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Als Paul Kingsnorth das erste Mal die Schriften von Ted Kaczynski liest – dem sogenannten Unabomber, der zwischen 1978 und 1995 die USA mit einer Serie von Briefbombenattentaten in Atem hielt –, ist er schockiert: weil er sich in seiner Verzweiflung über die Zerstörung unserer Umwelt in dem Terroristen wiedererkennt. Bei ihm selbst hat die Trauer und die Wut darüber, wie das techno-industrielle System nicht nur natürliche, sondern auch kulturelle Weltzusammenhänge auslöscht, eine Depression ausgelöst. Doch anders als der ehemalige Mathematiker Kaczynski greift Kingsnorth nicht zum Sprengsatz, sondern zur Sense, die ihm in diesem Essay als Metapher für eine angemessene und verwurzelte Technologie dient. So entwickelt er tastend einen Kodex des Lebens in einer nachnatürlichen Welt, der es ihm erlaubt, der eigenen Verzweiflung mit Struktur zu begegnen. Dunkle Ökologie ist ein aufrührerisch radikaler, ein schmerzhaft ehrlicher Essay von einem, der die unwiderrufliche Entfremdung zwischen Mensch und Natur, die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Spaltung zwischen Vernunft und Instinkt nicht mehr aufzulösen sucht.
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Seitenzahl: 50
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Paul Kingsnorth —
Aus dem Amerikanischen von Kevin Vennemann
Naturkunden
NATURKUNDEN NO. 115
herausgegeben von Judith Schalansky
bei Matthes & Seitz Berlin
»Nimm den letzten Baum, Steck ihn dir ins Loch deiner Kultur.«1
Leonard Cohen
»Zurück in die Wüste! Und kämpft!«2
D. H. Lawrence
Der Griff, der je nach Körpergröße des Benutzers variiert und unter Umständen von diesem Benutzer gemäß seiner oder ihrer Spezifikationen extra hergestellt wird, hat, genau wie alle anderen Teile des Werkzeugs, einen eigenen Namen und deshalb auch einen eigenen Charakter. Genau wie die meisten anderen hierzulande nenne ich ihn den Sensenwurf, snath auf Englisch, obwohl auch Varianten wie snathe, snaithe, snead und sned existieren. Am Sensenwurf sind zwei Griffe befestigt, die je nach Körpergröße des Benutzers justiert werden können. Am unteren Ende des Sensenwurfs befinden sich ein kleines Loch, ein Schutzring aus Gummi und ein metallener D-Ring mit zwei Imbuseinsätzen. In diese kleine Vorrichtung schiebt man die Hamme der Klinge.
Dieser dünne Halbmond aus Stahl ist der Mittelpunkt des ganzen Werkzeugs. Von dem Oberbegriff Klinge geht eine Vielzahl sich unablässig weiterentwickelnder Gattungen aus, von denen jede einzelne nach neuen Nischen sucht, um sie zu kolonisieren. Zu meiner Sammlung gehört eine Vielzahl von Grasklingen verschiedener Stile, die jeweils zwischen 60 und 85 Zentimeter lang sind – jeweils eine der Marken Luxor und Profisense, mehrere österreichische Klingen und eine neue, elegante von Concari Felice, die ich noch nicht einmal ausprobiert habe. Außerdem habe ich ein paar Grabenklingen (die, trotz des Namens, nicht ausschließlich dazu benutzt werden, Gräben zu mähen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um Allzweckschneidewerkzeuge, die mit einfach allem fertigwerden – von feinem Gras bis hin zu wilden Dornenbüschen) und einer Gebüschklinge, die so dick ist wie eine Hippe und sogar kleine Bäume niedermähen kann. Dies sind die großen Säugetiere, die man sehen und hören kann. Unter ihnen und rum um sie herum wuselt eine Vielzahl von Konkurrenten für das Sommergras, die sich viel schwerer ausmachen lassen und dennoch allesamt ihren Platz im Ökosystem des Werkzeugs finden. Natürlich sind all diese Klingen vollkommen nutzlos, solange man sie nicht scharf hält, richtig scharf: scharf genug, dass man, wenn man den Finger nur ganz leicht an der Klinge entlangführt, sofort blutet. Man muss ein paar Steine mit hinaus aufs Feld nehmen und sie regelmäßig benutzen – alle fünf Minuten oder so –, damit die Klinge immer geschärft ist. Und man muss wissen, wie und wann man einen Dengelamboss benutzt. Das englische Verb to peen für »dengeln« ist skandinavischen Ursprungs und bedeutete ursprünglich »Eisen mit einem Hammer dünn schlagen«. Das bedeutet es noch immer. Allein, das Eisen wurde inzwischen durch Stahl ersetzt. Wenn die Kante der Klinge durch Überbenutzung und Überschärfung dicker wird, dann muss man die Kante strecken, indem man sie dengelt – das heißt, man muss die Klinge mit einem Hammer auf einem kleinen Amboss kalt schmieden. Das ist eine ziemlich verzwickte Arbeit. Ich mache dies schon seit Jahren und habe sie noch immer nicht gemeistert. Wahrscheinlich werde ich sie nie vollkommen meistern, so wie man im Grunde niemals wirklich irgendetwas vollkommen meistert. Diese unvollkommene Meisterschaft und das Versprechen, dass man sie eines Tages vielleicht doch erlangen könnte, gehört zu der komplexen Schönheit dieses Werkzeugs.
