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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 111: Verschmähte Liebe E-Book 112: Was kümmern uns die Leut'? E-Book 113: Ein Mann mit vielen Gesichtern E-Book 114: Er wollte ihr eine Heimat geben E-Book 115: Katharinas neues Glück E-Book 116: Die Macht der Liebe wird uns helfen E-Book 117: Weil sie eine Fremde war E-Book 118: Wer andere auf die Probe stellt E-Book 119: Braut für einen Tag E-Book 120: Er fühlt sich schuldig E-Book 1: Verschmähte Liebe E-Book 2: Was kümmern uns die Leut'? E-Book 3: Ein Mann mit vielen Gesichtern E-Book 4: Er wollte ihr eine Heimat geben E-Book 5: Katharinas neues Glück E-Book 6: Die Macht der Liebe wird uns helfen E-Book 7: Weil sie eine Fremde war E-Book 8: Wer andere auf die Probe stellt E-Book 9: Braut für einen Tag E-Book 10: Er fühlt sich schuldig
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Seitenzahl: 1215
Veröffentlichungsjahr: 2018
Verschmähte Liebe
Was kümmern uns die Leut’?
Ein Mann mit vielen Gesichtern
Er wollte ihr eine Heimat geben
Katharinas neues Glück
Die Macht der Liebe wird uns helfen
Weil sie eine Fremde war
Wer andere auf die Probe stellt
Braut für einen Tag
Er fühlt sich schuldig
Es war ein grauer regnerischer Tag gewesen. Schon seit vorgestern wollte sich die Sonne nicht mehr sehen lassen, und die Vorhersage versprach erst für die kommenden Tage deutliche Besserung.
Carla stand am Fenster ihres Wohnzimmers und schaute mißmutig hinaus. Hinter ihr, auf dem Tisch, stapelte sich ein Haufen Papiere. Seit sie vor ein paar Wochen ihre Mutter beerdigt hatte, schob die junge Arzthelferin das Sichten und Ordnen der Unterlagen immer wieder hinaus.
Es hatte etwas Endgültiges, wenn sie den Nachlaß durchsah. Dabei wußte sie genau, daß niemand, der den letzten Weg gegangen war, zurück kam. Dennoch hatte sie sich bisher nicht dazu durchringen können. Doch jetzt wurde es allmählich Zeit. Auch wenn die Trauer über den schweren Verlust noch lange anhalten würde, so hatte Carla doch bereits Pläne geschmiedet. Das Haus, das der Vater vor gut zwanzig Jahren gebaut hatte, war äußerlich immer noch ein Schmuckstück, innen jedoch standen einige Arbeiten an. Es mußte gemalt und tapeziert werden, neue Möbel wollte Carla anschaffen und vielleicht eines der Zimmer im ersten Stock vermieten. Platz war genug da, und seit Mutter nicht mehr lebte, war es schrecklich einsam geworden.
Aber erst einmal die Papiere!
Die hübsche junge Frau hatte sich Tee gekocht, der auf dem Tisch auf einem Stövchen stand. Sie goß eine Tasse voll, gab Kandis hinein und einen Schuß Sahne obenauf. Carla setzte sich in den Sessel, den ihr Vater immer beansprucht hatte, wenn er am Abend fernsehen wollte, und nahm einen Stoß Papiere in die Hand.
Meistens waren es alte Rechnungen, die ihre Eltern, nachdem sie beglichen worden waren, aufbewahrt hatten. Carla sortierte sie aus; nach acht Jahren würde wohl niemand mehr nachfragen, ob dieses oder jenes Teil nach der Lieferung auch wirklich bezahlt worden war.
Karten mit Urlaubsgrüßen und Briefe von Verwandten, von denen die meisten längst nicht mehr lebten, befanden sich ebenfalls in den Sachen. Carla hatte vor ein paar Tagen den Wohnzimmerschrank leergeräumt und alles auf den Tisch gepackt. Es war unglaublich, was sich da im Laufe der Jahre so alles ansammelte.
Die Arzthelferin, die in Landsberg lebte und arbeitete, sortierte das meiste aus, lediglich die Ansichtskarten wollte sie behalten. Einige waren schon sehr alt, stammten aus den sechziger Jahren, und Carla wußte, daß Sammler für solche Karten oft sehr gute Preise zahlten. Vielleicht war ja das eine oder andere Stück darunter, das sich auf dem Flohmarkt verkaufen ließ.
Carla hatte sich schließlich durch den Haufen gearbeitet. In einem großen Umschlag fand sie persönliche Papiere ihrer Eltern, die sie sorgfältiger durchsah und in einen Ordner ablegte. Zuletzt stieß sie auf einen kleineren Briefumschlag, dessen Aufschrift sie stutzig werden ließ.
Der Umschlag trug unverkennbar die Handschrift ihrer Mutter – und er war an sie adressiert.
»Für Carla«, stand darauf und der Zusatz, »nach meinem Tode zu öffnen«.
Unwillkürlich schlug das Herz der jungen Frau schneller. Sie fuhr sich nervös durch das kurze dunkle Haar und trank rasch einen Schluck Tee, weil ihr Mund plötzlich ganz trocken geworden war. Mit dem Brieföffner schlitzte sie den Umschlag auf, nahm das Blatt Papier heraus und faltete es auseinander.
Die Tinte war verblaßt; ihre Mutter schien den Brief schon vor langer Zeit geschrieben zu haben. Carla vermutete, daß es kurz nach Vaters Tod geschah. Die Arzthelferin las und ließ schon nach der zweiten Zeile das Blatt sinken. Jetzt pochte ihr Herz noch schneller, und sie zitterte am ganzen Körper. Sie wartete, bis sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, und las erneut.
Mein geliebtes Madl,
ich hoffe, daß dieser Brief Dir nicht allzusehr weh tut, aber es gibt etwas, das mir auf der Seele liegt und das Du wissen sollst. Du mußt endlich erfahren, daß Dein Vater, Kurt, nicht Dein leiblicher Vater ist!
Schon oft wollte ich mit Dir darüber reden, doch dann hatte ich Angst, die heile und behütete Welt, in der Du aufgewachsen bist, zu zerstören. Ich mußte die Illusion aufrecht erhalten, um Dich, meine Carla, zu schützen. Denn wenn Kurt auch nicht Dein leiblicher Vater war, so warst Du doch immer seine geliebte Tochter. Er hat Dich adoptiert und Dir seinen Namen gegeben. In einer schweren Zeit war er für mich da, hat mich geliebt und beschützt, und ich war ihm dankbar dafür.
Ich will nicht viel über die Vergangenheit sagen, jene, die noch hinter der Zeit liegt, bevor ich Kurt kennenlernte. Ich habe sie hinter mir gelassen und im Laufe der Jahre beinahe vergessen. Nur eines konnte ich nie vergessen, das Grab, in dem der Mann ruht, der Dein wirklicher Vater ist – Tobias Starnmoser.
Ich hoffe, Du zürnst mir, Deiner Mutter, nicht, daß ich Dir das alles nicht schon viel früher gebeichtet habe. Aber glaube mir, es war besser so. Jetzt lebe wohl, mein Kind. Vati und ich waren immer stolz auf Dich. Vielleicht war ich nicht immer eine perfekte Mutter, aber einen besseren Vater als Kurt Brinkmann konnte ich mir für Dich niemals vorstellen.
Deine Dich liebende Mutter
*
Draußen war es inzwischen so dunkel geworden, daß Carla nach dem Schalter der Stehlampe griff und das Licht einschaltete. Sie saß wie betäubt in dem Sessel und war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie blickte auf das Bild der Eltern – oder mußte sie jetzt vielleicht sagen, ihrer Mutter und Kurt Brinkmann –, das auf der kleinen Anrichte stand, und fragte sich, was sie eigentlich über das Leben der beiden wußte.
Wirklich wußte, nicht das, was sie ihr offenbar vorgespielt hatten!
Solange sie zurückdenken konnte, war Kurt Brinkmann immer ein liebender zuvorkommender Vater gewesen, der ihr jeden Wunsch erfüllt hatte. Bei der Bahn war er angestellt gewesen, und Mutter brauchte niemals arbeiten zu gehen. Es war eine heile Familie gewesen, in der Carla aufgewachsen war, nie, so erinnerte sie sich jetzt, hatte es jemals einen Streit oder auch nur ein böses Wort zwischen den Eltern gegeben, und mit ihr waren sie immer besonders nachsichtig gewesen.
Carla versuchte, sich an Verwandte zu erinnern, die oft zu Besuch kamen, oder zu denen sie hingefahren waren. Am Sonntag, das Madl hübsch zurechtgemacht, im weißen Kleidchen, mit Schleifen im Haar. Die meisten lebten nicht mehr. Zur Beerdigung der Mutter waren außer Onkel Heinrich, einem Bruder ihres Vaters, nur noch zwei ältere Tanten gekommen, Schwestern von Kurt Brinkmanns Mutter, die auch nach dem Tod des Neffen noch Kontakt zu der Witwe gehalten hatten.
Gegenseitige Besuche, vielleicht mal der eine oder andere gemeinsame Urlaub, Hochzeiten und andere Familienfeste, aber das war auch wirklich schon alles, was Carla über die Verwandtschaft wußte.
Über Vaters Verwandtschaft, denn über die der Mutter hatte Brigitte Brinkmann nie gesprochen!
Seltsam, daß mir das jetzt erst auffällt, dachte die Arzthelferin.
