Du lebst, was du denkst - Ludger Pfeil - E-Book

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Ludger Pfeil

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Beschreibung

Warum wir denken, wie wir denken Neun philosophische Denktypen, in denen man sich und andere leicht selbst erkennt, zeigen erstaunlich plausibel, aus welcher Perspektive wir die Welt betrachten – meist, ohne es zu wissen. Auf einfache Weise kann jeder die philosophische Basis seiner Denkweise erkennen, die Vor- und Nachteile seiner persönlichen Überzeugungen überprüfen oder einmal in eine andere «Denkhaut» schlüpfen. Wir entdecken bisher kaum bekannte Seiten an uns, können andere besser verstehen lernen und erkennen, wie unser philosophischer Charakter unser Leben prägt. Eine ebenso leicht verständliche wie ungewöhnliche Einführung in die Philosophie.

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Ludger Pfeil

Du lebst, was du denkst

Neun philosophische Denkweisen, mit denen wir uns und andere besser verstehen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Warum wir denken, wie wir denkenNeun philosophische Denktypen, in denen man sich und andere leicht selbst erkennt, zeigen erstaunlich plausibel, aus welcher Perspektive wir die Welt betrachten – meist, ohne es zu wissen. Auf einfache Weise kann jeder die philosophische Basis seiner Denkweise erkennen, die Vor- und Nachteile seiner persönlichen Überzeugungen überprüfen oder einmal in eine andere «Denkhaut» schlüpfen. Wir entdecken bisher kaum bekannte Seiten an uns, können andere besser verstehen lernen und erkennen, wie unser philosophischer Charakter unser Leben prägt.

Über Ludger Pfeil

Inhaltsübersicht

Philosophische TypberatungÜberzeugungsdenker – Liebe zur WahrheitChancen und Risiken für ÜberzeugungsdenkerHinterfrager – Mut zum ZweifelnChancen und Risiken für HinterfragerGlücksfinder – Ja zur WeltChancen und Risiken für GlücksfinderSchwarzseher – Bewährtes MisstrauenChancen und Risiken für SchwarzseherLebenskünstler – Bedürfnisse als OrientierungChancen und Risiken für LebenskünstlerGenießer – Lust am VergnügenChancen und Risiken für GenießerPflichtbewusste – Praktizierte MoralChancen und Risiken für PflichtbewussteQuergeister – Eigensinn als eigener SinnChancen und Risiken für QuergeisterGemeinschaftsfreunde – Wille zur BindungChancen und Risiken für GemeinschaftsfreundeZum SchlussDanke!LiteraturnachweisNamensverzeichnis

Philosophische Typberatung

Was für eine Philosophie man wähle,

hängt sonach davon ab,

was man für ein Mensch ist …

Johann Gottlieb Fichte,

Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre

Haben Sie in einem Gespräch mit Ihrem Partner, Eltern, Kindern oder Freunden, das über organisatorische Fragen des Alltags hinausging, schon einmal bemerkt, dass Sie sich bei aller Sympathie trotz intensiven Bemühens, sich verständlich zu machen, in wesentlichen Aspekten nicht verstanden fühlten? Vielleicht entzündete sich die Diskussion an einem Zeitungsartikel über eine wissenschaftliche Entdeckung oder eine politische Entwicklung, die Sie nur beiläufig zu kommentieren glaubten, und am Ende entwickelte sich ein regelrechter Streit, der in einer aussichtslos erscheinenden Sackgasse kopfschüttelnd abgebrochen werden musste. Oder es ging um die vorfreudig begonnene Planung einer gemeinsamen Unternehmung, die an einem harmlos scheinenden Punkt nach immer heftigerem Aufeinandereinreden in Schweigen und Frustration endete.

Sie ahnen es: Hier ist nicht einfaches Aneinander-Vorbeireden gemeint, das sich meist, wenn man es erkennt, durch das Aufdecken einer missverständlichen Wortwahl aufklären lässt. Manchmal beruht, was wie ein simples Kommunikationsproblem daherkommt, nämlich nicht nur auf oberflächlicher Begriffsverwirrung – man kann auch tiefer aneinander vorbeidenken. Gerade bei wichtigen Themen, die unsere Lebensplanung betreffen, wie Kinderwunsch, Betreuung alternder Eltern, berufliche Veränderung oder Beziehungskrise, können wir bei genauerem Hinhören gelegentlich entdecken, dass für uns und unser Gegenüber unterschiedliche Argumente zählen, zentrale Begriffe verschieden interpretiert und Zusammenhänge abweichend gedeutet werden. Wir bemerken dann etwa, dass der andere nur strenge Sachlogik gelten lassen will, wo wir das Gefühl haben, dass dabei etwas Entscheidendes zu kurz kommt. Oder dass das Leben offenbar vom einen als ein lockeres Spiel, vom anderen als bitterer Ernst empfunden wird.

Sie können das einer augenblicklichen Gemütslage oder unveränderlicher Veranlagung zuschreiben und schulterzuckend zur Tagesordnung übergehen, aber vielleicht haben Sie im Laufe eines solchen Gesprächs selbst manchmal das unbestimmte Gefühl, auch Ihr eigenes Denken bewege sich auf eingefahrenen Gleisen in den immer gleichen Bahnen, die Ihnen gar nicht einmal richtig bewusst sind. Womöglich bedauern Sie sogar, dass es Ihnen nicht gelingt, die Weiche wenigstens probeweise einmal auf die gedankliche Fahrspur des anderen zu stellen?

«Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist …» – Fichtes vielzitierter Satz, der dieser Einleitung als Motto vorangestellt ist, weist auf die tiefe Verwurzelung einer philosophischen Weltsicht in unserer Persönlichkeit hin. Der Fortgang des Zitats macht zudem deutlich, dass es sich bei einer wirkmächtigen Philosophie nicht um eine leicht austauschbare äußerliche Angelegenheit handelt: «…: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.» Das könnte als unveränderliche Festlegung gelesen werden, die die strikte Abhängigkeit jeder individuellen Einsicht vom angeborenen oder erworbenen Charakter behauptet – sozusagen als könne bei aller Freiheit der Gedanken eben keiner aus seiner Hirnhaut heraus, basta. Dann wäre jeder Versuch, die Hürde zwischen gegensätzlichen Auffassungen zu überwinden, von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Dieser Lesart muss man allerdings nicht stattgeben, denn die Sentenz lässt sich auch als Ansporn verstehen, sich selbst auf dem umgekehrten Wege besser kennenzulernen, sich Spielarten der Philosophie, die man attraktiv findet, bewusst zu machen und daraus auf eigene Wesenszüge zu schließen. Und wenn man erst das heimische Gedankengebäude nach Strich und Faden ausgelotet hat, könnte man sogar auf die Idee verfallen, dass «da draußen» auch alternative Architekturen existieren, und den Wunsch entwickeln, sich einmal in den Denkkonstrukten anderer umzusehen. Immerhin bemerkte Fichte (und das ist unter herkömmlichen Philosophen keineswegs selbstverständlich), dass es nicht nur eine (wahre) Philosophie (nämlich die eigene) gibt, sondern dass durchaus unterschiedliche Weltsichten mit vollem Anspruch als «Philosophie» bezeichnet werden können.

