E-Book 1745-1750 - Myra Myrenburg - E-Book

E-Book 1745-1750 E-Book

Myra Myrenburg

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Keine Leseprobe vorhanden. E-Book 1: Armes reiches Kind E-Book 2: Traurige Kinderaugen tun weh E-Book 3: Für immer ohne Vater… E-Book 4: Das Opfer war Jonathan E-Book 5: Hin- und hergestoßen E-Book 6: Drei kleine Detektive

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Inhalt

Armes reiches Kind

Traurige Kinderaugen tun weh

Für immer ohne Vater…

Das Opfer war Jonathan

Hin- und hergestoßen

Drei kleine Detektive

Mami – 4–

6er Jubiläumsbox

1745-1750

Myra Myrenburg Gloria Rosen Annette Mansdorf Susanne Svanberg Isabell Rohde Carola Kreutzer

Armes reiches Kind

Roman von Annette Mansdorf

»Wann gehen wir denn endlich auf den Spielplatz, Mami?«

Simon sah seine Mutter an und hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

Ann-Katrin mußte ihn leider noch eine Weile vertrösten, obwohl sie selbst auch gern aus dem Haus gegangen wäre. Sie fühlte sich wie eine Gefangene.

»Tut mir leid, Schatz, aber wir müssen noch warten, bis der Arzt bei deiner Großmutter war. Sie fühlt sich nicht gut, das habe ich dir doch erzählt.«

»Aber Maria ist doch da.«

Die Haushälterin kümmerte sich um alles, vor allem natürlich um das Wohl und Wehe ihrer Chefin Livia von Krampe. Aber in diesem Fall fühlte sich Ann-Katrin verpflichtet, selbst im Haus zu bleiben, bis der Arzt ihr bestätigen konnte, daß es nichts Ernstes war. Livia von Krampe, ihre Schwiegermutter, würde es nicht anders erwarten.

»Ich muß hierbleiben, Schatz. Geh noch ein wenig in dein Zimmer zum Spielen. Ich sage dir dann Bescheid, wenn wir gehen können.«

Simon zog mürrisch ab.

Er hatte sich auf den Abenteuerspielplatz gefreut. Im Haus durfte er nicht laut sein und herumtoben, weil seine Großmutter dann immer Kopfschmerzen bekam. Dabei war der Garten riesig. Nicht einmal Freunde konnte er mitbringen, es sei denn, sie waren ganz, ganz leise. Da machte das Spielen keinen Spaß.

Ann-Katrin sah ihrem Sohn nach und dachte wieder einmal daran, wie sehr er seinem Vater ähnelte. Carsten war jetzt seit einem Dreivierteljahr tot. Er hatte einen Motorradunfall gehabt. Zwei Tage später war er an den Folgen gestorben. Noch immer fühlte sie das Entsetzen, als sie die Nachricht erhalten hatte. Livia hatte einen Nervenzusammenbruch bekommen, so daß Ann-Katrin sich zusätzlich noch um sie hatte kümmern müssen. Aber wahrscheinlich hatte das auch geholfen, den Schock besser zu überstehen, denn da war ja Simon gewesen, der noch gar nichts von dem Schrecklichen verstanden hatte. Daß sein Papa nicht mehr wiederkommen würde, hatte er begriffen aber trotzdem in der folgenden Zeit immer wieder nach ihm gefragt.

Heute war der Schmerz zwar noch nicht gewichen, aber erträglich geworden. Ann-Katrin hatte viel über ihre Ehe nachgedacht. Sie war nicht einmal sicher, ob sie auf Dauer gehalten hätte, denn dadurch, daß Carsten darauf bestand, in der großen Villa seiner Mutter zu wohnen, war die Ehe sehr belastet gewesen. Livia ließ auch Ann-Katrin nicht gehen, obwohl sie ihre Schwiegertochter gar nicht mochte. Daraus hatte sie nie einen Hehl gemacht. Sie bestand jedoch darauf, Simons Erziehung zu überwachen. Wahrscheinlich würde sie einen zweiten Carsten aus ihm machen wollen.

Carsten hatte ganz unter der Fuchtel seiner Mutter gestanden, aber es war ihm gut dabei ergangen. Er hatte immer über reichlich Geld aus der Firma verfügt, in der er offiziell arbeitete, in Wirklichkeit jedoch meistens durch Abwesenheit glänzte. Der tüchtige Geschäftsführer meisterte die Arbeit viel besser, als er das je gekonnt hätte. Sein Interesse war das Motorradfahren, die Reisen, die er für die Firma durchgeführt hatte, und das Sammeln von Antiquitäten, mit denen er dann seine Mutter beglückte.

Manchmal war sich Ann-Katrin wie ein Vogel im goldenen Käfig vorgekommen. Sie hätte gern einen eigenen Haushalt gehabt, eine Wohnung, in der Simon unbeschwert aufwachsen und laut sein durfte…

Wieder einmal überfiel sie der Wunsch, einfach ihre und Simons Sachen zu packen und bei Nacht und Nebel das Haus zu verlassen. Einfach so – ohne Angabe einer Adresse. Das war natürlich nicht möglich, Livia hatte zumindest das Recht, ihren Enkel regelmäßig zu sehen. Außerdem bot sie ihm Möglichkeiten, die Ann-Katrin niemals gehabt hätte. Zwar war sie die Erbin ihres Mannes, doch da er offiziell laut Livia nichts besessen hatte, konnte sie mit diesem Titel nicht viel anfangen. Sie müßte sich eine Arbeit suchen und Simon in einen Ganztagskindergarten geben. Damit übte Livia natürlich einen gewaltigen Druck auf sie aus.

»Gnädige Frau, der Herr Doktor ist jetzt da«, meldete Maria.

Sie lächelte nur, wenn sie Livia von Krampe gegenüberstand. Bei Ann-Katrin hielt sie es nicht für der Mühe wert. Weil ihre Chefin die junge Frau nicht mochte, mochte sie sie auch nicht.

»Ich komme.«

Der Mann, der in der Halle wartete, war nicht der Arzt, der regelmäßig zu Livia von Krampe kam. Ann-Katrin sah ihn fragend an.

»Sie kommen zu meiner Schwiegermutter? Ist Dr. Turm nicht da?«

»Ich mache die Vertretung für ihn, Frau von Krampe. Dr. Turm ist erkrankt. Mein Name ist Carlos Schweizer.«

»Ach so. Gut, Herr Dr. Schweizer, wenn ich dann bitte vorgehen dürfte?«

Er lächelte und nahm seine Arzttasche auf. Ann-Katrin war sich seiner Blicke in ihrem Rücken bewußt. Sie ging ein wenig unsicher, was sie sogleich ärgerte. Nur weil es nicht der alte Hausarzt, sondern ein junger, gutaussehender war, mußte sie nicht gleich so reagieren…

Sie hatte nicht viel Gelegenheit, mit Leuten ihres Alters zusammenzusein. Livia weigerte sich, abends auf ihren Enkel aufzupassen. Auch Maria wohnte im Haus, aber sie zu fragen, wäre Ann-Katrin gar nicht in den Sinn gekommen. Also blieb sie fast immer zu Hause, es sei denn, sie mußte ihre Schwiegermutter zu irgendwelchen Theaterpremieren oder ähnlichem begleiten, zu denen diese nicht allein gehen wollte. Dann war Maria natürlich bereit, die Aufgabe eines ›Babysitters‹ zu übernehmen.

»Ein sehr schönes Haus«, meinte Dr. Schweizer anerkennend, während er Ann-Katrin in den ersten Stock folgte, in dem die Privaträume von Livia von Krampe lagen.

»Ja, es ist schön«, erwiderte sie etwas lahm, um ihn nicht ohne Antwort zu lassen.

Ann-Katrin empfand das Haus als kalt. Auch wenn es noch so kostbar eingerichtet war. Ein Haus, in dem nicht gelacht wurde, in dem keine Kinder herumtoben durften, lebte für sie nicht.

Als sie an der Tür zum Schlafzimmer ankamen, klopfte Ann-Katrin und wartete auf das ›Herein‹. Dann öffnete sie die Tür ein Stück, um zu sehen, ob ihre Schwiegermutter bereit war, den Arzt zu empfangen.

