Dschihad als Ausweg - Nina Käsehage - E-Book

Dschihad als Ausweg E-Book

Nina Käsehage

4,8

Beschreibung

Anhand dreier Interviews mit tschetschenischen Kämpferinnen illustriert Nina Käsehage die Zweidimensionalität der Lebensweise der jungen Kaukasierinnen und ihrer Einflussnahme auf deutsche Frauen. Sie hielten sich in Deutschland auf, weil ihr Lebenswandel insbesondere von deutschen Dschihadistinnen als »vorbildlich« betrachtet wird und imitiert werden soll. Dabei sind sie selber nicht nur Täterinnen, sondern oftmals auch Opfer ihrer Umgebung. Wenn man über Radikalisierung redet, sollte man auch über die Möglichkeit der De-Radikalisierung nachdenken. Dieses Buch bietet dafür individuelle Handlungsempfehlungen an, die auf Basis der Inneneinsichten der tschetschenischen Kämpferinnen gewonnen werden konnten.

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Seitenzahl: 170

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Nina Käsehage

Dschihad als Ausweg

Warum tschetschenische Frauen in den Krieg ziehen und deutsche Kämpferinnen ihnen folgen

© 2017 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Groothuis, Lohfert, Consorten · Hamburg

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-86674-645-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Transkriptionsregeln

Spezifische Angaben zur Zitationsweise

Abkürzungsverzeichnis

1.Einleitung

2.Historischer Exkurs

3.Gasawat

4.Tschetscheninnen

5.Namensgebung und mögliche Ursachen der Dschihad-Teilnahme

6.Methodik und Vorgehensweise

7.Auswertung der Interviews

7.1Die Witwe – Umm Yasin

7.2Die »Ältliche Tochter«  – Umm Aisha

7.3Die Traditionsbewusste – Umm Nasrin

8.Fazit

9.Handlungsempfehlungen

Anhang

Literaturverzeichnis

Primärquellen

Sekundärquellen

Zeitschriften

Internetquellen

Abbildungsverzeichnis

Glossar

Über die Autorin

Fußnoten

Transkriptionsregeln

Die vorliegenden Interviews wurden unter Berücksichtigung folgender Transkriptionsregeln abgebildet:

(.)

Kurze Pause

(..)

Mittlere Pause

(…)

Längere Pause

[seufzt]

eigene Lautäußerungen, Bemerkungen im Hinblick auf weitere Interview-TeilnehmerInnen oder religiöse Lobpreisungen werden in eckigen Klammern aufgeführt

Betonung

ein Wort wird besonders stark hervorgehoben

Neu-Ossetien

Besondere Wörter, Fremdwörter oder Eigennamen werden in kursiver Schrift aufgeführt

Spezifische Angaben zur Zitationsweise

Grundsätzlich wurden wörtliche Zitate der Interview-Partnerinnen mit Fußnoten versehen, die auf das jeweilige Interview mit der spezifischen Respondentin und die dazugehörige Seitenangabe innerhalb der Interview-Transkription verweisen. Aus datenschutztechnischen Gründen und der wechselseitig geschlossenen Vereinbarung können aufgrund der besonderen Situation, in welcher sich die Interview-Partnerinnen zum Zeitpunkt der jeweiligen Interviews persönlich und ›beruflich‹ befanden, keine weiteren Angaben, bspw. zum Erhebungsort, dem tatsächlichen Namen der Respondentinnen oder dem genauen Zeitpunkt der Interview-Erhebungen im Kontext der Fußnoten gemacht werden.

Doppelte Anführungszeichen verweisen auf ein direktes Zitat, während einfache Anführungszeichen auf eine mutmaßliche Annahme hinweisen sollen.

