Finito. Schwamm drüber - Kathrin Schmidt - E-Book

Finito. Schwamm drüber E-Book

Kathrin Schmidt

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Beschreibung

Eine Meisterin des Erzählens in jeder Form Mit Du stirbst nicht, ihrem ausgezeichneten Roman über die Rückkehr ins Leben nach einer Hirnblutung, hat sich Kathrin Schmidt ein großes Lesepublikum erobert. Mit dem darauf folgenden Gedichtband Blinde Bienen hat sie die literarische Kritik begeistert, und nun folgt ein spätes Debüt: Finito. Schwamm drüber. ist ihr erster Band mit Erzählungen.Und auch diese sind von besonderer Qualität und einer beeindruckenden Vielfalt, sowohl im Ton als auch in den Themen und Perspektiven. Sie spannen den Bogen von der Zeit des geteilten Deutschlands bis in die Gegenwart, führen in Familien und Singlehaushalte, zeigen starke Frauen in schwachen Momenten und Männer, die nie so stark geworden sind, wie sie sich immer empfanden. Dabei beweist Kathrin Schmidt, wie groß das Repertoire ihrer erzählerischen Mittel ist und wie nah sie damit ihren Figuren kommen kann. Aus der Epikerin, die mit bildmächtiger Sprache und oft langen, kunstvoll gebauten Satzgefügen den Leser mitreißt, ist eine Meisterin der Verknappung geworden. Der Leser findet sich sofort in einer Szene, einer Stimmung, einem Konflikt – und geht mit.Titel wie Laubers Lachen, Der Kirschgott oder Frau Ypsi und Herr Lon zeigen, dass eines in jedem Fall nicht zu kurz kommt: der Humor.  

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Seitenzahl: 305

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Kathrin Schmidt

Finito. Schwamm drüber.

Erzählungen

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Kathrin Schmidt

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

FördervermerkLEARNIN’ THE BLUESHEISSER BREIAM ROTEN FADENEIN TAG, EIN KNOPF …WARUM WEINEN SIE MITTWOCHS?FRAU YPSI UND HERR LONBISSEL LJEBE WÄR NETT, GÖLL!FALSCH VERBUNDEN… VON DRINNEN RAUSSPIEL, SATZ, SCHLAPPENSIEGZWIELICHTE ZEITENTADEUSZ. PUNKT.LAUBERS LACHENFINITO. SCHWAMM DRÜBER.BRENDELS WEG NACH MOLAUKENSCHÖNES STÜCK LAND, UNTER WASSERKÖNIGSBERGER KLOPSKARPFEN BLAUDER KIRSCHGOTTAM LEBEN VERLASSENNEBEN DER TÜR DES VATERLANDES HÄNGT DAS BRETT MIT DEN SCHLÜSSELNHINTER A.LETZTER VERSUCHZWISCHEN KIMME UND KORNNORWEGISCHE FORMELVASPERSKYS FLATTRIOLENBLÜMNERS PASSAGEMESSERS SCHNEIDEGRÜNE WOCHENSCHNARCH, DU FRÖHLICHE …BALDER & SÖHNEErstveröffentlichung folgender Texte
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Die Arbeit an diesem Buch wurde von der Stiftung Preußische Seehandlung mit einem Stipendium gefördert, wofür die Autorin herzlich dankt.

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LEARNIN’ THE BLUES

 

 

 

 

Das Wort hart bringt man eher mit dem Winter in Verbindung, aber in jenem Jahr war es der Sommer gewesen, dessen Härte Artjom, die Kinder und mich einfach besiegt hatte, wir lungerten schließlich wie müde Krieger am Eingang zum Herbst herum und hofften auf Erleichterung. Artjom hatte seine Stelle als Mathematiker im Heizkraftwerk Mitte erst im Mai angetreten, Urlaub war also nicht in Sicht. Die Zwillinge waren mit ihren eineinhalb Jahren im Strauchelalter und mussten eigentlich ständig an die Hand genommen werden. Ich hatte nur zwei Hände, mir blieb kaum etwas anderes übrig, als sie in das große Laufgitter zu stecken, das ich ein Stück abseits vom Birnbaum im Hof platziert hatte. Zwischen dem Laufstall und meiner Mutter taumelte ich vom Morgen auf den Abend zu und war bemüht, die eine wie die anderen zu füttern und zu windeln. Meine Mutter war nun doppelt so alt wie ich, zweiundsiebzig. Während ich ihr manchmal aufmunternd zu zeigen versuchte, wie die Sonne im Birnlaub darauf aus war, sich vor sich selbst zu verstecken, hatte ich für meine Mädchen nicht viel mehr übrig als die Hoffnung, die eine möge der anderen Beschäftigung genug sein. Ich nannte sie übrigens meine Ösen, obwohl die Aussprache ihrer Namen, Chloe und Phoenix, damit nicht viel zu tun hatte. Meine Ösen gab ich am Abend, wenn Artjom zurückgekehrt war, entkräftet in dessen Hände. Artjom war das, was man einen guten Vater nennt. Neugierig auf die Mädchen, sprach er zuweilen Russisch mit ihnen. Manchmal schienen sie mit ihm beinahe schon zu kauderwelschen. Das waren Momente, in denen meine Mutter zu sich zu kommen schien. Sie war Russischlehrerin gewesen, und ein Aufleuchten ging dann regelmäßig über ihr Gesicht. Ich hatte einen Fotoapparat bereitgelegt, um sie noch einmal mit solch einem Leuchten im Gesicht zu fotografieren, aber es war jedes Mal erloschen, ehe ich den Auslöser hätte drücken können. Erschöpfte Tage.