 

Worin besteht eine solche «Philosophie», die man sich wählen könnte? Heute soll uns ja bereits jeder halbwegs tiefgründig klingende Gedanke als persönliche «Lebens-Philosophie» («Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen») untergejubelt werden, und markige Slogans werden als «Unternehmens-Philosophie» («Leistung durch Leidenschaft») verkauft. Eine «Marken-Philosophie» haben Modedesigner (Joop) und Kreditinstitute (easycredit) ebenso wie die illustren Vertreiber exklusiver Waschbecken (Kanera), Käsereien (Bresso), Kabelhersteller (Lapp) und Modelleisenbahner (Roco), um nur willkürlich die ersten Google-Treffer einer Suche nach diesem Begriff auszuwerten. Zu einer ausgewachsenen Philosophie gehört mehr: Da genügt kein übernommener Leitspruch; mindestens ein kleines Gedankengebäude – mit einem Fundament aus Grundannahmen und einer rudimentären Statik sich gegenseitig stützender Argumente – muss schon errichtet sein. Nur damit lässt sich die für den philosophischen Überblick nötige Höhe gewinnen; es handelt sich schließlich um eine Konstruktion mit Perspektive, die eine Sicht auf die Welt ermöglichen soll.

Wie wir die Welt sehen, wird nämlich dadurch bestimmt, von welchem Standpunkt aus und unter welchem Blickwinkel wir sie ansehen. Sie zeigt sich uns nicht einfach, wie sie «wirklich» ist, denn die Vielfalt der uns durch die Sinnesorgane zugänglichen Einzelphänomene überfordert uns. Ohne Ausblendung und Abstraktion würden wir von Eindrücken überflutet, ohne Interpretation würden wir keine Zusammenhänge erkennen. Alles, was wir erleben, unterliegt und bedarf unserer Filterung und Deutung. Wir erhaschen gelegentlich einen Blick auf in diesen Mechanismen wirkende Denkkonstrukte, wenn wir auf die inneren Kommentare unseres Geistes achten.

Der Entscheidung, die Kuchengabel in das Stück Apfeltorte auf dem Teller vor uns zu senken, liegen unzählige Erfahrungen, Annahmen und Prognosen zugrunde. Meist eher am Rande unseres Bewusstseins kann uns dabei sehr Unterschiedliches durch den Kopf gehen:

«Nahrung ist gut, Äpfel sind gesund, das Stück Kuchen sieht aus und riecht wie ein Apfelkuchen, wird also keine Attrappe sein. Dann mal los.»

«Sind die Äpfel darin wohl gespritzt oder Bio?»

«Apfelkuchen, nun nicht gerade originell, aber hab ich schon als Kind gerne gegessen.»

«Schleck! Das wird ein Genuss!»

«Herrlich, dass die Natur wohlschmeckende Früchte für uns wachsen lässt!»

«Das wird bestimmt wieder ansetzen und meinen wahren Hunger doch nicht stillen. Vielleicht sollte ich wenigstens auf die Sahne verzichten?»

«… und in Afrika verhungern sie, welche Dekadenz!»

Solche Gedankenfetzen sind nur die oberste Spitze eines Eisbergs genereller Deutungsmuster der Welt, die nicht nur unser Denken, sondern bereits unsere selektive Wahrnehmung beeinflussen.

 

Wir leben, was wir denken. Hinter den Oberflächenphänomenen unseres Einschätzens, Verhaltens und Entscheidens im Alltag erheben sich philosophische Denkgebäude, in denen sich dieses Geschehen abspielt. Sie sind errichtet aus Annahmen über die erfahrbare Welt und was über sie hinausgehen könnte, über richtiges Denken und Kommunizieren, über unser Zusammenleben in Beziehungen und in der Gesellschaft und bilden damit unausgesprochene philosophische Theorien, die maßgeblich prägen, was wir wahrnehmen und wie wir unsere Beobachtungen und Erfahrungen einordnen und miteinander verknüpfen. Was und wie wir denken, beeinflusst, wie wir die Welt betrachten, wie wir mit uns selbst, anderen Menschen und Dingen umgehen, was wir für wichtig und unwichtig halten und wie wir Entscheidungen treffen. Wenn uns Ungewohntes und Neues begegnet, das nicht in unser Schema passt, versuchen wir möglichst rasch ein passendes Plätzchen in unserer vorhandenen Weltsicht dafür zu finden oder einzurichten. Und nicht zuletzt interpretieren vor dieser Kulisse auch wir uns selbst und unsere Rolle.

Wenn wir mit anderen kommunizieren, tun wir dies vor dem Hintergrund des Bildes, das wir uns von der Welt machen, und jede Botschaft, die wir aussenden, steht auf der Rückseite einer «Weltansichts-Karte» geschrieben, die unsere Gedankenwelt widerspiegelt. Entgegen unserer sonstigen Gewohnheit achten wir hier meist nur auf die geschriebenen Worte und ignorieren das Foto. Doch es lohnt sich, die Karte einmal umzudrehen, denn sie könnte uns zeigen, wie wir die Welt sehen. Als Wüste oder als Garten? Mit hell leuchtendem Hintergrund oder dunkel drohend? Ein Einzel- oder Gruppenbild? Klar und strukturiert wie ein Mondrian-Gemälde – oder voller Fragezeichen?

Neben bewusster Lektüre und Reflexion mag es vielfältige Einflüsse geben, die dazu führen, dass man die Welt auf individuelle Weise interpretiert: Erziehung, Sozialisation, Umwelt, vielleicht genetische Disposition? Das untersuchen Psychologen, Soziologen und Biologen. Die sich hier anschließende Aufdeckung philosophischer Hintergründe will dazu ermutigen, sich dem eigenen Wesen auf dem Denkweg zu nähern und es der Selbsterkenntnis zugänglich zu machen. Dieser Zugang ermöglicht eine Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen in Bewusstsein und Sprache. Er folgt damit einem der ältesten Programme der denkenden Menschheit: Erkenne dich selbst!