»Der Vertreter von Dr. Turm ist jetzt da, Livia.«

»Der Vertreter? Was für ein Vertreter?«

»Dr. Turm ist erkrankt. Er hat uns Dr. Schweizer geschickt.«

»Na gut. Er soll hereinkommen. Dr. Turm würde es nicht wagen, mir einen unfähigen Quacksalber zu schicken.«

Ann-Katrin schämte sich ein wenig, daß der Arzt das gehört hatte, doch Dr. Schweizer machte ein gleichmütiges Gesicht. Er bedankte sich, als Ann-Katrin zur Seite trat und ging in das Zimmer hinein. Ann-Katrin wollte schon die Tür schließen, als ihre Schwiegermutter sie zum Bleiben aufforderte.

»Ich habe heute leichte Kopfschmerzen. Und mir ist ein wenig schwindelig«, teilte sie dann dem Arzt mit ihrer befehlsgewohnten Stimme mit.

»Und sonst nocht etwas? Fieber? Schüttelfrost…«

»Nein, natürlich nicht, dann hätte ich es erwähnt, nicht wahr?«

»Sicher. Aber wegen der genannten Beschwerden hätten Sie doch auch in die Praxis kommen können, gnädige Frau. Ich dachte, es läge ein Notfall vor.«

Ann-Katrin hielt die Luft an. Offenbar hatte Dr. Turm ihm nicht gesagt, wen er vor sich hatte. Gleich würde Livia einen Anfall bekommen. Sie haßte es, wenn jemand ihre Bedeutung nicht anerkannte.

»Ich bin Privatpatientin und für das, was ich an Arztkosten zahle, kann ich mir einen eigenen Leibarzt halten.«

»Das mag sein, gnädige Frau, aber ich würde es nicht sein. Mein Wartezimmer ist voll. Sie haben leicht erhöhten Blutdruck, in Ihrem Alter nicht erstaunlich. Nehmen Sie Tabletten?«

Er packte die Blutdruckmanschette wieder ein und ahnte nicht, daß er einen zweiten Fehler begangen hatte. Livia wollte immer noch gern als Frau in den besten Jahren angesehen werden. Das hatte er grob mißachtet.

»Mein Alter hat damit nichts zu tun. Tun Sie jetzt etwas, oder soll ich mir jemanden anderen holen?« sagte sie scharf.

»Ich kann ohne eine gründliche Untersuchung nicht einfach irgendein Medikament verschreiben. Dr. Turm hat lange kein EKG gemacht. Kommen Sie bitte morgen in die Praxis, dann holen wir das nach. Anschließend können wir überlegen, was zu tun ist. Wahrscheinlich reicht eine Diät und Verzicht auf Alkohol, um das wieder in Ordnung zu bringen.«

Damit hatte er das dritte Tabu gebrochen. Livia würde sich ihren Wein niemals verbieten lassen. Sie bezog ihn von einem Weingut in Frankreich und trank jeden Abend zwei bis drei Gläser.

Armer Dr. Schweizer, dachte Ann-Katrin voller Sympathie, er ahnt noch gar nicht, daß er hier nie wieder erscheinen durfte und Livia von Krampe seine Sprüche natürlich nicht auf sich beruhen lassen würde. Hoffentlich hatte Dr. Turm genügend Rückgrat, um ihm die Vertretung nicht wegzunehmen.

»Mir scheint, Sie verstehen nicht sehr viel von Ihrem Fach. Sonst wüßten Sie, daß Rotwein für das Herz sehr gut ist!«

»Das mag sein. Aber Voraussetzung ist ein gesunder Körper.«

Sie maßen sich mit Blicken.

Ann-Katrin schaute vorsichtshalber aus dem Fenster. Sie wollte in den Disput nicht hineingezogen werden.

»Nun gut. Ich werde sehen«, hörte sie ihre Schwiegermutter sagen.

»Dann verabschiede ich mich wieder. Im Moment besteht mit Sicherheit keine Gefahr, wenn Sie sich an das halten, was ich gesagt habe. Ich erwarte Sie dann morgen in der Praxis.«

Ann-Katrin folgte ihm aus dem Zimmer und zeigte ihm das Bad, wo er sich die Hände wusch. Noch immer sah er völlig gelassen aus. Wußte er nicht, daß er sich soeben eine Feindin gemacht hatte?

»Ihre Frau Schwiegermutter ist beeindruckend stark, nicht wahr?«

»In ihrem Willen, meinen Sie?«

»Ja, sicher.«

»Ja, das ist sie. Aber ich weiß nicht, ob es klug war, sie…«

»Ich bin Arzt und kein Diplomat. Das Wartezimmer ist voller Kranker, die mich zum Teil dringend brauchen. Ich mache keine Spielchen mit.«

»Ich meinte es nur gut.«

»Ich weiß. Aber Sie sollten das nicht bedienen. Man zieht dann immer den Kürzeren.«

Woher wußte er, daß Ann-Katrin unter ihrer Schwiegermutter zu leiden hatte? Es hätte doch auch sein können, daß sie es besonders gut hatte…

»Sie sehen etwas blaß aus, Frau von Krampe. Ich denke, Sie fühlen sich nicht sehr wohl.«

Er hatte ohne Zweifel Mut. Ann-Katrin war beeindruckt, obwohl sie es vorzog, auf seinen Einwurf nicht zu antworten. Er würde ihr nicht helfen können.

»Mama, kann ich jetzt endlich zum Spielplatz?«

Simon stand in der Halle und schaute von seiner Mutter zum Arzt.

»Ja, mein Schatz, gleich können wir gehen. Ich muß nur noch schnell fragen, ob deine Großmutter noch etwas braucht.«

»Och… immer noch nicht!«

»Du kannst sicher gleich spielen gehen, mein Junge.«

Dr. Schweizer lächelte Simon zu, der das Lächeln sofort erwiderte.

Ann-Katrin reichte dem Arzt die Hand.

»Vielen Dank, daß Sie sich herbemüht haben, Herr Doktor.«

»Gern geschehen.«

Er sah sie noch einmal prüfend an. Ann-Katrin wich seinem Blick aus und schloß die Tür hinter ihm.

*

Natürlich regte sich Livia sehr auf. Sie hielt Ann-Katrin noch eine gute Viertelstunde auf, doch dann traf Ann-Katrin eine mutige Entscheidung.

»Tut mir leid, Livia, reden wir bitte heute abend weiter. Ich muß mit Simon auf den Spielplatz gehen, ich hatte es versprochen. Du hast ja Maria, falls du etwas brauchst.«

»Ich bin gar nicht dafür, daß der Junge dort spielt! Die Kinder dort sind kein Umgang für ihn.«

»Das sehe ich anders, Livia.«

Livia von Krampe zeigte deutlich, was sie von diesem Widerspruch hielt. Sie kniff die Lippen zusammen und trommelte mit den beringten Fingern auf die Rosenholztischplatte.

Ann-Katrin verließ sie. Sie wußte, daß sie heute abend ignoriert werden würde, doch das ließ sich dann eben nicht ändern. Simon hatte auch seine Rechte, und eines davon war, daß sie sich um ihn zu kümmern hatte. Es war entschieden die fröhlichere Gesellschaft.

Dr. Schweizer ging Ann-Katrin nicht aus dem Kopf. Es imponierte ihr, daß er seinen Beruf so ernstnahm und sich nicht von einer verwöhnten alten Frau beeindrucken ließ. Aber sicher würde sie ihn nicht wiedersehen, denn das Haus durfte er bestimmt nicht mehr betreten.

Simon tobte mit zwei anderen Jungen auf der Rutsche herum. Er kreischte vor Vergnügen.

Ann-Katrin lächelte. Wie gut, daß er unter seiner Großmutter nicht litt. Er war stark, stärker als sein Vater. Von ihr hatte er das allerdings auch nicht, aber möglicherweise von ihrer Mutter, die Ann-Katrin nach dem frühen Tod des Vaters ganz allein hatte aufziehen müssen, und das unter schwierigen Umständen.

Das war auch so ein Punkt, den Livia verachtete.