Sie nahm noch einmal den Ordner mit den persönlichen Papieren zur Hand. Vorhin hatte sie alle Umschläge, die irgendwie amtlich aussahen, hineingesteckt, jetzt sah sie sich diese Schreiben näher an und nach einiger Zeit entdeckte sie, wonach sie gesucht hatte.
Eine Adoptionsurkunde des Amtsgerichts Landsberg, in der stand, daß Kurt Brinkmann die damals acht Monate alte Carla Starnmoser an Kindes statt annahm.
Seither hieß sie mit Nachnamen Brinkmann.
Sie legte das Dokument in den Umschlag zurück und heftete ihn wieder ordentlich ein. Der Tee in der Tasse war inzwischen kalt geworden. Carla trank ihn trotzdem und stand auf. Sie ging zum Fenster, schaute hinaus zu den regengrauen Wolken. Ihre Phantasie schien ihr etwas vorzugaukeln, als sie da oben ein Gesicht wahrnahm. Ein unbekanntes Gesicht, von dem sie glaubte, daß es Tobias Starnmoser gehörte, ihrem Vater.
Natürlich wußte sie, daß es nur eine Einbildung war, aber der Gedanke an den Mann, dem sie es zu verdanken hatte, daß sie überhaupt auf der Welt war, ließ sie nicht mehr los.
Doch von wem konnte sie mehr über ihn erfahren?
Die Mutter hatte nur den Namen hinterlassen, weil sie nach eigenem Bekunden mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte und offenbar nicht mehr an das, was hinter ihr lag, erinnert werden wollte. Sonst gab es nichts, was auf ihren wirklichen Vater hinwies. Kein Brief, kein Bild, kein weiterer Anhaltspunkt.
Einfach nichts!
Hatte ihre Mutter wirklich all die Jahre nie wieder über ihr früheres Leben gesprochen?
Carla mochte es kaum glauben. Auch wenn Brigitte Brinkmann die Vergangenheit abgelegt hatte, so war sie doch ein Teil ihres Lebens. Etwas, das man nicht einfach so abtun konnte, als hätte es sie nie gegeben.
Je länger die Arzthelferin über das Geheimnis, das ihre Mutter umgab, nachdachte, um so mehr kam sie zu der Überzeugung, daß sie es lösen wollte. Es mußte einen Hinweis geben, irgend jemand mußte etwas wissen.
Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie nicht einmal wußte, wo ihre Mutter geboren worden war. Bisher hatte sie immer angenommen, daß Landsberg, wo auch sie, Carla, auf die Welt gekommen war, der Geburtsort wäre. Doch das schien nicht zu stimmen.
Aber wen konnte sie fragen?
Wenn sie es recht bedachte, dann kam nur Onkel Heinrich in Betracht, Kurt Brinkmanns Bruder, der in der Nähe wohnte. Vielleicht wußte er mehr über die ganze Geschichte, vielleicht hatte Mutter ihm etwas darüber erzählt.
In dieser Nacht fand die junge Frau keine Ruhe. Immer wieder gingen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf, und die Idee, das Geheimnis um ihre Herkunft lösen zu wollen, nahm immer mehr Gestalt an.
Gleich morgen – nein, es war ja schon heute – wollte sie nach der Arbeit zu Onkel Heinrich fahren und ihn fragen, was er darüber wußte. Und wenn es erforderlich war, dann würde sie sich notfalls Urlaub nehmen, um ihre Nachforschungen intensiv betreiben zu können.
Gegen Morgen schlief sie dann doch noch ein und mußte sich mit Gewalt zwingen aufzustehen, als der Wecker klingelte. Auch wenn sie den ganzen Tag gewissenhaft arbeitete, konnte Carla doch kaum den Feierabend erwarten. Sie verabschiedete sich rasch von den Kolleginnen und setzte sich in ihr Auto.
Hoffentlich konnte Onkel Heinrich ihr weiterhelfen!
*
Heinrich Brinkmann lebte in seinem kleinen Haus im Nachbarort. Er war Beamter im Ruhestand und genoß seinen Lebensabend. Immer noch rüstig und mit Elan widmete er sich dem Garten, in dem er sich gerne aufhielt und seinem Hobby, der Rosenzucht, frönte.
Früher hatte er viel Gemüse angebaut, sehr zum Leidwesen seiner Frau, die die reichliche Ernte verarbeiten und einkochen mußte. Seit Tante Fine, wie sie von allen genannt worden war, vor vier Jahren verstarb, hatte der Witwer die Gemüsezucht schließlich aufgegeben.
Natürlich fand Carla ihn hinten im Garten. Onkel Heinrich stand, eine grüne Gärtnerschürze umgebunden und den unvermeidlichen Strohhut auf dem Kopf, im Rosenbeet, und es sah beinahe so aus, als spräche er mit den Blumen.
»Grüß dich«, rief Carla von der Pforte her.
»Na, das ist aber eine nette Überraschung«, freute sich ihr Onkel. »Schön, daß du mich alten Mann mal wieder besuchst.«
Die Arzthelferin umarmte ihn und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Sie deutete auf die Rosen.
»Herrlich!«
»Net wahr?« sagte er stolz. »Eine wahre Pracht.«
Er schaute sie fragend an.
»Hat’s einen besonderen Grund, daß du hergekommen bist?«
Carla nickte.
»Ja, Onkel Heinrich«, antwortete sie. »Ich wollte etwas von dir wissen. Gestern hab’ ich endlich Mutters Papiere geordnet und bin dabei auf etwas gestoßen… Sagt dir der Name Tobias Starnmoser etwas?«
Der alte Mann schaute nachdenklich vor sich hin.
»Komm«, sagte er dann, »es ist gerade Essenszeit. Leiste mir beim Abendbrot Gesellschaft, dann reden wir über alles.«
Nachdem es tagelang geregnet hatte, war heute endlich wieder die Sonne zu sehen gewesen und die Temperatur deutlich angestiegen. Angesichts des Wetters deckten sie den Tisch auf der Terrasse. Carla kochte Tee, während ihr Onkel das Brot schnitt und Wurst und Käse auf einer Platte anrichtete.
»Ich hab’ eigentlich schon damit gerechnet, daß du herkommen und mich fragen würdest«, sagte er, als sie saßen. »Aber ich war net sicher, ob deine Mutter dir etwas wegen der alten Geschichte hinterlassen hat.«
»Wenn ich mich eher um die Papiere gekümmert hätte und dahintergekommen wäre, daß dein Bruder net mein Vater ist, hätt’ ich schon längst nachgefragt.«
Heinrich hob mahnend die Hand.
»Kurt war und ist dein Vater«, sagte er im ernsten Ton. »Wenn auch net der leibliche, aber einen bess’ren hättest dir net wünschen können.«
Die Arzthelferin senkte beschämt den Kopf.
»Du hast recht«, antwortete sie. »Papa hat wirklich alles für mich getan. Es ist nur…, weil ich so durcheinander bin, seit ich erfahren hab’, daß es da noch einen andren gibt.«
»Natürlich, mein Mädchen«, nickte Heinrich Brinkmann. »Das versteh’ ich sehr gut.«
Er hatte sich eine Brotscheibe genommen und mit Butter bestrichen.
»Deine Mutter«, fuhr er fort, während er etwas Wurst auflegte, »hat mir einmal etwas darüber erzählt. Sie hat sich ihr ganzes Leben Vorwürfe gemacht, weil sie dir nie sagen konnte, wer dein wirklicher Vater ist. Kurt wollte es net. Er meinte, du würdest dadurch nur in einen Konflikt geraten.«
Er lächelte.
»Vielleicht hatte er Angst, dich zu verlieren. Kurt liebte dich nämlich wirklich abgöttisch. Meine kleine Prinzessin hat er dich immer genannt.«
Auch Carla mußte unwillkürlich lächeln. Sie erinnerte sich an den Kosenamen, den der Vater ihr gegeben hatte, als sie das erste Mal zum Fasching gehen durfte. Es war im Kindergarten, und natürlich wollte sie sich als Prinzessin verkleiden.
»Deine Mutter stammt aus einem kleinen Ort in den Bergen«, erzählte Heinrich Brinkmann weiter. »Genauer gesagt ist sie dort auf dem Bauernhof ihrer Eltern großgeworden.«
»Auf einem Bauernhof?« fragte Carla überrascht.
»Ja, er gehörte wohl seit vielen Generationen der Familie, und Brigitte war das einzige Kind.«
Er strich sich nachdenklich über das Kinn.
»Und das war wohl letztendlich auch der Grund für das Drama, das sich dort anbahnte…«
Die junge Frau hing wie gebannt an seinen Lippen. Onkel Heinrich trank einen Schluck Tee, das Brot lag noch unberührt auf dem Teller.
»Was sich genau abspielte, kann ich dir nicht sagen«, fuhr er endlich fort. »Deine Mutter hat nie viel über sich erzählt. Natürlich wußte außer Kurt auch Tante Josefine Bescheid, aber alle anderen Verwandten hatten und haben bis heute keine Ahnung, daß mein Bruder dich adoptiert hat.«
»Aber wie war das denn nun mit meinem richtigen Vater?« wollte Carla wissen.
»Alles, was ich dir darüber sagen kann, ist Folgendes: Tobias Starnmoser war Knecht auf dem Hornbacherhof. Hornbacher ist der Familienname deiner Mutter. Es kam, wie es kommen mußte. Er verliebte sich in die Tochter seines Bauern, und Brigitte sich in ihn. Aber vielleicht kannst du dir denken, was ihre Eltern davon hielten, daß ein armer Knecht ihre einzige Tochter heiraten wollte.