 

Philosophische Grundhaltungen entwickeln sich als Reaktion auf die Frage, wie man in dieser Welt (über)leben kann und soll. Ohne zumindest vorläufige Antworten würden wir uns in ihrer Komplexität nicht zurechtfinden und unseren Platz in ihr weder bestimmen noch behaupten können. Wollen wir diese Deutungshoheit über unser Leben nicht dem zufälligen Ergebnis unserer Sozialisation, den Medien und den Alltagsmeinungen anderer überlassen, dann besteht ein erster Schritt darin, uns unsere versteckten Annahmen und Denkmuster mit ihren Vorteilen und Mankos deutlich vor Augen zu führen.

Glücklicherweise hat die philosophische Literatur von jeher den besonderen Charme, dass sie implizite Deutungsmuster explizit macht. Philosophen sind Exhibitionisten der meist – aber nicht immer – weniger Unmut erregenden, intellektuellen Sorte; sie halten mit ihrem Denken nicht hinterm Berg, breiten es offen aus und lassen sich gerne von uns dabei zuschauen. Was da bei hellem Licht betrachtet zum Vorschein kommt, kann anziehend sein, aber ebenso erschrecken. Doch selbst in sonderbar wirkenden Fällen ist hier das Herzeigen ein Verdienst, da so Skurrilitäten und Absurditäten offenkundig werden, die wir unter Umständen ebenfalls mit uns herumtragen, aber bei anderen leichter erkennen können.

Möglicherweise ist die von Fichte behauptete Beziehung zwischen Mensch und gewählter Philosophie dann gar nicht so festgelegt, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Im Kennenlernen unterschiedlicher Denkrichtungen und alternativer philosophischer Ansätze entdecken wir vielleicht andere, uns bisher kaum bekannte Seiten an uns, die dort zur Sprache kommen und denen wir bisher wenig Platz in unserem Denkgebäude eingeräumt haben. Die wenigsten werden den Hang verspüren, ein über Jahre mühevoll eingerichtetes Haus gleich zu verlassen und sich eine neue Heimstatt zu suchen, doch es könnte uns bewusst werden, dass es überhaupt philosophische Vorräte im schlechtbeleuchteten Keller unseres Denkens gibt, von denen wir uns im Alltag nähren, ohne dass wir sie jemals ans Licht geholt haben, um sie auf ihr Verfallsdatum, ihre aktuelle Tauglichkeit und Überzeugungskraft zu überprüfen. Ein Dinner im Dunkeln mag eine besondere Erfahrung sein – das selbstvergessene Konsumieren des Lebens ohne bewussten Blick auf die Inhaltsstoffe zur Regel zu machen wäre eher bedauernswert. Es verschlösse uns nicht nur die tiefere Wahrnehmung unserer selbst, sondern auch ein intensiveres Kennenlernen des anderen.

 

Menschen denken unterschiedlich. Das scheint unmittelbar einleuchtend und klingt nach einer Selbstverständlichkeit, dennoch vergessen wir es immer wieder. Wir glauben, dass alle irgendwie schon so ähnlich ticken wie wir. Enttäuschungen sind da nicht nur zwischen Fremden vorprogrammiert; auch im Gespräch mit Freunden und Partnern fühlen wir uns manchmal unverstanden. Die Philosophie bietet uns wie sonst höchstens die Literatur die Chance, andere Sichten auf die Welt kennenzulernen und uns aus der Beschränkung der mehr oder weniger engen eigenen Gedankenwelt und der eingefahrenen Argumentationsgleise mindestens zeitweise zu befreien. Die hier dargestellten Denkmuster sind zunächst einmal verbreitete und legitime Modelle, um die Komplexität und Kontingenz der Welt zu bewältigen, sowie ernsthafte Versuche, auf die verwirrenden Fragen unseres Daseins eine Antwort zu finden. Sie alle haben ihre besonderen Chancen und Risiken und verdienen mehr als lapidare Zustimmung oder Ablehnung. Wichtiger als unmittelbare Stellungnahme ist die Achtsamkeit in der Begegnung mit dem eigenen und fremden Denken.

In dieser Absicht ist eine Gruppierung von Denkanstößen zu philosophischen Grundtypen entstanden. Bisherige einführende Schriften zur Philosophie orientieren sich im Allgemeinen historisch am Lauf der Geschichte (von der Antike bis zur Gegenwart) oder an den Teildisziplinen der Philosophie (Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik …). Sie bemühen sich meist, die Kerngedanken philosophischer Strömungen und ihrer Vertreter wiederzugeben, während es hier weniger um eine Diskussion detaillierter Inhalte gehen soll, sondern um grundlegendere Ausrichtungen des Denkens, die exemplarisch vorgestellt werden. Typisierungen psychologischer Art sind dagegen gang und gäbe, aber gehen an unserem Thema vorbei oder überschneiden sich damit nur teilweise. Hier wie dort wird man im wahren Leben immer Mischformen, Kombinationen und Zwischentönen begegnen. Oft erkennt man sich selbst in verschiedenen und auf den ersten Blick unvereinbaren Darstellungen wieder. Die Philosophen-Typen sollen also nicht dazu dienen, sich selbst und seine Mitmenschen in Schubladen zu stecken, in die reale Personen schon aufgrund ihrer Größe nur gewaltsam hineingequetscht werden können, sondern die Neugierde auf andere Schrankfächer zu wecken und dem Reiz der Unordnung sein Recht zu belassen. In der bunten Wirklichkeit gibt es nicht nur Grauzonen, sondern auch fließende Farbverläufe. Wechsel und Entwicklung sind möglich, und wir können sie in gewissem Maße durch Verstärkung und Entgegensetzung selbst beeinflussen.

So sind auch die Personen, die als Illustration des jeweiligen philosophischen Charakters beschrieben sind, selbstverständlich erfunden und vereinfacht. Wirkliche Menschen sind komplexer und lassen sich nicht in einfache Kategorien einordnen. Die Philosophen-Typen sind wie alle Abstraktionen nur Denkfiguren, um die Vielfalt der Einzelphänomene zu strukturieren. Dennoch – oder gerade deshalb? – wäre es kaum erstaunlich, glaubte man in ihnen Bekannte, Freunde oder gar sich selbst zu erkennen.

Versuchen Sie mit den Typen zu spielen und sie zu kombinieren. Durchschauen Sie sie auf diese Weise als Denkmuster, die sich in jedem Menschen in unterschiedlicher Gewichtung wiederfinden und sich mit anderen Einflüssen jeweils zu einer einzigartigen Person mischen. In welchen Situationen neigen Sie selbst zu welchem Typ? Sind Sie in der Arbeit eine wahrheitsliebende Überzeugungsdenkerin, in der Partnerschaft ein pflichtbewusster Moralpraktiker, den Kindern gegenüber ein misstrauischer Schwarzseher und zusammen mit den Freundinnen eine vergnügungslustige Genießerin? Falls Sie unterschiedliche Denkmuster anwenden: Was würde passieren, wenn Sie einmal die Anwendungsgebiete tauschten? Und vielleicht können Sie sogar – zumindest versuchsweise – einmal in eine ganz andere «Denk-Haut» schlüpfen und für ein paar Stunden vom bindungswilligen Gemeinschaftsfreund zum eigensinnigen Quergeist mutieren. Denn anders als bei einer Farbberatung sind wir bei einer «philosophischen Typberatung» nicht etwa durch Haut-, Haar- und Augenfarbe auf unseren Typ festgelegt.