Abkürzungsverzeichnis

sas

Sallallahu aleyhi wa sallam

»Der Segen Gottes sei mit/auf ihm!«;

swta

Subhana wa t'allah

»Gelobt sei Gott!«; »Alles Lob sei bei Gott.«

1.Einleitung

Im Kontext der Entstehung des Islamischen Staates (IS) haben sich zahlreiche Frauen in unterschiedlicher Weise dem kriegerischen Dschihad angeschlossen und ihre Heimatländer und Familien hinter sich gelassen, um sich (un-)mittelbar an gewalttätigen Auseinandersetzungen zu beteiligen. Die Gründe der Protagonistinnen für die Partizipation am kriegerischen Dschihad sind ebenso vielfältig wie ihre Versuche, diese religiös, wirtschaftlich, kulturell oder sozial zu legitimieren.

Neben einem gegenwärtig zu beobachtenden ›Trend‹ vieler junger Europäerinnen, sich der Gewalt im Namen der Religion zu verschreiben,1 existiert eine lange Tradition kämpfender Frauen, die aus Tschetschenien stammen oder tschetschenische Wurzeln aufweisen. Das vorliegende Buch widmet sich dieser besonderen Ausprägung von Kämpferinnen, die in der Öffentlichkeit häufig als Schwarze Witwen bekannt sind.2

Im Zuge einer breit angelegten, religionswissenschaftlichen Feldforschung innerhalb des salafistischen Milieus, die während der Jahre 2012 bis 2016 stattgefunden hat, wurden insgesamt 175 Interviews mit allen drei Erscheinungsformen salafistischer Ausprägung, den so genannten puristischen, politischen und dschihadistischen AkteurInnen und namhaften Predigern jener Bewegung in Deutschland, Österreich, der Schweiz, der Niederlande, Frankreich, Belgien, Italien, Großbritannien, Spanien sowie der Türkei geführt.3 In diesem Nexus wurden zehn Interviews mit tschetschenischen Kämpferinnen geführt, die sich im Jahr 2014 vorübergehend in Deutschland aufhielten, welche sich aufgrund ihrer spezifischen Typologie von den europäischen Dschihadistinnen unterscheiden. Infolgedessen soll die Diskussion der drei exemplarisch ausgewählten Interviews dieser besonders gewaltaffinen Gruppe, deren biographische Hintergründe stellvertretend für die Erfahrungswerte aller interviewten jungen Frauen dieses Samples sind, erkennbar machen, warum sie ihr Leben dem Krieg widmen.

Darüber hinaus wird untersucht, ob die Fremdzuschreibung, die den tschetschenischen Kämpferinnen gegenüber sowohl in religiöser Hinsicht, als auch in Bezug auf charakterliche Eigenschaften öffentlich zumeist widerfährt, tatsächlich zutreffend ist.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage, ob die tschetschenischen Motivlagen und die der jungen Europäerinnen deckungsgleich sind oder möglicherweise divergieren, weil deren Herkunft und Sozialisation einer unterschiedlichen Ausprägung folgte.4 Die potentielle Erkenntnis divergenter Motivlagen, Handlungsmuster und Zielsetzungen radikalisierter Frauen könnte sich im Hinblick auf individuelle Handlungsempfehlungen für die Präventions- und De-Radikalisierungsarbeit als hilfreich erweisen, um den jungen Frauen eine Alternative zur Gewalt aufzuzeigen.

Ein bekannter, psychologisch sehr vielsagender tschetschenischer Ausspruch lautet:

Нохчи хила хала ду. – Es ist hart, ein Tschetschene zu sein.5

Um nachvollziehen zu können, warum die drei Tschetscheninnen in der vorliegenden Art und Weise argumentieren, die auf Außenstehende hart und gefühlskalt wirkt, und wie sich ihre spezifische nationalstaatliche Verbundenheit und Sozialisation trotz der schwierigen Lebensumstände, die innerhalb Tschetscheniens vorherrschen, erklärt, ist zudem ein kurzer Überblick über die tschetschenische Geschichte notwendig, die für die Handlungsweise aller Respondentinnen maßgeblich ist.