»Schatz, hast Du die Pfirsichtorte für morgen gebacken?« Artjom fragte das an jenem Abend betont beiläufig, bereit, es selbst zu tun, falls ich es nicht geschafft hatte, aber diese Beiläufigkeit war es, die mich wütend machte und mit einer Gegenfrage antworten ließ: »Hast Du Kartoffeln und Klopapier mitgebracht heute?« Er sprang auf, setzte sich die Mädchen auf die Hüften und lief in den Flur, wo er seine Tasche und die Einkäufe beim Betreten der Wohnung einfach hatte fallen lassen. Natürlich, keine Ausfälle. Klopapier vierlagig und festkochende Kartoffeln. Ich holte die Pfirsichtorte aus dem Kühlschrank und stellte sie vor ihn auf den Tisch. Meine Mutter grunzte im Sessel. Eine Öse begann zu weinen, die andere juchzte vor Freude, die sie werweißwoher nahm. Artjom schien die Vorstellung eines funktionierenden Familiengefüges zu gefallen, jedenfalls sprach sein breitgezogener Mund dafür. Der Bisquitboden war meine Spezialität, ich hatte Pfirsichschnitze in süßem Gelatinequark darauf ertränkt, das Ganze gekühlt und schließlich gelben Tortenguß darüber verteilt. Zufrieden brachte Artjom die Kinder ins Bett. Ich hatte genug zu tun mit meiner Mutter, die jeden Abend ein rechtes Tänzchen aufführte, wenn es darum ging, sie ins Bett zu legen.

Als sie schlief, duschte ich sehr lange. An Artjom dachte ich dabei nicht. Überhaupt dachte ich selten an Artjom. Zwar hatte er meinem Leben sichernde Pflöcke eingeschlagen mit gutem Verdienst und fürsorglicher Bemühtheit um die Zwillinge, aber irgendwie war mir das aus dem Blick geraten unter den alltäglichen Verrichtungen, in deren Sog ich strudelte und einfach kein Land sah. Mit nassen Haaren stand ich schließlich vor dem Spiegel und beobachtete mich dabei, wie ich mir die Lippen mit dem dunklen Stift nachzog und die Wimpern tuschte. Ich sah aus, wie meine Mutter früher ausgesehen hatte. Als ich das dachte, fiel mir ein, wie sehr sie das Tanzen geliebt hatte. Oft war sie mit meinem Vater an den Wochenenden im Tanzclub gewesen. Wahrscheinlich hatte sie das Tanzen sogar mehr als meinen Vater geliebt. Bei diesem Gedanken musste ich plötzlich doch an Artjom denken, und es erschien mir unmöglich, mich neben ihn ins Bett zu legen, ohne vorher getanzt zu haben. An warmen Septemberabenden kann man das Haar auch noch auf der Straße trocknen lassen. Ich schlüpfte in Jeans, eine geblümte Tunika im 70er-Jahre-Stil, meine leichtesten Slipper, griff das knallbunte Handtäschchen und schloss leise die Tür.

Das Nachtschwarz war gerade dabei, das letzte Zwielicht beiseitezuschieben. Ich blieb erst einmal stehen und wunderte mich, wie Septembernächte riechen konnten. Benommen setzte ich einen Fuß vor den anderen, trudelte auf die Ehrlichstraße zu, wo ich in die Straßenbahn stieg. Zwei, drei Stationen. Havanna-Bar. Ich steckte den Kopf durch die Tür. Vor drei Jahren noch hatte ich an all meinen überflüssigen Abenden mein überflüssiges Geld in diese Bar getragen. Jetzt entdeckte ich keinen Bekannten mehr unter den jungen Gästen, die wahrscheinlich, wie ich damals, noch studierten und Singles oder auf Partnersuche waren. Zum ersten Mal hatte ich das deutliche Gefühl, alt zu werden. Irritiert nahm ich den Kopf aus der Tür und die Stufen hinauf zur S-Bahn, fuhr drauflos. Mir gegenüber saß ein junger Mann, Brille, halblange Haare, er las ein Buch, englisch, The Kite Runner von Khaled Hosseini. In meinem Täschchen steckte die deutsche Ausgabe, ich holte sie hervor und schlug sie auf. Der Mann schaute kurz hoch, bemerkte meine Lektüre, lächelte. Bevor er an der Jannowitzbrücke ausstieg, sah er mich fragend an. Ich kam mit. Die Bücher steckten wieder in unseren Taschen, er griff meine Hand. Zu sagen gab es nichts, er schwieg wie ich. Wir liefen in südlicher Richtung, die Brückenstraße hinunter, landeten schließlich in Kreuzberg. Ich zog ihn in eine Kneipe, wir tranken Bier, aßen Bockwurst. Schließlich zupfte ich ihn am Ärmel, der obligatorische Geräuschpegel der Kneipe gab es gerade noch her, dass wir tanzten, der Wirt drehte die Musik lauter, als er uns zwischen den Tischen schaukeln sah, jeder mit sich selbst beschäftigt und doch so sehr zusammen, dass wir uns eng umschlungen hielten und einander mit geschlossenen Augen im Takt wiegten. Learnin’ The Blues von Katie Melua, weiß der Geier, wie diese Musik in diese Kneipe gekommen war. Dass die anderen Gäste uns anstarrten, merkten wir erst, als der Wirt nach dem Ende des Titels den Off-Knopf drückte und wir die Augen öffneten. Ganz hinten begann einer zu klatschen. Wir zahlten und fanden uns auf der Straße wieder, aber so einfach war das nicht mit dem Abschied. Etwas schien offen zwischen uns, keine Rechnung, aber doch irgendetwas in der Art, das uns die Hände nicht voneinander lösen ließ. Ich ahnte, dass ich mit ihm würde schlafen müssen, um nach Hause gehen zu können. Sein Rücken schien gespannt wie Artjoms Recurvebogen kurz vor dem Loslassen der Sehne. In einem Hauseingang gerieten wir ineinander, es war eine sichere, kraftvolle Begegnung. Als das Licht anging, weil eine betrunkene Frau spät nach Hause kam, hatte ich die Jeans wieder auf den Hüften. Die Muskeln seines Rückens schienen gelöst unter dem engen T-Shirt. Ich küsste ihn auf die Stirn. Er hob seine Tasche vom Boden und ging, ich wählte die entgegengesetzte Richtung.

