gab hier definitiv Wachen, die um das Haus patrouillierten, und er hatte mindestens einen Hund gesehen.

»Da hinten«, flüsterte Carolan leise zu sich selbst. Durch den leichten Bogen, den das Anwesen beschrieb, und die Dunkelheit war der andere Balkon, dessen Umrisse er bei genauerem Hinsehen ausmachen konnte, nicht einfach zu sehen. Der Sprung dorthin war riskant, aber im Gegensatz zum Abstieg mit etwas Phexvertrauen machbar, ohne sich den Hals zu brechen. Er würde allerdings zum Abrollen nicht viel Platz haben. Der ein Stockwerk tiefer gelegene Balkon war um einiges kleiner als das ausladende Prachtstück, auf dem Carolan sich gerade befand.

Entschlossen nahm er Anlauf. Es war wenig hilfreich, zu lange über eine Situation nachzudenken, die einem so wenige Optionen bot. Mit einem stillen Gebet zu Phex sprintete Carolan auf das niedrige Geländer zu, nutze dieses zum Absprung und katapultierte sich in die Dunkelheit der Khunchomer Nacht.

Mit kaum einer Handbreit zwischen seinem Kopf und dem Geländer des kleineren Balkons kam Carolan aus dem Abrollen hoch auf ein Knie. Sein Blick fixierte die bunten Kacheln, mit denen das Geländer verziert war. Das war verdammt knapp! Er atmete einmal tief ein und aus. Erst nachdem er sich etwas gesammelt hatte, wandte er sich der Tür des Balkons zu. Vor ihm lag eine schmale Holztür, durch deren offene Stellen zwischen den geschnitzten Ornamenten man den Raum dahinter sehen konnte. Dieser war dunkel und menschenleer. Er griff vorsichtig um die Ornamente und fand schnell den kleinen Haken, der die Tür zuhielt. Behutsam löste er den Verschluss und schob die Tür langsam auf.

Der Raum vor ihm schien eine Art Spielzimmer zu sein. Die Wände waren mit Vorhängen dekoriert, ein großer Teppich bedeckte den Boden, und das einzige größere Möbelstück war ein niedriger Tisch mit einem Spiel Rote und Weiße Kamele. Leise betrat Carolan das Zimmer. Er ließ die Balkontür offen, um das wenige Licht, das ihm Mond und Sterne spendeten, nicht auszusperren. Sein Blick blieb kurz an dem Spiel hängen. Wie es schien, wurde gerade eine Partie gespielt, denn die Figuren waren über die Felder verteilt. Carolan hatte herzlich wenig Ahnung von den Regeln. Er hatte lediglich Mirhiban ein paarmal dabei zugesehen, wie sie es gespielt hatte. Er nahm eine der weißen Figuren auf, betrachtete Sie kurz und setzte sie dann auf ein anderes Feld. Nach einem kurzen Überlegen verstellte er noch einige andere Figuren.

»Hättest du nicht ein paar Stunden später wiederkommen können?« fragte Carolan leise in die Stille und stellte eine weitere Figur um. »Ich hätte die Gastfreundschaft deiner Frau auch nicht mehr lange beansprucht.« Er seufzte kurz. »Ich hoffe mal, du spielst Weiß.«

Zufrieden mit seinem kleinen Spaß wandte sich Carolan der Tür zu, die er sehr vorsichtig öffnete. Der Flur dahinter war breit und der Boden mit einem weichen Teppich bedeckt. Beleuchtet wurde der Gang durch zwei Lampen, die an dekorierten Haken an der Wand hingen.