Jedenfalls konnten die beiden nicht voneinander lassen und verschwanden bei Nacht und Nebel. Da Brigitte schon bald darauf volljährig wurde, verliefen die Nachforschungen im Sande, wie sie erzählte. Die Behörden konnten ihr jedenfalls nichts mehr anhaben, und so heiratete sie den Mann ihres Herzens, und die zwei suchten in der Fremde ihr Glück.
Sie versuchten hier, in der Nähe von Landsberg, bei einem Bauern unterzukommen. Der wollte allerdings nur Tobias als Knecht einstellen. Eine Magd konnte er nicht mehr gebrauchen. Brigitte suchte sich eine Stelle in Landsberg und arbeitete schließlich als Kellnerin in einer Wirtschaft, wo sie später auch Kurt kennenlernte.
Nach einem Jahr stellten sich dann Mutterfreuden ein, du warst unterwegs. Doch das Glück meinte es nicht gut mit Brigitte und Tobias. Bei Arbeiten im Wald verunglückte er so schwer, daß er später im Krankenhaus an den Folgen starb.
Kurt hörte natürlich davon. Er hatte schon immer ein Auge auf deine Mutter gehabt, sich aber zurückgehalten, weil er wußte, daß sie verheiratet war. Und auch jetzt drängte er sich nicht auf, aber er bot Brigitte seine Hilfe an, und sie war ihm dankbar dafür. Irgendwann wurde dann auch bei ihr aus Sympathie Liebe, und sie nahm seinen Antrag an und heiratete ihn. Da warst du schon etwas über ein halbes Jahr alt.«
»Acht Monate«, sagte Carla. »Es steht in der Adoptionsurkunde.«
»Richtig«, nickte ihr Onkel. »Acht Monate und ein süßer Wonneproppen.«
Heinrich Brinkmann lehnte sich zurück und schloß für einen Moment die Augen.
»Es war sehr schlimm, was deine Mutter damals durchgemacht hat«, sagte er, als er sie wieder geöffnet hatte. »Ich kann verstehen, wenn sie nicht mehr daran erinnert werden wollte.«
*
Carla schaute nachdenklich auf die Rosenbeete, während ihre Gedanken bei der Mutter waren. Ja, sie mußte wirklich Schlimmes erlebt haben, daß sie nie wieder darüber hatte sprechen können. Im Nachhinein war sie ihr auch nicht böse darüber. Aber eines ließ ihr keine Ruhe; ihr Vater, Tobias, war tot, doch vielleicht lebten noch Verwandte von ihm.
Und was war mit dem Hof, auf dem ihre Mutter geboren und aufgewachsen war? Gab es dort noch jemanden aus ihrer Familie?
Für die hübsche Arzthelferin war eines ganz klar, wenn sie Antworten auf diese Fragen haben wollte, dann mußte sie dorthin!
»Wie heißt der Ort, aus dem Mutter stammt?« fragte sie.
Heinrich Brinkmann, der ahnte, was der Grund dieser Frage war, riet ihr nicht ab.
»Du willst dorthin fahren, net wahr?«
Er nickte nachdrücklich.
»Ich denk’, das mußt du auch tun. Man muß wissen, woher man kommt, wo seine Wurzeln sind. Der Ort heißt St. Johann. Er liegt im Wachnertal. Aber mehr kann ich dir darüber auch net sagen.«
»Ich werd’ schon herausfinden, wie ich dahin komm’«, antwortete sie. »Gleich morgen werd’ ich in der Praxis fragen, wann ich Urlaub bekommen kann.«
Carla machte ein nachdenkliches Gesicht.
»An wen wende ich mich denn am besten, wenn ich erst einmal dort bin?« überlegte sie laut.
»Tja, an das Einwohnermeldeamt vielleicht. Falls es so etwas da gibt. Auf jeden Fall würd’ ich im Rathaus nachfragen. Und beim Pfarrer. Wenn sich sonst nix findet, im Kirchenarchiv gibt’s bestimmt irgendwelche Unterlagen; Taufen, Hochzeiten und Sterbefälle werden in der Regel ins Kirchenbuch eingetragen.«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Carla ihm bei.
Jetzt, nachdem sie mehr wußte – auch wenn es immer noch wenig genug war – merkte sie, wie hungrig sie war. Sie saßen noch sehr lange beim Abendessen und sprachen über die alten Zeiten. Im Laufe der Unterhaltung wurde der jungen Frau immer bewußter, wie dankbar sie Kurt Brinkmann sein mußte, daß er sich damals um ihre Mutter und sie gekümmert hatte.
Ja, er war ein wunderbarer Vater gewesen, und er hatte seiner kleinen Familie all die Liebe gegeben, zu der er fähig gewesen war.
»Das Grab meines richtigen Vaters, weißt du, wo es ist?« fragte sie, bevor sie sich verabschiedete.
Heinrich Brinkmann nickte.
»Tobias liegt auf einem Friedhof in St. Johann«, berichtete er. »Bis zu ihrem Tode hat deine Mutter es pflegen lassen, sie ist aber nie wieder dort gewesen.«
»Warum hast du es mir net von selbst erzählt?« wollte Carla wissen.
Ihr Onkel überhörte den leichten Vorwurf, der in ihrer Stimme mitschwang.
»Es war der Wunsch deiner Mutter, zu ihren Lebzeiten über die ganze Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren«, erwiderte er. »Leider hab’ ich sie net mehr fragen können, ob du eines Tags vielleicht doch eingeweiht werden sollst. Daß sie dich durch einen Brief informieren wird, hab’ ich net geahnt. Ich hab’ einfach nur ihren Wunsch respektieren wollen. Verstehst du?«
Carla nickte gerührt.
»Natürlich, Onkel Heinrich«, sagte sie und strich ihm über die Wange. »Entschuldige…«
»Schon gut, mein Madl.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünsch’ dir viel Glück bei der Suche nach deinen Wurzeln, und wenn ich könnt’, dann würd’ ich sogar mitfahren nach St. Johann.«
Er hob bedauernd die Schultern.
»Aber ich kann meine Rosen net allein lassen.«
Carla gab ihm einen Abschiedskuß.
»Ich werd’ dir alles erzählen, wenn ich wieder zurück bin«, versprach sie.
Sie stieg in ihr Auto und fuhr nach Hause. Unterwegs überlegte sie, wie sie am besten vorgehen sollte. Erst einmal Urlaub beantragen. Dr. Westhoff würde ihr bestimmt keine Steine in den Weg legen, wenn er erfuhr, worum es ging. Seit drei Jahren arbeitete die Vierundzwanzigjährige in der Praxis und kam bestens mit dem Chef und den Kolleginnen aus.
Dann mußte sie herausfinden, wo dieses St. Johann lag, außerdem brauchte sie für die Zeit ihres Aufenthalts dort eine Unterkunft.
Himmel, gab es da viel zu überlegen!
Sie würde sich eine Liste machen müssen, damit sie nicht die Hälfte vergaß. Und zwar am besten gleich, denn noch war sie voller Eifer und Energie.
Obwohl sie die letzte Nacht kaum geschlafen hatte, fühlte Carla sich ausgesprochen munter. Sie saß bis spät in die Nacht in ihrem Wohnzimmer und schrieb auf, woran sie alles denken mußte; der Computer und das Internet waren ihr dabei eine große Hilfe.
St. Johann, das hatte sie schnell herausgefunden, lag an der Grenze zu Österreich. Mit dem Auto konnte sie die Strecke in ein paar Stunden schaffen. Mehr Probleme machte da die Frage der Unterkunft. Sie hatte noch am Abend, nachdem sie über das Internet die Pensionen herausgesucht hatte, bei verschiedenen Ferienunterkünften angerufen und nachgefragt. Die Auskünfte waren indes alles andere als ermutigend gewesen. Überall hieß es, man sei ausgebucht. Ihre einzige Hoffnung war im Moment nur noch eine Pension, in der sich niemand gemeldet hatte. Sie konnte also nur noch abwarten, ob sie morgen mehr Glück hatte. Notfalls würde sie auch in ihrem Auto schlafen.
Sehr viel später als sonst ging sie dann schlafen. Aber bevor sie ins Land der Träume hinüberglitt, kreisten ihre Gedanken ständig um drei Personen: Kurt Brinkmann, ihre Mutter und Tobias Starnmoser.
Vergeblich hatte sie noch einmal alles durchgesehen, in der Hoffnung, vielleicht ein Foto ihres richtigen Vaters zu finden. Wahrscheinlich, so vermutete sie, hatte ihre Mutter alles verbrannt, was sie an die Vergangenheit hätte erinnern können. Alles, was sie fand, und das ihr bestätigte, daß sie sich das alles nicht nur einbildete, war die Heiratsurkunde, in der stand, daß Frau Brigitte Starnmoser, geb. Hornbacher, und Herr Kurt Brinkmann die Ehe geschlossen hatten. Als Geburtsort ihrer Mutter war St. Johann angegeben.
Jetzt war sie gespannt darauf, ihn kennenzulernen.
*
Ria Stubler begrüßte die junge Frau mit einem herzlichen Lächeln.
