Du stirbst nicht - Kathrin Schmidt - E-Book + Hörbuch

Du stirbst nicht Hörbuch

Kathrin Schmidt

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Beschreibung

Vom Hirnschlag erwacht – die atemberaubende Geschichte einer Heilung Helene Wesendahl weiß nicht, wie ihr geschieht: Sie findet sich im Krankenhaus wieder, ohne Kontrolle über ihren Körper, sprachlos, mit Erinnerungslücken. Ihr Weg zurück ins Leben konfrontiert sie mit einer fremden Frau, die doch einmal sie selbst war. Kathrin Schmidt packt ihre Leser diesmal durch die Beschränkung, und zwar im wörtlichen Sinne. Mit den Augen ihrer erwachenden Heldin blicken wir in ein Krankenzimmer, auf andere Patienten, das Pflegepersonal und den eigenen Körper, der plötzlich ein Eigenleben zu führen scheint. Und wir erleben die mühsamen Reha-Maßnahmen mit, die Reaktionen der Familie, den aufopferungsvollen Einsatz ihres Mannes – und die bruchstückhafte Wiederkehr ihrer Erinnrung. Was da zutage tritt, konfrontiert Helene mit einem Leben, in dem sie sich kaum wiedererkennt, und das vieles in Frage stellt, was in der neuen Situation so selbstverständlich scheint. Sie entdeckt frühe Brüche in ihrer Biographie, verdrängte Leidenschaften und aus der Not geborene Verpflichtungen. Als ihr bewusst wird, dass ihr Herz sich bereits auf Abwege begeben hatte und sie den Mann, der sie jetzt so eifrig pflegt, eigentlich verlassen wollte, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren. Kathrin Schmidt gelingt das Erstaunliche: Sie macht den Orientierungs- und Sprachverlust nach einer Hirnverletzung erfahrbar und zeigt einen Weg der Genesung, der in zwei Richtungen führt, zurück und nach vorn. Dabei entsteht ein Entwicklungsroman ganz eigener Art, der durch seine innere Dynamik fesselt und durch die Rückhaltlosigkeit, mit der seine Heldin sich mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert, fasziniert. Er überzeugt vor allem durch die bewegende Schilderung eines sprachlichen Neubeginns.

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Zeit:6 Std. 25 min

Sprecher:Eva Mattes
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Kathrin Schmidt

Du stirbst nicht

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Kathrin Schmidt

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis des Verlags

Kapitel I: Wimpernschläge

Kapitel II: Schattenrisse, Silhouetten

Kapitel III: Lektionen

Kapitel IV: Nervaturen

Kapitel V: Reflexe

Kapitel VI: Du. Und Du.

Inhaltsverzeichnis

Die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2009 ist Kiepenheuer & Witsch-Autorin Kathrin Schmidt. Sie erhält die Auszeichnung für ihren Roman Du stirbst nicht.

»Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. Silbe für Silbe, Satz für Satz sucht die Heldin, nach einer Hirnblutung aus dem Koma erwacht, nach ihrer verlorenen Sprache, ihrem verlorenen Gedächtnis. Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts. So ist die individuelle Geschichte einer Wiederkehr vom Rande des Todes so unaufdringlich wie kunstvoll in den Echoraum der historisch-politischen Wendezeit gestellt«, so die Begründung der sieben Jury-Mitglieder.

Der Jury für den Deutschen Buchpreis 2009 gehören an: Richard Kämmerlings (Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), Michael Lemling (Geschäftsführer der Buchhandlung Lehmkuhl, München), Martin Lüdke (freier Literaturkritiker), Lothar Müller (Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung), Iris Radisch (Literaturredakteurin der ZEIT), Daniela Strigl (Literaturkritikerin und -wissenschaftlerin an der Universität Wien) und Jurysprecher Hubert Winkels (Literaturredakteur beim Deutschlandfunk).

»Auswahl ist nie wirklich gerecht, aber im Streit um die Qualität ist sie nicht nur unvermeidbar, sondern auch gerechtfertigt, solange sie an nichts anderem als am Maßstab der Qualität orientiert ist«, sagte Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins und Vorsitzender der Akademie Deutscher Buchpreis, bei der Begrüßung der rund 400 Gäste im Kaisersaal des Römers. »Wer vor allem beim Deutschen Buchpreis gewinnt, ist die Literatur selbst.«

Kathrin Schmidt hat sich durchgesetzt gegen:

Rainer Merkel Lichtjahre entfernt

Herta Müller Atemschaukel

Norbert Scheuer Überm Rauschen

Clemens J. Setz Die Frequenzen

Stephan Thome Grenzgang

Damit erhält sie ein Preisgeld von 25.000 Euro. Die Jury hat im vergangenen halben Jahr 154 Titel gesichtet, die zwischen dem 1. Oktober 2008 und dem 16. September 2009 erschienen sind. Aus diesen Romanen wurde eine 20 Titel umfassende Longlist zusammengestellt. Daraus haben die Juroren sechs Titel für die Shortlist gewählt.

Mit dem Deutschen Buchpreis 2009 zeichnet der Börsenverein zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus.

Inhaltsverzeichnis

IWimpernschläge

oder In the Twinkling of an Eye

Es klappert um sie herum. Als ihre Schwester heiratete, hatte die Mutter das Silberbesteck in eine Blechschüssel gelegt, auf eine Alufolie. Heißes Salzwasser darüber. Das saubere Besteck wurde nach einiger Zeit aus der Schüssel genommen und abgetrocknet: Es hatte genauso geklappert. Wer heiratet denn? Sie versucht die Augen zu öffnen. Fehlanzeige. Mehr als Augenöffnen versucht sie nicht. Ist genügsam. Sie kann aber sehr deutlich die Stimme ihrer Mutter hören. Ah, also doch das Besteck! Was sagt ihre Mutter?

Die rechte Hand ist aber viel kälter als die linke, sagt sie, und der rechte Fuß genauso.

Warum hat die Mutter eine kalte rechte Hand?, fragt sie sich. Muss lächeln, als sie sich vorstellt, sie überprüfe die Temperatur ihrer Füße.

Sie lacht!, sagt ihre Mutter.

Sie verzieht nur das Gesicht.

Hat das ihr Vater gesagt? Aber ja, das war unzweifelhaft die Stimme ihres Vaters! Jetzt möchte sie doch die Augen öffnen. Was hat sie in der Küche ihrer Eltern zu suchen, wo mit Besteck geklappert und die Hand- und Fußtemperatur untersucht wird und sie ihre Augen nicht öffnen kann?

◆◆◆

O, where do you come from? From London?

Das hat sie zu ihrer Tochter gesagt. Hat sie? Ein Auge kann sie öffnen. Sie tut es. Vierzehn ist das Mädchen und heute auf eine Sprachreise nach England gefahren. Warum ist sie schon wieder da? Sie heult. Aus irgendeinem Grund heult sie. Deshalb hat sie ja auch englisch sprechen wollen, um sie aufzumuntern. Es scheint nichts zu nützen, dass sie fröhlich ist. Das Mädchen hat Kummer. Aber welchen? Wen könnte sie fragen? Der Blick wandert. Da! Neben der Tochter steht ihr Mann. My husband, sagt sie. Darüber wird aber doch hoffentlich gelacht werden …

Nichts.

Wenigstens lächelt der Mann. Je länger sie ihn anschaut, umso seltsamer findet sie sein Lächeln. Angepflockt hängt es zwischen den Wangenknochen wie eine Salzgurke.

Salt cucumber, sagt sie.

Gibt es das überhaupt auf Englisch?

◆◆◆

… geboren am 3.12.1972, wohnt in Hückelhoven …

Halt! Das ist sie aber nicht! Warum kann sie das nicht so laut ausrufen, wie sie möchte? Verdammt, das muss doch gehen!

Nun regen Sie sich aber mal schön ab, wir kommen ja gleich zu Ihnen!

Wer hat das gesagt? Der junge Mann da? Sie kann, glaubt sie, beide Augen gleichzeitig öffnen. Es geht ein bisschen schwer, irgendetwas scheint auf den Lidern zu liegen. Der junge Mann lächelt, aber das beruhigt sie kaum.

Das ist sie doch nicht! Sie ist vierzehn Jahre älter und wohnt doch nicht in Hückelhoven!

I don’t … I don’t …

Warum kommt sie nicht weiter mit dem Satz? Jetzt sagt der junge Mann den anderen Männern in blauen Kitteln, dass es beinahe so klinge, als ob sie englisch zu sprechen versuche, seit sie hin und wieder wach werde. Die Männer lachen. Sie sucht nach einer Frau. Hinter den Männern steht eine, aber die scheint mit irgendetwas beschäftigt zu sein.

Einer der Männer beugt sich über sie.