Der neue Tag war zwei Stunden alt, als ich nach Hause kam. Noch einmal duschte ich lange, rieb mir Wimperntusche und Lippenstift mit Babyöl ab und legte mich zu Artjom ins Bett. Er schob den linken Oberschenkel über meinen Bauch und schniefte zufrieden. Am nächsten Morgen löste ich die Pfirsichtorte aus der Springform und schnitt sie auf. Zum Schutz legte ich ihr schließlich einen Tortenring um, heilfroh, dass mir das eingefallen war. Artjom kam zum Kaffee, den ich gebrüht hatte. Er küsste mich auf die Stirn, wie ich es in der Nacht mit dem jungen Mann getan hatte. Es tat mir gut, etwas zu wissen, was Artjom nicht wusste. Ich wünschte ihm einen schönen Geburtstag im Kreise der Kollegen und schenkte ihm den Drachenläufer von Khaled Hosseini. Er steckte das Buch zwischen seine Papiere in die Tasche, schaute noch einmal zu den Mädchen ins Zimmer und verließ die Wohnung. Unten angekommen, stellte er die Torte auf den Beifahrersitz. Die Ösen meldeten sich. Ich hatte zu tun, wie immer.

Als ich später endlich nach meiner Mutter schaute, die für gewöhnlich lange vor den Mädchen erwachte, war sie tot. Dr. Heilmann, unser Hausarzt, stellte Herzversagen fest. Die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens packten meine Mutter in eine graue Kunststoffhülle, die sie mit einem Reißverschluss schlossen. Ich dachte daran, dass ich sie in der vergangenen Nacht im Spiegel gesehen hatte. Auch als man sie die Treppe hinuntertrug, war mir nicht nach Weinen zumute. Artjom anzurufen, erschien mir an seinem Geburtstag unpassend. Mit den Kindern kniete ich mich ins Laufgitter auf dem Hof und fühlte mich erst einmal sicher, wollte schließlich einschlafen, aber die Mädchen brachten mich mit ihren Puppen, Plastikautos und Sandeimerchen immer wieder davon ab. Später hob ich zwei schöne, frische, geplatzte Birnen für Chloe und Phoenix aus dem Gras, um sie ihnen in der Küche aufzuschneiden. Meine Mutter hatte immer so tief versunken auf dem Bänkchen unter dem Birnbaum gesessen, dass mir die reifen Birnen nun, da sie tot war, einfach nicht schmecken wollten.

Mit Artjom aß ich am Abend die beiden übrig gebliebenen Tortenstücke auf. Er nahm mich fest in den Arm. Wir redeten über meine Mutter.

Zu ihrer Beerdigung kam die übrig gebliebene Belegschaft ihrer Schule, dreizehn Lehrer, dazu Artjoms aus Omsk in Sibirien stammende Eltern und Geschwister. Sein Vater wird es gewesen sein, der später dem Holzkreuz, das meine Mutter sich gewünscht hatte, zwei weitere Querbalken annagelte. Wenn man heute auf den Friedhof geht, steht ein orthodoxes Kreuz auf ihrem Grab. Glücklicherweise ist das bislang niemandem aufgefallen. Ich bin jedenfalls nicht gefragt worden danach.

Das Bänkchen hielt meine Mutter noch über den Tod hinaus besetzt, ich konnte mich darauf nicht ausruhen oder ein Buch lesen, und als die Zwillinge immer wieder überrascht die leere Bank anstarrten, wenn sie aus dem Haus in den Hof purzelten, wusste ich, dass auch sie meine Mutter dort sitzen sahen.

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HEISSER BREI

 

 

 

 

Er hatte das Mädchen oft gesehen, wenn er seinen Blick vom Schreibtisch gehoben und über die Straße geschickt hatte. Sie stand manchmal vor der Pizzeria und rauchte, oder sie fegte mit einem Reisigbesen, der aussah, als sei er zurückgeblieben, als das Zigeunerlager in den Himmel zog, das Trottoir, wischte die Kippen mit geübtem Schwung in den Rinnstein und stellte den Besen dann verkehrt herum in einen geschwungenen Blechkübel links neben der Tür. Rechts stand ein ebensolches Gefäß, und auch darin steckte, verkehrt herum, ein Reisigbesen. Er hatte sich manchmal gefragt, warum sie den rechten Besen nie benutzte, es aber auf dem Weg bis zur Gaststube längst vergessen, sie zu vergleichen, wenn er sich eine Pizza oder eine kühle Cola holen ging. Drinnen stand das Mädchen hinter dem Tresen, ließ Bier in Tulpen aufschäumen und spülte die Gläser. Sie war nicht ganz schlank, Fettröllchen schwappten über den Rand ihrer Hüftjeans – bis zum Pullover blieben an die zehn tolle Zentimeter frei, die er immer wieder mit großen Augen nach seinem inzwischen alten Bekannten, einem großen, erhabenen Leberfleck, absuchte. Eine Handbreit unterhalb des Nabels zu Hause, wurde er nur sichtbar, wenn sich das Mädchen nach oben reckte und den Bauch noch ein wenig mehr aus den Jeans rutschen ließ – das Röllchen verschwand für den Moment des Bauchspannens, der Leberfleck grüßte. Dies war jedes Mal ein erhebender Augenblick.