Hübsch. Sehr hübsch. Ein dicker Teppich. Das hält sicher die Wachen fern. Wenn das mein Teppich wäre, dann würde ich keine groben Klötze mit schmutzigen Stiefeln drüber laufen lassen, dachte sich Carolan. Er hatte Bewegung in den Treppenaufgängen gesehen, als er sich mit Neraida hinauf zu ihren Gemächern begeben hatte. Er sollte die Wächter zwingend meiden. Sie hatten ihm deutlich zu kompetent ausgesehen. Leider machte diese Erkenntnis seine Flucht nach unten um einiges komplizierter. Carolan verbrachte einige Zeit kniend an der Tür und beobachtete durch den schmalen Schlitz den Flur. Wenn er die Treppen meiden musste, blieb ihm entweder die Suche nach den versteckten Gängen der Bediensteten oder ein vorsichtiges Schleichen von Fenster zu Fenster, um dann unten angekommen einen guten Ausgang finden. Er verwarf die Suche nach den Gängen der Bediensteten fast sofort. Je nachdem wie gut diese versteckt waren, konnte Carolan einen ganzen Tag verschwenden und doch nichts finden. Die Gefahr war zu groß, kostbare Zeit mit der Suche zu verlieren.

»Dann eben die Fenster«, dachte Carolan.

Gerade wollte er die Tür schließen und seine Beobachtung des Ganges zu Gunsten des kleinen Balkons aufgeben, als er schweres Atmen hörte. Carolan spähte durch den Türschlitz und sah aus Richtung der Treppe einen Mann in den Flur treten. Der korpulente Tulamide stützte sich einen Moment an der Wand ab und ging dann schwer atmend weiter. Carolan verzog das Gesicht.

»Bitte sei nicht der Ehemann. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so viel Klischee ertragen könnte«, dachte Carolan. Er folgte dem Mann weiter mit den Augen. Er war fast aus Carolans Sicht verschwunden, da drehte er sich zu einer Tür und nahm einen Schlüssel von seinem Gürtel. Carolan wagte es, seinen Kopf ein Stück in den Gang hinaus zu strecken, um einen besseren Blick zu erhaschen. Der Mann hielt einen schmalen, goldenen Schlüssel in der Hand, steckte ihn in das Schloss und öffnete die Tür. Für einen kurzen Moment konnte Carolan im Zimmer ein außergewöhnlich großes und prunkvolles Fenster sehen, durch das Mondlicht in den Raum fiel. Dann schloss sich die Tür hinter dem Mann.

Im Spielzimmer setzte sich Carolan vorsichtig auf den Teppich. War das ein phexischer Fingerzeig gewesen? Das wäre schön gewesen, vor allem nach all dem, was bisher an diesem Abend passiert war. So ein kleines bisschen Glück im Unglück wäre schon etwas Feines. Vielleicht würde er sich dadurch aber nur noch mehr beim Listigen verschulden. Doch Carolan schob den Zweifel schnell von sich. Es hatte keinen Nutzen, zu lange über so etwas nachzudenken. Entweder man tat es, oder man ließ es sein. In dem Moment, als Carolan den goldenen Schlüssel gesehen hatte, wusste er bereits, wofür er sich entschieden hatte.

Es dauerte nicht lange, bis der Mann wieder aus dem Zimmer kam. Carolan hörte das Geräusch der sich öffnenden Tür und begab sich in Position. In dem Moment, wenn der Mann an der Tür vorbeigehen würde, hinter der Carolan hockte, musste alles sehr schnell gehen.

Er beobachtete genau, wo genau der Mann den Schlüssel an seinem Gürtel verstaute. Der Tulamide passierte den Durchlass neben Carolan mit gemäßigten Schritten. Die Augen des Halbelfen suchten in dem kleinen Zeitfenster, das er hatte, hastig nach dem Gold des Schlüssels. Der Mann war schon fast vorbei, als er das Blitzen des Metalls zwischen den Falten seines breiten Seidengürtels entdeckte. Sein Blick heftete sich an das Stück des Schlüssels, das sichtbar war. Er machte eine kleine Bewegung mit seinem rechten Zeigefinger, spürte das Kribbeln der arkanen Energie in seiner Hand und im selben Moment schob sich der Schlüssel aus den Falten des Gürtels. Mit einer kreisenden Bewegung seines Fingers machte der nun schwebende Schlüssel eine Kurve nach hinten und blieb ein paar Finger breit über dem Boden schweben. Carolan zeigte nach unten und der Schlüssel landete lautlos auf dem Teppich. Zufrieden ließ er seine Hand sinken.