Können Sie mich hören?

Sie wird dem doch nicht sagen, ob sie ihn hören kann. Soll er ruhig weiter so brüllen.

Augen zu.

◆◆◆

Die Stimme kennt sie. Das ist Inga. Sie scheint jemanden mitgebracht zu haben. Treten Sie ruhig ein!, sagt ein Bass, aber Fallgeräusche folgen, darauf ein schadenfrohes Lachen. Warum nur kann sie die Augen nicht öffnen! Sie muss sich zusammenreimen, was da passiert ist. Ihre Freundin Inga wollte sie besuchen, wurde zum Eintreten ermuntert, aber eine tiefe Fallgrube muss hinter der Tür sein. Sie sind hineingestürzt. Unruhig wird sie. Liegt sie eigentlich? Warum? Sie versucht erfolglos, Arme, Beine oder Kopf anzuheben. Das macht sie aber jetzt noch unruhiger, merkt sie. Was ist der Freundin passiert, deren Stimme sie doch so genau gehört hat? Ah, da ist sie ja wieder, regt sich natürlich auf. Bestimmt war es nicht leicht, aus der Grube heraufzukommen, was? Treten Sie ruhig ein!, sagt der Bass.

Nach einer Weile wundert sie sich aber doch: Wo bleibt Inga denn? Sie wird doch wohl nicht schon wieder in die Grube gefallen sein?

◆◆◆

Sie fährt! Wie der kleine Häwelmann kommt sie sich vor. Kleine Häwelfrau. Das ist schön. Das könnte immer so weitergehen. Nur das Licht blendet. Dass der Mond aus der Nähe so hell ist, hätte sie eigentlich wissen müssen. Hatte aber zuvor nie daran gedacht.

Sie fährt.

Sie fährt!

Wieder kann sie nur ein Auge öffnen. Welch Glück, eine Frau! Die lächelt und scheint neben ihr zu fahren, der Oberkörper ist im Gegensatz zu ihrem aufrecht. Sie möchte ihr sagen, dass sie sich doch auch hinlegen soll, es ist schön, so zu fahren. Sie hat etwas im Mund. Sie kann den Mund gar nicht schließen. Sie möchte die Frau fragen, was sie da in ihrem Mund stecken sieht, aber die Frau nimmt ihren Arm und schließt ihn an einen Schlauch. Ein Netz? Durch das sie fremdgesteuert wird? Himmel, die Angst. Sie möchte sich wehren, aber das Auge klappt zu.

◆◆◆

Die Schädelplatte wird abgenommen. Vorsichtig entnimmt ein Roboter eine blutrote Fleischscheibe. Ersatz muss her. Also will der Roboter eine wunderschöne, lichtblaue Steinscheibe einlegen. Wie hieß der Stein doch gleich? Es will ihr nicht einfallen. Ihre Tochter hat so eine Steinscheibe, hat sie als Fälschung bezeichnet, weil sie eingefärbt ist. Aha, dann muss das hier etwas anderes sein. Der Roboter wird ihr ja keine Fälschung in den Kopf packen wollen! Als die Steinscheibe drin ist, wird wieder dunkler, was bis dahin unangenehm hell war. Schummerstündchen. Sie sieht gerade noch ein dünnes, langes, bewegliches Plastikrohr über sich. Wo geht es hin, wo kommt es her? Schade, dass sie den Kopf nicht bewegen kann, sie kann das Rohr einfach nicht verfolgen. Dunkle, braunrote Flüssigkeit bewegt sich darin vorwärts, kollernde Tropfen.

◆◆◆

Seit einiger Zeit wirtschaftet eine laute junge Frau um sie herum. Sie redet ununterbrochen. Mit wem redet sie nur so viel? Ist hier noch jemand? Sie kann doch den Kopf nicht drehen, stimmt ja … Nun muss sie die Augen aber wirklich aufmachen, denn irgendetwas verändert sich, sie wird aufgerichtet, angehoben, hingesetzt. Ihr wird schlecht. Da muss sie wohl etwas ganz Komisches gegessen haben.

Der Wortschwall der Frau kommt immer näher.

… Hören Sie mich, Helene? Na ja, ist schwer zu sagen, was? Auf jeden Fall müssen wir bald beginnen, Sie öfter in die Senkrechte zu manövrieren. Das war der erste Versuch heute, hören Sie? Hören Sie? Ich glaube, sie hört …

War das zu ihr gesprochen? Sie weiß es nicht. Möchte schlafen. Ist geschafft.

Dass sie Helene heißt, glaubt sie merkwürdigerweise.

◆◆◆

Was hält der Mann da in der Hand? Sieht aus wie ihr Herzschrittmacher. Tatsächlich, er hält ihr den Herzschrittmacher vor die Nase und sagt, dass sie ihn endlich gefunden und herausgenommen haben. Warum nehmen die ihr denn den Herzschrittmacher ab? Sie bringt die Frage nicht heraus. Der Mann lacht sich eins, er lacht sich ins Fäustchen, er hat sie in der Hand, ihren Herzschlag. Sie muss sich wehren, nur nicht einschlafen. Bestimmt wird nachts eingeheizt, ja, gestern war es doch schon so heiß nachts, dass sie dachte, es brennt. Bestimmt haben sie ihr den Herzschrittmacher deshalb abgenommen, weil sie als Einzige noch am Leben ist und sie sich darüber gewundert haben!

Wer so einen Herzschrittmacher hat, dessen Herz schlägt und schlägt, selbst wenn der Körper schon hinüber ist. So freundlich lächeln sie dich alle an hier, dabei ist es ein Mörderverein, umbringen wollen sie dich wie all die anderen, sie muss das unbedingt ihrem Mann sagen. Er wird doch hoffentlich noch vor der Nacht kommen. Wo ist sie eigentlich? Ganz schön lange hält sie die Augen nun schon geöffnet, aber wo sie ist, will ihr einfach nicht aufgehen.

◆◆◆

Das sind doch schon wieder ihre Eltern! Sie möchte sich aufsetzen, fragen, wer geheiratet hat. Warum hast du eine kalte rechte Hand, Mama? Es geht nicht. Aufsetzen nicht und fragen nicht.

Zusammennehmen.

Mund zupressen. Augen öffnen.

Wirklich, es sind ihre Eltern! Ihr Vater sieht aus wie damals, als ihre Schwester mit dem Roller den Geißenberg hinuntergefahren war. Wie lange ist das jetzt her? Sie rechnet. Haben wir 2002? Die Schwester ist 1961 geboren und war etwa sechs Jahre alt bei der Rollertour. Also 1967. Das ergibt fünfunddreißig Jahre. So lange! Warum hat sie sich gemerkt, wie der Vater aussah? Vati, sei nicht traurig!, hat sie damals geflüstert, und er hat sie gedrückt und vor Freude geweint, als der Arzt ihnen die Schwester wieder mitgegeben hatte nach Hause. Nein, sie wollten sie nicht im Krankenhaus behalten.

Im Krankenhaus? Das Haus, in dem sie sich aufhält, könnte doch auch …

Die Mutter unterbricht sie. Fragt die Frau neben ihr, wann sie wieder etwas essen kann. Typisch, essen interessiert sie immer. Sie hat doch keinen Hunger!

Das dauert noch, sagt die Frau. Vorläufig wird sie über die Sonde versorgt, sehen Sie?

Über die Sonde, siehst du. Zufrieden schließt sie die Augen.

◆◆◆

Ein junger Mann links, einer rechts. Sie schauen sie an, kommen ihr bekannt vor, sie will ihnen jedoch nicht in die Augen schauen.

Na ja, eigentlich möchte sie aber doch wissen, wer sie sind. Sie lächeln, reden leise miteinander, über ihren Kopf hinweg. Sie überlegt. Möchte den, der links von ihr steht, bitten, ihr das --- ein Stück tiefer zu ziehen, damit es mehr im Kreuz liegt, aber sie findet das verdammte Wort nicht, wie heißt das denn nur? Sie macht den Jungen Zeichen, allen beiden, was sie möchte, nämlich dass sie ihr das --- ein Stück tiefer ziehen. Sie scheinen sie nicht zu verstehen.

Womit hat sie ihnen eigentlich Zeichen gegeben? Mit den Händen? Die linke Hand liegt fest, ein Schlauch steckt darin. Ist sie etwa immer noch am Netz, wird sie etwa immer noch ferngesteuert? Sie möchte die Angst mit der rechten Hand mitteilen, aber die liegt einfach da und lässt sich nicht bewegen. Seltsam. Warum kann sie die Hand nicht bewegen? Bestimmt haben die über das Netz alle ihre Bewegungen unter Kontrolle.