Sehnte er sich danach? Die Korrekturarbeit für den kleinen Verlag, der ihn nur schlecht bezahlen konnte, lag erst zur Hälfte bewältigt vor ihm, aber der Hunger schoss so plötzlich ein, dass er den Stift geradezu in die Ecke pfefferte und nach den Schuhen im Flur lief, die Jacke überwarf und den karierten Sherlock-Holmes-Hut aufsetzte. Im Treppenhaus fiel ihm ein, dass sein Geld noch in der gestrigen Hose steckte und vermutlich mit ihr im Wäschekorb gelandet war. Also musste er noch einmal zurück. Als er die Tür erneut abgeschlossen und sich umgedreht hatte, um die Treppe hinunterzulaufen, sah er die Katze. Sie saß auf dem Brett des Treppenhausfensters. Soweit er wusste, gehörte niemandem im Haus ein Tier, und er war stets froh gewesen darüber. Seine Allergie hatte ihm, als er noch in Studentenwohngemeinschaften mit Hund und Katz gelebt hatte, übel mitgespielt. Wieder und wieder hatte er sich zum Arzt geschleppt, mit verquollenen, verkrusteten Augen und asthmatischen Anfällen, bis endlich einem die erlösende Idee gekommen war. Ein Test hatte bestätigt: Tierhaare und Beifußpollen waren Gift für ihn. Zwar konnte er sich nicht erklären, warum er in seiner Kindheit davon nichts bemerkt hatte, seine Eltern hatten neben den vier Kindern auch ihre Hunde, Meerschweine und Rennmäuse geliebt, aber so war es eben: Kaum war er achtzehn gewesen, hatte es angefangen. Genau erinnerte er sich des ersten Auftretens. Seine Lieblingskatze, er hatte sie Mutschi genannt wie ihre Mutter in einem Dorf bei Anklam, hatte sich irgendetwas Übles eingefangen, apathisch auf dem Teppich gelegen. An Altersschwäche war nicht zu denken gewesen, Mutschi war gerade erst zwei Jahre alt geworden. Also musste ein Tierarzt aufgesucht werden, und natürlich hatte er bereitwillig diese Aufgabe übernommen. Da sie noch nicht lange in der damaligen Wohnung lebten, hatte er die Nachbarn nach einem Veterinär in der Nähe gefragt. Weiland aus dem dritten Stock hatte ihm den Weg gewiesen, nur einmal um den Block und auf die andere Straßenseite. Als er dort stand, hatte er lachen müssen. Der Tierarzt hieß Mutschmann. Ein großer, hagerer, freundlicher Typ mit Nickelbrille und einem schüchtern zu nennenden Lächeln. Zunächst hatte er wissen wollen, wie das Tier heiße. Ein kosendes »Mutschi« war an dieser Stelle nicht gefallen, zu bedrohlich hatte ein nicht zu beherrschendes Lachen im Zwerchfell gehockt. Stattdessen war seinem Glucksen »Uschi Weigel« entschlüpft. Der Tierarzt hatte einen Moment verdattert dreingeschaut, den Namen dann aber gehorsam notiert, wenig später eine Vergiftung diagnostiziert, Uschi Weigel ein Vorderbein rasiert und eine Infusion gelegt. Der Anblick des nackten Vorderbeins, wie es dünn, blaugrau und vernadelt auf weißem Zellstoff gelegen hatte, war womöglich zu viel gewesen, jedenfalls hatte die Allergie an jenem Vormittag ihren Anfang genommen.

Er versuchte, in größtmöglichem Abstand an dem Tier vorbeizueilen, doch die Katze sprang vom Fensterbrett und ihm geradezu zwischen die Füße, er musste sich am Geländer festhalten, um nicht die Treppe hinabzustürzen. Die Katze schnurrte, reckte den Schwanz und buckelte um seine Waden, wobei sie ihren Kopf an seinen Beinen rieb. Er konnte nicht anders, als in die Knie zu gehen und ihr in die Augen zu schauen. Pummelig und gemütlich kam sie ihm vor, wie sie sich in aller Katzenseelenruhe an ihm schubberte. Er seufzte, als er daran dachte, in welchem Zustand er sich über kurz oder lang wiederfinden würde. Dennoch glitten seine Finger durchs weiche Fell, und tatsächlich fühlte er Katzenspeck. Er setzte die Tigerin zurück aufs Fensterbrett, nahm an, dass jemand aus dem Haus sie sich vor Kurzem angeschafft hatte und sie durch eine geöffnete Wohnungstür entkommen war. Unsicher, ob sie dort sitzen bleiben würde, behielt er sie bis zum nächsten Absatz im Auge, aber sie machte weder Anstalten, ihm zu folgen noch sich anderweitig zu trollen.

Draußen war es ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit. Er schloss überrascht die Jacke und klappte den Kragen hoch, die Ohrenschützer der Mütze herunter, obwohl er nur die Straße zu überqueren hatte. Heute dachte er daran, die Reisigbesen zu untersuchen. Tatsächlich schien ihm der linke abgenutzter als der rechte zu sein, als ihm aufging, dass es sich mitnichten um Besen, sondern um zum Schmuck aufgestellte Gebinde handelte. Er lächelte, als er die Pizzeria betrat. Sie war leer. Das Mädchen hockte hinter dem Tresen mit einem Buch in der Hand. Lesend hatte er sie noch nie gesehen. Sie war offenbar so vertieft in die Lektüre, dass sie ihn nicht bemerkte. Zunächst unschlüssig, ob er sich räuspern oder laut auftreten sollte, setzte er sich schließlich leise an den nächstgelegenen Tisch. Schaute sie an. Sie kam ihm auf eine merkwürdige Weise, die nichts mit seiner tatsächlichen flüchtigen Kenntnis ihrer Person zu tun hatte, bekannt vor. So, als wüssten seine Finger, wie sie sich anfühlte, ihre mundwarme Haut. Verstohlen und verwundert blickte er auf seine Hände hinab und drehte sie, als gehörten sie mit ihren augenscheinlichen Erinnerungen nicht zu ihm. In diesem Moment bemerkte sie ihn, hatte die Bewegung möglicherweise aus den Augenwinkeln wahrgenommen, und legte ruhig und, wie ihm schien, auf entschlossene Weise das Buch auf ein Regal über dem Tresen. Sie straffte sich, hatte offenbar Mühe, in die Realität einer durchschnittlichen Pizzeria in einer durchschnittlichen deutschen Stadt zurückzukehren.

Ein Pils?