Plötzlich blieb der Mann stehen. Carolans Augen weiteten sich erschrocken und das Klopfen seines Herzens wurde in seinen Ohren lauter. Hatte der Mann etwas gespürt? Er hielt seinen Atem so flach wie es nur ging. Der Mann war immer noch auf Höhe seines Durchlasses und griff nun mit beiden Händen an den breiten Seidengürtel. Carolan war sich sicher, zu sehen, dass die rechte Hand des Mannes sich genau über der Stelle schloss, wo noch vor wenigen Momenten der goldene Schlüssel gesteckt hatte.

Carolan hielt die Luft an.

Der Mann rutschte seinen Gürtel zurecht und ging weiter.

Carolan wartete so lange, bis er den Mann nicht mehr im Gang sehen konnte. Er wartete weiter, bis er auch die schweren Schritte nicht mehr hören konnte, dann sackte er erleichtert zu Boden.

Carolan nahm einen tiefen Atemzug. Als er gesehen hatte, wie die Hand des Mannes zum Gürtel ging, war er sicher gewesen, dass er das Fehlen des schmalen Schlüssels sofort bemerken würde. Doch Phex war ihm hold gewesen! Carolan lachte so leise er konnte. Den Schlüssel zu erhaschen, war ein aufregender Spaß gewesen. Oh Phex, diese Nacht sollte er wohl weiter auf die Probe gestellt werden! Als er sich wieder beruhigt hatte, hob er seine Hände und rieb sich die Augen. Die Nacht wurde lang, aber hier durfte er sich keine großen Fehler erlauben. Er nahm einen weiteren tiefen Atemzug und blieb erst einmal auf dem Teppich sitzen. Das alles entwickelte sich wirklich mehr und mehr zu einem ungeplanten Abenteuer. Es würde sicher eine Menge Spaß machen, davon zu erzählen. Vorausgesetzt, er käme überhaupt mit heiler Haut davon. Er könnte vielleicht die intimeren Momente mit Neraida in seinen Schilderungen etwas ausbauen oder seine Boltankünste in ein etwas besseres Licht rücken. Aber das waren alles Überlegungen für die Zeit nach der Flucht.

Carolan richtete sich auf und spähte erneut hinaus auf den Flur. Als er sicher war, noch immer allein zu sein, betrat er vorsichtig den Gang. Der goldene Schlüssel lag auf dem Teppich. Carolan hob ihn auf und huschte zu der Tür, die der Mann mit ihm aufgeschlossen hatte. Der Schlüssel passte perfekt und mit einer Drehung und einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Carolan zog den Schlüssel aus dem Schloss und betrat vorsichtig das Zimmer. Er unterdrückte den Drang, sich aus Neugier sofort im Zimmer umzusehen, schloss erst einmal leise die Tür hinter sich und verriegelte sie. Besser, der Mann konnte ihm nicht direkt folgen, sollte er das Fehlen des Schlüssels bemerken und auf seiner Suche zurückkommen.

»Dann sehen wir uns doch mal an, worüber wir hier gestolpert sind«, murmelte Carolan leise und gab seiner Neugier nach. Der Raum schien ein Arbeitszimmer zu sein. Das würde jedenfalls die Anzahl schwerer Folianten, Schriftrollen und gebundener Manuskripte erklären. Er hob hier und da eins der Kleinode auf, die in den Regalen lagen. Mehrere formschöne Halbedelsteine und kleine verzierte Statuetten aus Glas, Holz und Metall dekorierten die Regalreihen. Carolan nahm ein paar Schriftrollen herunter und rollte sie aus, um einen Blick auf ihren Inhalt zu werfen. Das meiste konnte er nicht lesen, da es in verschlungen Glyphen verfasst war. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er die ersten Anzeichen für Magie erkannte. Wie es schien, war der überanstrengte Herr ein Zauberer, wahrscheinlich ein Hausmagier, der bei Neraida und ihrem Mann angestellt war. Eine aufregende, aber auch gleichzeitig gefährliche Entdeckung. Der Mann hätte nicht nur seinen Levitationstrick bemerken können, es war auch durchaus möglich, dass er seine Räume mit magischen Fallen geschützt hatte.