Und die Jungen? Gehören die zu den Netzbetreibern? Sie sieht sie sich nun doch genauer an. Erleichterung: Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts. Sie glaubt, sie lacht. Ihre Söhne! Warum hat sie die beiden denn nicht früher angeschaut? Dann hätte sie doch schon viel länger ihre Freude gehabt! Einer von ihnen studiert. Wo studiert er eigentlich? In Weimar. Oboe. Ja, Oboe. Der Oboensohn hält ihr eine CD vor die Nase, selbst gebrannt, irgendetwas steht darauf, sie kann es aber nicht erkennen. Er schiebt die CD in ein kleines Gerät und ihr die Kopfhörer ins Ohr. Ahhh, das tut gut, das ist aber schöne Musik. Oboe. Bestimmt sieht sie selig aus, muss sie denken.

Jetzt denkt sie also darüber nach, wie sie aussieht. Wie sieht sie aus? Sie weiß es nicht mehr, sie hat kein Bild von sich. Die haben ihr das Bild von sich geklaut! Das ist die Vorhölle, die vor der richtigen Hölle kommt, und die richtige Hölle kommt nachts, wenn es dunkel ist. Irgendwie müssen ihre Söhne das aber wissen, die dürfen sie nicht hierlassen, nicht einfach wieder weggehen! Hört ihr? Hallo, wo seid ihr? Sie schaut auf, erschöpft: Die Jungen sind weg. Ahnen nichts von der Gefahr.

◆◆◆

Eine blonde Frau tritt hinzu und hantiert an etwas herum, das neben ihr steht. Sie versucht, den Kopf wenigstens ein bisschen zu drehen. Die Blonde schaut sie böse an, aber sie schafft es und sieht eine Vielzahl von übereinandergestellten Monitoren. Die Blonde hält einen Beutel schlammfarbenen Breis in der Hand. Sie hängt den Brei an einen Haken und befestigt einen Schlauch daran. Mittagessen, sagt sie und lacht.

◆◆◆

Nein, sie mag die Blonde nicht. Die Blonde mag sie nicht. Sie mag die junge Frau, die so unentwegt redet. Dunkle Haare hat die. Wenn sie kommt, geht die Angst. Mit der Blonden kommt sie wieder. Kommen und Gehen. Zwischen der Blonden und der Dunklen gibt es noch einen Mann. Eben hat der ihr die Scheiße abgewischt. Das war peinlich. Sie weiß einfach nicht, was da unten los ist. Was ist da unten nur los? Ah, da kommt der Mann ja wieder. Nimmt die Decke beiseite und ihre Beine auseinander. Halt, das dürfen Sie nicht! Halt! Aber er lächelt, wie sie hier immer alle lächeln, diese Verbrecher. Wäscht er sie? Er wäscht sie. Das ist eigentlich angenehm, sie könnte ihren Widerstand aufgeben. Er bemerkt ihren Widerstand sowieso nicht, oder? Lässt sie sich also waschen. Warum die sie das nicht selbst machen lassen, will sie lieber nicht so genau wissen. Bestimmt wollen sie saubere Leichen nach der nächsten Nacht. Nicht solche beschissenen Blutpuppen. Sie blutet nämlich. Die Windeln waren voller Blut. Es tut aber nichts weh. Wird nicht so schlimm sein, dass sie blutet. Welches Datum haben wir eigentlich? Keine Ahnung. Irgendwie ist ihre Tochter doch neulich zur Sprachreise gefahren. Das war der zehnte Juli. Aber sie war am gleichen Tag ja schon wieder da! Wenn sie es sich genau überlegt, versteht sie es nicht. Haben wir den fünfzehnten oder sechzehnten Juli? Ja, wahrscheinlich. So ungefähr.

Ob es die Regel ist? Sie kommt zu keinem Ergebnis. Wann war die letzte Regel? Sie erinnert sich daran, wie ihr Vater vor fünfunddreißig Jahren ausgesehen hat, weiß aber nicht, wann sie die letzte Regel hatte.

Jetzt zieht der Mann ihr eine neue Windelhose an.

Sie will schlafen.

◆◆◆

Nachts wieder ein großes Gewusel, drunter und drüber, Betten quietschten, Karren karrten, bestimmt sind sie mit dem Abtransport der Leichen gar nicht mehr klargekommen. Jetzt weiß sie nämlich, was die mit den Leuten machen: Sie entziehen ihnen mit unvorstellbarer Hitze, während sie Strom durch die Körper jagen, alle Feuchtigkeit, und zurück bleibt ein trockenes, gerunzeltes Quaderchen. Solche Quaderchen hat sie schon mal gesehen, irgendwo stand eine Mauer, die daraus gebaut worden war. Vielleicht bauen sie sogar Häuser aus den Quaderchen! Hat sie sich dreingeschickt? War gespannt, als sie selbst im Austrockner lag. Der Mann, der ihn bediente, sagte, sie sei irgendwie zu fett, das ginge nicht, er stellte ihn ab und brachte sie zurück.

◆◆◆

Zwar hat sie große Angst, aber das macht sie nicht traurig. Darüber wundert sie sich. Es ist halt der Lauf der Dinge, dass man kurz vor dem Ende beinahe alles erfährt … Etwas bäumt sich noch auf, aber das wird kleiner und kleiner. So hatte sie letzte Nacht Hoffnung, von hier abzuhauen. Der junge Hinternabwischer hatte sich neben sie gesetzt. Irgendwie hatte er verstanden, dass sie nicht sterben will. Er gab ihr zu verstehen, dass er sie nachts verstecken würde, in einer Abstellkammer, und am Morgen, wenn sein Dienst zu Ende sei, würde er sie mit hinausnehmen. Sie war glücklich.

Natürlich wurde nichts daraus. Vielmehr kam er am Morgen und verabschiedete sich. Nur mit einem kleinen Blinzeln gab er ihr zu verstehen, dass es misslungen war.

Was soll’s. Er kann ja nicht Arbeit und Leben riskieren, sie hier rauszubringen.

◆◆◆

Wenn die Blonde anrückt, wird sie unruhig. Immer fummelt die Blonde an den Monitoren herum und gehört mit Sicherheit zu denen, die sie fernsteuern. Sie schläft ein, wenn die Blonde diese Säcke über ihrem Kopf an den Haken hängt. Obwohl sie nicht schlafen möchte, schläft sie ein. Viele verschiedene Säcke hängt die Blonde nacheinander über ihr auf.

◆◆◆

Manchmal, wenn sie munter ist, kommt der Trupp Männer vorbei. Immer noch fragt sie mindestens einer, ob sie ihn höre. Immer noch ist sie zu verstockt, um darauf zu antworten. Immerhin ist sie nicht 1972 geboren worden und wohnt nicht in Hückelhoven. Wenn die sie nicht verwechselt hätten, würde sie vielleicht eher eine Chance haben, hier rauszukommen. Es lohnt sich nicht, den Mund aufzumachen und sich zu bemühen: Sie würden es sowieso nicht glauben.

◆◆◆

A-fa-sie.

Natürlich kennt sie das Wort. Aber was bedeutet es nur? Warum fällt ihr das nicht ein? Irgendwoher kennt sie es. Als der Mann im blauen Kittel es aussprach, kam es ihr gleich bekannt vor. Anfang sieben, möchte sie laut sagen. Ja, Afasie könnte eine Abkürzung sein für Anfang sieben! Gegen sieben beginnt hier die Nacht. Sicher werden sie wieder zusammengepfercht, spiralig ausgerichtet, wenn sie ihnen das Bewusstsein abgenommen haben mit ihrem Sack voller Flüssigkeit. Wer stirbt, beobachten sie von außen durch die Glasscheibe. Sie ist so gleichmütig geworden. Wenn sie heute Nacht sterben sollte, wäre das gut, sie wird sich nicht dagegen auflehnen. Warum auch? Sie hat das letzte Geheimnis doch schon erfahren: Sie machen Quaderchen aus den Leuten und stellen sie in die Landschaft.

Anfang sieben also.

Sie nimmt Abschied. Ihre Zeit ist gekommen.

◆◆◆

Nanu, sie ist ja noch immer am Leben?

Es ist dunkel. Im Sommer ist es nur in den Nachtstunden dunkel, nicht am Morgen oder am Abend. Also herrscht Nacht. Warum liegt sie nicht in der großen Spirale mit den anderen? Vielleicht hat sie wieder unerwarteterweise als Einzige überlebt? Wenn die Aktion Anfang sieben begonnen hat, war sie vielleicht gegen neun schon zu Ende, und sie haben sie zurückgebracht.