»Herzlich willkommen. Ich hoff’, Sie werden sich bei mir wohl fühlen. Hatten S’ eine gute Fahrt?«
»Vielen Dank, ja«, nickte Carla. »Ich freu’ mich, daß es mit dem Zimmer noch geklappt hat.«
»Da hatten S’ wirklich Glück. Ich hab’ Ihnen ja schon am Telefon gesagt, daß es um diese Jahreszeit immer eng ist. Aber gerad’, als Sie angerufen haben, hatte ein Gast seine Reservierung storniert. So, jetzt kommen S’ aber erstmal, ich zeig’ Ihnen das Zimmer.«
Die Pensionswirtin nahm einen Schlüssel vom Brett und ging voran. Das Zimmer lag im ersten Stock. Es war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Es gab sogar Telefon und ein Fernsehgerät. Durch eine hohe Glastür gelangte man auf den Balkon hinaus, von dem aus man einen phantastischen Blick auf die Berge hatte.
»Sehr schön«, sagte die Arzthelferin.
»Frühstück ist von sieben bis zehn Uhr«, erklärte Ria. »Falls Sie mal eine Bergtour planen, sagen S’ mir am Abend vorher Bescheid, dann richt’ ich Ihnen etwas her, und eine Brotzeit für unterwegs bekommen S’ auch.«
Sie nickte Carla zu und schloß die Tür hinter sich.
Die Arzthelferin nahm die Reisetasche und begann, ihre Sachen auszupacken und in den Kleiderschrank zu räumen. Das Zimmer gefiel ihr wirklich, vor allem die Holzmöbel, die mit bunter Bauernmalerei verziert waren. Nachdem die Tasche leer war, verstaute Carla sie auf dem Schrank und setzte sich in einen der beiden Sessel, die am Fenster standen.
Da bin ich also, dachte sie.
Wie sie vermutet hatte, gab es seitens ihres Chefs keine Einwände gegen den Urlaub. Ihre Bitte kam zwar etwas kurzfristig, aber nachdem Dr. Westhoff gehört hatte, worum es ging, stimmte er zu. Am selben Tag rief sie in der Pension an und fragte nach einem Zimmer. Ihr Herz tat einen Hüpfer, als die freundliche Frau am Telefon sagte, es wäre gerade für diesen Zeitraum etwas frei.
Vierzehn Tage später machte sie sich auf den Weg. Sabine Gründler, eine Freundin, versprach, sich in der Zeit um das Haus zu kümmern. Die beiden Frauen kannten sich, seit Carla in der Praxis angefangen hatte. Sie unternahmen oft etwas zusammen. Zu diesem Freundeskreis gehörten noch zwei weitere Kolleginnen und deren Partner. Es war ein lustiger Haufen, der immer viel Spaß hatte.
Es war schon ein merkwürdiges Gefühl gewesen. Je näher sie St. Johann kam, um so vertrauter schien ihr alles, was sie sah. Obwohl sie noch nie in ihrem Leben hier gewesen war.
Das ist also die Heimat meiner Eltern, ging es ihr durch den Kopf, als sie durch den Ort fuhr.
Was sie sah, sprach sie an. Die typischen Häuser mit ihren Lüftlmalereien, die Kirche mit ihrem schlanken Turm, und die vielen Einheimischen, die so bajuwarisch aussahen, als wären sie einem Ferienkatalog, der für die oberbayerische Region warb, entsprungen.
Aber es gab auch viele Touristen, die unschwer an ihren umgehängten Fotoapparaten und Videokameras zu erkennen waren. Offensichtlich war St. Johann ein beliebter Ferienort, wie ja auch die Tatsache bewies, daß man ohne Glück keine Unterkunft bekommen konnte, wenn man nicht rechtzeitig reserviert hatte.
Doch sie hatte dieses Glück gehabt, und jetzt saß Carla Brinkmann in ihrem Pensionszimmer und überlegte ihre nächsten Schritte.
Um auf das Rathaus zu gehen, war es wohl schon zu spät. Dort war sicher schon geschlossen. Vielleicht war es aber auch besser, wenn sie nicht sofort loslegte, sondern erst einmal ankam, sich von der Fahrt erholte und dann einen kleinen Spaziergang durch den Ort unternahm.
Auf dem Tisch lagen Prospekte. Carla nahm einen zur Hand und schlug ihn auf. Der Urlaubsort St. Johann wurde darin gepriesen, und die malerische Umgebung herausgestellt. Sie las, was man alles unternehmen konnte, um die Ferien zu gestalten, und wenn sie nicht aus einem ganz bestimmten Grund hierher gekommen wäre, dann hätte sie sich auf ein erfrischendes Bad im Achsteinsee gefreut, ganz sicher eine Bergwanderung geplant und die Besichtigung einer Sennerei, in der Bergkäse hergestellt wurde.
Doch das alles kam nicht in Frage. Später vielleicht, wenn sie ihre Nachforschungen betrieben und abgeschlossen hatte, und der Urlaub dann noch nicht vorüber war.
Es war später Nachmittag, als sie die Pension verließ und durch den Ort spazierte. Carla schaute sich neugierig um, aber es waren nicht die Häuser, die sie betrachtete, sondern vielmehr die Menschen, die ihr begegneten. In jedem Gesicht forschte sie nach, ob sie vielleicht Ähnlichkeiten mit sich oder der Mutter entdeckte. Wie ihr richtiger Vater ausgesehen hatte, wußte sie ja leider nicht, aber es war schon eine sehr aufregende Vorstellung, daß unter den vielen Leuten, die sie sah, vielleicht ein Verwandter von ihr sein könnte.
In dem nicht sehr großen Einkaufszentrum gab es viele kleine Läden, unter anderem auch ein Geschäft, in dem man Ansichtskarten und Souvenirs kaufen konnte. Carla suchte ein paar Karten mit hübschen Motiven aus und ging dann weiter zum Kaffeegarten des Hotels, an dem sie vorübergekommen war. Dort saßen viele Gäste unter hohen Kastanien und ließen sich die hausgemachten Torten und Eisspezialitäten schmecken. Sie fand einen freien Tisch und bestellte bei der Bedienung einen Milchkaffee. Während sie ihn genoß, schrieb sie an Onkel Heinrich eine Karte. Er hatte darum gebeten, um sicher zu sein, daß seine Nichte gut angekommen war.
Während sie schrieb und ab und zu einen Schluck trank, hatte Carla das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah auf und schaute sich um.
Das Gefühl mußte sie wohl getäuscht haben, denn die Gäste schienen alle mit sich selbst beschäftigt zu sein.
Allerdings hatte sie den jungen Mann übersehen, der in einer Ecke saß und sie die ganze Zeit schon im Auge hatte. Als er jetzt ihren suchenden Blick bemerkte, vertiefte er sich wieder in seine Zeitung und tat, als lese er intensiv darin…
*
Florian Wagner saß schon geraume Zeit im Kaffeegarten, als die hübsche dunkelhaarige Frau sich an den Tisch setzte, den er von seinem Platz aus noch gerade so im Blickfeld hatte. Der junge Bursche war sofort von ihr fasziniert. Dabei wartete er eigentlich auf Annette Hamberger, die schon längst hätte Feierabend haben müssen. Zwischendurch war sie zu ihm gekommen und hatte ihn vertröstet.
»Tut mir leid, Flori’, aber die Christel hat sich krank gemeldet. Bis sechs muß ich noch.«
»Net weiter schlimm.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’ ja meine Zeitung.«
Die Haustochter des Hotels »Zum Löwen« lächelte.
»Ich bring’ dir noch einen Kaffee. Dann geht die Zeit schneller um.«
Florian hatte genickt und sich wieder der Tageszeitung gewidmet, doch als dann die unbekannte Schöne den Kaffeegarten betrat, da war es mit der Konzentration bei ihm vorbei. Zwar sah er sie nur von der Seite, aber gerade das Profil war es, das ihn ungemein an das alte Bild erinnerte, das zu Hause in der Diele hing.
Eine Zeitlang überlegte er, ob er aufstehen und sie einfach ansprechen sollte. Doch dann unterließ er es.
Was hätte er auch sagen sollen?
»Entschuldigen S’, aber bei uns zu Haus hängt ein Bild, und die Frau darauf schaut Ihnen ähnlich. Möchten S’ sich das vielleicht mal ansehen?«
Wahrscheinlich hätte sie ihn ausgelacht und seine Frage einfach als plumpen Annäherungsversuch abgetan.
Bestimmt handelte es sich ohnehin nur um einen Zufall, überlegte er. Die Frau war sicher eine Urlauberin und hatte mit dem Bild, es war ein Ölgemälde, das schon sehr alt aussah, überhaupt nichts zu tun.
Aber fesch war sie, die Unbekannte, dachte er und schaute noch intensiver hinüber.
Als sie sich dann plötzlich umsah, versenkte er seinen Blick wieder in die Zeitung und schielte vorsichtig über den Rand.
Während die Frau sich wieder umgedreht hatte, beobachtete Florian sie weiterhin. Leider kam bald darauf Annette zurück und verkündete freudestrahlend, daß sie endlich Feierabend habe.
Der junge Bursche nickte nur. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er gerne noch ein Weilchen gewartet…
Seine Freundin hakte sich bei ihm unter. Als sie an dem Tisch vorbeikamen, an dem die Frau saß, schaute sie kurz auf, und für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke, ehe Florian und Annette den Kaffeegarten verließen.
»Was machen wir denn Schönes?« wollte das Madl wissen. »Ich hätt’ Lust, in die Stadt zu fahren. Vielleicht ins Kino und hinterher zum Italiener?«
Florian nickte zustimmend, innerlich war er allerdings weniger begeistert. Seit es zwischen ihm und Annette gefunkt hatte, das war auf dem Tanzabend im Löwen gewesen, belegte sie ihn ständig mit Beschlag. Dabei war es von seiner Seite her eher ein heftiger Flirt gewesen. Annette wollte indes mehr von dem gutaussehenden Bauernsohn.