Ann-Katrin kam aus keiner ›guten‹ Familie. So sah Livia es jedenfalls. Eine gute Familie war in ihren Augen reich oder adlig, aber am besten beides.

Daß Carsten sie überhaupt hatte heiraten dürfen, war schon ein kleines Wunder. Das war vermutlich das erste, und einzige Mal gewesen, daß er sich gegen seine Mutter durchgesetzt hatte. Er war sehr verliebt in Ann-Katrin gewesen, die in allem das Gegenteil seiner Mutter war. Livia war groß und dunkelhaarig, Ann-Katrin zierlich und blond mit blauen Augen. Ihr Wesen war eher sanft, wo Livia knallhart war. Sonst hätte sie die Firma sicher auch nicht so gut verwalten können, nachdem der Ehemann gestorben war. Das mußte Ann-Katrin anerkennen, vom Geschäft verstand sie wirklich etwas.

»Mama, sieh mal!«

Simon kletterte freihändig die Stufen zur Rutsche hinauf. Er winkte ihr zu.

»Vorsicht, Schatz! Halt dich lieber fest.«

»Brauch ich nicht«, rief er vergnügt.

Wie es passierte, konnte Ann-Katrin nicht sehen. Vielleicht blieb er an einer der Metallstufen hängen, oder er rutschte mit dem Fuß hindurch.

Sein Schrei hallte über den Spielplatz, als er rückwärts die Stufen herunterfiel und unten im Sand liegenblieb. Gott sei Dank war er noch nicht sehr weit geklettert.

Ann-Katrin lief zu ihm. Sein Fuß war verdreht. Er schien gebrochen zu sein. Simon war ganz weiß im Gesicht. Einmal kam das sicher durch den Schreck, aber dann auch durch die Schmerzen.

»Warte, mein Schatz, ich hebe dich vorsichtig auf…«

»Lassen Sie ihn lieber liegen. Wir sollten einen Unfallwagen holen«, riet ihr eine andere Mutter, die ebenfalls angelaufen kam.

»Ja, das ist vielleicht besser. Könnten Sie…«

»Ja, ich gehe vorn zur Telefonzelle.«

Ann-Katrin hockte sich neben Simon in den Sand und nahm seinen Kopf vorsichtig in den Schoß.

»Nicht weinen, mein Schatz. Es wird wieder gut. Mama ist ja hier…«

Am liebsten hätte sie selbst geweint, so weh tat es ihr, ihren Sohn leiden zu sehen. Aber sie mußte jetzt ganz ruhig bleiben, um ihn nicht noch zusätzlich zu ängstigen.

»Es tut so weh, Mama…«, stöhnte er.

»Ja, ich weiß. Aber du bekommst sicher gleich eine Spritze, wenn der Arzt da ist. Dann wird es besser.«

Er vertraute ihr und versuchte, tapfer zu sein. Ann-Katrin hielt nach dem Unfallwagen Ausschau. Die Frau kam zurück und teilte ihr mit, daß er jeden Moment kommen müßte. Sie hatte es dringend gemacht.

Fünf Minuten später konnten sie das Martinshorn hören. Ann-Katrin atmete auf. Sie hatte Angst, daß Simon sich noch innere Verletzungen zugezogen haben könnte.

Der Arzt untersuchte den Knöchel kurz und gab dem Kleinen dann eine schmerzstillende Spritze.

»Es ist ein glatter Bruch, soweit ich das sehen kann. Er wird vielleicht nicht einmal in der Klinik bleiben müssen. Aber Endgültiges kann man erst nach dem Röntgen sagen. Der Sand hat das Schlimmste aufgefangen.«

Simon wurde in den Wagen geschoben. Ann-Katrin durfte ausnahmsweise neben ihm auf einem schmalen Notsitz Platz nehmen.

Sie fuhren mit Sirenengeheul los, was Simon mächtig imponierte. Seine Schmerzen waren nach der notdürftigen Schienung mit einer aufblasbaren Manschette und der Spritze nicht mehr zu schlimm.

Die Röntgenbilder ergaben einen Bruch, wie der Arzt vermutet hatte.

»Am besten bleibt er zumindest über Nacht hier. Falls es noch stark anschwillt, müssen wir den Gips wieder öffnen«, teilte der Unfallarzt Ann-Katrin mit.

Sie hatte die ganze Zeit bei Simon gesessen und seine Hand gehalten, während der Gips angelegt wurde.

»Kann ich das nicht über den Hausarzt kontrollieren lassen?« bat sie, weil sie wußte, daß Simon sich zu Hause wohler fühlen würde.

»Wer ist Ihr Hausarzt?«

»Eigentlich Dr. Turm, aber im Moment Dr. Schweizer.«

»Carlos Schweizer?«

»Ja, das ist sein Vorname. Er war heute bei meiner Schwiegermutter.«

»Er ist sehr gut. Na schön, ausnahmsweise. Aber ich rufe ihn gleich selbst an und spreche mit ihm, ob er bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen.«

Das war Ann-Katrin sogar lieber, als wenn sie es tun müßte. Der Arzt kam nach ein paar Minuten zurück.

»Ja, er ist bereit, heute abend nach der Sprechstunde noch einmal zu Ihnen hereinzuschauen. Und wenn etwas ist, können Sie ihn auch nachts anrufen.«

»Vielen Dank. Ich werde mich genau an seine Anweisungen halten.«

»Kommen Sie in einer Woche wieder her. Dr. Schweizer wird Ihnen sagen, was zu tun ist. Sollte es Schwierigkeiten geben, natürlich eher.«

Ann-Katrin bat darum, ein Taxi zu bestellen. Simon wurde im Rollstuhl hinausgefahren. Er hatte jetzt vor Aufregung leuchtende Augen. Natürlich war er etwas überdreht. Der Arzt hatte Ann-Katrin erklärt, daß er später

wieder Schmerzen bekommen würde. Sie sollte ihm in regelmäßigen Abständen Tabletten geben, die das etwas dämpfen würden.

Als sie zu Hause ankamen, trug Ann-Katrin ihn zur Tür und klingelte mit dem Ellbogen. Sie konnte nicht aufschließen, weil sie Simon dann hätte herunterlassen müssen.

Es dauerte eine geraume Weile bis Maria endlich öffnete. Als sie Simons Gipsbein sah, wurde sie eine Spur blasser.

»Oh… hatte er einen Unfall? Die gnädige Frau war schon ungehalten, weil Sie so spät zurückkommen.«

»Er ist gestürzt und hat sich den Knöchel gebrochen.«

Ann-Katrin ging an ihr vorbei und trug Simon zu seinem Zimmer. Dort legte sie ihn vorsichtig auf das Bett und atmete auf. Er hatte schon ein ganz schönes Gewicht.

»Soll ich dir etwas zu essen bringen?«

»O ja, Marmeladenbrot. Und vorlesen.«

»Gut, mein Schatz, das machen wir. Du bekommst sofort dein Brot. Aber erst ziehe ich dich aus und wasche dich ein bißchen.«

Das war noch einmal eine etwas umständliche Prozedur, doch Simon hielt sich tapfer. Die Hose hatte man ihm im Krankenhaus bereits aufgeschnitten. Jetzt zog Ann-Katrin ihm ein großes T-Shirt von sich an, damit er sich nicht in die Schlafanzughose quälen mußte. Er sah lustig aus, weil es wie ein langes Nachthemd wirkte.

In der Küche stand Maria und richtete das Abendessen für Livia her. Als sie sah, daß Ann-Katrin Marmelade und Butter aus dem Kühlschrank nahm, verzog sie ihr Gesicht.

»Das wird die gnädige Frau aber nicht billigen.«

»Das muß sie auch nicht, Maria«, antwortete Ann-Katrin gereizt.

Sie mochte es nicht, wenn die Haushälterin sich als verlängerter Arm ihrer Chefin aufspielte.

»Sie erwartet Sie oben.«

»Sagen Sie ihr bitte, daß ich mich um Simon kümmern muß. Wenn sie mich sprechen will, soll sie herunterkommen.«

Sie bestrich das Brot mit Marmelade und goß noch ein Glas Milch für Simon ein. Dann trug sie das Tablett in sein Zimmer. Er hatte sich ein Bilderbuch genommen und blätterte darin herum.