Irgendetwas juckt unerträglich auf ihrem Kopf, sie will sich kratzen. Will auch die rechte Hand sie kratzen? Nein, will sie nicht. Sie liegt wie abgeschnürt auf der Bettdecke. Also muss sie es mit der linken versuchen. Sie reißt sie gegen alle Widerstände hoch, und tatsächlich, sie kann ihre Haare anfassen. Aber da, wo es juckt, hat sie keine Haare. Was ist mit den Haaren passiert? Deshalb haben sie ihr Bild von sich geklaut! Ha, sie wird es zurückerobern, das verspricht sie sich. Mit aller Kraft beginnt sie, die Finger über die Kopfhaut zu ziehen. Sie kommen nicht weit. Kleine metallene Panzersperren stecken im Schädel, sie versucht, zwei oder drei herauszubrechen. Plötzlich spürt sie die Flüssigkeit an den Fingern. Sie kostet. Das ist Blut! Woher nehmen die das Recht, diese Panzersperren in ihre Schädelplatte zu rammen? Sie beginnt zu schreien, sich im Bett, in dem sie unzweifelhaft liegt, herumzuwerfen.

Jemand kommt. Die Blonde? Tatsächlich. Auch das noch. Mürrisch sieht sie auf sie herab.

Ach Mensch, muss das denn sein? Nun kann ich Sie wieder waschen und umziehen. Zur Strafe werde ich Sie fixieren und Ihnen die Decke wegnehmen. Wer weiß, was Sie sonst noch alles anstellen!

Sie mosert weiter, während sie an ihr herumputzt. Die Panzersperren wieder richtet. Die Fingernägel vom Blut reinigt. Als sie fertig ist, bindet sie den linken Arm und das linke Bein mit einem Stück weißen Stoffs am Bettrand fest. Das Bett kommt ihr rund vor.

Da, sie hängt schon wieder einen Sack an den Haken!

◆◆◆

Als sie aufwacht, friert sie. Friert sehr. Es ist kalt hier, die Blonde hat ihr doch tatsächlich die Decke weggenommen. Jetzt erstattet sie einer anderen Frau im ebenfalls blauen Kittel Bericht. Die beiden stehen ein Stück ab von ihrem Bett.

Frau Kiering, Yvonne, sagt die Blonde. Lungenriß nach Verkehrsunfall.

Schon wieder. Sie wird noch immer verwechselt. Die Blonde sagt, Yvonne Kiering habe die Nacht ruhig geschlafen.

Natürlich sieht sie sie nicht einmal an, wenn sie solche Lügen verbreitet.

Oder spricht die etwa gar nicht über sie? Sie versucht, langsam, an deren Blick entlangzuwandern. Gelangt an ein anderes Bettgestell, eine andere Frau darauf. Sie scheint nicht bei Bewusstsein zu sein. Sie hat Schläuche in Mund und Nase, am Arm und in der Leiste.

Wo kommt die denn so plötzlich her? Ist sie vielleicht gar nicht die Einzige, die nachts überlebt?

Fragen über Fragen.

◆◆◆

Fragen über Fragen. In ihrem Kopf rattert es, wenn sie wach ist. Irgendwie ist sie jetzt länger wach. Deshalb kann es auch länger rattern.

Yvonne Kiering! Geboren 1972 und wohnhaft in Hückelhoven! Jetzt hat sie’s! Sie lacht laut, freut sich, dass sie dahintergekommen ist. Sie will es der Dunkelhaarigen sagen. Die turnt gerade mit Yvonne Kiering herum. Aber die ist doch ohnmächtig! Seit wann kann man denn mit Ohnmächtigen herumturnen? Ach, ist das dumm, dass sie nichts sagen kann. Warum kann sie eigentlich nichts sagen? Im Kopf formt sich doch vor, was sie sagen möchte. Aber es kommt nicht aus dem Mund heraus. Sie hebt die linke Hand mit Schlauch an den Mund. An die Nase. Was, sie hat da auch solche Schläuche wie Yvonne Kiering? Jetzt reicht’s aber. Entschlossen zieht sie. Es tut nicht weh. Sie zieht und zieht. Die Dunkelhaarige schreit auf. Kommt an ihr Bett. Betrübt fragt sie, ob es ihr nicht geschmeckt hat.

Hat es Ihnen denn nicht geschmeckt?

Aber ein bisschen lächelt sie auch.

◆◆◆

Es klopft.

Ihr Mann kommt, Frau Wesendahl.

Wesendahl … Ihr Mann kommt. Heißt er auch Wesendahl? Ehe sie darüber nachdenken kann, macht ihr Mann einen Schritt zum Waschbecken hin. Er zieht ein Pflaster ab und nimmt einen Verband vom rechten Auge. Nanu, was hat er denn? Sie würde ihn schon gerne fragen, wirklich. Als er ans Bett tritt, weint er. Hat sie etwa ein Kind bekommen? Das letzte Mal sah sie ihn weinen, als ihre jüngste Tochter geboren wurde. Das ist jetzt fünf Jahre her, und er stand genauso an ihrem Bett wie jetzt. Sie schaut vorsichtshalber nach, ob sie ein Kindsbündel an der Brust hat.

Nein.

Na, das war ja auch nur vorsichtshalber.

Ist er augenkrank? Das würde das Weinen erklären.

Warum hat sie, seit sie hier ist, noch nicht an die fünfjährige Tochter gedacht? Und – sie hat ja noch eine! Und noch eine! Fünf, vierzehn, achtzehn, zwanzig, dreiundzwanzig – ja, wirklich, sie hat ja fünf Kinder! Erstaunlich, was einem so alles einfällt.

◆◆◆

Dreihundertsiebenundzwanzig minus acht mal siebzehn. Die Minusaufgabe in Klammern. Das macht dreihundertneunzehn mal siebzehn. Dreihundertzwanzig mal siebzehn sind … fünftausendvierhundertvierzig. Davon noch siebzehn abgezogen, macht fünftausendvierhundertdreiundzwanzig.

◆◆◆

Ein Stück von ihren Füßen entfernt, in der Zimmerecke, steht ein Tisch. Zwei Becher Joghurt darauf. Fruchtjoghurt. Schriftstücke. Und ein Bild. Sie versucht, sich zu recken, ist neugierig. Aber das bin ja ich! Das ist doch das Bild von ihr, das sie geklaut haben! Sagte sie nicht, dass sie es wiederkriegen würde? Sie sieht ganz deutlich halblanges dunkles Haar, schmales Gesicht, volle Lippen. Augenfarbe? Das Bild ist schwarz-weiß, es ist nicht zu erkennen. Waren ihre Augen nicht blau? Sie versucht, sich ihre Augenfarbe vorzustellen. Blau. Bei Sonnenschein mit einem Stich ins Wässrige, bei trübem Wetter mit dunklen Sprenkeln durchzogen. Sie ist so froh, dass sie ihr Bild wiederhat.

Was sagst du dazu, Lissy?

Wäre das schön, wenn sie fragen könnte!

Lissy ist nämlich da. Sie ist mit Natascha gekommen. Lissy ist ihre achtzehnjährige Tochter und Natascha die ihres Mannes. Ja, sie glaubt, ihr Mann war schon einmal verheiratet, ehe sie zueinanderkamen. Sie mag Natascha fast genauso gern wie Lissy. Oder täuscht sie sich?

Die beiden haben einen Rollstuhl mitgebracht, mit dem sie sie mit nach Hause nehmen wollen. Bestimmt wollen sie sie mit nach Hause nehmen. Aber warum sieht sie den Rollstuhl nur, wenn sie die Augen schließt? Sie weiß es nicht. Wenn sie die Augen wieder öffnet, ist er fort. Ach, Lissy und Natascha sind ja auch schon weg! Schade …

Sie reckt sich noch einmal nach ihrem Bild, aber auch das ist nicht mehr da.

Sie glaubt, es trug einen schwarzen Flor.

◆◆◆

Sie bekommt Joghurt zu essen.

Sie hat sich die Magensonde herausgerissen???

Ungläubig hat die Blonde bei der Dunkelhaarigen nachgefragt.

Nun muss sie gefüttert werden.

Sie grinst schadenfroh.

Was grinsen Sie so?

Sie weiß, warum sie grinst.

Sie wird es der doch nicht sagen!

◆◆◆

Das schwarz umflorte Bild steht in einem langen weißen Zelt auf einem Tisch, ganz vorn. Dahinter Stuhlreihen. Von wo aus sieht sie das eigentlich? Sie glaubt, sie schwebt unter der Zeltdecke.