Eine feste Beziehung!
Danach stand Florian allerdings gar nicht der Sinn. Aber irgendwie traute er sich nicht, dem Madl reinen Wein einzuschenken. Andererseits machte es auch Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Sie war lustig und quirlig, sah gut aus, und wenn sie zusammen ausgingen, registrierte Florian mit Genugtuung die neidischen Blicke der anderen Burschen.
Der Film, ein amerikanischer Actionthriller, war sicher sehr spannend, allerdings gelang es Florian kaum, sich auf das Geschehen auf der Leinwand zu konzentrieren. Ständig hatte er das Bild der unbekannten Schönen vor Augen und konnte an nichts anderes denken als an die frappierende Ähnlichkeit der Frau mit dem Gemälde zu Hause.
Nach dem Kino gingen sie in ihre Lieblingspizzeria. Francesco, ein kleiner hagerer Italiener, begrüßte sie persönlich. Der Besitzer des Lokals, das direkt in der Fußgängerzone lag und großen Zulauf hatte, legte Wert auf frische Zutaten, und der Pizzateig wurde eigenhändig von ihm geknetet und in Form gebracht.
Florian bestellte für sich allerdings nur eine kleine Portion Spaghetti ›frutti di mare‹. Er hatte keinen großen Appetit. Auf dem Weg vom Kino hierher hatte Annette vorgeschlagen, am Sonntagnachmittag ihre Eltern zu besuchen, die in Waldeck wohnten.
Der Bauernsohn hatte zunächst nichts auf diesen Vorschlag geantwortet. Ihm kam es vor, als solle er an diesem Tag seinen zukünftigen Schwiegereltern vorgestellt werden…
»Was hältst denn nun von meinem Vorschlag?« wollte seine Begleiterin wissen, während sie auf das Essen warteten.
Florian trank einen Schluck von dem Rotwein, den sie bestellt hatten. Er räusperte sich.
»Ich weiß net, ob das klappt«, wich er aus. »Im Moment haben wir wahnsinnig viel zu tun auf dem Hof.«
Annette machte ein betrübtes Gesicht.
»Schade«, sagte sie. »Ich hatte mich schon so darauf gefreut.«
»Ein andermal vielleicht«, meinte er und war froh darüber, daß sie seine Ausrede so ohne weiteres akzeptierte.
Als er sie später dann vor dem Hotel absetzte, in dem Annette ein Angestelltenzimmer im Dachgeschoß bewohnte, dauerte es noch eine ganze Weile, bis sie sich verabschiedet hatten.
»Ich hab’ dich ganz fürchterlich lieb«, flüsterte sie leise, bevor sie die Tür des Seiteneingangs aufschloß.
Florian antwortete nichts darauf. Er nickte ihr nur stumm zu und stieg in seinen Wagen.
Himmel, die will’s aber wissen, dachte er, als er durch den schlafenden Ort nach Hause fuhr.
Auf dem Hof herrschte auch schon längst Ruhe. Morgen würde man in aller Herrgottsfrühe wieder aufstehen müssen. Und auch Florian hätte eigentlich schon lange im Bett sein müssen.
Doch bevor er in seine Kammer hinaufging, blieb er in der Diele stehen und betrachtete das Bild. Der unbekannte Künstler hatte eine junge Bäuerin im Profil gemalt. Es handelte sich wohl um eine Angehörige der Familie, die früher den Hof bewirtschaftet hatte.
Es war wirklich verblüffend, wie sehr es der Frau ähnelte, die er im Kaffeegarten gesehen hatte.
Wie aus dem Gesicht geschnitten!
*
Carla wachte recht früh auf. Zu Hause begann ihr Tag in der Regel um sechs Uhr morgens. Zwar war Praxisbeginn erst gegen acht, aber da sie auch im Labor arbeitete, fing sie schon früher an als die anderen Kolleginnen.
Gestern abend war sie noch eine Weile durch den Ort spaziert und hatte sich mit allem vertraut gemacht. Später verzehrte sie auf ihrem Zimmer den restlichen Proviant. Ab heute würde sie sich im Wirtshaus verpflegen müssen, in der Pension gab es nur Frühstück.
Wie reichhaltig das war, davon konnte sich die junge Arzthelferin überzeugen, als sie geduscht und sich angezogen hatte. In dem Raum, in dem die Gäste saßen und ihr Frühstück einnahmen, waren die Tische eingedeckt. Carla war unter den ersten, die herunterkamen. Ria begrüßte sie freundlich.
»Guten Morgen. Haben S’ gut geschlafen?«
»Wunderbar.«
»Dann setzen S’ sich, ich bring’ Ihnen gleich das Frühstück. Möchten S’ vielleicht ein gekochtes Ei?«
Eier gab es zu Hause sonst nur am Sonntag, aber heute wollte Carla mal eine Ausnahme machen und bat um ein weichgekochtes Ei. Außerdem wollte sie gerne Tee trinken. Ria versicherte ihr, daß das überhaupt kein Problem wäre.
Carla hatte den anderen Gästen grüßend zugenickt und Platz genommen. Die Wirtin kam kurz darauf an ihren Tisch und brachte einen übervollen Korb mit Brot und Semmeln, dazu eine Platte mit Aufschnitt und Käse. Kleine Töpfchen mit Marmelade und Honig standen auf jedem Tisch griffbereit. Der Tee wurde in einer Kanne serviert, und die Arzthelferin registrierte mit Freude, daß es sich um richtige Blätter handelte, die die Wirtin aufgebrüht hatte, und nicht um einen Teebeutel.
»Heut’ morgen ist’s ein bissel trüb draußen.« Ria deutete zum Fenster hinaus. »Sonst hätt’ ich draußen gedeckt. Aber morgen soll’s wieder schön werden.«
Sie schaute prüfend, ob eventuell noch etwas fehlen würde, und sagte, daß das Ei gleich käme.
Carla schenkte sich Tee ein und genoß den ersten Schluck. Sie schaute sich um. Es waren nur wenige andere Gäste, die an den Tischen saßen; die meisten schliefen wohl noch. Sie sah ein junges Paar, das sich gegenübersaß und verliebt anschaute, zwei Ehepaare hatten einen größeren Tisch für sich. Vermutlich waren sie zusammen hier. In der anderen Ecke hatten ein paar junge Burschen Platz genommen und unterhielten sich über eine Bergtour, die sie für den nächsten Tag geplant hatten.
Noch während Carla sich das Frühstück schmecken ließ, trudelten nach und nach die anderen Gäste ein, und die junge Frau wunderte sich, wie Ria Stubler das alles allein bewältigte; sie deckte auf und räumte ab, unterhielt sich nebenbei mit den Leuten und hatte für jeden ein freundliches Wort.
Bewundernswert, dachte die Arzthelferin, die Frau ging offenbar ganz und gar in ihrem Beruf auf.
Zwischendurch hatte sie einen Blick in die ausliegende Tageszeitung geworfen, aber nichts von Interesse entdeckt. Nachdem sie fertig war, ging Carla in ihr Zimmer hinauf und holte die kleine Tasche, in die sie alles hineingetan hatte, was ihr wichtig erschien; ihre Geburtsurkunde, das Dokument über die Adoption, die Heiratsurkunde der Eltern, den Brief der Mutter an sie. Vielleicht wollte ja jemand auf dem Amt irgend etwas Offizielles sehen, bevor man Auskunft gab.
Im Rathaus erlebte sie zunächst eine Enttäuschung. Das Einwohnermeldeamt befände sich in der Stadt, wurde ihr mitgeteilt. Zwar habe es vor Jahren hier auch eine Meldestelle gegeben, doch im Lauf der Modernisierung und Umstellung auf Computer wäre diese ausgelagert worden. Heutzutage wurden die Daten auf elektronischem Wege direkt zum Amt in der Kreisstadt weitergeleitet.
Carla sah ein, daß sie dort nichts weiter ausrichten konnte, und verließ das Rathaus wieder. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als in die Stadt zu fahren.
Als sie schon auf dem Weg zu ihrem Auto war, das vor der Pension stand, fiel ihr der Rat ein, den Onkel Heinrich ihr gegeben hatte – das Kirchenarchiv.
Sie überquerte rasch die Straße und ging den Kiesweg hinauf, der zur Kirche führte. Ein kleines Schild wies auf das Pfarrhaus hin, in dem sich das Büro der Kirchengemeinde befinden sollte. Carla beschloß, ihr Glück dort zu versuchen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, als sie den Klingelknopf drückte. Es dauerte nicht lange, bis sie Schritte hörte und die Tür geöffnet wurde. Erstaunt blickte sie auf den Mann, der sie freundlich lächelnd ansah.
»Grüß Gott. Kann ich Ihnen helfen?« fragte er.
Carla blickte in ein markantes, leicht gebräuntes Gesicht.
Sollte das der Geistliche sein?
Sie konnte es kaum glauben; mit seiner sportlichen Figur sah der Mann eher aus wie ein prominenter Sportler oder Filmstar.
Sie überwand ihre Verwunderung und stellte sich vor.
»Grüß Gott. Mein Name ist Carla Brinkmann«, nickte sie. »Ich komme wegen einer Auskunft und hoffe tatsächlich, daß Sie mir weiterhelfen können, Herr…«
Natürlich hatte sie den Priesterkragen gesehen, war aber immer noch unsicher, wirklich einen Mann Gottes vor sich zu haben. Doch die nächsten Worte beseitigten jeden Zweifel.