Nein, nach Bier war ihm nicht gerade. Auch der Hunger schien abhanden gekommen. Was wollte er hier? Das Mädchen musterte ihn mit fragendem Blick. Seine Hände hielt es vor der Brust gefaltet und wartete ab, aber kein Wort fiel. Stattdessen hörte er auf einmal das Tropfen des Wasserhahns über dem Spülbecken, die leise dudelnde Musik aus dem CD-Player und seinen eigenen Herzschlag, für den er sich auf der Stelle schämte. Röte fühlte er auf seinem Gesicht, seinem Hals. Zum Glück war der Kragen unverändert hochgeschlossen, nicht einmal die Mütze hatte er abgenommen. Mit beschwichtigender Geste ging er daran, rückwärts aus dem Lokal zu verschwinden. Draußen atmete er erst einmal tief durch und machte sich auf zu einem langen Spaziergang, der ihn über die Krämerbrücke und den Domplatz bis zur Mittelstraße führte, wo er früher gewohnt und wo es Katzen zuhauf gegeben hatte. Daran erinnerte er sich, als er vor dem Haus mit der Nummer 9 stand, seinem Haus. Schimmel war vormals über die Parterrewände gekrochen, auch von außen auf den schmutziggrauen Mauern gut sichtbar. Heute stand das Gebäude mit terracottafarbener Fassade und an den Wohnzimmern über ein haushohes Stahlgestell angebrachten Balkonen in der Dämmerung. Die Makellosigkeit hielt ihn davon ab, hineingehen zu wollen, was nicht gelungen wäre, ohne bei einem der Bewohner zu klingeln und um Einlass zu bitten. In alten Zeiten waren die Katzen durch die ständig offen stehende Haustür gehuscht, einmal hatte sogar eine von ihnen entbunden in einem unter der Treppe für die Kleidersammlung abgestellten Karton mit Mänteln und Anoraks. Er musste husten, vermutete die ersten Anzeichen des allergenen Schubes, wandte sich ab und lief weiter.

Wie er nach Hause gekommen war, wusste er später nicht. Seine Sinne setzten erst wieder ein, als er im Treppenhaus die Katze auf dem Fensterbrett sah, die dort hockte, als seien nicht zwei oder drei Stunden vergangen. Sie blinzelte apathisch, was ihn verwunderte, denn er hatte Katzen als Tiere in Erinnerung, die auf ein Anschalten der Beleuchtung schreckhaft reagierten. Vielleicht war sie blind? Etwas wie Mitleid kam auf, das sich auch nicht legte, als sie ihn, während er die Treppe weiter hinaufstieg und sie zu Prüfzwecken im Auge behielt, träge mit Blicken verfolgte. Abwesend, wie ihm schien.

Als er später vor dem Fernseher saß, wunderte er sich beiläufig darüber, dass der Schub ausblieb. Keine verquollenen Augen, kein Tränen- und Schnupfenfluss, kein andauerndes Niesen. Dabei hätte ihm das an diesem Tage geradezu gepasst, hätte er sich doch guten Gewissens ins Bett legen und die Arbeit Arbeit sein lassen können … Seufzend erhob er sich nach den Nachrichten und schlurfte zum Schreibtisch hinüber. Eigentlich interessierte ihn der Essay über Pier Paolo Pasolini, er hatte sich sogar eine DVD-Box gekauft und die Filme mit angehaltenem Atem angeschaut. Seine Gedanken aber drifteten, er hatte Schwierigkeiten, sich jetzt auf Pasolini einzulassen, und das hätte er tun müssen, um seinen eigenen Ansprüchen ans Korrekturlesen zu entsprechen. Ihm fiel plötzlich ein, dass er in einem Monat vierzig Jahre alt werden würde, und ebenso plötzlich kam ihm die Idee, Freunde und Verwandte in die gegenüberliegende Pizzeria einzuladen, wo man sicher froh wäre über eine große Gesellschaft für einen Abend … Sein Atem stockte merkwürdigerweise, als er hinüberschaute: Das Mädchen stand im Schatten des linken Kübels und rauchte, und wie sie hinaufschaute zum Himmel, glaubte er im Licht der Straßenlaterne in Katzenaugen zu sehen. Und entstieg etwa den knappen Unterhüfthosen ein Schwanz, dessen wedelnder Schatten auf dem Trottoir auszumachen war? Er schloss für einen Moment die Augen.

Am nächsten Morgen lag eine Liste mit mehr als fünfzig einzuladenden Personen neben seinem Bett. Irgendetwas hielt ihn gepackt, brachte eine sich selbstverständlich anfühlende Heiterkeit auf, deren Ursprung, als er ihm nachging, offenbar in seinem Bauch lag. Er musste aufstoßen und nahm überrascht Spuren von Gorgonzola, Walnüssen und Radicchio wahr, mit denen seine Lieblingspizza Gorizia stets reichlich belegt war, die er aber vor drei oder vier Wochen zum letzten Mal gegessen hatte. Sonderbar. Er hatte nichts zu sich genommen, das im Nachklang ausgerechnet an diesen Geschmack erinnern könnte, und ging sich schnell einen Kaffee zapfen am Vollautomaten in der Küche. Mit braunem Rohrzucker schmeckte er ihm am besten, er bediente sich reichlich, kam schließlich mit der Tasse in der Hand zurück zum Schreibtisch und schaute über die Straße. Geschlossene Fensterläden und ein Gitter vor der Tür der Pizzeria. Es war noch früh, er schob die linke Hand in die hintere Hosentasche und trank. Zwischen den kleinen Schlucken hielten ihm seine Zungenknospen noch immer Walnüsse vor wie eine Mahnung, den Geburtstag nicht zu verdrusseln, und so setzte er sich schließlich an den Laptop, um eine Einladung zu entwerfen. Die zweiundfünfzig Anreden wollte er wie die Unterschrift mit der Hand einfügen und so jedem noch ein persönliches Leckerli in Aussicht stellen, aber den Text schrieb er mit rascher Hand herunter. Um das Datum einfügen zu können, würde er die Rücksprache mit der Pizzeria abwarten müssen, und als er beiläufig wieder hinüberschaute, sah er das Mädchen, das sich nach dem unteren Schloss des Gitters bückte. Auf einmal wusste er, woran es ihn erinnerte: Es buckelte den Rücken wie die Katze, die gestern im Treppenhaus gesessen hatte! Als sie sich aufrichtete und umdrehte, schienen ihre Bewegungen denen der Tigerin so ähnlich, dass ihm schwarz wurde vor Augen, und seine Finger erinnerten sich unvermittelt des Katzenspecks. Schließlich schoss auch noch der Impuls, den Mädchenspeck kneten zu wollen, ein, dass er sich setzen musste und ungläubig seine Hände betrachtete. Er fühlte sich großartig, was ihn augenblicklich erschreckte, und er floh den Wirrwarr der Anwandlungen in seine Jackenärmel und Schuhe, die aber offenbar nichts anderes vorhatten, als ihn auf schnellstem Wege in die Pizzeria zu bringen. Auf der Treppe sah er gekonnt am Fenster vorbei. Sein Kopf hatte die Katze zu einem virtuellen Mätzchen degradiert, schließlich war ja auch die Allergie ausgeblieben.