Langsam füllen sich die Reihen. Ganz vorn ihre Eltern. Ach, da sind ja auch ihre Schwiegereltern! Schön, euch zu sehen. Ihre Kinder. Seine. Drei haben ihr Mann und sie gemeinsam, außerdem hat jeder zwei andere. Onkel Willi kommt, er ist schon über achtzig. Seine Frau Urte. Tante Stössel, Cousine Tabea, Tante Usch – aber ist die denn nicht schon lange tot? Sie wundert sich. Onkel Karl. Tante Karla. Kira und Kaja, derenTöchter. Da ist Max, der Vater ihres zweiten Sohnes, dessen Namen sie jetzt wieder weiß: Bill! Ach, Billy, kleines Billchen … Die beiden Ritas, Pietro, Elke, Carmen, Yvonne, Ingo – so viele Leute, da wird es ja ganz voll! Was wird hier denn gefeiert werden?

Gespannt schaut sie zum Eingang, aber nichts passiert. Die Leute schweigen, reden nicht miteinander. Überhaupt: Sie sehen irgendwie traurig aus.

Jemand zieht an ihren Beinen. Sie sieht sich um. Ach, ihr Mann. Er will sie durch eine Luke an der Stirnwand des Zeltes hinausziehen, aber das braucht er nicht. Sie schlüpft selbst aus dem Zelt. Ihr Mann umarmt sie. Er sagt, dass die Leute auf ihre Begräbnisfeier warten, aber dass sie sich ganz schön geschnitten haben, denn die wird nicht stattfinden.

Schau mal, wen ich mitgebracht habe!

Sie dreht sich um. Kann sich gar nicht rühren vor Freude. Es ist Sulagna! Letztes Jahr in Indien hat sie Sulagna kennengelernt. Sulagna ist fünf oder sechs Jahre alt, so genau weiß man das nicht, denn man hat sie auf der Straße gefunden mit madenzerfressenen Nackenwunden. Wollten sie Sulagna nicht adoptieren? Ach Sulagna, dass du jetzt hier bist …

Sie möchte sie drücken, aber Sulagna macht eine entschiedene Geste: Sie hält sie mit erhobenen Händen auf Abstand, legt dann einen Finger auf den Mund. Was ist das, warum kann Sulagna sie so dirigieren? Jetzt legt sie sie flach auf den Boden, hebt ihren rechten Fuß mit beiden Händen ein Stückchen hoch und hält ihn fest. Sulagna wartet. Der Mann sitzt mit gespanntem Gesicht ein Stück abseits. Plötzlich spürt sie, wie ein Sog sie zurück ins Zelt ziehen will. Nur eine Luke in einem Stück Stoff trennt sie von ihrer eigenen Begräbnisfeier. Sie lacht. Der Sog wird stärker und stärker, aber Sulagna sitzt still und hält ihr Bein. Was für eine Kraft das Mädchen aber auch hat! Der Sog kann einfach nichts ausrichten gegen die Kleine. Ihr ist es eigentlich egal, wie das ausgehen wird.

Wie lange soll denn das dauern? Ob sie nicht erst einmal eine Runde schlafen sollte?

◆◆◆

Sulagna scheint es geschafft zu haben. Noch immer ist sie unter den Lebenden, oder?

Bestimmt hat Matthes sie mit nach Hause genommen. Nun haben sie also ein sechstes Kind.

Matthes? Er heißt Matthes!

Mads.

Sie öffnet die Augen und blickt ins Gesicht der Dunkelhaarigen.

Na sehen Sie, das erste Wort ist gesagt, nun wird es auch weitergehen.

Mads? Mads! Mads, Mads, Mads, Mads …

Das soll sie gesprochen haben? Ihre Stimme klingt brüchig. Kein E zu hören, und das S stimmhaft gesummt nach einem D, statt es nach dem E klacken zu lassen.

◆◆◆

Matthes kommt jetzt öfter.

Oder kommt er jetzt etwa genauso oft wie früher, nur hat sie immer geschlafen? Keine schöne Vorstellung.

Matthes nimmt jedes Mal, wenn er kommt, einen Verband vom rechten Auge, ehe er an ihr Bett tritt.

Sie würde ihn gern fragen, wie sie hierhergekommen ist, sie weiß es einfach nicht mehr. Solche komplizierten Sachen kann sie aber nicht sagen.

Sie sagt:

He, Mads!

oder

Mads, gutag!

Er versteht es. Er versteht es! Ihr Ehrgeiz ist entfacht.

Bist Eulen?, fragt sie ihn. Er guckt. Überlegt er?

Ruft plötzlich: Ja, bin Eulen! Ja, ja!

Sie könnte nicht Jandl sagen, denkt sie. Nicht Mayröcker.

Glück gehabt. Bist Eulen? rutschte ziemlich leicht heraus.

◆◆◆

Yvonne Kiering ist nicht mehr da. Sie ist wieder allein.

Wieder?

◆◆◆

Der Hinternabwischer hat sie heute entschlaucht.

Einen Schlauch aus der Blase gezogen.

Den Schlauch von der Hand entfernt. (Die Braunüle bleibt aber!)

Es kommt ihr so vor, als würde auch aus der Leistengegend einiges entfernt werden.

Er gibt ihr ein Gerät, in das sie hineinblasen soll. Die Kugeln, die darin sind, müssen dadurch auf das nächsthöhere Niveau befördert werden. Sie versucht es. Scheitert kläglich.

Außerdem gibt es ein kleines Brettchen mit vier Federn darauf. Das soll sie in die Hand nehmen und die Federn zusammenpressen, mit jedem Finger eine. Sie will mit der rechten Hand danach greifen, aber das gelingt nicht.

Geht nicht.

Warum geht es denn nicht?

Rechte Hand nicht.

Nehmen Sie doch die linke!

Warum?

Hat er die Frage verstanden? Wird er ihr eine Antwort geben? Warum kann sie ihre rechte Hand nicht bewegen?

Er gibt keine Antwort. Stattdessen nimmt er lächelnd ihre linke Hand und presst die Federn zusammen. Mit ihren Fingern.

Was ist eigentlich eine Braunüle?

◆◆◆

Der Trupp kommt.

Heute werden Sie verlegt.

Verlegt? Was heißt verlegt? Wollen die nachher etwa so tun, als könnten sie sich nicht mehr daran erinnern, wo sie sie entsorgt haben? Ihre Angst – da ist sie ja wieder.

Guten Tag, Angst.

Schön, dass du mich besuchen kommst.

Die Angst hört nicht auf die freundliche Begrüßung. Sie kommt gleich zur Sache. Steht mit einem Vorschlaghammer in der Zimmerecke, bereit, zuzuschlagen.

Sie kommen auf Station 21, Ihr Bett wird gebraucht.

Erleichterung. Natürlich, verlegen bedeutet ja nicht nur verschusseln und verschlampen, sondern auch, jemanden den Ort wechseln zu lassen. Eigentlich unfreiwillig, oder?

◆◆◆

Der Hinternabwischer kommt mit einem Rollstuhl. Sie wird hineingesetzt und aus dem Zimmer gefahren. Die plötzliche Wärme überrascht sie. Warum ist es jenseits der Türen so kalt, wenn draußen der schönste Sommer herrscht?

Der Hinternabwischer karrt sie zwei Gänge auf und ab, damit sie die Station noch einmal sehen kann, und fährt eine Schleife zum Personalzimmer.

Abschied.

Sie versucht, freundlich zu gucken, aber der Gedanke an Abschied treibt ihr seltsamerweise Tränen aus den Augen.

Ach Mööönsch, Frau Wesendahl, seien Sie froh, es geschafft zu haben! Drei Wochen Intensivstation sind doch wirklich genug!

Intensivstation?

Wieder hört sie es beinahe rattern in ihrem Kopf. Sie überlegt, warum sie hier gewesen sein könnte, kommt aber zu keinem Ergebnis.

Inhaltsverzeichnis

IISchattenrisse, Silhouetten

Sie hat gut geschlafen. So ohne Schläuche ist es schön. Zweimal hat sie aber schon vergessen, die Schwester zu rufen, obwohl der Knopf gleich neben der linken Hand auf dem Bettrand liegt. Nass ist es geworden im Bett. Am Anfang fand sie es angenehm warm. Nun muss sie aber aufpassen, sonst legen die womöglich wieder einen Schlauch in ihre Blase.

Neben dem Bett steht der Rollstuhl. Wenn sie zur Toilette möchte, geht das nicht allein. Eine Schwester kommt, setzt sie hinein, fährt sie hinüber, setzt sie auf die Brille, wartet, wischt ihr den Hintern ab, zieht ihr den Schlüpfer hoch, das Nachthemd wieder runter, fährt sie zurück.

Manchmal wird ihr schlecht, wenn man sie aufrichtet.

Manchmal kommt auf dem Klo nichts. Das passiert, wenn ein Pfleger danebensteht. Sie kann einfach nicht in Gegenwart eines Mannes pinkeln oder kacken. Es verfliegt. Sie fragt sich, ob der Körper es aufsaugt. Absorbiert.