Es erscheint demnach sinnvoll, die Ideologie des Dschihad abzubilden, der die Protagonistinnen nacheifern und welche sie infolge ihrer spezifischen Herkunft als Gasawat (Heiliger Krieg) bezeichnen. Zu diesem Zweck erfolgt eine kurze Einführung in die Grundzüge des kriegerischen Dschihad, der von den Respondentinnen praktiziert wird und lediglich einen Teilaspekt des Gesamtkonstrukts Dschihad abbildet.

Damit destruktive Verhaltensmuster durchbrochen werden können, müssen wir verstehen, welche Ursachen ihnen zugrunde liegen und welche innere ›Logik‹ ihnen immanent ist, denn nur dann besteht die Chance, Betroffene aus dem Kreislauf ›determinierter‹ Pfade zu befreien und ihnen alternative Lebenswege aufzuzeigen.

2.Historischer Exkurs

Um die besondere politische Haltung, das hervorgehobene Nationalbewusstsein und die Kriegsentschlossenheit der »Tschetscheninnen« nachzeichnen zu können, ist es ratsam, in einem kurzen Abriss die tschetschenische Geschichte und insbesondere die beiden tschetschenisch-russischen Kriege darzustellen, die aufgrund des Kräfte-Ungleichgewichts der Kriegsparteien, der verbalen General-Stigmatisierung der Tschetschenen und der damit einhergehenden Belagerungssituation ihres Landes an die derjenigen Völker erinnern lässt, an denen ein Genozid verübt werden sollte, wie bspw. die Armenier.6

Diese Annahme speist sich aus der spezifischen russischen Zielsetzung, die im Kontext beider Kriege zwischen Russland und Tschetschenien erkennbar wurde:

Das Ziel der russischen Kriegsführung bestand infolge des ersten russisch-tschetschenischen Krieges, bei dem die tschetschenischen Widerstandskämpfer die russischen Angreifer deutlich zurückgedrängt hatten,7 darin, die tschetschenische Bevölkerung aufgrund des ihr unterstellten »gemeinsamen Nationalcharakters der Immoralität und einer genetischen Tendenz zugunsten krimineller Handlungen«8 durch die russischen Medien im Rahmen des zweiten tschetschenischrussischen Krieges wie folgt diskreditieren zu lassen:

»Den Charakter dieses Feindes als Banditen, Kriminelle und als antihumane und antirussische (Personen) darzustellen. […] Diesen Feind als Fremden und als Parasiten am gesunden russischen Volkskörper darzustellen, dessen Zerstörung für jeden einzelnen russischen Staatsbürger eine heilige Sache sein sollte. […] Eine einfache Form zu finden, um die Führer des Feindes als primitiv, aufsässig, grausam und vertiert zu schildern. […] Soweit wie möglich zu vermeiden, über militärische Niederlagen der russischen Armee zu berichten. Die Opfer auf der russischen Seite zu verbergen und den Feind nach Möglichkeit als bereits geschlagen darzustellen.«9

Darauf folgend veranlasste Wladimir Putin10, der Boris Jelzin11-Nachfolger und ehemalige Inlandsgeheimdienstchef des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB),12 dass es während des zweiten tschetschenisch-russischen Krieges eine Einreise-Sperre für ausländische Nachrichtensender und Journalisten gab, so dass diese nur noch über verschlungene Pfade ins tschetschenische Landesinnere gelangen und medial bezeugen konnten, wie bspw. die Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, vier Wochen lang unentwegt durch »Bomben- und Artilleriebeschuss zerstört wurde, obwohl nur ein kleiner Teil der Bevölkerung die Gelegenheit hatte, die Stadt vorher zu verlassen«.13