Das Mädchen schien ihn erwartet zu haben. Jedenfalls kam es ihm so vor, als sie im Moment seines Eintretens langsam zu den Tischen trat und begann, die Stühle herunterzunehmen, die sie gestern zum Fegen und Wischen des Gastraums umgekehrt darauf abgesetzt hatte. Ihre Bewegungen waren ungemein geschmeidig, er staunte darüber, weil sie pummelig war. Wie die Katze in deinem Treppenhaus, schmierte sein Geist ihm in großen Buchstaben vor die Augen.

Ja, sagte er laut, du hast recht und ich habe Hunger.

Das Mädchen sah ihn mit großer Selbstverständlichkeit an, behielt ihn ein wenig länger im Blick, als schätze sie ab, was er brauche, und ging dann daran, ihm in der Küche zwei Eier in die Pfanne zu hauen. Aus der Tasche holte sie frisch duftendes Brot, schnitt es auf und richtete die Eier darauf an.

Ich habe so lange auf dich gewartet, sagte sie sanft, ich wusste nicht, dass Du es bist.

Er verstand und verstand nicht, aber er legte seine Arme um ihre Hüften und küsste sie. Den ganzen Tag verbrachte er im Gastraum, half ein paar Mal beim Spülen der Gläser. Mehr war nicht drin, denn der Koch verbat sich und ihm das Betreten der Küche. Wenn sie eine Verschnaufpause hatte, stellte er sich mit ihr neben die umgekehrten Reisigbesen und rauchte, ganz gegen seine Prinzipien. Dabei besprachen sie die Feier zu seinem vierzigsten Geburtstag. Er wusste, er war nicht bei sich und doch so sehr er selbst wie noch nie in seinem Leben, woraus er schloss, dass das Nicht-bei-sich-sein womöglich seine innerste Bestimmung gewesen war. Ruhig schloss das Mädchen am späten Abend die Gittertür, nachdem er die Stühle auf den Tischen deponiert und sie den Fußboden gewischt hatte.

Sie trug eine große Tasche bei sich, mit der sie am Morgen nicht gekommen war, die sie aber für diesen Tag in ihrem Spind gelagert hatte. Die Tasche enthielt das, was sie mitzunehmen gedachte, falls doch einmal etwas geschah, das sie zum Leben brauchte. Er nahm ihr das Gepäck ab, es wog leicht. Gemeinsam gingen sie über die Straße. Im Treppenhaus machte er Licht an. Es schien ihm, als wischte im Moment ihres Eintretens eine grau getigerte Katze zwischen seinen Beinen nach draußen.

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AM ROTEN FADEN

 

 

 

 

Sie fand es bestrickend, seine Zehen langsam unter der Decke hervorkommen zu sehen, wenn sie sie hinaufzog, ein Stück zu sich heran. Je höher sie rutschte, desto empfindlicher reagierte er offenbar auf die eintreffende Kälte, sie stellte auch im Winter die Heizung in ihrem Schlafzimmer niemals an, und wie die dunklen Haare der Beine sich aufrichteten, verursachte ihr stets und ständig ein leises, schütteres Frösteln der Lust. Leider musste sie immer viel zu schnell aufstehen, wenn er noch schlief und die Schlafwärme ihn gefangen hielt in wohliger, wörtlich zu nehmender Umnachtung, denn sie fuhr Zeitungen aus und musste dafür schon zwei Stunden nach Mitternacht aufstehen. Sie löschte seufzend wieder das Licht, um ihn nicht aufzustören. In der kleinen Küche brühte sie sich einen Kaffee und nahm eine Scheibe Toast, die sie mit möglichst roter Marmelade bestrich. Manchmal, wenn er eingekauft hatte, gab es nur gelbe Marmelade oder Pflaumenmus. Dann ging sie auf die Suche nach einem Stückchen Käse, einem Eckchen Wurst, und wenn sie etwas gefunden hatte, aß sie es auf und wusste, dass sie fürs Abendbrot nun erneut würde einkaufen gehen müssen. Einkaufen war eine der verhasstesten Tätigkeiten, die sie kannte. Jedes Mal fühlte sie sich vorgeführt, wenn sie die Sonderangebote oder besonders billigen Waren an der Kasse aufs Band legte. Für mehr reichte es nicht, trotz ihres Zeitungsaustragens, das sie mit dem Familienauto erledigte. Dass sie es noch nicht abgeschafft hatten, hatte mit eben diesem Job zu tun, obwohl sie sich manchmal fragte, ob das die Sache wert sei, denn sie verdiente damit nur unwesentlich mehr als der Wagen Kosten verursachte. Ihre vier Kinder waren zwar aus dem Gröbsten heraus, wie Nachbar Laurer immer irgendwie erleichtert zu sagen pflegte, aber das Gröbste konnte sich nur auf Windeldreck und nasse Betten beziehen, denn sie gingen zur Schule, und den dortigen Umgang miteinander konnte sie nun wirklich nur als gröblichst bezeichnen. Ihrem jüngsten Sohn hatte sie gesagt, dass kein Geld da sei, um Yu-Gi-Oh-Karten zu kaufen. Darüber freute sie sich eigentlich, denn diese Karten, so stellte sie sich vor, beulten unweigerlich die Hirne der Kinder ein, die sie tauschten und besaßen und besaßen und tauschten und wilde Schlachten darum führten, die auch vor Diebstählen und Intrigen nicht haltmachten.