Im Augenblick, da sie das Fremdwort »absorbiert« denkt, rutscht die Plane von einem anderen Fremdwort: Aphasie! Ohne Sprache!

Sie muss lachen, dass sie es für sich mit »Anfang sieben« übersetzt hat.

◆◆◆

Achthundertundneunzehn minus vierhundertzweiundfünfzig? Dreihundertsiebenundsechzig. Richtig? Ja.

◆◆◆

Sie liegt in einem Dreibettzimmer. Allein.

Allerdings rumpelt es jetzt im Eingangsbereich. Eine Frau wird hereingefahren. Sie bekommt das Bett am Fenster. Das hätte sie auch sehr gerne gehabt. Freundlich nickt sie der Frau zu. Die lächelt.

Hört aber nicht auf zu lächeln.

Ihr Lächeln sieht aus wie mit spinnwebfeiner Angelsehne fixiert. Sie sucht nach Löchern in den Mundwinkeln, durch die man eine doppelte Sehne gefädelt und die Schlaufe hinter den Ohren herumgeführt hat. Jetzt merkt sie endlich, dass sie keine Brille aufhat.

Bille, sagt sie laut, Bille.

Noch immer kein R.

Billebillebillebillebillebillebille.

Das hat nicht sie gesagt, sondern die Frau.

Die Schwester kommt, um sich mit der Frau bekannt zu machen.

Guten Tag, Frau Schröder!

Frauschröderfrauschröderfrauschröder!

Warum wiederholt die Frau, was die anderen sagten? Hat das mit Echolalie zu tun?

Sie ist heilfroh, dass ihr manchmal Fremdwörter zur Verfügung stehen.

Außerdem ist ihr vorhin eingefallen, was ihr die Töchter unters Kreuz ziehen sollten, als sie da waren: das Kopfkissen natürlich.

Sie packt das Kopfkissen mit der linken Hand und schiebt es zu einem dicken Knäuel auf.

Gute Nacht.

◆◆◆

Gute Nacht war natürlich unpassend. Es ist erst Mittagszeit. Sie wird aus dem Schlaf gerissen und gefüttert. Noch immer mit Brei, aber der sieht nicht mehr so hellbraun aus wie die Sondennahrung. Heute ist es Kartoffelbrei. Sie schiebt den Kopf zur Seite, wenn die Schwester den Löffel in braune Soße getunkt hat. Verbundnetzsoße haben sie früher dazu gesagt. Die Schwester versteht erst beim dritten Mal, dass sie keine Soße will.

Warum hat sie ihr das eigentlich nicht gesagt?

Soße nicht!

Ich hab ja schon verstanden, lacht sie.

Schon?

◆◆◆

In ihrem Schälchen fehlt die große hellblaue Pille. Das freut sie. So könnte es weitergehen. Seitdem die Pille fehlt, ist sie wiederum länger wach.

Heute hat man die Panzersperren aus dem Schädel gezogen. Sie hat nichts gemerkt. Es waren gar keine Panzersperren, sondern Metallklammern. Man scheint sie am Kopf operiert zu haben. Warum? Keine Ahnung. Als sie sich auf die Toilette schieben lässt, ist sie begierig auf einen Blick in den großen Spiegel. Bislang hat sie den nicht einmal bemerkt! Darüber wundert sie sich.

Das ist sie. Nichts zu deuteln. Auf der linken Schädelhälfte fehlen die Haare. Nein, das stimmt nicht ganz: Zwei, drei Millimeter sticht das neue Haar hervor. Eine feine rote Linie zieht sich vom Haaransatz in der Stirn in hohem Bogen bis vors Ohr. Beidseits der Linie von vielleicht fünfzehn Zentimetern Länge sind dicke rote Punkte zu sehen. Sie rühren von den Klammern her und erinnern an abgehackte Alleebäume, deren Stümpfe nur knapp aus dem Boden ragen. Ein Stumpf hat sich entzündet, er schmerzt.

Interessant, muss sie denken.

Broca-Aphasie, denkt es sie plötzlich.

◆◆◆

Als Matthes kommt, versucht sie es. Sie versucht ihm zu sagen, dass sie Literatur über Aphasien haben möchte. Matthes sagt dazu nichts. Hat er sie nicht verstanden? Bestimmt ist es nicht zu verstehen.

Matthes trägt keinen Verband mehr über dem Auge. So jung sieht er aus! Die Zeitung hat er mitgebracht, sie will sie ihm begierig aus der Hand reißen. Zehnter August! Sie ist schon länger als einen Monat hier. Das ist nun wirklich nicht zu fassen.

◆◆◆

Muss sie sich darüber wundern, dass sie relativ gut rechnen kann und sich immer wieder selbst Aufgaben stellt? Kopfrechnen übt? Ach was, sie beschließt, sich lieber nicht darüber zu wundern.

Stattdessen wartet sie. Darauf, dass irgendetwas passiert. Hier passiert nichts. Niemand kommt, um mit ihr herumzuturnen. Auf der Intensivstation hat die Dunkelhaarige sie mobilisiert. Das heißt, sie hat versucht, sie zu mobilisieren. Hier dagegen? Du liegst jetzt den dritten Tag hierauf der Inneren, hat Matthes vorhin gesagt, völlig falsch. Er versucht offenbar, sie woandershin zu bekommen. Wohin, hat sie nicht verstanden.

Die Tür geht auf. Eine junge Frau kommt herein, stellt sich als Physiotherapeutin vor. Na endlich! Eben noch wäre ihr das Wort »Physiotherapeutin« nicht eingefallen, aber in dem Moment, da die Frau es ausspricht, ist es wieder verfügbar. Sie möchte Wörter hören. Stattdessen packt sie die Physiotherapeutin in den Rollstuhl und fährt sie hinaus, hinunter, über den Hof, in ein andres Haus. Sie kommen in einem großen Sportraum an.

Sie müssen unbedingt hierher verlegt werden!, sagt die Physiotherapeutin.

Was ist hier?, fragt sie. Ui, es geht!

Strouk junit, sagt die Frau.

Was ist das?

Noch ehe die Frau antworten kann, fällt es ihr ein. Natürlich, die stroke unit für Schlaganfallpatienten! Was soll sie denn unter Schlaganfallpatienten anfangen? Ungläubig schaut sie die Physiotherapeutin an.

Die sagt, dass sie auf Drängen ihres Mannes auf die Innere gerufen worden sei, um sie zu beturnen. Dass das auf der stroke unit aber viel einfacher sei, weil die Wegezeit wegfiele und sie auch mal zwischendurch nach ihr schauen könnte. Außerdem liefen auf der stroke unit Logopädie und Ergotherapie, die sie doch auch sehr gut gebrauchen könne. Auf der Inneren würde sie nur herumliegen.

Das stimmt.

◆◆◆

Sie fängt an zu sprechen. Noch kann sie es gar nicht fassen. Es ist nicht viel, und oft ist es offenbar falsch, was sie sagt. Matthes war heute wieder da und fragte, was es zu essen gegeben habe. Sand. Als er nachfragte, sagte sie wieder Sand. Er wiederholte es, und da fiel ihr natürlich auf: Sand war völlig falsch. Quark hatte sie sagen wollen. Quark mit Kartoffeln. Sie haben gelacht.

Matthes sagte, dass ihre Verlegung auf die stroke unit beschlossene Sache sei. Wann schafft er das? Ist er etwa länger hier im Krankenhaus, als sie annimmt?

◆◆◆

Die Frau im Bett am Fenster bekommt oft Besuch. Ihr Mann und ihr Sohn kommen. Der Sohn ist etwa zwölf Jahre alt. Frau Schröder scheint wenig zu verstehen. Verständigen kann man sich nicht mit ihr. Mann und Sohn lachen viel. Sie scheinen sie in diesem Zustand schon gut zu kennen, es ist keine Überraschung für sie, dass sie sie nicht versteht.

◆◆◆

Heute fragt sie Matthes, was passiert ist.

Was passiert?

Du hattest eine Hirnblutung, sagt er. Ein Aneurysma ist geplatzt.

Sie ist platt. Das hätte sie nicht erwartet. Sie erinnert sich verschwommen, über Aneurysmen vor nicht allzu langer Zeit viel gelesen zu haben. Warum eigentlich?

Du bist operiert worden. Zwei Mal. Beim ersten Mal hat man das Aneurysma geclippt, beim zweiten Mal den Abflussschlauch von einem in den anderen Ventrikel verlegt.

Sie hat alles gehört. Mit dem Verstehen muss sie sich Zeit lassen.

◆◆◆

Aneurysma klingt schön, findet sie. Ein weiblicher Vorname. Aneurysma Wesendahl. Sie suhlt sich in der Vorstellung, Aneurysma zu heißen.

Der Pfleger kommt schwungvoll und mit seiner Art Spaß auf den Lippen ins Zimmer.