Etymologie kann sehr interessant sein. Scythe, das englische Wort für »Sense«, ursprünglich sithe geschrieben, ist ein altenglisches Wort, was andeutet, dass das Werkzeug hierzulande bereits seit mindestens einem Jahrtausend benutzt wird. Die Archäologie jedoch datiert den Ursprung der Sense hierzulande noch viel früher. Man hat römische Sensen mit fast zwei Meter langen Klingen gefunden. Einfache, gebogene Werkzeuge, die zum Grasschneiden benutzt wurden, sind mindestens 10000 Jahre alt, stammen also aus der Zeit rund um den Beginn der Landwirtschaft und deshalb auch der Zivilisation. Genau wie das Werkzeug hat auch das Wort noch ältere Ursprünge. Die protoindoeuropäische Wurzel der Worte scythe und »Sense« ist das Wort sek, was »schneiden« bedeutet oder »trennen«. Sek ist auch das Wurzelwort von »Sichel«, »Säge«, »Schisma«, »Sex« und vom englischen Wort science für »Wissenschaft«.
*
Vor Kurzem habe ich damit begonnen, die gesammelten Werke von Theodore Kaczynski zu lesen. Ich mache mir Sorgen, dass dieses Buch mein Leben verändern könnte. Einige Bücher tun so etwas ja manchmal, und dieses Buch entwickelt sich allmählich zu einem solchen.
Es ist nicht, dass Kaczynski, der ein erbitterter, kompromissloser Kritiker des techno-industriellen Systems ist, irgendetwas sagt, das ich nicht schon vorher einmal so gehört hätte. Ich habe das alles schon gehört, sogar schon viele Male. Selbst seinem eigenen Eingeständnis zufolge sind seine Argumente nichts Neues. Die Klarheit jedoch, mit der er sie vorträgt, und seine Weigerung, nur irgendetwas im Unklaren zu belassen, sind erfrischend. Ich scheine mich an einem Punkt meines Lebens zu befinden, an dem ich offen dafür bin, mir das alles noch einmal anzuhören. Ich weiß nicht ganz genau, warum das so ist.
Dies sind die vier Prämissen, mit denen er sein Buch beginnt:
1. Der technologische Fortschritt wird uns in den unvermeidlichen Untergang treiben.
2. Nur der Kollaps der modernen, technologischen Zivilisation kann den Untergang noch verhindern.
3. Die politische Linke ist die erste Verteidigungslinie der technologischen Gesellschaft gegen die Revolution.
4. Was wir brauchen, ist eine neue revolutionäre Bewegung, die sich der Eliminierung der technologischen Gesellschaft widmet.3
Kaczynskis Prosa ist karg, und seine Argumente sind logisch und unsentimental, genauso, wie man es von einem früheren Mathematikprofessor mit einem Harvard-Abschluss erwarten kann. Ich tendiere zur Sentimentalität, was diese Dinge angeht, deshalb schätze ich seine Disziplin. Ich habe bereits etwa ein Drittel des Buches gelesen, und die Art und Weise, wie diese vier Argumente ausgearbeitet werden, ist so überzeugend, dass es mich wirklich beunruhigt. Vielleicht handelt es sich dabei nur um das, was die Forschung als »Bestätigungsfehler« bezeichnet, doch es fällt mir wirklich schwer, irgendeinem seiner Argumente gute Gegenargumente entgegenzubringen, und das gilt auch für das letzte. Ich sage »beunruhigt«, weil ich Kaczynski nicht zustimmen will. Dafür gibt es zwei Gründe.