Zwei Stunden nach Mitternacht stellte sie schließlich noch fünf Frühstücksteller auf den Tisch und die Dinge, die Kinder und Mann brauchen würden für ihren Tagesbeginn. Ihre Stullen schmierten sie selbst, und wenn Wurst und Käse aufgegessen waren wie heute, briet sie ihnen schnell noch Eierfladen, die bis zum Morgen abgekühlt sein würden, sodass man sie zwischen die Brotscheiben legen konnte. Nach sieben Uhr, wenn sie zurückkam, legte sie sich wieder ins Bett und verpennte den Vormittag, um gegen 12 Uhr aufzustehen und sich ein Mittagessen einfallen zu lassen. Den Kindern, wenn sie aus der Schule kamen, versuchte sie ausgeschlafen und freundlich zu begegnen, was ihr nicht immer gelang.

Heute kam sie triefend zurück, der durchdringende Regen hatte sie auf den nur kurzen Sprüngen zwischen Auto und jeweiligem Briefkasten vollständig erwischt, und sie nahm ein heißes Bad, um die Erkältung vielleicht noch abzuwehren, die sich schon ankündigte mit Frostzittern und Nasenfluss. Warm anziehen wollte sie sich danach, und sie griff nach einem der drei, vier gestrickten Pullover, die sie besaß und sonst mied wie der Teufel das Weihwasser. Sie mochte sie einfach nicht, sie fühlte das Kratzen noch durch die Blusen hindurch, die sie darunter anzuziehen versuchte, und selbst wenn ihre Mutter ihr vor dem Stricken die Wolle zur Auswahl vorgelegt, sie sie an der Halsbeuge gerieben und ausprobiert hatte, kam nach dem Stricken doch immer wieder etwas Kratziges heraus. Reizend, sagte sie stets, wenn sie ein solches Geschenk bekam, und wie sie das meinte, wusste nur sie selbst. Heimlich hatte sie die Pullover an Freundinnen verschenkt, hatte nur wenige behalten, die sie immer dann anzog, wenn die Mutter vorbeirutschte, sie zu besuchen. Sie litt an schlechtem Gewissen und hielt ihren Schrank fest verschlossen, den Schlüssel trug sie gewohnheitsmäßig meist in der Hosentasche mit sich herum. Ihre Mutter hatte ihr sogar ihre Strickmaschine geschenkt, ein altes Ungetüm, das lange Zeit unbeachtet im Winkel zwischen Kleiderschrank und Wand dahindämmerte. Sie hatte das Maschinenstricken aufgegeben, als ihre Sehkraft nachließ und es ihr zu mühselig wurde, den Faden um die Häkchen zu schlingen für einen Maschenanschlag. Dafür strickte sie nun umso wilder mit der Hand und sogar so, dass es den Kindern ganz gut gefiel. Manchmal gaben sie ein Modell in Auftrag, und hatte nicht auch ihr Jüngster neulich bei der Oma einen Yu-Gi-Oh-Pullover bestellt? Den diese ihm mit Sicherheit stricken würde? Sie lächelte, hatte ein langärmeliges Angora-Unterhemd unter den Pullover gezogen und sah sich flüchtig im Spiegel – ein rosa Flauschdrachen mit Fledermausärmeln.

Als sie die Werbung in Augenschein nahm, die sie unten aus dem Briefkasten genommen hatte, kam ihr ein kleines rotes Zettelchen unter, das eine Schrottabfuhr versprach, und als sie auf das Datum sah und feststellte, dass es um den heutigen Tag ging, musste sie an die alte Maschine denken. Sie holte sie hervor. In einem Karton oben auf dem Schrank war das Zubehör verstaut worden, verschiedene Deckernadeln, Kämme und Gewichte. Intarsienschloss las sie auf einem kleineren Kästchen, das, als sie es öffnete, ein undefinierbares Etwas enthielt. Das Wort aber gefiel ihr. Ihre Vorstellungen von einem Intarsienschloss ließen nicht lange auf sich warten, sie sah kunstvoll gearbeitete Holztüren zu einem Thronsaal, dessen Wände und Decken mit exzellenten Einlegearbeiten versehen waren. Lächeln musste sie auf einmal, und als sie die Maschinenteile sortiert hatte in reinen Schrott und solche mit Kunststoff, die sie gemäß verordneter Mülltrennung anderweitig zu entsorgen gedachte, glitten ihre Finger so selbstvergessen über die vielen kleinen Nadelhäkchen, dass sie sich auf einmal wunderte, noch nie gestrickt zu haben in ihrem Leben. Maschinenstrickgarn lagerte ganz unten im Kleiderschrank, unter den Röcken und Hosen, die ordentlich auf der Stange hingen. Als sie den Kasten durchsah, fand sie ein ganz passables Rot und schaute nach der Gebrauchsanweisung, die sie schon für den Papiermüll beiseitegelegt hatte. Zum Aufbau der Doppelbett-Maschine mit allen erdenklichen Teilen brauchte sie zweieinhalb Stunden, und als sie damit fertig war, schlief sie erschöpft ein.