Na, Helenchen, hamwa jut jeschlafen?

Nööö, Hartmutchen.

Er lacht. In der Tat hatte sie heute Nacht wieder einen Angstanfall. Sie vermutete einen großen Brand um sich herum. Aufgeregt klingelte sie nach der Schwester. Es kam die netteste, die sie hier haben. Sie strich ihr über den Kopf, machte das Licht an. Sie erinnert sich, etwas gesagt zu haben. Was, will ihr nicht mehr einfallen. Die Nette sagte, sie bedrohe hier nichts und niemand. Sie merkte, wie sie der Netten das abzunehmen begann. Seit sie hier ist, war es das erste Mal, dass sie dem Personal so etwas wie Glauben schenkte. Als hätte die Nette die Realitäten wieder geradegerückt, in deren Schiefe sie sich einzurichten begonnen hatte.

Hartmutchen bringt dich jetzt rüber, stroke unit!

Endlich.

◆◆◆

Sie wird auf der Toilette alleingelassen, bis sie die Schwester wieder hereinruft. Sie wird in einen Gemeinschaftsraum gefahren und bekommt richtiges Essen. Sie wird beturnt. Sie bekommt Besuch.

Heute ist Natascha wieder da, die Tochter ihres Mannes. Natascha ist schon siebenundzwanzig.

Matthes hat Helene in den Rollstuhl gesetzt und mit hinuntergenommen in die Krankenhauscafeteria, wo sie ein Eis isst. Natascha hat ihr eine platte Muschelschale vom Atlantik mitgebracht. Sie war in Frankreich.

Blitzartig kommt die Erinnerung: Helene liest Natascha vor. Sie ist vier. Als Freundin der ersten Matthes-Familie ist Helene über Nacht dort geblieben, und Natascha ist in der Frühe in ihr Zimmer gekommen, um sie zu wecken und zum Frühstück zu holen. Sie trägt ein Unterhemdchen mit kurzen Ärmeln und einen grau gewaschenen Schlüpfer. Eine Geschichte möchte sie hören. Ihr Bruder Mischa ist zwei Jahre alt.

Ebenso blitzartig kommt die Erinnerung, dass sich Mischa vor drei Jahren von einem Intercityexpress überrollen ließ.

Der Natascha-Besuch endet in Tränen.

Sie ist nicht in der Lage zu sagen, warum sie weint.

◆◆◆

Visite.

Die Schwester erzählt, dass sie in der Nacht weinend nach ihr gerufen habe, weil sie sich bekackt hatte. Seltsamerweise hatte sie nichts dazu sagen können, nur die Decke beiseitegeschoben und auf die Stelle gewiesen … Es stank und begann schon zu stacheln, zu brennen, wie sie es in Erinnerung hat. (In welchem Alter hat sie sich denn das letzte Mal bekackt?)

Wenn sie so depressiv ist, müssen wir die Dosis erhöhen.

Aber nein, sie ist doch nicht depressiv! Darf man nicht mal weinen, wenn einem was peinlich ist?

Nein, … will … nicht … Atidepprissum!

Wirklich? Das sollten Sie aber wollen, das ist nicht leicht für Sie jetzt.

Nicht leicht?

Sie staunt. Darüber, dass sie keine Trauer verspürt.

◆◆◆

Welches Mittel ist … gegen Trauer?

Die Schwester sieht sie fragend an.

Gegen – Trauer, gegen – Weinen!

Verdammt, im Augenblick, da sie das Wort Antidepressivum aussprechen will, ist es fort. Kommt zurück. Nächster Versuch. Wieder ist es im Augenblick des Sprechens verschwunden.

Das ärgert sie so, dass sie wütend wird.

Sie schnaubt.

Na, nu lassen Se man Ihre Wut stecken, ick kann doch ooch nichts dafür!

Anti- …, Anti … dep-prissum, radebrecht sie.

Ach so! Die Schwester lacht und zeigt auf eine kleine Tablette in der Schale. Komisch, dass solche winzigen Pillen große Trauer wegziehen sollen.

Sie nimmt die Tablette aus der Schale und legt sie daneben. Die anderen schluckt sie. Es ist ein Antibiotikum dabei gegen Harnwegsinfekte. Das braucht sie eigentlich nicht, denn asymptomatische Bakteriurie begleitet sie, seit sie erwachsen ist.

Aber das kann sie nicht sagen.

◆◆◆

Das Antidepressivum liegt immer wieder in ihrer Schale. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie es nicht nimmt, aber niemand registriert das. So ist schon eine hübsche Pillensammlung in ihrer Schublade zusammengekommen. Sie überlegt, wem sie die schenken könnte. Ihr fällt nur Raphael ein. Raphael will heute oder morgen zu Besuch kommen. Raphael ist depressiv, lehnt es aber ab, Antidepressiva zu schlucken, weil er Angst vor der Abhängigkeit hat. Ihm kann sie die Pillen also nicht schenken. Außerdem geht es ihm meist gut, wenn er jemanden zum Betutteln hat. Dass sie so schnell zu jemandem werden könnte, den Raphael betutteln kann, hätte sie nicht gedacht.

Sie seufzt.

◆◆◆

Morgens kommt die Ergotherapeutin. Sie übt Anziehen mit ihr. Viel kommt nicht dabei heraus. Mit links Zähne putzen geht gut. Zahnpasta auf die Bürste drücken, Wasser in den Becher laufen lassen – einhändige Abenteuer. Den Waschlappen kriegt sie zwar nass, aber die Kraft der linken Hand reicht nicht aus, das Wasser so weit wieder herauszupressen, dass sie sich unbeschadet das Gesicht waschen kann. Hinterher sieht sie aus wie ein begossener Pudel. Zum Glück ist es warm, und die Wäsche trocknet schnell wieder. Nach der Morgentoilette nimmt die Ergotherapeutin sie zum Frühstück in den Gemeinschaftsraum mit. Sie bekommt ein Brettchen mit Nägeln und Saugnäpfen. Es wird am Tisch befestigt. Das Brötchen drückt sie in die Nägel und versucht, es mit der linken Hand aufzuschneiden. Schweiß trieft. Sie bestreicht es mit Butter und Marmelade und lässt es sich schmecken. Seit gestern bekommt sie keine Schnabeltasse mehr. Die Flüssigkeit läuft am Kinn herunter, sie bekommt nicht alles in den Mund hinein. Die rechte Gesichtshälfte ist gelähmt. Sie lacht, als sie sich vorstellt, wie sie mit halbem Gesicht lacht.

◆◆◆

Ihre Schwestern sind da. Als die Tür aufgeht und sie ins Zimmer treten, ist sie so überrascht, dass sie vor Aufregung einpinkelt. Zum Glück müssen die beiden das nicht merken. Marika ist drei, Ellen sechs Jahre jünger als sie. Eine wohnt in Dresden, die andere in der alten Thüringer Heimat. Dass sie für nur einen Nachmittag nach Berlin fahren, um ihre große Schwester zu besuchen, rührt Helene.

Warum sehen sie hilflos aus? Sie freut sich doch so! Ach, jetzt sieht sie es: Die dicke, einbeinige Frau Bandner vom Bett gegenüber hat sich wieder mal die spärlichen Sachen vom Leibe gefetzt. Sie wird sondenernährt, ein Schlauch geht von außen direkt in den Magen. Wenn sie sich die Sachen vom Leibe fetzt, hat sie eingekackt. Ja, es stinkt. Man muss die Schwester rufen. Ellen und Marika werden aus dem Raum geschickt. Sie wollen Helene mitnehmen. Aber die ist nass, also versucht sie, Zeit zu schinden und der Schwester geheime Zeichen zu geben. Leider ist die Toilette ganz am Ende des langen Flures, sodass sie nicht unbemerkt hinkäme. Sie gibt es auf und zeigt ihren Schwestern die Bescherung. Nun sehen sie noch hilfloser aus, Ellen ist puterrot im Gesicht. Helene versucht zu sagen, dass sie hinauskommt, wenn sie trockengelegt wurde. Sie gehen erst einmal. Hoffentlich nur bis auf den Flur? Es dauert lange, bis sich die Schwester um sie kümmern kann. Sie wäscht sie schnell im Bett, das sie danach abzieht.

Neben Frau Bandner liegt eine alte Frau, die Zeichen der Austrocknung aufwies, als sie eingeliefert wurde. Immer sieht sie Schützen im großen Baum vor dem Fenster, die auf sie angelegt haben. Deshalb hält sie den Deckel des Nachtgeschirrs zitternd vor ihren Kopf und wagt sich nicht zu rühren. Bestimmt haben Ellen und Marika auch sie gesehen. Wenn die beiden nichts über ihre Verfassung wissen, sie aber mit zwei verrückten Alten im Zimmer ist, denken sie sich ihre Portion. Sie muss sie vom Gegenteil überzeugen. Nur wie?