»Vielleicht hast du bisher nur Glück gehabt und bist nicht reingetreten«, mahnte er sich zur Vorsicht. Du solltest dich heute Nacht nicht so blind auf dein Glück verlassen«, tadelte er sich weiter. »Dafür bist du heute Abend schon deutlich zu oft auf die Nase gefallen. Also zurück ins Regal mit der Lektüre, Finger weg und raus hier!« Carolan legte die Schriftrollen zurück in das Regal und stieß dabei gegen eine der Glasstatuetten. Die Figur fiel zu Boden und zerschellte genau zwischen den beiden Teppichen auf dem harten Boden.

Carolan wartete mit angehaltenem Atem. Er wurde von keinem Feuerball getroffen und konnte sich auch immer noch bewegen. »In Ordnung. Das hat zumindest keine magische Falle ausgelöst.« Er wartete weiter. Kein lautes Rennen aus dem Flur. Keine Tritte gegen die Tür. »Niemand hat es gehört. Du bist ein Pechvogel, Carolan, und wie es aussieht gleichzeitig ein Glückpilz!« Es schmerzte ihn schon etwas, die Kleinode in den Regalen nicht mitnehmen zu können. Aber im zweiten Anlauf würde er mehr Vorsicht walten lassen.

Behutsam trat er an den schweren Schreibtisch aus dunklem Holz. Allein das kunstvoll verzierte Tintenfläschchen und der silberne Brieföffner darauf waren sicher mehrere Goldstücke wert. Seine Fingerspitzen kribbelten. So viel Beute, und doch konnte er es nicht mehr riskieren, etwas anzufassen, wenn es nicht zwingend notwendig war.

Die Fenster in Richtung Innenhof waren in tulamidischen Gebäuden meist klein, um nicht zu viel Tageshitze hineinzulassen. Daher erweckte das große, von seidenen Gardinen und mit Glas versehene Fenster sofort Carolans Aufmerksamkeit. Es schien nur der Zierde zu dienen und gewährte einen guten Ausblick auf den plätschernden Brunnen im Innenhof und die marmornen Steinplatten des Bodens unter dem Fenster. Carolan seufzte. Es waren immer noch etwa zwanzig Schritt hinab bis zum Boden. Im Innenhof würden die Wachen bestimmt auch regelmäßig nach dem Rechten schauen. Seine ursprüngliche Idee schien ihm dennoch die erfolgsversprechendste: Er musste über die Fenster in die unteren Stockwerke gelangen und, einmal ganz unten angekommen, einen schnellen und hoffentlich sicheren Weg nach draußen finden.

Carolan presste sich neben dem Fenster an die Wand und beobachtete den Innenhof von seinem Versteck aus. Bis jetzt hatte er eine einzelne Wache alle paar Minuten den Hof durch eine beleuchtete Tür betreten sehen. Sie hatte dort eine kurze Runde gedreht und war dann durch dieselbe Tür wieder im Haus verschwunden. Er zählte ungefähr 350 Herzschläge, bevor die Wache zurückkam. Es war nicht viel Zeit, aber absolut ausreichend für seinen Plan.

Vorsichtig zog er die Gardinen zur Seite. Carolan zückte sein verstecktes Gürtelmesser – klein, aber für dieses Vorhaben genau das Richtige – und begann den Stoff in schmale Streifen zu schneiden. Etwas später hatte er daraus ein langes Seil geknotet, das ihn fast mühelos ein Stockwerk tiefer bringen sollte. Er knotete das eine Ende um ein Bein des schweren Arbeitstisches, überprüfte mehrfach den Knoten, um sicher zu sein, dass er fest genug saß, und machte sich dann mit dem Rest den Seils auf in Richtung des Fensters.

Er hatte sich versichert, dass es auch im Stockwerk darunter eine Öffnung gab, die groß genug war, ihn einzulassen. Sobald er sich zu dem unteren Fenster abgeseilt hatte und in das zugehörige Zimmer eingedrungen war, musste es schnell gehen. Die Wache könnte in der nächsten Kontrollrunde im Innenhof das Seil bemerken.