Nur zu gern möchten wir uns selbst, die anderen oder gleich die Welt verbessern. Auf dem Weg zu wirksamer Veränderung liegen aber – noch weit vor fundierter Kritik – die wichtigen Etappenziele Selbsterkenntnis und Verstehen. Die Philosophen-Typen wollen Ihnen nicht sagen, wie man richtig denken muss; sie zeigen Ihnen, wie man die Welt betrachten kann. Lassen Sie sich von ihnen Mut machen, mit Ihrer eigenen Interpretation vertrauter zu werden und sie tiefer auszuloten. Und vergessen Sie – insbesondere im Gespräch mit anderen über die spannenden Dinge des Lebens – nicht, dass es nur eine unter vielen ist. Vielleicht eröffnet sich dann auch in scheinbar ausweglosen Diskussionen ein Weg über ein tieferes Verständnis zu neuen Optionen der Verständigung.

Überzeugungsdenker – Liebe zur Wahrheit

Die Welt ist alles,

was der Fall ist.

Ludwig Wittgenstein,

Tractatus logico-philosophicus

Vera liebt exakte Definitionen und wissenschaftliche Tatsachen und trifft klare rationale Entscheidungen auf dieser Basis. Ihre Meinung vertritt sie mit überzeugenden Argumenten, denen man meist wenig entgegensetzen kann. Versucht man es dennoch, so erläutert sie dem offenbar etwas begriffsstutzigen Gegenüber nachsichtig wissenschaftliche Zusammenhänge, zitiert experimentelle Studien, vollzieht logische Herleitungen, bis man überzeugt ist oder erschöpft aufgibt. Die Sache liegt schließlich klar auf der Hand; Zweifel oder Alternativen sind ausgeschlossen; das Richtige ist eindeutig identifiziert – jedenfalls für Vera.

Steht sie vor einem nennenswerten Entscheidungsprozess wie etwa der Frage, welches Auto sie kaufen soll, so ist es für sie selbstverständlich, dass sie nach objektiven Kriterien Ausschau hält (Leistung, Preis, CO2-Werte, Wertverlust …), diese nach durchdachter Einschätzung unterschiedlich gewichtet und das Ganze in einer Tabelle auswertet. Das Resultat leitet sich damit exakt aus den von ihr bewusst nach reiflicher Überlegung gesetzten Vorgaben ab. Auf viele wirkt sie mit diesem Vorgehen als kühler Verstandesmensch, der rein rationale Maßstäbe anlegt. Dennoch kann es vorkommen, dass jemand, der sie gut kennt, zuweilen das Gefühl nicht loswird, das Ergebnis dieser Abwägungen sei schon irgendwie absehbar gewesen. In seltenen Fällen kann sich die so vehement geäußerte Überzeugung erstaunlicherweise sogar wenige Wochen später in ihr Gegenteil verkehrt haben – doch auch dafür hat sie unbezweifelbar wieder zwingende Argumente, denen kein vernünftiger Mensch widersprechen kann.

Vera ist nicht die Einzige. Wir kennen sogenannte Überzeugungstäter, die mit ihrer Weltanschauung schlimmste Untaten rechtfertigen zu können glauben. Verbreiteter (und im Allgemeinen, jedoch nicht immer, harmloser) sind Überzeugungsdenker, die durchaus zu Wohltätern der Menschheit werden können. Sie suchen in der Welt nach unbestreitbaren Grundsätzen, die die systematische Ableitung eines Denkgebäudes ermöglichen, und wollen damit sich und andere überzeugen. Sie lieben die Wahrheit, nicht nur in dem Sinne, dass sie ehrlich und aufrichtig ihre Überzeugung vertreten und dabei keine strategischen Kompromisse einzugehen bereit sind, sondern auch in der ursprünglichen, wörtlichen Bedeutung, dass ihnen die Wahrheit besonders am Herzen liegt.

Der schon in der Einleitung zitierte Johann Gottlieb Fichte hat 1801 ein Buch mit dem Titel versehen: Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. «Sonnenklar», also für alle einsichtig und unbestreitbar: Das könnte ironisch gemeint sein, vor allem bei einem wie Fichte, der die Freiheit des Geistes verkündet – oder es könnte einen enthusiastischen Weltbekehrer verraten, der den anderen nur widerwillig mehr Freiheit einräumen möchte, als sich aus freien Stücken seiner unerschütterlichen Meinung anschließen zu dürfen. Das Werk ist nach seinen eigenen Worten ein «Versuch, den Leser zum Verstehen zu zwingen» – geschrieben von einem, der seine Philosophie mit geballter Überzeugungskraft, «oft herrisch und gewaltsam» mehr «predigt» als vorträgt.[1] In seiner populären Schrift «Die Bestimmung des Menschen» will Fichte sein Publikum in drei Schritten vom Zweifel über das Wissen zum wahren Glauben führen. Der Weg zur Klarheit der Sonne kann allerdings steinig sein, doch unter den Philosophen gibt es einige, die – traditionelle Meinungen ebenso wie zögerliche Freunde hinter sich lassend – tapfer zu dieser Reise aufbrechen.

 

Platon (um 428–um 348 v. Chr.) ist ein solcher Held der Wahrheitssuche und malt uns philosophischem Fußvolk unsere Lage als düstere Szenerie aus.[2] In einer finsteren Höhle sitzen wir angekettet, nur mit geringster Bewegungsfreiheit ausgestattet, und starren auf Schattenbilder, die an der Wand vor uns vorübergleiten. Das ist alles, worüber wir schwatzen können, doch wir versichern uns gegenseitig umso eifriger, dass dies das wahre Leben ist. Was wirklich um uns herum passiert, nehmen wir gar nicht wahr – wie in der morgendlichen S-Bahn, in der viele von uns die Welt durch die elektronische Fessel ihres Smartphones betrachten und sich in ihrem sozialen Netzwerk nur noch über eine virtuelle Realität austauschen. Die Verzweiflung der älteren Dame, die dringend einen Sitzplatz sucht, fällt dieser Sichtverengung genauso zum Opfer wie das verträumte Lächeln der Banknachbarin.