Hinzu kamen die unangekündigten, menschenverachtenden und permanent stattfindenden sogenannten »Säuberungs-Aktionen« gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung, bei denen scheinbar Verdächtige nicht nur erniedrigenden Leibesvisitationen und stundenlanger Folter vor dem eigenen Zuhause ausgesetzt waren, welches in der Zwischenzeit geplündert wurde, sondern auch vielfach willkürlich in so genannte »Filtrations-Lager« gebracht wurden, die Anna Politkovskaja, als »mobile KZ’s« beschreibt.14

Nahezu mit an Hohn grenzender Menschenverachtung konstatiert der »Instruktionsbrief«, der aus der Feder russischer Generäle und des ehemaligen Geheimdienstchefs Putin stammt, folgende Unwahrheit: »[…] Dieses aussterbende Volk ist aus humanitären Gründen jahrhundertelang von Russland künstlich unterstützt worden. […].«15 Dass das tschetschenische Volk tatsächlich jedoch auf eine sehr alte Geschichte zurückblicken kann16, weil es vor Tausenden von Jahren bereits die nord-östlichen Berggebiete des Kaukasusbewohnte,17 die stets von russischen Versuchen begleitet wurden, die tschetschenische Ethnie gänzlich auszulöschen, zeigt der folgende historische Abriss, der im 18. Jahrhundert beginnt:

Von 1785 bis 1791 wurde ein ›Befreiungskampf‹18 von den alliierten nordkaukasischen Völkern, angeführt vom »tschetschenischen Scheich Mansur19, zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer gegen das russische Imperium geführt«, welcher diese Region geographisch sowie wirtschaftlich vermittels der Muriden, der sufischen Kampftruppen-Schüler, unter seine Alleinherrschaft bringen wollte.20 Hintergrund für diese Auseinandersetzung war die sogenannte Kaukasus-Linie, eine Art Grenzbefestigung, welche vom Kaspischen Meer bis zum Schwarzen Meer von Russland im Jahr 1785 gezogen worden war und darauf abzielte, die ertragreichen Ländereien der Gebirgsregion zu annektieren sowie Zölle in Bezug auf Waren zu erheben, die über tschetschenische Regionen transportiert würden.21

Im 19. Jahrhundert wurde von russischer (zaristischer) Seite aus der Versuch unternommen, sich das tschetschenische Gebiet gänzlich anzueignen und die tschetschenische Identität in eine gesamtrussische Identität zwangsweise zu transformieren.22 Im Jahr 1813 hatte sich das Zarenreich in Transkaukasien etabliert und in der Folge den Nordkaukasus zum Hinterland dieses Reiches degradiert.23 Der kaukasische Statthalter Alexej Jermolow24 wurde lt. Politkovskaja durch eine gnadenlose Kolonialisierungspolitik zum verhassten Gegner der tschetschenischen Bevölkerung, bspw. durch die Zementierung des Kosakentums vermittels einer gezielten Umsiedlungspolitik in Tschetschenien, in deren Folge zahlreiche Tschetschenen ihr Leben lassen bzw. bei Verweigerung einer Umsiedlung in die Berge mit den schlimmsten Strafmaßnahmen rechnen mussten.25 Im Jahr 1818 entstand als tschetschenische Abwehrreaktion auf diese Marter die Festung Grosjana, die Bedrohliche, die der Grundstein der heutigen Stadt Grosny ist.26

Der russische Schriftsteller Lew Tolstoi27, der als Offizier in der zaristischen Armee im Nordkaukasus eingesetzt wurde, schrieb über den Überlebenswillen des »Volkes der Tschetschenen« Folgendes:

»Der Strauch der Tatarendistel bestand aus drei Stängeln. Einer davon war abgerissen, und der Stumpf ragte wie ein abgehauener Arm empor. Aber doch stand der Strauch noch da. Er sah aus, als hätte man ihm ein Stück herausgerissen, das Innere herausgedreht, den Arm gebrochen, die Augen ausgestochen. Aber er stand da. Er steht noch immer da. Ergibt sich dem Menschen nicht, der seine Brüder rings um ihn vernichtet hat!!«28