»Ich bin Pfarrer Trenker«, sagte der Seelsorger. »Kommen S’ doch, bitt’ schön, herein, Frau Brinkmann.«
Er ließ die Besucherin eintreten und führte sie in sein Arbeitszimmer, wo er ihr einen Platz anbot.
»Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?«
»Vielen Dank, Hochwürden.« Carla schüttelte den Kopf. »Ich hab’ gerad’ erst gefrühstückt. Außerdem möcht’ ich Ihre Zeit net über Gebühr in Anspruch nehmen. Obwohl – ich fürcht’, es wird doch eine längere Geschichte…«
Der Bergpfarrer lächelte.
»Ich hab’ Zeit und ich hör’ gern’ zu«, meinte er. »Aber wissen S’ was? Wenn man viel redet, dann bekommt man leicht einen trockenen Mund, und ein Apfelsaft kann nie schaden. Meine Haushälterin macht ihn übrigens selbst.«
Sebastian öffnete die Tür.
»Frau Tappert«, rief er, »seien S’ so gut und bringen S’ uns ein bissel Apfelsaft und zwei Gläser.«
Er nahm Carla gegenüber Platz und sah sie gespannt an.
»So, nun schießen S’ mal los«, sagte er. »Um was für eine Auskunft handelt es sich denn?«
*
Florian Wagner stürmte ins Haus.
»Himmel, hab’ einen Durst!«
»Bub, bist narrisch g’worden?« rief seine Mutter, die mit Putzeimer und Schrubber in der Diele stand. »Kannst’ dir net die Stiefel ausziehen? Ich hab’ gerad’ gewischt!«
Der Bauersohn hatte den Kühlschrank geöffnet, den Milchkrug herausgenommen und sich ein großes Glas eingeschenkt.
»Tut mir leid«, sagte er und wischte sich über die Lippen.
Er stand in der Tür und sah die Mutter entschuldigend an.
»Aber ich war innerlich schon am Vertrocknen.«
»Ja, ja und ich hab’ die Arbeit!«
Florian zog die Gummistiefel aus, mit dem Glas in der Hand deutete er auf das Gemälde, das seit gestern abend eine so große Bedeutung für ihn bekommen hatte.
»Sag mal, weißt du, wer die Frau ist?«
Resl Wagner schaute auf das Bild.
»Keine Ahnung. Wie kommst’ denn darauf?«
»Ach, nur so«, gab er zurück. »Ich hab’ gedacht, du wüßtest es. Eine Verwandte vielleicht.«
Seine Mutter schüttelte den Kopf.
»Net aus uns’rer Familie«, erwiderte sie. »Soviel ich weiß, ist es in Großvaters Besitz gekommen, als er den Hof gekauft hat.«
»Ach, dann gehörte es ursprünglich der Familie Hornbacher?«
»Ja. Aber da fragst’ besser den Vater. Ich war damals ja noch net auf dem Hof, aber Vater erinnert sich vielleicht noch daran, als seine Eltern sich hier niederließen.«
Florian blickte grübelnd auf das Bild.
Vielleicht war diese Ähnlichkeit zwischen der gemalten Frau und der unbekannten Schönen doch kein so großer Zufall, überlegte
er.
Was, wenn die Frau aus dem Kaffeegarten eine entfernte Verwandte der Familie Hornbacher war? Wenn sie hergekommen war, um auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln?
Plötzlich tat sein Herz einen Hüpfer.
Das würde ja bedeuten, daß sie früher oder später herkam – und er sie wiedersah!
»Was interessiert dich das alte Ding denn jetzt auf einmal?« wollte die Bäuerin wissen. »All die Jahre hast’ es net angeschaut und jetzt kannst’ dich gar net mehr davon losreißen.«
»Ach, nur so«, gab Florian scheinbar gleichgültig zurück. »Ich find’s halt schön.«
»Na ja«, meinte seine Mutter und holte ein Tuch aus der Tasche ihrer Schürze, mit dem sie das Bild abzustauben begann. »Wertvoll ist’s wohl net, aber ganz hübsch, da hast’ recht.«
Florian ging auf Strumpfsocken zur Haustür und zog sich erst dort die Stiefel wieder an.
Sein Vater wartete schon ungeduldig auf ihn.
»Wo bleibst denn?« rief Josef Wagner. »Wir müssen. Der Peters kann jeden Moment kommen.«
Der Bauer steuerte das Auto vom Hof und schlug den Weg zum Bergwald ein. Dort hatten sie einen Termin mit Franz Peters, dem
Holzeinkäufer der Sägemühle. Bäume sollten ausgesucht und markiert werden, damit sie in den nächsten Tagen gefällt werden konnten.
»Sag’ doch mal, Vater, was waren das eigentlich für Leute, von denen Großvater damals den Hof gekauft hat?« fragte Florian.
Der Bauer sah seinen Sohn verblüfft an.
»Wie kommst’ denn jetzt darauf?« wollte er wissen.
»Nur so. Erzähl’ doch mal. Sie hießen Hornbacher, net wahr?«
»Ja, aber soviel weiß ich gar net darüber«, antwortete Josef Wagner schmunzelnd. »Schließlich war ich damals so achtzehn Jahre alt. Da hat mich and’res interessiert…«
Er fuhr von der Straße ab und bog in einen Waldweg ein.
»Soweit ich mich erinner’, gab es in der Familie keine Nachkommen, und die alten Leute wollten sich zur Ruhe setzen«, erzählte er weiter. »Dein Großvater handelte einen guten Preis aus, mit dem beide Seiten zufrieden waren, und übernahm den Hof mit allem Mobilar, einschließlich Teller, Tassen, Bilder und Gardinen. Die Hornbachers wollten überhaupt nichts davon mitnehmen.«
»Aha, und erinnerst du dich, wohin die dann gegangen sind?«
»Also, du machst mir Spaß«, lachte der Bauer. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich and’res im Kopf hatte. Glaubst’ wirklich, daß mich das interessiert hätt’?«
Florian schmunzelte; wenn das stimmte, was man sich über seinen Vater erzählte, dann war Josef Wagner in seiner Jugend ein echter Hallodri gewesen…
Der Bauer schüttelte den Kopf.
»Nein, das kann ich beim besten Willen net sagen, wo die damals abgeblieben sind. Wahrscheinlich leben s’ auch gar net mehr. Mein Gott, das ist ja schon so viele Jahre her!«
Florian war ein wenig enttäuscht über das, was er erfahren hatte. Wenn es wirklich stimmte, daß die Hornbachers keine Nachkommen hatten, dann konnte es sich bei der unbekannten Frau auch nicht um eine Verwandte der Familie handeln.
Also würde sie wohl auch niemals auf den Hof kommen und er sie nicht wiedersehen!
Aber genau das wollte er. Seit er gestern abend beim Verlassen des Kaffeegartens ihre Augen gesehen hatte – wenn auch nur für einen winzigen Moment –, wollte diese Frau ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Florian spürte, daß er sich ernsthaft in sie verliebt hatte, und dieses Gefühl war so stark wie nie zuvor!
Ein endlos langer Tag lag vor ihm, und er konnte es gar nicht abwarten, wieder nach St. Johann zu kommen…
*
Hermine Wollschläger blickte mürrisch von ihrer Arbeit auf, als es an der Tür klingelte. Die Haushälterin des Geistlichen von St. Anna war gerade damit beschäftigt, Brennesselblätter, die sie am Morgen gesucht hatte, zu waschen und auf einem Tuch auszubreiten. Die Blätter sollten anschließend für mehrere Wochen an einem luftigen Ort solange getrocknet werden, bis daraus ein Tee zubereitet werden konnte.
Der war gut, um den Körper zu entschlacken, und Pfarrer Eggensteiner brauchte nach Ansicht seiner Haushälterin dringend eine solche Kur.
Hermine wischte sich die Hände an der Kittelschürze ab und eilte an die Tür. Ihr Gesichtsausdruck war immer noch ungehalten, änderte sich aber sofort, als sie sah, wer geklingelt hatte. Vor ihr stand eine Frau in Ordenstracht, die in den Händen eine zerschlissene Reisetasche hielt.
»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte die Schwester.
»In Ewigkeit, Amen«, erwiderte die Haushälterin.
»Entschuldigen Sie, wenn ich so unerwartet hereinplatze«, bat die Nonne, deren Habit sie älter aussehen ließ, als sie offenbar war, »ist der Herr Pfarrer wohl zu sprechen?«
»Das tut mir leid«, sagte Hermine, »Hochwürden macht einen Krankenbesuch. Er wird wohl net vor dem Mittag zurück sein. Um was geht’s denn?«
Die Nonne lächelte.
»Gestatten Sie, daß ich mich erst einmal vorstelle. Ich bin Schwester Klara vom Orden der barmherzigen Schwestern Marias Gnaden. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, überall dort zu helfen, wo die Not am größten ist. Ich bin in einem besonderen Auftrag unserer Mutter Oberin unterwegs, um Spenden für ein Hilfsprojekt zu sammeln, das uns sehr am Herzen liegt.«
Bei diesen Worten hatte sie die Augen ganz demütig niedergeschlagen.
Hermine Wollschläger war ratlos. Hochwürden war nicht daheim, und erreichen konnte sie ihn zwar, aber Pfarrer Eggensteiner hatte sich jegliche Anrufe verbeten, während er einen Schwerkranken besuchte.