Was wir in Platons anschaulicher Geschichte nicht wissen, ist, dass hinter uns geschickte Dienerinnen und Diener echte Gegenstände (beispielsweise mit erlesenem Wein gefüllte Krüge für ein Gastmahl oder Statuen für die Tischdeko) auf ihren Köpfen hin und her balancieren, denn nur die Schatten dieser Dinge werden durch ein flackerndes Feuer über eine uns von den Trägern trennende Mauer an die Wand projiziert. Welches Fest uns hier möglicherweise entgeht, erfahren wir von Platon nicht, aber erstaunlicherweise gelingt es einem von uns – dem wahren Philosophen –, sich aus seinen Fesseln zu befreien, das reale Geschehen zwischen Feuer und Wand zu begreifen, schließlich sogar aus der Höhle herauszuklettern und das noch strahlendere Licht der Sonne zu erblicken. Diese Helligkeit schmerzt freilich zunächst – aber die Wahrheit gibt sich nun mal gerne schonungslos, bis man sich an sie gewöhnt hat. Noch unangenehmer wird es freilich für den Helden, als er in die Höhle zurückkehrt und versucht, das Gesehene den ehemaligen Mithäftlingen begreiflich zu machen. Er kennt zwar die Wahrheit, hat jedoch das Problem der Vermittlung deutlich unterschätzt.

In der Reaktion seiner Höhlengenossen zeigt sich ein nicht untypischer Haken bei Erkenntnissen, die nur einer erkannt zu haben glaubt. Die anderen sind meist störrisch und beharren auf ihrer vielleicht falschen, aber vertrauten Sicht der Dinge. Umso höher ist diese Hürde, wenn es sich – wie bei Platon – um durch «geistige Schau» erfahrene abstrakte Erkenntnisse über die Idee des Guten (symbolisiert durch die Sonne) und andere Ideen (die Idee der Gerechtigkeit, die Idee des Pferdes …) handelt, die als Idealtypus uns allen schon aus der Vorzeit unseres Lebens bekannt sein sollen und lediglich wiedererinnert werden müssen. Nicht bei allen funktioniert dieses Erinnerungsvermögen offenbar gleich gut. Dies muss auch der heldenhafte Rückkehrer nach seinem Wiederabstieg erleben: Er wird verlacht und wegen seiner – nach einvernehmlicher Ansicht aller anderen – verqueren Wahrnehmung verspottet. Seine ehemaligen Leidensgenossen würden ihn am liebsten mit eigenen Händen umbringen, wenn sie nicht (zu seinem Glück) in Ketten lägen. Ein ähnliches Schicksal hätte Platon fast selbst ereilt, als er auf Sizilien den herrschenden Tyrannen auf den Weg der Vernunft führen und aus einem König einen Philosophen machen wollte. Nur durch glücklichen Zufall soll er der Sklaverei entgangen sein.[3]

Der echte Überzeugungsdenker gibt sich eben nicht damit zufrieden, vorgefertigte Meinungen zu übernehmen, er scheut weder Zeit noch Mühe, sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Er benötigt sie als sicheres Fundament für seine darauf aufbauenden Herleitungen. Die einmal hart erarbeitete Basis hält er aus der eigenen Klarheit heraus für absolut und unwiderstehlich, er glaubt fest an sie und verteidigt sie vehement. Schließlich hat er sich mehr Gedanken darüber gemacht als jeder andere. Die Enttäuschung trifft ihn entsprechend hart, wenn sich nicht alle widerstandslos spontan dem von ihm großzügig weitergegebenen Wissen anschließen.

 

Um andere zu überzeugen, braucht es mehr als Einsicht und Enthusiasmus. Aristoteles (384–322 v. Chr.), der Meisterschüler Platons, begründet daher die Wissenschaften, die dem vernunftorientierten Menschen mit ihren Definitionen, Beobachtungen und Schlussfolgerungen zur Anerkennung der gefundenen Wahrheiten zwingender scheinen. Er geht im Gegensatz zu Platon von dem aus, was wir durch unsere Sinne erfahren können, wird zum unermüdlichen Sucher, ja geradezu zum Süchtigen nach Wissen und schafft damit wesentliche Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens. Durch die Einteilung in «Kategorien»[4] wie Substanz, Quantität, Qualität, Ort, Zeit und Wirkung versucht er, Ordnung in die vielfältigen Erscheinungen der Welt zu bringen und diese zu klassifizieren: Sokrates wäre demnach ein Mensch einer bestimmten Körpergröße und Hautfarbe, der sich am Vormittag auf dem Marktplatz von Athen aufhält und dort die Leute mit verstörenden philosophischen Fragen nervt.

In einem seiner Lehrbücher des logischen Denkens beschreibt Aristoteles die Grundstruktur jeder Definition als spezifische Unterscheidung vom naheliegendsten allgemeineren Oberbegriff[5]: Der Mensch ist das Tier, das politische Gemeinschaften bildet. Platon war in dieser Technik noch nicht so erfolgreich: Seinen Versuch der definitorischen Bestimmung des Menschen als «zweifüßiges Tier ohne Federn» soll Diogenes von Sinope mit einem von ihm selbst gerupften Hahn handgreiflich widerlegt haben.

Der fleißige Aristoteles macht seine logischen Hausaufgaben besser und unterscheidet allgemeingültige und spezifische Urteile, Notwendigkeit und Möglichkeit, stellt die gültigen Formen des Schließens zusammen und erläutert ihren Zusammenhang im Beweis. Wenn alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, wird auch er sterben müssen. Zu dieser bitteren Einsicht zwingt die erbarmungslose Logik des «Syllogismus». Es kann einfach nicht anders sein. Die von Aristoteles als Lehre vom richtigen Schließen[6] entwickelte und auf den ersten Blick unscheinbar wirkende «Syllogistik», die aus zwei Vordersätzen (den Prämissen) einen Nachsatz (die Konklusion) folgert, ist eine scharfe intellektuelle Waffe. Wenn sie uns unsere Sterblichkeit vor Augen führt, verletzt sie zwar nicht körperlich, sondern nur unsere Eitelkeit, doch sie vermag sogar Helden vom Podest zu stürzen. Wenn Spitzenleistungen im Profiradsport ohne Doping nicht möglich sind und Lance Armstrong mehrmals die Tour de France gewonnen hat, konnte man schon vor seiner medienwirksam inszenierten Beichte wissen, dass auch er gedopt war.