Die tschetschenische Bevölkerung reagierte auf die Repressionen Jermolows mit Widerständen, die Jermolow niederzuringen versuchte, wodurch sich der erste Kaukasische Krieg, beginnend ab dem Jahr 1818, mit sukzessiven Unterbrechungen bis zum Jahr 1859 erstreckte.29 Im Jahr 1834 wurde der Tschetschene und berühmte Muride Schamil zum Imam ernannt und rief zum Partisanenkrieg gegen die russischen Okkupatoren auf, an dem sich zahlreiche Tschetschenen beteiligten.30 Sechs Jahre später kam es zu einem tschetschenischen Volksaufstand, in dessen Folge die Tschetschenen versuchten, ein theokratisches System, das Schamil-Imamat, auszurufen dass sich sowohl auf den bedingungslosen Gehorsam seiner Anhänger im Hinblick auf seinen Personenkult, als auch auf den sufischen Gruppenzusammenhalt stützen konnte.31 Dieses wurde jedoch nicht etabliert, da die russische Unterwerfungsstrategie von zunehmender Brutalität sowie zahlenmäßiger Überlegenheit begleitet wurde und final 1859 in der Niederlage der Tschetschenen endete, in dessen Kontext Schamil inhaftiert und Tschetschenien großflächig geplündert und zerrüttet wurde.32 Dennoch widersetzte sich das eigentlich vollkommen zerstörte Land bis zur zaristisch verkündeten, offiziellen »Befriedung« des Kaukasus im Jahr 1861 seinem Anschluss an Russland.33

Ab dem Jahr 1893 wurde in Grosny erfolgreich und sehr umfangreich Erdöl gefördert, wodurch sich ausländische Investoren und Banken vor Ort ansiedelten und ein industrieller und wirtschaftlicher Aufschwung für Tschetschenien zu verzeichnen war.34 Im Zuge folgender russischer Kriege näherten sich die Tschetschenen sogar den ehemaligen Aggressoren an und waren zum Teil auf Seiten der ehemaligen russischen Besetzer anzutreffen.35 Ihr besonderer Mut, ihre taktische Stärken im Kampf sowie ihre Entbehrungsfähigkeit, wurden von vielen Militärhistorikern lobend erwähnt.36

Zu Beginn des Jahres 1921 traten die Tschetschenen zunächst der Sowjetischen Bergrepublik (GSR) unter der Vereinbarung bei, dass die ehemals zaristisch annektierten tschetschenischen Gebiete ihnen wieder zurückgegeben, die Adaten, die seit Jahrhunderten das tschetschenische Gemeinschaftsleben regelnden Statuten, sowie das Schariat offiziell gebilligt würden.37 Ende des Jahres 1922, nachdem die GSR sich aufgelöst hatte, wurde das tschetschenische Gebiet in eine unabhängige, administrative Einheit transformiert und im Kontext der ehemaligen Sowjetunion38 im Jahr 193639 mit Inguschetien zur autonomen Republik, der tschetschenisch-inguschetischen Republik (Tschetscheno-Inguschetische Autonome Sowjetrepublik, AdSSR) ernannt,40 dessen Hauptstadt das Erdölzentrum Grosny war.41 Die muslimischen Tschetschenen bezeichnen die Inguschen und sich als Vai Nakhk, was im Tschetschenischen so viel wie »Unser Volk« bedeutet.42 Sie bilden zusammen mit Ingutschetien und Neu-Ossetien die größte ethnische Gruppe im nördlichen Kaukasus und bezeichnen einander als »Brüdervölker«.43