»Lies mir ein Märchen vor, Mama. Was du willst.«

Ann-Katrin liebte Märchen. Ihre Mutter hatte ihr immer am Sonntagmorgen, wenn sie Zeit hatte und sie zusammen in dem großen Bett saßen und frühstückten, vorgelesen. Seit Carstens Tod hielt sie es mit Simon genauso.

»Na gut. Ich suche eines aus. Nun iß aber schön, ja? Und dann kannst du sicher bald schlafen. Nachher kommt der Arzt noch einmal, um nach deinem Bein zu sehen.«

»Aber ich darf doch meinen Gips noch behalten?«

»Ja, das mußt du sogar.«

»Ich finde den toll.«

Ann-Katrin strich ihm über die verstrubbelten Haare.

Zehn MInuten später stand ihre Schwiegermutter in der Tür.

»Kann ich dich sprechen, Ann-Katrin?« fragte sie streng, ohne Simon auch nur anzusehen.

»Jetzt nicht, Livia. Sobald Simon eingeschlafen ist, komme ich zu dir.«

»Ich muß doch sehr bitten! Ich bin es nicht gewöhnt zu warten. Hättest du auf mich gehört, wäre dieser unnötige Unfall gar nicht passiert!«

»Livia, bitte nicht hier!«

»Ich bin es gewohnt, in meinem eigenen Haus auszusprechen, was ich will. Du hast dich unverantwortlich leichtsinnig verhalten.«

»Wie meinen Sie denn das, Frau von Krampe? Hat Ihre Schwiegertochter ihn eigenhändig die Treppe der Rutsche hinuntergeworfen?« fragte hinter ihr jetzt Dr. Schweizer, der von Maria herbegleitet worden war.

Diesmal war seine Stimme allerdings nicht mehr sehr verbindlich. Er wirkte sehr ärgerlich. Ann-Katrin mußte lächeln, ob sie wollte oder nicht. Ihre Schwiegermutter sah aus, als wolle sie angesichts dieser Unverschämtheit der Schlag treffen.

»Was machen Sie denn hier? Ich habe Sie nicht rufen lassen.«

»Nein, Livia, das war ich. Dr. Schweizer hat die Behandlung von Simon übernommen. Sonst hätte er im Krankenhaus bleiben müssen.«

»Das dulde ich unter keinen Umständen! Simon soll in die Klinik zurück. Auf die Privatstation von Professor Dingworth, der ein persönlicher Freund von mir

ist!«

»Professor Dingworth ist Gynäkologe, gnädige Frau. Das wäre nun doch etwas unpassend.«

Ann-Katrin lachte. Sie wußte, daß es nicht sehr nett von ihr war, aber die Vorstellung, daß Simon zwischen lauter werdenden Müttern liegen sollte, nur weil ihre Schwiegermutter das so wollte, war wirklich zu komisch.

»Wir sprechen uns noch«, sagte Livia von Krampe hoheitsvoll und wartete, daß Dr. Schweizer zur Seite trat, um sie vorbeizulassen.

»Mein Gott, wie halten Sie das nur aus?« fragte Dr. Schweizer Ann-Katrin leise, als sie ihn jetzt begrüßte.

»Es geht immer irgendwie«, gab sie zurück.

»Sie sollten nicht ›irgendwie‹ leben müssen.«

»Herr Doktor, es geht hier um Simon, nicht um mich. Ich glaube, sein Knöchel ist nicht weiter angeschwollen.«

Er warf ihr einen wissenden Blick zu und konzentrierte sich dann auf seine Arbeit. Ann-Katrin hatte nicht die Absicht, sich mit ihm über ihre Schwiegermutter zu unterhalten. Es würde die Situation nur verschärfen.

*

Carlos Schweizer erkundigte sich bei seinem alten Kollegen nach Livia von Krampe, als er am späten Abend bei ihm am Bett saß. Der Arzt hatte einen tüchtigen grippalen Infekt und war vorerst nicht in der Lage, die Praxis zu führen. Natürlich hoffte er, dabei einiges über die Schwiegertochter erfahren.

»Ach Gott, ja, Frau von Krampe, ich kenne sie schon seit fast zwanzig Jahren. Damals war sie eine imponierende Geschäftsfrau, unnachgiebig hart, wenn es um das Wohl der Firma ging, unnachsichtig selbst gegen sich. Durch den Unfalltod ihres Sohnes hat sie sich sehr verändert. Aber es ist ja auch schrecklich, das einzige Kind zu verlieren. Ihre Hoffnungen richten sich jetzt wohl auf den Enkel. Er soll die Firma eines Tages übernehmen.«

»Der Junge ist doch erst vier Jahre alt. Und die Schwiegertochter macht keinen sehr glücklichen Eindruck.«

»Frau von Krampe war über die Wahl ihres Sohnes auch nicht glücklich. Er hätte viele gute Partien machen können, wie sie mir sagte. Ich habe das allerdings nicht nachvollziehen können. Die junge Frau ist eine sehr liebevolle Person. Sie täte gut daran, sich mit ihr zu versöhnen, damit sie ihr nicht eines Tages noch den Enkel wegnimmt. Ich meine, falls sie einmal einen anderen Mann kennenlernt. Dann möchte ich Frau von Krampe allerdings nicht erleben.«

›Ich auch nicht‹, dachte Carlos Schweizer, der seinen Vornamen von der spanischen Mutter erhalten hatte.

»Sie wird sicher alles versuchen, den Einfluß auf ihren Enkel zu behalten. Rechte hat sie ja nicht, aber vermutlich kann sie über Geld doch einigen Druck ausüben. Frau von Krampe, die junge Frau, meine ich, hat kein Geld. Ihr Mann hat ihr nichts hinterlassen, weil alles noch der Mutter gehörte.«

»Das ist ja…«

»Ich weiß, aber Carsten war nie richtig erwachsen geworden, er hatte gar keine Chance dazu. Meiner Meinung nach hätten die jungen Leute nicht in dem Haus leben dürfen. Na ja, es geht mich nichts an. Wie sind Sie denn mit ihr zurechtgekommen? Hatte sie wieder ihre leichten Kopfschmerzen?«

»Ja, ich habe ihr allerdings gesagt, was ich davon halte, daß sie mich deswegen rufen läßt und nicht in die Praxis kommt.«

»Na, dann haben Sie sich aber nicht gerade eine Freundin gemacht. Sie werden das Haus nicht mehr betreten dürfen, schätze ich.«

»Mußte ich aber. Simon von Krampe hatte einen Spielplatzunfall und sich den Knöchel gebrochen. Ich übernehme die Betreuung, damit er nicht im Krankenhaus liegen muß.«

»Na, dann man viel Spaß, mein Lieber. Sie wird keine Gelegenheit auslassen, um Ihnen klarzumachen, wie unwillkommen Sie sind.«

»Ich habe ein dickes Fell.«

»Ich hoffe nicht, daß die junge Frau dadurch Schwierigkeiten bekommt. Frau von Krampe neigt dazu, ihre Wut an anderen auszulassen.«

»Das will ich natürlich nicht. Aber andererseits, vielleicht ist es ganz gut, wenn da etwas aufbricht. Sie kann doch nicht ihr Leben lang unter der Fuchtel der Schwiegermutter stehen.«

»Mischen Sie sich da lieber nicht ein, Herr Schweizer. Und falls Sie selbst ein Auge auf sie haben…, vergessen Sie es lieber.«

Carlos Schweizer erwiderte nichts. Er sah keinen Grund, seinen Kollegen über seine Empfindungen aufzuklären, zumal er sich darüber selbst noch nicht im klaren war. Natürlich hatte ihm Ann-Katrin von Krampe gefallen. Sie war eine schöne Frau, aber wenn sie so wenig Rückgrat hatte, sich alles bieten zu lassen, gefiel ihm das wiederum nicht besonders gut.

Sie sprachen noch einen Moment über die anderen Patienten, dann verabschiedete sich Carlos Schweizer und ging nach Hause. Er dachte noch einige Zeit über Ann-Katrin von Krampe nach, beschloß dann aber, das zu lassen. Man würde sehen, wie es weiterginge.