Sosehr sich die einzelnen Wissenschaften in ihren speziellen Verfahren unterscheiden, gelten dennoch für alle bestimmte Grundsätze («Axiome»). Der «Satz vom Widerspruch»[7] schließt paradoxerweise diesen selbst aus: Nichts ist gleichzeitig der Fall und nicht der Fall; einander widersprechende Urteile können nicht gleichzeitig wahr sein. Und der «Satz vom ausgeschlossenen Dritten»[8] besagt, dass etwas entweder der Fall ist oder nicht – ein Dazwischen gibt es nicht; eine Aussage gilt, oder sie gilt nicht. Ein Überzeugungsdenker will sogar bei unwillkommenen Wahrheiten nichts in der Schwebe lassen.

Aristoteles untersuchte mit seinen Methoden vielfältige Bereiche der Welt und des Lebens und wandte sie in der Astronomie, Biologie und Physik ebenso erfolgreich wie auf politischen und literarisch-rhetorischen Gebieten an. Er brachte nicht nur dem jungen Alexander von Mazedonien das Denken bei, was dazu beigetragen haben dürfte, diesen zu einem «Großen» wachsen zu lassen – auf seine Erkenntnisse konnten Generationen von Wissenschaftlern und Philosophen aufbauen. Während Details seiner naturwissenschaftlichen Forschungen heute naturgemäß überholt sind (das Gehirn dient bei Aristoteles vornehmlich als Kühlaggregat, Denken ist eine Herzensangelegenheit), haben seine Definitions- und Ableitungsregeln Bestand. In der Ethik beschäftigen seine Herleitung der Tugenden aus dem Streben der Menschen nach Glück und seine Vorstellung vom guten Leben in der Gemeinschaft die Philosophen bis in unsere Zeit.[9]

Aristoteles’ Schriften merkt man ihr Alter in ihrer frisch zupackenden Art nicht an. Bei seinem schnörkellosen und prägnanten Gedankenaufbau fällt es schwer, sich seinen Schlussfolgerungen zu entziehen, ohne sich dem Vorwurf der Irrationalität auszusetzen. Diesen Zwang bekommt auch Platon zu spüren, dessen esoterisch anmutende Ideenlehre seinem Schüler zu abgehoben und zu wenig empirisch fundiert erscheint – die Freundschaft zum Lehrer muss der Freundschaft zur Wahrheit weichen.

Damit muss man bei Überzeugungsdenkern rechnen: Persönliche Beziehungen laufen Gefahr, inhaltlichen Standpunkten geopfert zu werden. Ein Partner oder ein Freund, dessen Kritik oder abweichende Ansichten auch nach intensiver Überzeugungsarbeit nicht vor der doch so eindeutigen Logik kapituliert, ist dauerhaft nicht mehr mit dem mühsam errichteten Denkgebäude kompatibel. Der unerträgliche Widerspruch schreit nach radikaler Lösung – durch Trennung. Die schöpferische Kraft der Wahrheitsliebe entfaltet in diesen Fällen ein nicht unerhebliches zerstörerisches Potenzial.

 

Doch so weit muss es nicht immer kommen. Überzeugungsdenker können bisweilen sogar ausgleichend wirken. Der Dominikanermönch Thomas von Aquin (um 1225–1274) ist vom aristotelischen Denkinstrumentarium äußerst angetan. Er übersetzt und kommentiert den griechischen Philosophen und versucht, seine Wissenschaftlichkeit in der christlichen Theologie anzuwenden und ihn mit den platonischen Ideen zu versöhnen – sicher kein leichtes Unterfangen, denn das Verhältnis von Glaube und Vernunft ist traditionell kein spannungsfreies. Und dass Aristoteles’ Schriften nicht uneingeschränkt im Klerus der widerstreitenden Orden willkommen waren, wissen wir spätestens seit Umberto Ecos Name der Rose, wo ja sein zweites Buch zur Poetik, das vom Lachen handelt, in der Abtei-Bibliothek versteckt gehalten wird.

Thomas drückt schon mit den Titeln seiner wichtigsten Schriften seine Vorliebe für die Mathematik aus und nennt sie «Summe der Theologie» und «Summe gegen die Heiden». Er nimmt sich die Strukturierung und Gliederung des Wissens zur Aufgabe, getreu seinem Motto: «Des Weisen Amt ist: ordnen.»[10] Die vormals eher symbolisch und mystifizierend diskutierte Gottesoffenbarung wird nun wissenschaftlich analysiert und mit Argumenten gegen Einwände verteidigt; der Glaube soll dem Verstand begreiflich gemacht werden, sogar das Gewissen kommt jetzt vom Wissen. Die objektiven Erkenntnisse der Wissenschaften erhalten einen legitimen Platz innerhalb der übernatürlichen göttlichen Welt. Selbst die Existenz Gottes kann laut Thomas von der Vernunft eingesehen werden, wenn auch nicht jedermann intellektuell dazu in der Lage ist. Den anderen bleibt der Glaube an die Offenbarung. Gegen Andersgläubige und Atheisten lässt man sich besser nicht auf einen Streit um Gottesbeweise ein, doch zumindest deren Einwände gegen die Existenz Gottes lassen sich mit der Philosophie, die sich hier ganz in den Dienst der Theologie stellt, entkräften.

Thomas wurde für seine Verdienste um die wissensbasierte Begründung und Verteidigung des katholischen Glaubens trotz anfänglicher Kritik in seinem Orden in hohe Ämter befördert und schon nach weniger als 50 Jahren heiliggesprochen. Bis heute gilt er mit diesen Erörterungen als Superstar der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Selbst im zähflüssigsten traditionsgeprägten Umfeld müssen originelle Überzeugungsdenker nicht auf Karriere verzichten, wenn es ihnen gelingt, die Zustimmung und Anerkennung ihrer Zeitgenossen und Nachfahren zu erwerben.

Nicht verschwiegen werden soll, dass gerade im Mittelalter auch Wahrheitsfreunde anderer Prägung wie die (un)christlichen Kreuzzügler und Inquisitoren auftraten, die nicht davor zurückschreckten, die von ihnen erkannten «Wahrheiten» statt mit Argumenten mit Schwertern und Scheiterhaufen durchzusetzen, und damit zu Überzeugungstätern wurden, weil sie die freiwillige Einsichtsfähigkeit ihrer Widersacher zu gering einschätzten – wenn es ihnen nicht ohnehin nur um schiere Macht statt um Glaubensauffassungen ging.