Ab Mitte der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts war ein spürbarer wirtschaftlicher und bildungspolitischer Aufschwung in Tschetschenien wahrnehmbar, den die Machthaber der beginnenden UdSSR zu unterbinden versuchten, indem sie in dieser Zeit im Zuge der sogenannten »Ersten Welle« eines lt. Politkovskaja »roten Staatsterrors« 35000 Opfer, überwiegend aus angesehenen Schichten des Landes wie den Mullahs sowie vermögenden Landwirten, in Tschetschenien durch Mord, Folter und den Folgen von »Säuberungsaktionen« und miserablen Haftbedingungen infolge einer willkürlich veranlassten Inhaftierung, verschuldeten.44 Die »zweite (russische) Terrorwelle« habe 3000 Todesopfer der kurz zuvor entstandenen tschetschenischen Intelligenzija gefordert.45 Vom 31. Juli auf den 1. August 1937 seien weitere 14000 Tschetschenen inhaftiert worden, weil diese sich aufgrund eines höheren Bildungsstandes oder sozialer Tätigkeiten von der breiten Bevölkerungsmasse unterschieden und Bildung von russischer Seite mit »Ideologie« gleichgesetzt und somit als potentielle Gefahr betrachtet wurde.46 Einige dieser Opfer wurden sofort exekutiert, während andere in Lagern interniert wurden und darin nach einem längeren Martyrium infolge der Arbeits- und Lebensbedingungen verstarben.47 Diese Verhaftungswelle dauerte bis zum Jahr 1938 an und wird in Tschetschenien als das Jahrzehnt der Repressionen tituliert, da zwischen den Jahren 1928 und 1938 über 250000 Menschen im Zuge dieser willkürlichen Verschleppungs- und Tötungs-Aktionen ihr Leben verloren.48

Im Februar 1944 veranlasste der russische Oberbefehlshaber Josef Stalin49 aufgrund einer fälschlicherweise unterstellten Kollaboration des tschetschenischen Volkes mit den deutschen Nationalsozialisten, die Deportation des gesamten tschetschenischen Volkes in die kasachische Steppe.50 In diesem Zusammenhang wurde die Löschung sämtlicher Aufzeichnungen zur tschetschenischen Nation angeordnet, und dessen Existenz wurde als Republik von jeder sowjetischen Landkarte und aus jedem Buch entfernt, beinahe so, als ob man sie aus dem kollektiven Gedächtnis streichen wollte.51 Diejenigen Tschetschenen, die in den Bergen wohnten und sich weigerten, an dieser Deportation teilzunehmen, wurden zusammen mit ihrem Besitz und ihren Tieren verbrannt.52 Aufgrund der harten klimatischen Bedingungen während des Winters des Jahres 1944 kam im Zuge jener Deportation schätzungsweise ein Drittel der tschetschenischen Gesamtbevölkerung ums Leben.53 Die Überlebenden durften erst zum Ende der 1950er Jahre wieder nach Tschetschenien zurückkehren und seien lt. Sager bis heute ob dieser Ereignisse stark traumatisiert.54Politkovskaja zufolge habe jeder dritte Tschetschene diese Zwangsaussiedlung selber erlebt und das daraus resultierende Trauma sei noch immer in der panischen Furcht der Tschetschenen vor einer Wiederholung dessen spürbar und ein Grund dafür, warum sie »hinter allem ›die Hand des KGB‹ aufspürten und Anzeichen für eine neuerliche Vertreibung erkennen wollten.«55

Nach dem Zerfall der UdSSR und den beginnenden Reformbemühungen des KPdSU-Parteichefs Nikita Chruschtschow versuchte sich Tschetschenien zu einer unabhängigen Republik zu erklären56, und dessen ursprüngliche Bevölkerung versuchte seit 1956 in kleinen Gruppen in ihr Heimatland zurückzukehren.57 Ihre Heimkehr wurde jedoch von den dort in der Zwischenzeit ansässig gewordenen russischen und kosakischen Siedlern behindert, indem diese die Tschetschenen nicht offiziell als Eigentümer der Ländereien und Besitztümer anerkennen wollten.58 Die Tschetschenen kämpften jedoch kontinuierlich für ihr Recht auf Rückkehr, so dass die sowjetische Regierung ihre Rückkehr offiziell genehmigte bzw. »legalisierte«, und Tschetschenien (Nokhchi Mokhk) seine Unabhängigkeit im Jahr 1957 offiziell, jedoch mit veränderten Grenzen, erlangte.59