»Kommen S’ doch erst einmal herein«, sagte sie. »Vielleicht möchten S’ etwas trinken.«
»Ach ja, das wäre schön«, nickte Schwester Klara. »Wissen Sie, ich bin vor vier Tagen in Regensburg, wo unser Orden zu Hause ist, losmarschiert, und nicht immer sind die Leute so freundlich. Ich meine natürlich nicht die Pfarrer und ihre Haushälterinnen, Frau…«
»Hermine Wollschläger.«
»Ja, Frau Wollschläger, wie gesagt, man hat es heutzutage nicht leicht, wenn man im Auftrag des Herrn unterwegs ist. Die Leute haben ja oft selbst nicht genug zum Leben. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.«
Die Haushälterin trat beiseite und ließ die Nonne eintreten, dabei bemerkte sie, daß Schwester Klara leicht humpelte.
»Haben S’ sich verletzt?« erkundigte sie sich teilnahmsvoll und nahm ihr die Reisetasche ab.
»Ja, gestern, als ich über eine Weide den Weg abkürzen wollte, da bin ich an einem Zaun hängengeblieben und habe mir das Bein aufgerissen.«
Jetzt sah Hermine auch, daß der Habit am Saum zerrissen war.
»Kommen S’ in die Küche«, sagte sie. »Ich habe einen schönen Tee gekocht.«
In der Küche bat sie die Besucherin, Platz zu nehmen. Der Tee, es war ein Kräutertee, dessen Zutaten sie selbst im Wald gesucht hatte, stand in einer Kanne auf einem Stövchen. Hermine holte eine zweite Tasse und schenkte ein.
»Haben S’ vielleicht Hunger, Schwester?« erkundigte sie sich. »Natürlich sind S’ herzlich eingeladen, nachher mit uns zu Mittag zu essen. Aber ich könnt’ Ihnen schon jetzt ein belegtes Brot machen.«
Die Nonne faltete die Hände.
»Sie sind zu gütig, Frau Hermine«, sagte sie. »Ja, ein Brot würde ich gerne essen. Wissen Sie, es ist schon eine Weile her, daß ich etwas zu mir genommen habe.«
Während die Haushälterin an den Küchenschrank ging, um das Brot zu holen, trank Schwester Klara einen Schluck von ihrem Tee, verzog angewidert das Gesicht und schüttelte sich.
Brrr, schmeckte das Zeug scheußlich!
Hermine bekam nichts davon mit. Sie strich Butter auf die Brotscheibe und legte – ganz im Gegensatz zu ihrer Gewohnheit – eine dicke Scheibe Wurst darauf.
»Ach, vielen Dank«, sagte die Besucherin. »Das sieht wirklich lecker aus.«
Während sie aß, erkundigte sich die Nonne scheinbar beiläufig nach der Gemeinde und der Anzahl ihrer Mitglieder. Hermine Wollschläger gab bereitwillig Auskunft, und es fiel ihr nicht auf, daß die Schwester sich sehr für die Höhe der sonntäglichen Kollekte zu interessieren schien. Was sie indes bemerkte, war, daß Schwester Klara nicht von ihrem Tee trank.
»Schmeckt er Ihnen net?«
»Doch, doch«, versicherte die Nonne. »Es ist nur so, daß ich ein wenig müde und erschöpf bin. Ich fürchte, der weite Weg hat mich meine letzten Kraftreserven gekostet.«
Sie sah sich um.
»Wenn ich mich irgendwo ein Weilchen ausruhen könnte…?«
»Aber freilich«, nickte die Haushälterin sofort freundlich. »Wir haben ein Gästezimmer. Legen S’ sich dort auf das Bett. Ich wecke Sie dann, wenn Hochwürden wieder da ist.«
Daß die Müdigkeit der Nonne nichts damit zu hatte, daß diese den Tee nicht trank, entging ihr. Sie nahm die Reisetasche und führte die Besucherin in das Gästezimmer, das am anderen Ende des Flures lag, und schloß die Tür hinter ihr.
Normalerweise würde sie nicht dulden, daß eine Frau – außer ihr – im Pfarrhaus schlief. Aber hier war das ja wohl etwas anderes.
Im Gästezimmer blickte sich die Schwester rasch um, dann nickte sie zufrieden und unterdrückte ein Lachen.
Na also, dachte die Frau, die sich Schwester Klara nannte, hat es doch mal wieder geklappt!
*
Sophie Tappert hatte eine Saftkaraffe und zwei Gläser in das Arbeitszimmer gebracht. Sie nickte der jungen Frau grüßend zu und ging wieder. Der Seelsorger schaute die Besucherin erwartungsvoll an.
»Als meine Mutter vor ein paar Wochen verstarb, fand ich in ihrem Nachlaß einen Brief, der an mich gerichtet war«, begann Carla zu erzählen. »Daraus geht hervor, daß der Mann, den ich all die Jahre für meinen Vater hielt, mich adoptiert hatte, als ich acht Monate war… Jetzt bin ich hergekommen, um herauszufinden, woher meine Eltern stammen, wer mein richtiger Vater war und ob es noch Verwandte gibt.«
Sebastian Trenker nickte verstehend.
»Ihre Eltern stammen also aus St. Johann?«
»Ja, das hat mir der Bruder meines Adoptivvaters erzählt. Und hier soll sich auch das Grab meines richtigen Vater befinden.«
Sie berichtete von dem Gespräch mit Heinrich Brinkmann. Der Geistliche hörte geduldig zu und bat anschließend darum, den Brief und die Urkunden lesen zu dürfen. Carla händigte ihm die Unterlagen aus, und Sebastian vertiefte sich darin.
Noch während der Bergpfarrer las, überlegte er, ob er mit dem Namen Hornbacher etwas anfangen konnte. Er kam ihm bekannt vor, schien allerdings irgendwo in der fernen Vergangenheit verborgen zu sein.
Natürlich, erinnerte er sich plötzlich, das war der Name der Familie, die damals den Hof bewirtschaftet hatte, der unterhalb der Zwillingsgipfel lag.
Du liebe Güte, wie lange war das schon her!
Sebastian fiel es wieder ein. Es mußte so um die Zeit gewesen sein, als er auf das Priesterseminar gegangen war. Damals war er lange Zeit von zu Hause fort, und als er dann zurückkam und die Pfarrstelle übernahm, da hatte der Hornbacherhof einen neuen Besitzer.
Der gute Hirte von St. Johann sah die junge Frau einen Moment an.
»Es scheint alles zu stimmen«, sagte er dann. »Ich erinn’re mich noch gut an Ihre Mutter, die Brigitte, und an Ihre Großeltern. Allerdings weiß ich nix über Ihren Vater, den Tobias Starnmoser. Ich bin seinerzeit für einige Jahre fortgewesen, und in dieser Zeit muß sich das alles abgespielt haben; das erklärt wohl, warum ich mit dem Namen Ihres richtigen Vaters net viel anzufangen weiß. Eigentlich wundert es mich, daß damals, als ich zurückkam, net darüber geredet worden ist…«
Er nahm Carlas Hand und drückte sie.
»Ich möcht’ Ihnen mein Beileid ausdrücken«, sagte er. »Wenn man’s recht betrachtet, dann haben S’ mit dem Tod Ihrer Mutter auch den Vater verloren. Was allerdings das Grab des Tobias Starnmoser angeht, da muß ich Sie enttäuschen. Auf uns’rem Friedhof liegt kein Mann mit diesem Namen begraben…«
Carla sah den Geistlichen enttäuscht an.
»Nein?«
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Ganz gewiß net.«
Die hübsche Arzthelferin war ratlos.
»Aber wieso konnte mein Onkel dann sagen, daß…?«
»Haben S’ vielleicht in den Unterlagen Ihrer Mutter irgendwas gefunden, das uns einen weiteren Hinweis geben kann?« forschte der Bergpfarrer nach. »Sie sagten, Ihre Mutter hätte das Grab pflegen lassen. Da muß es doch irgendwas geben; Rechnungen vielleicht, einen Vertrag sogar, der das Ganze regelt.«
Carla versuchte, sich zu erinnern.
Nein, da war nichts, was sie übersehen hatte. Ein solcher Vertrag wäre ihr doch bestimmt aufgefallen, nachdem die Eltern alles so ordentlich abgelegt und aufbewahrt hatten.
»Nun, ich denk’, daß wir dieses Problem net sofort werden lösen können«, meinte der Geistliche. »Aber wir geh’n gleich einmal in die Kirche hinüber. In der Sakristei befindet sich das Archiv. Dort werden wir nachschau’n, ob wir etwas finden. Außerdem würd’ ich vorschlagen, daß wir einen Besuch auf dem Hornbacherhof machen; der allerdings heut’ net mehr so heißt. Die Wagners, die ihn jetzt bewirtschaften, sind eine sehr nette Familie. Bestimmt werden sie sich freuen, Sie kennenzulernen.«
Carla Brinkmann lächelte.
»Das hört sich ganz so an, als wollten Sie sich meiner annehmen und mir weiterhelfen«, sagte sie.
»Freilich will ich das«, antwortete Pfarrer Trenker. »Und glauben S’ mir, wir werden schon was herausfinden.«
Er stand auf.
»So, dann geh’n wir als erstes in die Kirch hinüber«, erklärte er. »Und heut’ mittag bleiben S’ zum Essen. Meine Haushälterin ist eine sehr gute Köchin.«
Carla hatte ihr Glas geleert.