Solche echten Hardliner unter den Überzeugungsdenkern, die leider nicht völlig ausgestorben sind, sondern als Fundamentalisten jeglicher Couleur offenbar immer wieder neu erwachsen, erklären ihr vermeintliches Wissen zum Dogma. Eine derartig extreme Grundhaltung kann man nicht mehr als philosophisch durchgehen lassen, denn zumindest ein Rest von Zweifel scheint zu den angeborenen «Philosophen-Genen» zu zählen. Wer von sich und seinem Wissen absolut überzeugt ist, lässt dagegen jede philosophische Ader vermissen. Ihm fehlt die notwendige Fähigkeit zum Staunen, auch über Dinge, über die wir alles zu wissen glauben. Der Dogmatiker, der «Wissende», erstaunt selten. Er ist in der Lage, selbst fremdeste Erfahrungen in die Kategorie «Kenn ich schon» einzuordnen. Selbst wenn ihn die Konfrontation mit der harten Realität so unsanft auf den Boden der Tatsachen herunterholt, dass die Seifenblasen seiner Illusionen den schmerzhaften Aufprall nicht mehr vollkommen abfedern können, ist der ungewollte heilsame Effekt meist nicht sehr langlebig. Dogmatische Fanatiker opfern ihrer Überzeugung eben nicht nur die widerspenstige Wirklichkeit, sondern unter Umständen Menschenleben, manche sogar ihr eigenes.

Wenn sie ideologisch auf dem Teppich bleiben und sich ihren Ansichten widersprechenden Erfahrungen nicht verschließen, sondern sie zur Verbesserung ihrer Theorie nutzen, erzielen wahrheitsliebende Überzeugungsdenker die positiveren Effekte. Mit dem nötigen begrifflichen und logischen Handwerkszeug ausgestattet, begann in der Neuzeit ein Siegeszug der Wissenschaften, der bis heute kein Ende gefunden hat. Seit Francis Bacon, Descartes und Spinoza wurde das wissenschaftliche Denken gleichermaßen von Empiristen, die sich auf Erfahrung und Induktion stützen, wie von Rationalisten, die die Vernunft als das Zentralorgan des Wissens ansehen, befördert und in der Aufklärung mit Kant, der beide Positionen zu versöhnen sucht, endgültig als tragender Pfeiler der Gesellschaft etabliert.

 

Der englische Philosoph Francis Bacon (1561–1626) leitete als Rechtsanwalt der Königin von England im Prozess gegen seinen Freund Robert Devereux, Earl of Essex, dessen Schuld so überzeugend her, dass dieser zum Tode verurteilt wurde. Nicht wenige kreideten ihm diese rigorose Wahrheitsliebe als Undankbarkeit an.[11] Auch sonst waren ihm seine Zeitgenossen nicht durchgängig gewogen. Seine wegweisende Große Erneuerung der Wissenschaften, die die Neue Methode oder wahre Angaben zur Erklärung der Natur enthält, verdanken wir dem erzwungenen Ende seiner anfangs glänzenden politischen Karriere aufgrund eines Bestechungsdelikts. Das ihm zugeschriebene Diktum «Wissen ist Macht» findet sich zwar nicht wörtlich in dieser Schrift, trifft aber durchaus den Kern ihres Anliegens.

Bacon legt zunächst dar, dass gesichertem Wissen eine Reihe typischer Täuschungsvarianten entgegenstehen, die er mit für trockene Wissenschaftlerzungen unüblichem Mut zur Metapher benennt:

«Götzenbilder des Stammes» resultieren daraus, dass wir uns als Menschen unreflektiert als Maß aller Dinge sehen. «Der menschliche Verstand gleicht einem Spiegel mit unebener Fläche für die Strahlen der Gegenstände, welcher seine Natur mit der der letzteren vermengt, sie entstellt und verunreinigt.»[12]

«Götzenbilder der Höhle» – die Formulierung erinnert nicht unbeabsichtigt an Platon – sind individuelle Fehleinschätzungen aufgrund zufälliger Bekanntschaft mit vermeintlichen Autoritäten, aufgrund der eigenen Lektüre und aufgrund von Veranlagung und Befindlichkeit.

«Götzenbilder des Marktes» ergeben sich aus dem Austausch der Menschen untereinander, durch den sich falsche Meinungen schnell verbreiten.

«Götzenbilder des Theaters», die der Fabulierkunst der Philosophen und Wissenschaftler entspringen und die wie auf einer Schaubühne wiederholt aufgeführt und unter die Leute gebracht werden.

Die Basis echter Erkenntnis liegt für Bacon in der exakten Beobachtung und der systematischen Ableitung von Gesetzen daraus, welche er die «wahre Induktion» nennt. Zu ihr gehört ein von Anfang an die Vielzahl der Beispiele ordnender Geist, der durch kluge Arbeitshypothesen die Irrwege einer bloß zufälligen Zusammenstellung von Einzelbeobachtungen vermeidet und stattdessen zielgerichtete Experimente zur Überprüfung der Annahmen einsetzt. Die Untersuchungsergebnisse werden zu allgemeingültigen Axiomen verdichtet.

Die richtig geordnete Erfahrung zündet erst das Licht an, zeigt dann bei Licht den Weg, beginnt mit der regelrechten und umfassenden Erfahrung, nicht mit der voreiligen und herumtappenden; daraus zieht sie die Lehrsätze und mit den festgestellten Lehrsätzen verbindet sie neue Versuche […] (Francis Bacon, Große Erneuerung der Wissenschaften)

Bacon entwickelt eine wissenschaftliche Methodik, die er als verbesserten Ersatz der von Aristoteles geschaffenen Instrumente begreift. Dank ihr gelingt es ihm, den vor Irrtümern strotzenden, aber verbreiteten Meinungen seiner Zeit über die Phänomene der Natur fundiertere Erklärungen entgegenzusetzen, die nicht nur seiner Meinung nach endlich korrekt sind.

Das Credo der Überzeugungsdenker lautet: Würden wir erst alles richtig verstehen, dann könnten wir es auch richtig machen. In seiner Utopie Neu-Atlantis träumt Bacon von einer abgeschiedenen friedfertigen Insel, auf der Forschung und Wissenschaft das Sagen haben, die damit zur Vollendung der Schöpfung beitragen und die Wohlfahrt der Menschen durch Verständnis und Beherrschung der Natur garantieren. Wissen ist für ihn nicht nur Macht, sondern kann uns alle glücklicher machen.

 

René Descartes (1596–1650) misstraut der sinnlichen Wahrnehmung als Basis gesicherter Erkenntnisse generell. Schließlich täuschen wir uns nicht nur häufig, sondern könnten sogar von einem bösen Dämon (oder der Matrix des gleichnamigen Films) systematisch hinters Licht geführt werden.[13] Descartes versucht, durch Introspektion und Meditation eine intuitiv erfassbare unumstößliche Wahrheit in sich selbst zu finden. Er entdeckt mit seiner berühmt gewordenen Einsicht «Ich denke, also bin ich» («Cogito, ergo sum»)[14] die Gewissheit des eigenen Denkens als den Grundstein allen Wissens, aus dem sich dann der gesamte Rest der Welt einschließlich der Existenz Gottes Schritt für Schritt gedanklich ableiten lässt. Der methodische Zweifel an den Sinnen, den Descartes benutzt, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, ist kein grundsätzlicher, sondern dient ausschließlich dazu, durch immer tieferes Graben auf einen Satz zu stoßen, der allem Hinterfragen standzuhalten vermag.