Die Kinder kamen aus der Schule. Kein Mittagessen wartete auf sie und sie nahmen es nach einem vorsichtigen Blick ins Elternschlafzimmer selbst in die Hand, sich Nudeln zu kochen, deren Vorrat stets reichlich war. Sie aßen sie mit Butter und Maggi, etwas, was ihre Mutter nicht ohne längere Diskussion über die nötige Vollwertigkeit der Ernährung, über Vitamin- und Eiweißgehalt, wahrscheinlich aber gar nicht gestattet hätte – und waren froh. Aus dem Tiefkühler holten sie sich zur Feier des Tages noch ein Eis, und hätte der Jüngste besser aufgepasst, wäre beim Schließen der Kühlschranktür nicht auf den Fliesen ausgerutscht und hätte sein lautes Geschrei zurückhalten können, so wäre sie womöglich erst zum Abendbrot wieder herausgekommen aus ihrer Höhle. So aber stand sie plötzlich mit dicken Klüsen, wie ihr Mann ihre vom Schlaf verquollenen Augen nannte, unter ihnen. Sofort hörte der Kleine auf zu jaulen und sah sie erfreut an, drückte seinen Kopf in ihren Schoß. Es war wieder gut. Sie setzte sich und nahm einen Teller Nudeln, die sie mit Ketchup versetzte. Für Butter und Maggi wären sie ohnehin schon zu kalt gewesen, obwohl sie überlegt hatte, sich heute den Freuden der Kinder einfach anzuschließen. Schließlich freute auch sie sich: darüber, dass die Kinder sich selbst bekocht und sie hatten schlafen lassen. Die Reden gingen wild durcheinander, zu groß die Mühe, sich hineinzufinden, sodass sie still ihren Gedanken hinterhersah, die sich wie kleine weiße Mäuse in den Fenstervorhängen verhakelten, hinaufkletterten auf die Gardinenleiste, ihr von dort einen Gruß schickten und dann durch das geöffnete Fenster davongingen. Ein schöner, kalter Tag. Ruhe ringsum. Das Häuschen, das die Mutter ihnen überlassen hatte, als sie in eine kleine Neubau-Wohnung zog, mit Fernheizung und Kochnische, lag inmitten einer vormaligen Gartenkolonie. Aufgrund der Grundstücksgrößen, die weit über das Schrebergartenniveau hinausgingen, war sie zum Entwicklungsgebiet deklariert worden, und rings um ihr kleines, altes Haus hatte man neue aus dem Geschiebemergel gestampft. Die Heizung hatten sie erneuern lassen, als sie noch beide in Lohn und Brot standen, zum Glück. Seitdem waren aber nun zehn Jahre ins Berliner Umland gegangen. Die Fenster waren allesamt undicht und verzogen, gehörten ausgetauscht. Die Fassade stand ungedämmt und in durchlöchertem Grau gegen den heute so blauen Himmel, und der Gartenzaun stammte aus den Anfangsjahren des vergangenen Jahrhunderts. Eigentlich ein schöner Drahtzaun, mit kleinen Flechtgittern und einem Tor, das sich in großem Bogen über den Eintretenden wölbte, aber auch er hatte eine grundlegende Reparatur nötig, war an vielen Stellen zu flicken, und die Pfosten, die das Geflecht hielten, mussten zum Teil ausgetauscht werden gegen neue. Eine Arbeit, die sie sich durchaus zutraute, sogar das Betonmischen war eine ihr nicht unbekannte Tätigkeit, aber wenn sie vormittags schlief und die Nachmittage den Kindern gehörten, blieb nicht viel Zeit. Sie seufzte. Sah den Gedanken zu, die wieder eintrudelten durchs Fenster. Aber sie machten keineswegs halt bei den Kindern, sondern liefen im Rudel hinaus aus der Küche, über den Flur hinein ins Schlafzimmer, wo die Strickmaschine aufgebahrt stand. Der alte Tisch war nun doch zu etwas gut, musste sie denken, so viele Male hatte ihr Mann ihn schon zerhacken wollen! Sie ging hinterher, nachdem sie die Kinder an ihre Hausaufgaben geschickt hatte, und schaute in der Anleitung nach, wie das Ungetüm zu bedienen war. Nach einiger Zeit waren die ersten Reihen gestrickt, in unterschiedlicher Festigkeit, die sie zum Probieren ein paar Mal neu eingestellt hatte. Sie staunte. Das rote Garn hatte sich in eine verblüffende Flächigkeit hineinbegeben, die unterschiedlich großen Löcher zwischen den Maschen verlockten zum Hindurchsehen. Schließlich drehte sie den Knopf in jene Einstellung, die das festeste Gestrick versprach, und begann, mit den Deckernadeln zu arbeiten, Zöpfchen über die ganze Breite zu flechten und ein Rechts-Links-Muster auszuprobieren. Am Ende hatte sie ein Stück gestrickt, das bei achtzig Zentimeter Breite beinahe drei Meter lang war, als sie nachmaß.

Eingekauft hatte sie nicht … Mit zwei Quadern H-Milch kochte sie Grießbrei, zu dem sie Zucker und Zimt auf den Tisch stellte und selbst gemachtes Apfelmus.

Ihr Mann kam übermüdet nach Hause, er arbeitete als Vertreter für einen kleinen Hersteller orthopädisch angehauchter Schuhe aus Westfalen und tourte in ganz Ostdeutschland herum, seine Sachen an den Mann oder die Frau zu bringen. Heute hatte er nur bis Cottbus fahren müssen und einige kleinere Schuhgeschäfte in den Städten und Städtchen auf dem Weg dorthin mitgenommen. Er schlief zu wenig. Auch wenn er morgens beschwingt ins Auto stieg, einen Firmenwagen der Marke Volvo, so kam er dennoch stets und ständig grau angelaufen nach Hause. Er war nun auch schon in der zweiten Hälfte der Vierziger angelangt, vielleicht forderte das Alter schon seinen Tribut? Ihrer Lust auf ihn tat das keinen Abbruch, und auch er konnte sich dem Reiz des Vertrauten in der Regel nicht entziehen, wenn er ihre nackten Brüste in seinem Rücken spürte oder ihren Hintern in der Schoßbeuge. Schön mit ihm, dachte sie und nahm einen weiteren Teller aus dem Schrank. Die zwei Liter reichten gerade so, sie selbst nahm nur ein, zwei Löffelchen.