Jeden Tag schaute er einmal im Hause der von Krampes vorbei, um sich über Simons Befinden zu informieren. Der Junge fand sich mit seiner Bettlägerigkeit nur schwer ab. Daß seine kleinen Freunde nicht kommen durften, wurmte ihn am meisten. Ann-Katrin las ihm vor, machte mit ihm Spiele wie Memory oder Quartett und kaufte ihm mehrere Kassetten mit Abenteuer-Geschichten. All das reichte kaum noch aus, um ihn zufriedenzustellen.

»Bitte, Simon, hör auf zu quengeln. Nächste Woche bekommst du vielleicht schon einen Gehgips, dann können wir in den Garten gehen.«

»Da darf ich ja nicht spielen! Was soll ich denn da?«

Ann-Katrin wußte keine Antwort. Es war ein unhaltbarer Zustand. Seit sie Dr. Schweizer ins Haus gebeten hatte, redete Livia nur noch das Allernötigste mit ihr. Bei Simon ließ sie sich jeden zweiten Tag für eine Viertelstunde blicken, war aber weder bereit, ihm vorzulesen, noch Ann-Katrin sonst irgendwie zu entlasten.

»Ich will aber Sebastian hierhaben!«

»Na gut, ich rufe ihn an«, gab Ann-Katrin nach.

Vielleicht würde seine Mutter auch ein wenig Zeit haben und mit ihr Kaffee trinken. Sie mußte dringend wieder einmal mit einem anderen Menschen sprechen. Dr. Schweizer hatte natürlich nie viel Zeit, wenn er hereinschaute. Außerdem fühlte sich Ann-Katrin ihm gegenüber befangen, weil er sie zu interessieren begann. Sicher lag es nur daran, daß sie sonst gar keine Gelegenheit hatte, jemanden kennenzulernen.

Schließlich war sie erst achtundzwanzig und damit noch nicht jenseits von Gut und Böse…

Nachts hatte sie jetzt schon zweimal von ihm geträumt, was sie sehr beunruhigte. Sie wäre froh, wenn er nicht mehr käme. Aber das wollte und konnte sie ihm natürlich nicht nahelegen, denn es ging schließlich um Simon und nicht um sie. Obwohl…, machmal kam es ihr so vor, als hätte er auch ein gewisses Interesse an ihr. Seine Blicke aus den dunklen Augen…

»Mama, rufst du ihn jetzt an?«

»Ja, aber du mußt jetzt aufhören, ständig so unzufrieden zu sein, Schatz. Es ist nun einmal so, wie es ist.«

»Ja gut…«, meinte er versöhnlich und lächelte mit seinem Lausbubencharme.

Ann-Katrin suchte die Nummer heraus und rief bei Sebastian an. Sie hatten ihn und seine Mutter auf dem Spielplatz kennengelernt. Hin und wieder trafen sie sich dort auch jetzt noch, obwohl Sebastian nun in den Kindergarten ging.

»Frau Wolfert? Hier spricht Ann-Katrin von Krampe. Ich wollte fragen, ob Sie uns mit Sebastian nicht mal besuchen wollen. Simon hat sich den Knöchel gebrochen und hat natürlich schreckliche Langeweile.«

»Oh, das tut mir aber leid. Ja, wir kommen gern einmal vorbei. Wann paßt es Ihnen denn?«

»Wie wäre es mit heute nachmittag?«

Frau Wolfert lachte.

»Das klingt allerdings schon eher wie ein Hilferuf. Ja, gut, dann sind wir um drei bei Ihnen, ist Ihnen das recht?«

»Wunderbar, ich bin begeistert.«

Ann-Katrin bedankte sich und legte auf. Simon stieß einen Begeisterungsschrei aus.

»O toll, Mama, dann möchte ich aber auf dem Sofa sitzen.«

»Gut, du mußt nicht im Bett bleiben. Aber denk daran, daß du nicht aufstehen darfst. Nicht herumhumpeln.«

»Weiß ich doch, Mama.«

Bis zum Nachmittag bekam Ann-Katrin nun etwas Ruhe. Simon bereitete sich auf seinen Besuch vor und überlegte, welche Spiele ins Wohnzimmer hinübergebracht werden sollten. Ann-Katrin bat Maria, einen Kuchen zu backen, was die Haushälterin widerwillig tat. Noch mehr haßte sie es allerdings, wenn Ann-Katrin selbst in der Küche herumwirtschaftete.

Frau Wolfert brachte ein Geschenk für Simon mit, ein hübsches Puzzle, für das Ann-Katrin gleich den Eßtisch freimachen mußte. Sie trug Simon hinüber, half ihm, sein Bein bequem auf einem Stuhl zu lagern und setzte sich dann mit Sebastians Mutter an den Wohnzimmertisch, wo sie in weiser Voraussicht die Tassen und Teller zum Kaffee hingestellt hatte.

Frau Wolfert zeigte sich tief beeindruckt von dem Haus, der Einrichtung und dem schönen Kaffeegeschirr. Sie merkte jedoch an Ann-Katrins Reaktion, daß sie damit ein heikles Thema berührte. Da sie es gewohnt war, die Dinge beim Namen zu nennen, fragte sie dann auch gleich, ob Ann-Katrin gut mit ihrer Schwiegermutter auskäme.

»Was heißt… gut…«, versuchte Ann-Katrin auszuweichen.

»Also, ich habe da große Probleme mit meiner. Sie weiß immer alles besser und glaubt dann auch noch, mir das sagen zu müssen. Das gibt manchmal ganz schönen Streß.«

»Ja, das verstehe ich. Bei uns ist es… nicht viel anders.«

»Warum ziehen Sie nicht aus? Ich meine, was nützt das schönste Haus, wenn man sich nicht wohlfühlt?«

»Das ist nicht so einfach. Ich müßte arbeiten und Simon…«

»Der kommt doch in zwei Jahren zur Schule, und wenn er vorher in den Kindergarten geht, könnten Sie wenigstens halbtags arbeiten. Aber entschuldigen Sie, ich benehme mich auch schon wie meine Schwiegermutter.«

Sie kicherte. Ann-Katrin war plötzlich überglücklich, daß sie sie eingeladen hatte. Es war wunderbar, mit einer erwachsenen Frau sprechen zu können, die nicht so eigen wie Livia war und sie anscheinend sogar mochte.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Frau Wolfert.«

»Sagen Sie doch Christa zu mir. Warum sollten wir so förmlich sein.«

»Gern, Christa. Ich heiße Ann-Katrin.«

Sie lächelten sich an. Die Atmosphäre war entspannt und locker. Zum ersten Mal fühlte sich Ann-Katrin in ihrem Wohnzimmer richtig zu Hause. Sie hatte einen Gast, der nichts mit Livia zu tun hatte.

Carsten hatte es nie besonders gemocht, wenn Ann-Katrin alte Freunde einlud, und mit der Zeit hatte sie dann darauf verzichtet und sie nur noch außerhalb des Hauses getroffen. Dadurch waren die Freundschaften nach und nach eingeschlafen. Ihre beste Freundin war sowieso schon vor Carstens Tod nach Italien gezogen. Sie telefonierten hin und wieder zusammen, aber das Verhältnis war nicht mehr dasselbe.

Frau Wolfert blieb zwei Stunden. Dann wurde Simon müde. Er konnte nicht mehr sitzen. Ann-Katrin bat Sebastians Mutter, bald wiederzukommen.

»Klar, das mache ich gern, Ann-Katrin. Ich freue mich, daß sich auch die Jungen so gut verstehen. Und überlegen Sie sich das mit dem Kindergarten. Der, in den Sebastian geht, ist sehr gut.«

»Ich denke darüber nach.«

»Und ich frage schon mal, ob überhaupt noch ein Platz frei wäre.«

Ann-Katrin wußte, daß ihre Schwiegermutter niemals damit einverstanden wäre, wenn sie Simon in einen Kindergarten schickte. Es würde wieder eine Menge Spannungen geben. Aber im Moment mußte sie darüber ja auch noch nicht nachdenken. Simon wäre noch eine Weile gar nicht in der Lage, einen Kindergarten zu besuchen.