Als sie frisch geputzt im Rollstuhl vor die Tür gefahren wird, sieht sie, dass Marika geweint hat. Sie übergeht es, aber es ist zu spät zum Sprechen. Morgens geht es besser. Sie lotst Marika und Ellen in die Cafeteria. Erschöpft trinkt Helene einen Tee, möchte dann aber, dass sie gehen.

◆◆◆

Die Wochen vor dem Platzen des Aneurysmas sind ausgelöscht. Nichts mehr da. Manchmal taucht ein Bruchstück einer Erinnerung auf, aber ehe sie es zu fassen bekommt, ist es weg. Sie wundert sich auf einmal, warum die kleine Tochter noch nicht bei ihr war. Warum denkt sie so selten an Lottchen? Immerhin ist sie erst fünf. Wenn Helene die Augen schließt, sieht sie ein kleines, schlitzäugiges Gesicht mit spitzbübischem Grinsen. Liebt sie es? Aber ja! Jetzt zieht es vom Herzen aus. Sie muss Matthes unbedingt fragen, darf es nicht nicht nicht vergessen.

◆◆◆

Sie sollte sich einen Erinnerungsfaden denken, an dem sie sich entlanghangelt. Es wird sicher mühsam werden, aber wie sonst sollte sie die vergangenen Wochen, vielleicht Monate, zurückbekommen? Matthes sagt, zwei Wochen habe sie im künstlichen Koma verbracht. Träumt man während dieser Zeit? Ihr ist, als habe sie geträumt, aber die Übergänge zum Erlebten sind wohl fließend. Zwei Wochen kann sie eher gleich herausschneiden aus dem Film, den sie zusammenpuzzeln will.

Liebt sie Matthes?

Es zieht nicht. Früher zog es. Das weiß sie.

◆◆◆

Besuch.

Wo ist Lottchen?

Große Freude, dass sie daran gedacht hat, nach ihr zu fragen. Sie hat sie nicht vergessen. Ihr jüngstes Kind. Matthes erzählt, dass Lottchen bei ihren Eltern ist. Die Kleine wird hoffentlich schöne Zeiten dort haben … Ihr Vater wird mit Lottchen auf die Sommerrodelbahn am Inselsberg fahren oder ins Tabarzer Spaßbad. Sie freut sich für die Tochter, wenn sie sie auch vorläufig nicht zu sehen bekommt.

Bengt hat ein Urlaubssemester genommen, sagt Matthes, und Bill, der eigentlich im Frühjahr ausgezogen ist zu seiner Freundin, verbringt viel Zeit im Karlshorster Haus.

Richtig, sie haben ja ein Haus. Haben es 1998 gebaut, vor knapp vier Jahren. Schlagartig kommt die Zimmeraufteilung: die große Erlenküche mit Erker, das lange Wohnzimmer mit Kaminofen. Das Schlaf-, das Lottchenzimmer unten. Oben die Zimmer für Lissy und Mareile, das Arbeitszimmer ihres Mannes und – ihr Arbeitszimmer! Sie ist ja Schriftstellerin! Darauf war sie nun wirklich nicht vorbereitet. Ihr fallen Bücher ein, die sie geschrieben hat. Hat sie an einem neuen Buch gearbeitet? Kein Arbeitstitel taucht auf. Vielleicht hatte es ja noch keinen Titel.

Läpptopp!, sagt sie.

Schon dabei, sagt Matthes und holt ihn tatsächlich aus seinem Rucksack hervor. So ein Service aber auch.

Ja, jetzt zieht es ein bisschen.

◆◆◆

Was ist »früher«?

Sie kriegt ihren dreiundvierzigsten Geburtstag noch zusammen. Wie viele Leute ihr einfallen … Sie alle waren gekommen, sogar Carla von der Mosel. Einen Mann hatte sie mitgebracht, der ihr ausnehmend gut gefiel. Einen Steinmetz aus Rostock. Sie erinnert sich: Er berührte Carla wie beiläufig, das hatte Helene wohlige Schauer beschert. Warum will ihr nicht einfallen, ob Matthes sie an diesem Geburtstag berührte?

Ein Quiz hat er veranstaltet. Wer kennt am besten die Persönlichkeit von Helene Wesendahl? Da, eine Frage kommt wieder: Was fasst sie zuletzt am Abend und zuerst am Morgen an? Richtige Antwort: den Wecker. Und da, noch eine! Welchem Politiker würde Helene gern mal die Pickel ausdrücken? Immer, wenn sie Gerhard Schröder im Fernsehen gesehen hatte, hatte es ihr in den Fingern gejuckt. Überraschenderweise hatte der Steinmetz, der sie an jenem Tage zum ersten Mal sah, alle Fragen richtig beantwortet und das Quiz gewonnen. Der vierundvierzigste Geburtstag vor einem halben Jahr liegt hingegen ziemlich im Dunkeln. Vielleicht hatte sie ihn nicht feiern wollen.

◆◆◆

Sie möchte Agatha Christie lesen. Nicht Martha Grimes, deren erste Inspektor-Jury-Romane ihr ausnehmend gut gefallen hatten. Sie fürchtet sich davor, Martha Grimes womöglich nicht zu verstehen. Dann schon lieber Agatha Christie. Die hat sie schon als sehr junges Mädchen gelesen, vielleicht lässt sich ja ein Wiedererkennungseffekt ausmachen.

Was sie will, lässt sich per Laptop natürlich viel besser sagen. Eine lange Liste hat sie zusammengestellt mit Dingen, die sie tun möchte. Zum Beispiel mit links schreiben. Dazu brauche sie einen Stift und Papier.

Matthes sagt, Helene solle Gedichte versuchen. Stift und Papier hat er dabei.

Gedichte? Wie geht das? Sie kann es sich einfach nicht vorstellen.

Zwischen einem möglichen Gedicht und Helene Wesendahl gähnt ein Loch. Ein schwarzes.

◆◆◆

In das Viererzimmer ist die vierte Person eingezogen. Eine alte Frau nach einem Schlaganfall. Die nimmt die Dinge ebenso lustig wie sie. Zum Taschentuch sagt sie Zitrone und zum Mittagessen Mülleimer. Sie ist helle im Kopf und möchte nach Hause zurück, in ihre Wohnung. Es geht nur noch darum, sie medikamentös einzustellen mit Blutverdünnern, damit nicht bald wieder ein Schlaganfall droht. Sie ist klein und zierlich, macht einen sportlichen Eindruck. Sie wechseln sich im Wachen über Frau Bandners Scheißattacken ab. Wenn keiner wacht, stinkt es so sehr. Mit ihr kann Helene frühmorgens schon sprechen, wenn es am besten geht. Sie rät gut und ist voller Verständnis, weil es ihr ja so ähnlich geht. Im Aussprechen von Zitronen und Mülleimern merkt die Frau nicht, was sie falsch gemacht hat. Wenn man sie wiederholt, schon.

Noch immer hat Helene keine Literatur über Aphasien. Vielleicht gut so? Dafür hatte sie den ersten Termin bei der Logopädin. Lange Testreihen hat die mit ihr veranstaltet. Schwamm drüber. Da kann sie sich selber besser helfen.

◆◆◆

Sobald Matthes kommt, wird sie ruhig und friedlich. Als hätte er einen Magneten in der Tasche, der alle Verwirrung von ihr abzöge. Sie beobachtet Matthes, ob ihm die Hosentasche aufquillt, weil ihre Unruhe dort einzieht. Vielleicht hat er den Magneten gar nicht in der Hosentasche, sondern in Jacke oder Hemd! Er zieht die Jacke aus, legt sie über den Stuhl. Sie fasst Matthes mit der linken Hand, seine Hände, seinen Kopf. Seine Beulen. Ja, ihre Hand erkennt sie wieder, geht darüber hin wie über vertrautes Gelände. Sein Schädel erinnert an einen Truppenübungsplatz mit Gräben, Gruben und Hügeln. Das noch immer sehr dunkle Haar ist lang. Man sieht keine Beulen, sondern glaubt einen normalen Rundschädel vor sich zu haben.

Ihre Hand wandert über seinen Rücken, als er sie umarmt. Das Hemd ist nass, es ist sehr warm draußen. Auch in die Hemdtasche fasst sie, als er sich lösen will. Kein Magnet. Bleibt nur die Jacke, die sie verstohlen beobachtet.

Was ist mit meiner Jacke?, fragt Matthes.

Magenta, sagt sie.

Magenta. Eine Farbe. Sie hat es ausgesprochen, als träumte sie davon.

◆◆◆

Wovon träumt sie eigentlich?