Der Name Tschetschenien oder Tschetschene ist nicht tschetschenischen Ursprungs, sondern dem Dorf entlehnt, das die zaristischen Armeen zuerst eroberten.60 Die Tschetschenen nennen sich selber Nokhcho bzw. ihr Volk die Nokhchi Q'am (die tschetschenischen Leute) und ihre Sprache Nokhchi Mott.61

Trotz der anhaltenden Verleumdung der Tschetschenen als »unzuverlässige Menschen« durch russische Medien und der kontinuierlichen, gewaltsamen Versuche der »Russifizierung« der Tschetschenen, konnte sich Tschetschenien in den 1960er und 1970er Jahren erneut zu einem Industriezentrum ausbauen, dessen Zentrum Grosny für seine kosmopolitische Prägung und die multikulturelle Harmonie weit über die Grenzen des Landes bekannt war.62

Im Winter 1990 wurde im tschetschenischen Volkskongress die Unabhängigkeit der Republik ausgerufen und durch eine schriftliche Erklärung diese staatliche Souveränität manifestiert.63 Infolge eines Putsches wurde im Zeitraum von August bis zum September 1991 »der Oberste Sowjet der Republik aufgelöst, die Macht ging auf außerkonstitutionelle Organe über, die Neuwahlen ansetzten und eine Loslösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation« forderten.64 Fortan wurde eine »Tschetschenisierung« aller Lebensbereiche vollzogen, in deren Kontext viele russisch-sprachige Bevölkerungsangehörige das Land verließen.65 Der gemäßigte erste Präsident der tschetschenischen Republik Itschkeriya, Dshochar Dudajew,66 wurde zum Anführer der »tschetschenischen Revolution« und leitete die »neue« Republik von 1992 bis zu seinem Tod durch eine Zielsuchrakete im April des Jahres 1996.67 Zuvor war er in der sowjetischen Luftwaffe bis zum Generalmajor aufgestiegen und hatte Russland bis zu dessen Okkupationsversuch stets freundlich gegenüber gestanden.68

Im Kontext der Revolution des Jahres 1991 ereignete sich auch ein gesellschaftlicher, tschetschenischer Umschwung, bei dem die »tschetschenische Intelligenzija«, beeinflusst von gesellschaftlichen Randfiguren mit radikalen Tendenzen, einen weniger sachlich fundierten, jedoch aggressiveren politischen Kurs anstrebte, wie Politkovskaja konstatiert:

»Die ökonomische Führung fiel an Menschen, die nicht wussten, wie man eine Wirtschaft leitet. Die Republik war wie im Fieber, übte sich in endlosen Meetings und Demonstrationen, während das tschetschenische Erdöl still und heimlich in unbekannte Richtung abfloss. Als Folge dieser Ereignisse begann im November-Dezember 1994 der erste Tschetschenien-Krieg.«69

Die russische Strategie, die unterschiedlichen teips gegeneinander auszuspielen, schlug fehl, da diese sich stattdessen verbündeten, und das gemeinsame tschetschenische Nationalbewusstsein kulminierte. Infolgedessen wurden den russischen Truppen zahlreiche Verluste während der Gefechte im Zuge des Sturms auf Grosny von tschetschenischen Einheiten beigebracht.70 Nach vier Monaten andauernder Kämpfe war die Stadt stark zerstört, und der Krieg erstreckte sich über das ganze Land.71 Im Jahr 1996 gab es auf russischer sowie auf tschetschenischer Seite über 200000 Opfer zu beklagen.72 Mitte des Jahres 1996 reiste der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, General Alexander Lebed,73 nach Tschetschenien, um ein Ende dieses Krieges mit den Tschetschenen auszuhandeln. Im August 1996 kam es zu einem Friedensschluss in Form einer politischen Artikulation, der Chassawjurt Erklärung74, sowie der Aushandlung von »Prinzipien für die Bestimmungen der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Tschetschenischen Republik«, welche einen Status der »Nicht-Kriegszeit« für fünf Jahre festlegte und von Lebed und Maschadow, Dudajews früherem Generalstabschef, unterzeichnet wurde.75 Die russischen »Förderations-Streitkräfte« waren mit Chassawjurt nicht zufrieden, da dieser Vertrag sie ihrer Ansicht nach daran hinderte, »die Sache zu beenden und sie stattdessen öffentlich demütigte«.76