*

»Am nächsten Samstag gebe ich ein kleines Essen für den Firmenvorstand und den Geschäftsführer. Ich möchte, daß du daran teilnimmst.«

Ann-Katrin hatte das Eintreten ihrer Schwiegermutter gar nicht wahrgenommen. Sie zuckte zusammen.

»Wann sagst du?«

»Nächsten Samstag.«

»Oh, da hat Sebastian Geburtstag. Ich bin mit Simon eingeladen. Das tut mir leid.«

»Dann wirst du das eben absagen müssen«, gab Livia von Krampe ungerührt zurück und wollte das Zimmer verlassen.

»Nein, das kann ich nicht. Simon freut sich schon so darauf und ich auch.«

»Nun, so ein Kindergeburtstag geht ja wohl nicht den ganzen Abend.«

»Nein, aber wir sollen noch bleiben. Simon darf dort schlafen. Sebastian ist ein richtiger Freund geworden, und ich möchte auf keinen Fall ein Versprechen brechen.«

»Als Witwe meines Sohnes und Mutter des nächsten Firmenchefs wirst du dich den Gegebenheiten anpassen müssen, Ann-Katrin. Es tut mir leid, aber ich muß darauf bestehen, daß du teilnimmst.«

»Und ich sage dir, daß ich es nicht tun werde. Wenn es dir hilft, komme ich später noch dazu, so gegen zehn, wenn Simon eingeschlafen ist. Ich muß abwarten, ob er auch wirklich bei Sebastian bleiben will. Frau Wolfert hat mich zum Abendessen eingeladen, und ich werde nicht absagen.«

Ann-Katrin war fest entschlossen, sich durchzusetzen. Sie hatte es satt, ständig nach der Pfeife ihrer Schwiegermutter zu tanzen, nur um des lieben Friedens willen, den es ja trotzdem nicht gab.

»Wolfert? Doch nicht etwa dieser Großhändler Wolfert?«

»Genau der.«

»Das ist kein Umgang für euch. Diese Leute sind schlichtweg primitiv.«

»Das entscheide ich allein, Livia. Ich rede dir auch nicht herein, welche Freunde du haben sollst.«

»Das ist ja wohl auch kaum nötig.«

»Wirklich nicht? Und wenn Dr. Heller nun ständig versucht, mich anzufassen? Findest du das vielleicht fein?«

Ann-Katrin hatte das nicht erzählen wollen, weil sie wußte, wie sehr ihre Schwiegermutter davon überzeugt war, in Dr. Heller einen Verehrer zu haben. Aber Livia reizte sie in letzter Zeit zu sehr, als daß sie sich weiterhin so beherrschen konnte.

Livia zeigte Haltung. Hin und wieder mußte Ann-Katrin es bewundern, wie sie Schläge einstecken konnte, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Wenn er das tut, dann wirst du ihn hoffentlich in seine Schranken weisen. Du bist alt genug.«

»Selbstverständlich tue ich das. Und nun muß ich leider Simon abholen. Wir müssen unsere Unterhaltung später fortsetzen, falls du noch etwas dazu sagen möchtest.«

Livia drehte sich wortlos um und verließ das Zimmer. Ann-Katrin hatte eigentlich noch Zeit. Sie hatte mit Christa Wolfert fünf Uhr ausgemacht, jetzt war es erst vier. Aber lieber ging sie noch eine Stunde im Regen spazieren, als länger hier mit Livia sprechen zu müssen.

Simon war wieder gesund. Bei schlechtem Wetter tat ihm der Knöchel oft noch ein wenig weh, auch, wenn er zuviel herumtobte, aber grundsätzlich waren die Ärzte zufrieden mit dem Heilungsprozeß. Es hatte keine bleibenden Schäden gegeben.

Dr. Schweizer sah Ann-Katrin nun nicht mehr. Er hatte bei seinem letzten Hausbesuch gefragt, ob sie Lust habe, einmal mit ihm essen zu gehen, aber Ann-Katrin hatte ihm keine klare Antwort geben können, sondern war ausgewichen. Sie hatte ihn gebeten, später noch einmal nachzufragen, wenn Simon wieder richtig gesund sei. Das war nicht geschehen, also ging sie davon aus, daß er sie inzwischen vergessen hatte. Livias alter Hausarzt war inzwischen auch wieder in seiner Praxis. Ann-Katrin wußte nicht einmal, wo Dr. Schweizer praktizierte.

Dafür war ihre Freundschaft zu Christa gewachsen. Sie telefonierten oft zusammen, auch wenn die Kinder nicht zusammen spielten. Christa hatte ihr auch erzählt, daß in zwei Wochen ein Kindergartenplatz frei würde, und daß sie Simon prophilaktisch eingetragen hätte. Allerdings müsse Ann-Katrin sich selbst noch melden.

Das war nun das Problem, mit dem Ann-Katrin kämpfte. Im Grunde verachtete sie sich, daß sie so wenig Rückgrat zeigte, aber wenn sie diesen Weg des Widerstandes einmal beschritten hätten, müßte sie ihn auch bis in die letzte Konsequenz gehen. Ihr Beruf als Buchhändlerin war nicht gerade gesucht. Natürlich könnte sie irgendwo eine Halbtagsstelle bekommen, aber der Verdienst reichte ganz sicher nicht, um davon mit Simon zu leben und auch noch eine Wohnung zu bezahlen. Warum hatte Carsten nur nicht besser vorgesorgt!

Es war müßig, darüber nachzudenken. Wenigstens bis Simon zur Schule kam, würde sie noch durchhalten müssen.

Ann-Katrin hatte sich gerade den Mantel angezogen, als das Telefon klingelte. Sie hatte einen eigenen Anschluß, aber manchmal schien es ihr, als könne ihre Schwiegermutter mithören. Sie war oft sehr genau informiert.

»Ann-Katrin von Krampe«, meldete sie sich.

»Ann-Katrin! Du bist es wirklich! Ich konnte gar nicht glauben, daß du Carsten von Krampe geheiratet hast!«

Ann-Katrin wußte nicht, wer da mit ihr sprach, aber die Anruferin schien sie gut zu kennen.

»Wer…«

»Sag bloß, du kennst meine Stimme nicht mehr. Ich bin es, Christine Bertel. Nein, damals hieß ich Imstedt.«

»Christine! Das ist aber eine Überraschung. Warst du nicht in Amerika?«

»Da bin ich immer noch. Aber meine Eltern haben beide fünfundfünfzigsten Geburtstag und ziehen das ganz groß auf. Da mußte ich natürlich kommen. Wir müssen uns aber unbedingt sehen.«

»Ja, das wäre wirklich schön! Wann hast du denn Zeit!«

»Morgen? Ja, das würde mir gut passen. Da hätte ich sogar den ganzen Tag.«

»Dann komm doch her, ja? Wir überlegen dann, was wir unternehmen.«

»Super. Ich denke, du wohnst in dem alten Kasten von den von Krampes, oder? Entschuldige, ich bin mal wieder ziemlich vorlaut.«

Sie lachte, und Ann-Katrin stimmte ein. Christine war schon in der Schule vorlaut gewesen, wie sämtliche Lehrer bemängelt hatten.

»Dann hast du dich ja nicht wesentlich verändert.«

»Nein, aber das macht nichts, finde ich. In Amerika brauche ich das, damit ich mich durchsetzen kann. Ich habe nämlich drei Söhne.«

»Drei Söhne? Das ist ja eine Leistung! Ich habe nur einen.«

»Na ja, einmal sind es Zwillinge. Sie sind sechs Jahre alt und mein Kleiner ist vier.«

»Wie meiner. Sind sie auch hier?«

»Nein, sehr zum Bedauern meiner Eltern. Aber ich fand es einfach zu stressig und wollte auch mal wieder Kind im Haus sein. Wenn meine Brut dabei ist, wäre ich abgemeldet.«

Ann-Katrin wußte genau, wovon Christine sprach. Allerdings konnte sie nicht mehr zu solchen Mitteln greifen, denn es gab niemanden mehr, der sie als Kind sah. Liebe war das letzte, was sie von Livia zu erwarten hatte. Für einen Moment schnürte sich ihre Kehle zu. Dann dachte sie daran, wie gern ihr Sohn noch mit ihr schmuste und kam sich undankbar vor.