In seiner Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen beschreibt er vier nützliche Regeln, die bei der Bearbeitung schwieriger Probleme helfen können und nach denen er sich selbst vorzugehen verpflichtet. Die erste verlangt, niemals etwas aufgrund von Vorurteilen oder Voreiligkeit ungeprüft als Wahrheit zu betrachten. (Selbst als Liebhaber der Wahrheit gilt es, seine Leidenschaft im Zaum zu halten.) Die zweite schreibt vor, jede komplexe Frage in einfachere zu zerlegen. Unser geistiges Fassungsvermögen ist begrenzt, wir neigen dazu, es zu überfordern. Drittens soll man bei der Beantwortung der einfachen Fragen beginnen und sich nur schrittweise in vertracktere Kombinationen vorarbeiten und viertens alles am Ende nochmals durchsehen, ob nichts vergessen wurde. Ein praktikables Vorgehen, das hilft, selbst verwickelte Denkaufgaben, ohne zu verzweifeln, systematisch abzuarbeiten.

Ein vorhersehbares Problem der meisten Überzeugungsdenker holt allerdings auch Descartes ein: Nicht alle sehen gleichermaßen die gefundenen Grundsätze als unbestreitbar an. Selbst beim «Cogito, ergo sum» kann man viele Fragen stellen: Wer ist dieses Ich, das hier denkt? Laut Descartes die Seele, die als eigenständige, vom Körper völlig getrennte Substanz betrachtet werden muss. Diese strikte Aufteilung der Welt in unterschiedliche geistige und physische Sphären lässt sich angesichts des aktuellen neurobiologischen Kenntnisstands kaum aufrechterhalten. Lässt sich ein Ich überhaupt eindeutig als denkende Instanz identifizieren? Oder müsste man nicht eher sagen: «Etwas denkt»? Was heißt hier «also»? Ist das eine logische Abhängigkeit oder nur eine wechselseitige Bedingtheit von Denken und Sein? Und was bedeuten «denken» und «sein, existieren» genau?

Selbst wer die Ausgangsbasis akzeptiert, ist noch nicht automatisch mit den Schlussfolgerungen einverstanden. Descartes meint, dass die introspektiv klar erkennbare Vorstellung eines vollkommenen Wesens – das wir selbst zweifellos nicht sind – unweigerlich direkt zur Anerkennung Gottes führt. Nicht jeder mag diesen Weg mitgehen, obwohl Descartes seine Überlegungen als bestens geprüft und seinem eigenen Wahrheitskriterium («klar und deutlich») voll entsprechend ansieht. Trotz solcher Bestätigung der Religion durch die Vernunft kam diese Fundierung des Glaubens aus dem eigenen Denken auf Seiten der Kirche nicht besonders gut an, da man hier die eigene Wahrheit schon seit einigen Jahrhunderten als von Gott überliefert gefunden hatte und diese nicht auf Überlegungen des Herrn Descartes aufgebaut sehen wollte, sodass dessen Schriften kurz nach seinem Tod auf den Index verbotener Bücher gesetzt wurden.

 

Baruch de Spinoza (1632–1677), der sich unvorsichtigerweise neben seiner Bibel- und Talmud-Lektüre von Descartes’ unabhängigem Geist hatte anstecken lassen, erlebte mit seiner jüdischen Glaubensgemeinschaft ebenfalls nicht viel Freude beim Selberdenken. Seine philosophischen Erkenntnisse wurden, obwohl zunächst nur mündlich verbreitet, als «Irrlehren» verurteilt. Mit 23 Jahren wurde der wissbegierige junge Mann, den der Vater schon als zukünftigen Rabbiner gesehen hatte, dramatisch mit öffentlichem Fluch aus der Synagoge verbannt. Aber von seinen Überzeugungen konnte und wollte er nicht lassen. Er schlug alle Vermittlungsversuche aus, verließ das heimatliche Amsterdam und verdiente sich seinen Unterhalt bis ans Lebensende lieber mit dem mühevollen und gesundheitsschädlichen Schleifen optischer Linsen. Sein Philosophieren gab er nicht auf, kommunizierte es aber – vorsichtiger geworden – nur noch in Briefen an Freunde und Sinnesgenossen oder anonym.

Das idealtypische Muster für Wissenserwerb und -darstellung liefert ihm wie bei Descartes und anderen Überzeugungsdenkern die Mathematik mit ihren als wahr gesetzten Axiomen und deduktiven Ableitungen. Seine zu Lebzeiten unveröffentlichte Ethik stellt Spinoza in entsprechender «geometrischer Ordnung» dar, beginnend mit Definitionen und Postulaten und darauf aufbauend mit Lehrsätzen, Beweisen und Folgerungen, die durch Querverweise aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig stützen.

Körper und Geist sind für Spinoza nicht – wie bei Descartes – zwei unterschiedliche Substanzen, sondern lediglich zwei Betrachtungsweisen desselben Wesens, die auch im Menschen zum Ausdruck kommen. Diese ganzheitliche Auffassung erlaubt es ihm, selbst die als irrational angesehenen Triebe und Leidenschaften nach den gleichen wissenschaftlichen Verfahren zu untersuchen.

Hier will ich mich wieder zu jenen wenden, welche die menschlichen Affekte und Handlungen lieber verwünschen oder verlachen, als verstehen wollen. Diesen wird es ohne Zweifel sonderbar vorkommen, dass ich die menschlichen Fehler und Torheiten auf geometrische Weise zu behandeln unternehme und nach einer vernünftigen Methode Dinge entwickeln will, welche sie jahraus, jahrein als vernunftwidrig und als eitel, albern und schrecklich verschreien.

Mein Grund aber ist folgender: Es geschieht in der Natur nichts, was ihr als Fehler angerechnet werden könnte. Denn die Natur ist immer dieselbe, und ihre Kraft und ihr Vermögen zu wirken ist überall gleich. Das heißt: Die Gesetze und Regeln der Natur, nach welchen alles geschieht und Formen in Formen verwandelt werden, sind überall und immer die gleichen. Daher kann es auch nur Eine Methode geben, nach welcher die Natur aller Dinge, welche es immer seien, erkannt wird, nämlich durch die allgemeinen Gesetze und Regeln der Natur. Es erfolgen darum die Affekte, wie Hass, Zorn, Neid, an sich betrachtet, aus derselben Notwendigkeit und Kraft der Natur wie alles andere. (Baruch de Spinoza, Ethik)