Carolan wartete, bis der Wächter die nächste Runde drehte. Just als der Hof wieder leer war, ließ er das Seil hinab und begann den Abstieg. Er war vielleicht noch zwei Schritt vom nächsten Fenster entfernt, als das Seil mit einem Ruck ein Stück mit ihm nach unten rutschte. Carolan verstärkte seinen Griff und schluckte. War er vielleicht zu schwer für den Tisch? Egal, die Wache konnte jederzeit zurückkommen und er hatte keine Zeit! Mit einem Tritt gegen die Wand brachte er das Seil zum Schwingen und als es dadurch erneut ein Stück nachgab, ließ Carolan los und schwang sich elegant durch das kleine Fenster.

Er rollte sich ab und landete gewandt in der Hocke. Eine Hand lag auf seinem gebeugten Knie, die andere war nach hinten ausgestreckt und sein Kopf leicht gebeugt. Warum hatte das keiner gesehen? Seine Pose war so beindruckend gewesen. Der Schwung, der elegante kurze Flug durch das Fenster und sofort in die Rolle. Was für eine akrobatisch perfekte Landung! Es war wirklich zu schade, dass er keine Zuschauer hatte.

Plötzlich hörte er ein nur allzu bekanntes Geräusch, das sofort alle Alarmglocken schrillen ließ. Jemand hatte eine Klinge gezogen! Langsam hob er den Blick vom Boden in die Richtung des Geräusches. Vor der Wand im hinteren Teil des Raumes kniete eine Frau. Carolan hob überrascht die Augenbrauen. Das Licht von draußen war ausreichend, um zu sehen, dass die Frau einen langen, schmalen Dolch gezogen hatte und diesen auf Carolan gerichtet hielt. Der Blick ihrer dunklen Augen fokussierte ihn und ihre Lippen waren hinter dem durschichtigen Schleier vor Missmut geschürzt. Ihre andere Hand hatte die Frau immer noch an der Wand und Carolan bemerkte die dünnen Griffe von zwei Dietrichen, die in einem versteckten Schlüsselloch steckten.

Wie es aussah, hatte Carolan bei seinem Fluchtversuch eine Diebin beim Einbruch überrascht. Dieser Abend war wirklich voller Überraschungen.

»Das kann einfach nicht passiert sein!«, kommentierte Ali abwertend. »Wie hoch sind denn die Chancen? Einem Diener oder einer Wache über den Weg zu laufen, warum nicht. Aber einer Diebin?«

»Ich sage dir, Ali, genauso hat es sich zugetragen«, versicherte Carolan mit einem unsicheren Lächeln.

»Ali! Kannst du mit den dummen Kommentaren aufhören? Das stört!«, beschwerte sich Hassan und trat mit dem Fuß nach ihm. Ali duckte sich, entkam damit dem Tritt und schwang sofort die Faust nach Hassan. Carolan schob sich aus dem Weg und lehnte sich gegen die Wand. Wenn er Glück hatte, würde die Prügelei etwas andauern und ihm einem Moment geben, seine Stimme zu schonen. Als die zwei Ganoven aufeinander losgingen wie wilde Hunde, blieb jedoch das erhoffte Gefühl von Schadenfreude aus. Er schob sich etwas weiter zurück in seine Ecke, um nicht noch aus Versehen einen Schlag abzubekommen.

# 4

»In AlʼAnfa brauchst du Geld, in Gareth einen guten Namen. In Vinsalt musst du beides nur vortäuschen können.«

—Avestos zu seinem Begleiter Zonzo, aus ›Avestos und der nackte Edle oder Vinsalter Mode‹ von Gerion Brannthagen

Carolan sah, wie sich der Körper der Frau anspannte. Jeden Moment könnte sie mit dem Dolch auf ihn losgehen – und bis auf das Gürtelmesser hatte Carolan keine Waffen bei sich. Es war wieder eine Entscheidung, die sich aus dem Moment heraus ergab. Er hob vorsichtig die Hand und formte mit den Fingern seiner rechten Hand den Phexensgruß. 