Nach dem ersten tschetschenisch-russischen Krieg, bei dem Russland schwere militärische Niederlagen erfahren und in der Folge Reparationsleistung an Tschetschenien zugesichert, jedoch nie gezahlt hatte77, erstarkte eine wahabitisch geprägte Religionsgemeinschaft in Tschetschenien, die von dem saudischen Omar Ibn al-Chattab78 angeführt wurde und die tschetschenische Bevölkerung mit Geld und extremistischer Ideologie vereinnahmte79, die u.a. den kriegerischen Dschihad als ehrbare Aufgabe und die Gemeinschaft der Wahabiten als bedeutsamer als den Zusammenhalt der traditionellen teips, der tschetschenischen Klan-Struktur, postulierte.80

Dudajews Nachfolger wurde Anfang des Jahres 1997 Aslan Maschadow,81Dudajews früherer Generalstabschef und ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee.82 Im Mai 1997 unterzeichnete Maschadow einen »Vertrag über Frieden und die Prinzipien friedlicher bilateraler Beziehungen«83 mit Jelzin.84 Weitere Friedensbeziehungen wurden jedoch von verschiedenen, untereinander verfeindeten, militärischen Anführern85, darunter u.a. Schamil Bassajew86, ein radikal-islamischer Fundamentalist, gestört. Dieser nutzte den verzögerten staatlichen Strukturaufbau und die damit verbundene, desolate Situation der Bevölkerung in Tschetschenien mit Hilfe saudischer Geldgeber und wahabitischer Gelehrten dazu, um die zunehmende Perspektivlosigkeit in Kriminalität und radikal-islamischen Terrorismus zu kanalisieren.87Bassajew ist in Bezug auf seine inkonsistente Loyalität als eine schillernde Persönlichkeit zu bezeichnen, da er sowohl mit Dudajew Seite an Seite in der sowjetischen Armee gekämpft hatte, Feldkommandeur im tschetschenischen Widerstand während des ersten tschetschenisch-russischen Kriegs war, jedoch zugleich vom russischen Auslandsgeheimdienst, Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) des Generalstabs der Russischen Föderation, ausgebildet und als Söldner der Abchasen, die vom Kreml protegiert wurden, im Georgisch-Abchasischen Krieg, der von 1993 bis 1994 stattfand, gekämpft hatte.88 Zudem zeichnet er für den 1995 organisierten Streifzug seiner Truppen in Richtung Budjonnnowsk verantwortlich, bei dem sowohl Patienten als auch Personal eines Gebietskrankenhauses sowie eines Entbindungsheimes als Geiseln genommen wurden.89 Es kann demnach konstatiert werden, dass Bassajew und nicht Maschadow mit zivilen Geiselnahmen von sich reden machte und diese ohne zu zögern für seine politischen Zwecke einsetzte.90

Am 23. Juni 1998 gab es einen Attentats-Versuch auf Maschadow, den dieser jedoch überlebte, und drei Monate später verlangten die Feldkommandeure, die von Bassajew angeführt wurden, der zu dieser Zeit Premierminister Tschetscheniens war, Maschadows Rücktritt und trieben das Land durch ihre Partikularinteressen selber fast in einen Bürgerkrieg.91 Selbst die Einführung der Schariats-Jurisdiktion