»Das glaub’ ich gern«, antwortete sie. »Dieser Saft schmeckt einfach wunderbar. Überhaupt kein Vergleich mit dem, was man sonst zu kaufen bekommt.«
Bevor sie das Pfarrhaus verließen, ging Sebastian in die Küche. Seine Haushälterin war mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt.
»Frau Tappert, wir haben einen Gast heut’ mittag«, sagte der Geistliche. »Die junge Dame bleibt zum Essen.«
Sophie Tappert sah auf. Sie war gerade dabei, aus gekochten Kartoffeln, Gries, Eigelb und Stärkemehl Knödel zu formen. Jetzt nickte sie.
»Hab’ ich mir schon gedacht, Hochwürden.«
Sebastian schmunzelte.
Natürlich, das hätte er sich ja auch denken können!
*
Als sie die Kirche betraten, kam Carla nicht mehr aus dem Staunen heraus. Stumm blieb sie in der Tür stehen und schaute sich um.
Gold, Blau und Rot – das waren die vorherrschenden Farben, in denen das Gotteshaus geschmückt war. Herrliche Fensterbilder mit Szenen aus der Bibel gab es zu sehen, wundervoll geschnitzte Heiligenfiguren, den Flügelaltar mit dem Kreuz darüber und die imposante Orgel.
»Wunderschön!« entfuhr es der Arzthelferin.
Der Geistliche führte sie herum und zeigte ihr alles, zuletzt schloß er die Tür zur Sakristei auf. Sebastian schaltete das Licht ein und ließ Carla Brinkmann dann eintreten.
Es war ein nicht sonderlich großer Raum, karg eingerichtet. In der Mitte stand ein Tisch mit ein paar Stühlen drum herum. Regale an den Wänden, mit Meßgeräten, Leuchtern und Kartons mit Kerzen. In einem offenen Kleiderschrank hingen Sebastians Gewänder und die der Meßdiener. An der Stirnseite der Sakristei befand sich das Regal, in dem die Kirchenbücher aufbewahrt wurden. Schwere Folianten, in Leder gebunden, viele davon schon sehr alt.
Der Bergpfarrer forderte Carla auf, sich zu setzen, und suchte das entsprechende Buch heraus. Er brachte es zum Tisch und schlug es auf.
»Dann wollen wir mal schau’n«, murmelte er und beugte sich über die offenen Seiten.
Sein Finger fuhr über die Jahreszahlen. Für die Arzthelferin waren die Ziffern und Buchstaben nur schwer zu lesen; die Vorgänger des Geistlichen hatten noch eine sehr alte Schrift benutzt.
Sebastian hatte indes keine Schwierigkeiten, die Eintragungen zu entziffern. Er nahm oft eines der alten Bücher zur Hand und las darin. Besonders interessant waren die ganz alten, bildeten sie doch gleichermaßen eine Chronik; neben Geburten, Taufen, Hochzeiten und Todesfällen waren auch Krieg, Pest und Feuersbrünste darin festgehalten worden.
»Da steht’s ja schon«, sagte er nach einer Weile und tippte auf die Stelle. »Brigitte Hornbacher, Tochter des Bergbauern Veit Hornbacher und seiner Frau Margarete, geb. Brunner.«
Sebastian las die Eintragung laut vor. Dann blätterte er zurück, bis er das Jahr fand, in dem Carlas Großeltern geheiratet hatten. Auch diese Daten enthielt er der jungen Frau nicht vor.
»Steht denn da auch, wann meine Großeltern verstorben sind?« fragte Carla.
Der Bergpfarrer suchte nach entsprechenden Daten.
»Ich fürcht’, da werden wir nix finden«, sagte er schließlich. »Offenbar sind die Eltern Ihrer Mutter tatsächlich ganz von hier fortgegangen. Als ich vom Priesterseminar zurückkam, gehörte der Hof schon der Familie Wagner. Ich bin dann für einige Zeit noch in München gewesen, ehe ich hier die Pfarrstelle übernahm. In diesem Zeitraum muß sich das also alles abgespielt haben. Ihre Großeltern haben den Hof verkauft und sind fortgegangen, weil sie hier net mehr glücklich werden konnten, nachdem die Tochter mit dem Knecht durchgebrannt ist.«
Carla nickte. So oder so ähnlich muß es wohl gewesen sein.
»Dann wird sich wohl auch nix über das Grab meines Vaters finden?«
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Wenn er hier auf dem Friedhof liegen würd’, dann schon«, antwortete er. »Aber so…«
»Wie kann mein Onkel denn so sicher sein, daß das Grab hier sein soll?«
Der gute Hirte von St. Johann hob ratlos die Hände.
»Vielleicht wollte Ihre Mutter net, daß jemand die letzte Ruhestätte ihres ersten Mannes kennt«, vermutete er. »Aber um ganz sicher zu sein, werd’ ich mit meinem Amtsbruder in Engelsbach sprechen. Vielleicht gibt es in den dortigen Kirchenbüchern einen Hinweis.«
Sebastian blätterte weiter, suchte nach einem ganz bestimmten Eintrag. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Also, ich vermute, daß Tobias Starnmoser net aus St. Johann stammt«, sagte er. »Der Name war mir gleich unbekannt. Wenn er doch hier geboren wäre, dann stünde es in diesem Buch. Wir können also davon ausgeh’n, daß Ihr Vater ein Zugereister war.«
Carla seufzte.
Ihre Mutter hatte ihr einen mehr als vagen Hinweis hinterlassen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte überhaupt geschwiegen.
Mutlos verließ die Arzthelferin an der Seite des Geistlichen die Kirche.
»Kopf hoch«, sagte Sebastian. »Noch ist net alles verloren. Wir werden so lang’ nachforschen, bis wir etwas finden. Wenn Ihre Mutter dem Herr Brinkmann gegenüber gesagt hat, das Grab sei hier, dann glaub’ ich fast, daß meine Vermutung richtig ist –, sie wollte net, daß jemand weiß, wo Tobias Starnmoser begraben liegt. Und selbst, wenn sich im Archiv zu St. Anna nix finden sollte, dann bleiben uns immer noch die Gärtnereien hier im Wachnertal, die solche Aufträge zur Grabpflege übernehmen.«
Er nickte der jungen Frau aufmunternd zu.
»Noch lassen wir die Hoffnung net fahren!«
Carla lächelte.
Es tat ihr gut, solche Worte zu hören, bedeuteten sie doch, daß sie nicht alleine war bei ihrer Suche nach den Wurzeln der Vergangenheit.
»Nach dem Essen fahren wir zum Hof Ihrer Großeltern hinauf«, versprach der Bergpfarrer. »Die Wagners werden sich freuen, Sie kennenzulernen.«
Bis zum Mittagessen hatten sie noch Zeit, im Garten des Pfarrhauses zu sitzen und sich über alles zu unterhalten. Sebastian Trenker spürte dabei wieder diesen übermächtigen Drang zu helfen. Nie würde er diese junge Frau wieder nach Hause fahren lassen, ohne vorher Licht in das Dunkel zu bringen.
*
Blasius Eggensteiner zwängte sich aus seinem Auto, was angesichts seiner Leibesfülle gar nicht so leicht war. Der Pfarrer von St. Anna brachte gut und gerne an die hundertzwanzig Kilo auf die Waage. Zwar versuchte seine Haushälterin seit geraumer Zeit, etwas gegen sein Übergewicht zu unternehmen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Pfarrer Eggensteiner aß nun mal gerne, und die schmale Kost, die Hermine Wollschläger ihm vorsetzte, schmeckte ihm überhaupt nicht. Deshalb verschwand er hin und wieder im Wirtshaus des Nachbarortes, wo er es sich dann richtig gutgehen ließ und Diätkost und Schonkaffee vergessen konnte.
So hatte er auch an diesem Mittag schon gegessen, als er zum Pfarrhaus zurückkehrte. Nach dem Besuch bei dem erkrankten Bauern, der außerhalb Engelsbachs seinen Hof hatte, war der Geistliche nach Waldeck weitergefahren und hatte sich einen herrlichen Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln gegönnt.
Seine Haushälterin empfing ihn an der Tür.
»Wir haben Besuch, Hochwürden«, sagte Hermine und erzählte von Schwester Klara.
»Wo ist sie denn jetzt?« fragte er.
»Ich hab’ sie im Gästezimmer untergebracht«, erklärte die Haushälterin. »Stellen S’ sich vor, den ganzen Weg von Regensburg bis hierher ist sie zu Fuß gegangen.«
Blasius Eggensteiner runzelte die Stirn.
»Was will sie denn hier?« erkundigte er sich.
»Schwester Klara ist im Auftrage der Mutter Oberin ihres Ordens unterwegs, um Spenden für ein Hilfsprojekt zu sammeln.«
»Was, und da kommt sie hierher?« Der Geistliche schüttelte den Kopf. Merkwürdige Ideen hatten diese Nonnen.
»Von uns kann sie jedenfalls nix bekommen«, meinte er. »Wir haben selbst kaum genug, um die Armen zu unterstützen.«
Das stimmte zwar nicht ganz, denn allein die Kollekte der Heiligen Messe am Sonntag zeigte, wie großzügig die Engelsbacher waren. Aber Pfarrer Eggensteiner war von jeher sparsam gewesen, um nicht zu sagen, knauserig, und hielt sich mit milden Gaben eher zurück.
Vor allem, wenn jemand aus einer fremden Gemeinde darum bat, und Regensburg lag ja nun wirklich nicht in unmittelbarer Nachbarschaft.
»Wir können essen«, erklärte Hermine Wollschläger. »Ich sag’ der Schwester Bescheid.«