Der Blick der Frau glitt langsam von Carolans erhobenen Fingern, die die Form eines Fuchses beschrieben, zu seinem Gesicht und zurück zu seiner Hand. Der Halbelf bemühte sich um ein freundliches, wenn auch etwas nervöses Lächeln.

Bange Augenblicke verstrichen. Dann hob sie langsam die Hand und erwiderte seinen Gruß. In der Rechten hielt sie noch immer ihren Dolch, aber es war zumindest der Beginn einer Unterhaltung.

»Ich wollte dich nicht bei der Arbeit stören«, sagte Carolan leise.

»Was suchst du hier? Wenn Ahmed dich geschickt hat, dann kannst du ihm ausrichten, dass ich es ihm sehr übelnehmen würde, sollte er mehrere Agenten für dasselbe Ziel anheuern.« Die Stimme der Frau war klar und sanft. Carolan beschloss, dass er sie mochte.

»Oh nein, ich war wegen etwas ganz anderem hier. Die Dame des Hauses hatte mich zu einem Stelldichein eingeladen, aber ihr Mann kam früher zurück als erwartet.”

»Da hast du Glück gehabt. Kashban ibn Yussuf al’Chadid soll die letzte Eroberung seiner Frau gehäutet haben. Ein unbequemer Mann, in weitaus mehr als nur dem Umgang mit den Liebhabern seiner Frau.« Die Frau bog ihren Mund zu einem kleinen Lächeln. »Phex war heute Abend wahrhaft mit dir.«

»Das habe ich auch von seiner Frau gehört. Mein Name ist übrigens Ramirez«, sagte Carolan und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an.

»Asra.« 

»Sag, Asra, was genau willst du von diesem Kashban? Ich kann mir gut vorstellen, dass er mit Dieben nicht freundlicher umgeht als mit den Eroberungen seiner holden Dame.« Es war eine Frage ins Blaue, aber Carolan hatte dieses Gespräch aus seinem Bauchgefühl heraus begonnen und so würde er es auch weiterführen.

»Warum sollte ich das ausgerechnet dir verraten, Ramirez?« Sie sprach seinen Namen aus wie eine exotische Frucht, die sie noch nie gegessen hatte. »Du könntest mir immer noch dazwischenfunken und das wäre sehr schade, nachdem wir doch schon festgestellt haben, dass wir uns sehr leicht aus dem Weg gehen könnten.«

»Wo ist deine Risikobereitschaft, Asra? Fühlst du nicht, dass unser Treffen vielleicht mehr sein könnte als ein Zufall?« 

Asra starrte ihn an, und doch glitt ihr Blick für einen Moment ins Leere. Carolan hatte das Gefühl, als ob sie in seine Gedanken sehen konnte.

»Halef ist der Leibmagier des Hauses. Seine Arbeitsstube ist ein Stockwerk höher und diese versteckte Tür«, sie tippte mit dem Dolch gegen die verzierte Wand, bevor sie ihn in die Scheide an ihrem Gürtel zurücksteckte, »führt direkt hinauf. Es gibt dort etwas, für das jemand hervorragend zahlen würde.«

Carolans Gedanken waren für einen Moment ein undurchdringlicher Dschungel, aber dann sah er die Situation in einer Klarheit, die ein breites, fast schon manisches Grinsen auf sein Gesicht zauberte. Es schien, als hätte der Listige dieses Treffen zwischen Asra und ihm wahrhaftig arrangiert.

»Sag mir Asra, hast du einen guten Fluchtweg?«, fragte er die Diebin.

»Was für eine dumme Frage, Ramirez ibn Djinn«, schnaubte sie. »Ich mache das hier schließlich nicht zum ersten Mal.«

»Ist der Weg gut genug für zwei?” 

»Schon, aber …« Carolan unterbrach sie mit einer Handbewegung. Er stand auf und ging auf sie zu.

»Wenn ich dir helfe, nimmst du mich mit?« Er hielt ihr die Hand hin. »Schlag ein. Mein Angebot ist zeitlich sehr begrenzt.«

Sie runzelte die Stirn, schlug aber ein.  »Abgemacht.«