»Ich freue mich auf morgen, Christine. Leider muß ich jetzt auflegen. Ich muß Simon von einem Freund abholen.«

»Gut, Ann-Katrin. Dann bis morgen.«

Ann-Katrin fühlte sich plötzlich viel fröhlicher. Der überraschende Anruf war ein Geschenk des Himmels. Fast hätte sie vergessen, daß sie auch eine Vergangenheit hatte, eine Vergangenheit mit netten Freunden und viel Spaß. Sie mußte nicht nur herumsitzen und Trübsal blasen. Warum zum Beispiel versuchte sie nicht andere alte Freunde anzurufen, um sich mit ihnen zu verabreden? Vielleicht waren sie auch daran interessiert und dachten hin und wieder an sie. Ihre Schwiegermutter könnte sie nicht ändern, aber daß sie nur zu Hause saß, dagegen war schon etwas zu machen.

Am Abend erzählte sie Simon von dem geplanten Besuch ihrer Freundin. Er wollte ganz genau wissen, wann seine Mama Christine kennengelernt hatte und ob Christine auch Kinder hatte. Als er hörte, daß sie in Amerika lebte, mußte Ann-Katrin ihm auf dem Globus zeigen, wo es lag. Dann schaute er seine Mutter nachdenklich an.

»Können wir nicht auch in Amerika wohnen?«

»Warum denn, Simon? Dann siehst du doch Sebastian gar nicht mehr.«

»Aber dann müssen wir nicht bei Großmutter wohnen. Sie macht dich immer so traurig.«

Ann-Katrin kämpfte mit den Tränen. Sie hatte gar nicht gewußt, daß es ihrem Sohn so deutlich war, wie schwer es ihr fiel, in diesem Haus zu leben. Daß er darunter litt, gefiel ihr gar nicht.

»Ach, Simon, deine Großmutter kann nicht anders. Sie meint es bestimmt nicht so.«

»Aber es ist nicht schön hier. Ich mag lieber in einem kleinen Haus wohnen wie Sebastian. Da ist es viel lustiger.«

Ann-Katrin nahm ihren Sohn fest in die Arme. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie es machen sollte, aber sie versprach ihm, daß sie eines Tages auch in einem kleinen Haus oder einer anderen Wohnung leben würden.

»Und wann?«

»Ich weiß es nicht, aber ich will alles versuchen, damit es bald soweit ist.«

Damit war Simon zufrieden. Er ließ sich zudecken und verlangte nicht einmal, noch eine Geschichte erzählt zu bekommen.

*

Ann-Katrin und Christine hatten sich mehrere Jahre nicht mehr gesehen. Zwei Jahre nach dem Abitur war Christine mit ihrem Mann nach Amerika ausgewandert. Das war über acht Jahre her. Und doch waren sie sich gleich wieder so vertraut, als hätten sie sich gestern erst getrennt.

»Kati, laß dich anschauen! Du siehst ein bißchen müde aus, aber ich hätte dich überall sofort wiedererkannt!«

Christine dagegen hatte sich äußerlich sehr verändert. Sie war braungebrannt und gertenschlank. Früher war sie eher pummelig gewesen. Heute trug sie eine hautenge Jeans, eine schicke Leinenbluse und ihr Haar lang und offen. Sie sah aus wie höchstens dreiundzwanzig. Man sah ihr an, daß sie gern lebte und offenbar glücklich war.

»Du hast dich ja total verändert!«

»Ja, nicht wahr? Meine Pfunde war ich nach den Kindern los. Umgekehrt wie bei den meisten anderen Frauen. Ich war ziemlich froh darüber. Heute mache ich viel Sport und esse auch ganz anders als früher. Aber nun erzähl doch mal. Dein Mann ist tödlich verunglückt, wurde mir erzählt. Hast du das verkraftet?«

Ann-Katrin mußte sich erst eine Weile daran gewöhnen, ganz offen zu sprechen und keine Scheu zu haben, ihre Gefühle preiszugeben. Genauso ungewohnt war es, daß daran jemand interessiert war.

»Unsere Ehe war… nicht einfach. Carsten hing ja sehr an seiner Mutter und…«

»Er war ein Muttersöhnchen? Wegen des Geldes oder echt?«

»Manchmal wußte ich das nicht so genau zu sagen. Auf jeden Fall hatte er darauf bestanden, daß wir hier im Haus leben, obwohl Livia mich von Anfang an nicht leiden konnte. Es war ziemlich… schwierig.«

»Na hör mal! Warum hast du das denn mitgemacht? Du hättest doch nein sagen können.«

»Ja, das hätte ich gekonnt, aber das war noch viel schwerer. Ich habe ihn oft gebeten, um unsere Ehe zu retten. Wir hatten uns nämlich gut verstanden, wenn Livia mal nicht da war. Aber sobald sie zurückkam, verwandelte sich Carsten wieder in den Sohn. Der Ehemann blieb dann irgendwo auf der Strecke. Und als Simon da war, wurde es noch schwieriger, weil Livia in ihm ihren Kronprinzen sah. Daß Carsten sich nicht so brennend für die Firma interessierte, war ihr ja bewußt.«

»Das klingt ja wie aus dem englischen Königshaus! Gräßlich! Ich könnte keine Minute so leben. Und wie lange willst du noch hierbleiben?«

Ann-Katrin schilderte ihr die finanzielle Situation.

»Aber das gibt es doch nicht! Er muß doch ein Anspruch auf ein Erbe gehabt haben, das jetzt an dich übergeht? Er hatte doch nicht… gar nichts!«

»Doch, mehr oder weniger war es so. Alles hier gehört seiner Mutter, und das Gehalt kam ja nach seinem Tod nicht mehr. Ich bekomme Geld für Simon und kann hier frei wohnen. Und natürlich gibt sie mir ein gewisses Taschengeld. Simon ist ja noch zu klein, als das ich arbeiten könnte und halbtags verdiene ich doch nicht viel.«

Christine machte ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

»Ich kann das gar nicht glauben. Du warst immer so selbstbewußt! Und jetzt bist du ein Mäuschen. Nein, Ann-Katrin, daran mußt du sofort etwas ändern. Wo ist Simon denn jetzt eigentlich?«

»Die Mutter seines Freundes hat mir angeboten, ihn mit in den Kindergarten zu geben, damit er das mal kennenlernt. Ich hole ihn mittags ab. In… zwei Stunden.«

»Prima, dann haben wir ja noch Zeit, ein paar Schlachtpläne zu entwerfen. Du bist doch Buchhändlerin, oder?«

»Ja, richtig. Aber…«

»Warum machst du nicht selbst ein Geschäft auf? So ein kleines, feines für Frauenliteratur oder so etwas. Das gibt es bei uns in jeder Stadt. Hier nicht, jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen.«

»Aber meinst du, daß das läuft? Und vor allem, es kostet ja erst einmal, bis man überhaupt etwas verdient.«

»Wenn du gleich zaghaft bist und nicht an dich glaubst, dann wirst du hier nie herauskommen, Ann-Katrin. Mensch, denk doch mal an deinen Sohn. Er wächst unter der Fuchtel deiner Schwiegermutter auf und hat eine Mutter, die kaum Piep sagen mag.«

Ann-Katrin wollte sich gegen diesen Vorwurf wehren, aber letztendlich schwieg sie. Christine übertrieb ein wenig, doch im Kern stimmte ihre Aussage. Das war ziemlich erschütternd.

»Ich habe aber nur wenig Geld gespart. Das sollte eigentlich für einen Notfall sein.«

»Notfall? Den hast du jetzt. Nein, Ann-Katrin, das ist kein Zufall, daß wir uns ausgerechnet jetzt treffen. Es wird höchste Zeit, daß du dein Leben anpackst. Sonst gehst du ein wie ein Primelpott.«

»Wirke ich denn so… mutlos?«

»Du siehst aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Deine Mundwinkel machen schon einen richtigen Bogen nach unten, wenn du nicht gerade krampfhaft lächelst. Ich sag dir das einfach mal so offen. Nicht böse sein.«

»Ich bin dir nicht böse, aber… es klingt nicht gerade sympathisch.«

»Ach, Quatsch, im Grunde bist du doch noch immer die alte Ann-Katrin. Wir müssen sie nur wieder freischaufeln. Sag mal, gibt es denn keinen Mann, der dir ein bißchen Kribbeln im Bauch verursacht?«

Sofort dachte Ann-Katrin an Dr. Schweizer und wurde verlegen. Sie versuchte es vor Christine zu verbergen, aber deren scharfen Augen entging nichts.

»Ha, gib es zu. Das ist schon ein hoffnungsvoller Ansatz. Wer ist es denn?«

»Also, jetzt hör aber auf. Da ist niemand. Ich finde ihn lediglich sympathisch.«

»Und? Ist es ausbaufähig?«

Ann-Katrin mußte lachen. Christine sah aus, als würde sie sich am liebsten sofort ans Telefon setzen und ein Rendezvous für sie vereinbaren.

»Nein…, ich weiß es nicht. Er ist einfach ein netter Mann.«

»Na also. Dann geh mit ihm aus.«

»Ich kann Simon nicht allein lassen.«

»Erstens ist er ja im Haus nicht allein, und zweitens gibt es Babysitter. Ich kenne da sogar jemanden. Sie paßt auf die Kleine meiner Schwägerin auf.«

»Dein Bruder…, wie geht es dem denn eigentlich?«

»Wie immer. Er schreibt und schreibt und reist durch die Gegend. Aber jetzt reden wir von dir. Also, ich gebe dir Alidas Adresse und Telefonnummer. Sie freut sich bestimmt, wenn sie hier auch noch etwas verdienen kann. Sie ist wirklich zuverlässig. Die Tochter von Nachbarn meiner Eltern.«

Ann-Katrin fand die Idee ganz gut, einen Babysitter zu beschäftigen. Sie würde nicht unbedingt mit einem Mann ausgehen wollen, aber mal wieder ein Theaterstück sehen oder ins Kino gehen, das wäre schön.

»Und dann läßt du diesem Mann gegenüber durchblicken, daß du jetzt einen Babysitter hast. Wenn er dann nicht sofort darauf reagiert, kannst du ihn getrost gleich vergessen. Es gibt aber noch andere. Bei deinem Aussehen…«

»Ich denke, ich sehe aus wie ein Schluck Wasser?«

»Nur wenn du trübe guckst. Jetzt siehst du schon viel lebhafter aus.«

Christine musterte ihre Freundin noch einmal genau und nickte dann bekräftigend.

»Ein bißchen joggen würde dir aber auch ganz guttun. Es vertieft die Atmung und macht die Haut schön frisch. So, mein Schatz, jetzt wollen wir mal überlegen, wie du zu deinem Laden kommen könntest. Ich muß mal ein paar alte Freunde aktivieren. Einer hat bestimmt irgendwo ein Geschäft an der Hand.«

»Bitte, Christine, überstürze nichts, ich weiß doch noch gar nicht…«

»Ach, du hast Besuch?«

Livia stand in der Tür, die sie wie immer ohne anzuklopfen geöffnet hatte.

»Ja, wie du siehst. Darf ich vorstellen? Christine Bertel, Livia von Krampe…«

Ann-Katrin fügte extra keine Erklärung hinzu, wer Christine war. Und ihre Freundin machte plötzlich einen sehr reservierten Eindruck, als sie Livia die Hand reichte.

»Guten Tag, Frau von Krampe.«

»Guten Tag. Ich wollte Simon zum Spaziergang abholen, Ann-Katrin. Sagst du ihm bitte Bescheid.«

Ann-Katrin hörte, wie Christine die Luft einsog. Sie war genauso empört über das Verhalten ihrer Schwiegermutter wie ihre Freundin, aber sie wollte jetzt keinen Streit provozieren.

»Er ist nicht hier, Livia. Ich hole ihn erst in ungefähr eineinhalb Stunden ab.«

»Wo ist er denn?«

»Im Kindergarten. Ich will probieren, ihn dort unterzubringen.«

Ann-Katrin gelang es, das ganz ruhig zu sagen. Aber sie wußte, daß es Ärger geben würde. In dieser Hinsicht war mit Livia nicht zu diskutieren.

»Du weißt, wie ich darüber denke.«

»Ja, aber ich sagte dir auch, daß ich es anders sehe.«

»Darüber sprechen wir dann heute abend. Ich möchte das nicht vor Frau Bertel diskutieren.«

»Ich habe Ann-Katrin schon gesagt, daß ich es großartig finde. Kinder brauchen andere Kinder zum Spielen. Sie lernen den sozialen Umgang nicht, wenn sie immer nur mit Erwachsenen zusammen sind.«

Christine lächelte so selbstsicher, als wäre sie Expertin für Kinderfragen. Livia übersah sie und ging auch nicht auf die ungebetene Antwort ein, sondern rauschte wieder hinaus.

»Ist das ein Besen! Nein, Ann-Katrin, hier kannst du unmöglich bleiben! Du brauchst also nicht nur einen Laden, sondern auch eine Wohnung. Am besten zusammen in einer Einheit, dann bist du immer erreichbar, wenn Simon aus dem Kindergarten kommt.«

»Ach, Christine, ich weiß ja, daß du es nur gutmeinst, aber vergiß es. So schnell ginge das auf keinen Fall. Sie würde es nicht zulassen…«

»Sie hat dir gar nichts zu sagen, Ann-Katrin. Du stehst doch nicht unter ihrer Vormundschaft! Ich bin irgendwie enttäuscht von dir.«

Ann-Katrin nickte. Sie verstand Christines Enttäuschung, auch sie empfand das so. Aber es gab nun einmal Sachzwänge, denen man sich beugen mußte. Wenn sie Simon nicht hätte, wäre sie längst über alle Berge.

*

Christine war entschlossen, einzugreifen. Ann-Katrin unterschätzte ihre Tatkraft, das war ihr klar. Deshalb hatte sie auch nicht weiter darauf bestanden, ihre Freundin zu überreden, sondern hatte sich von Simon erzählen lassen und dann von ihren eigenen Kindern berichtet. Als sie Simon dann kennenlernte, war sie angenehm überrascht, wie wenig belastet er durch die Situation schien. Das hatte Ann-Katrin gut gemacht. Es war also doch nicht ganz hoffnungslos mit ihr. Christine war nämlich wirklich entsetzt darüber, wie sich ihre Freundin verändert hatte.

Am Abend erzählte sie am Abendbrottisch ihren Eltern von ihrem Besuch bei Ann-Katrin.

»Ihr kennt sie doch noch, oder? So eine zierliche Blonde, immer ziemlich verrückt angezogen.«

»Natürlich weiß ich noch, wer Ann-Katrin ist«, bestätigte ihre Mutter.

»Also, die lebt wie eine Gefangene ihrer Schwiegermutter, weil die das Geld hat und ihr Mann keinen Pfenning. Das ist einfach eklig.«

»Livia von Krampe ist als sehr geschäftstüchtig bekannt. Aber das sie auch eine Anhängerin der Sklavenhaltung ist, wußte ich nicht. Warum macht deine Freundin das denn mit?« wollte ihr Vater wissen.

»Weil sie doch einen kleinen Sohn hat und auf den hält die Schwiegermutter den Daumen. Ann-Katrin braucht eine Wohnung und einen Laden. Sie ist Buchhändlerin. Papa, kannst du da was machen?«

»Kind, misch dich nicht in anderer Leute Leben ein. Das wird meist nicht belohnt.«

»Ach, Mama, wenn du Ann-Katrin sehen würdest, ich muß etwas tun, solange ich hier bin. Allein schafft sie es nicht.«

»Ich kann mich ja mal umhören. Aber billig wird das sicher nicht.«

»Sie hat ein bißchen Geld gespart.«

Später kam Christine noch einmal auf ihr Anliegen zurück. Ihr Bruder war gekommen, um sie zu begrüßen. Er hatte eine Menge Freunde, die vielleicht auch eine Idee hätten, wie man Ann-Katrin unter die Arme greifen könnte.

»Ich kann mich erkundigen, aber erwarte nicht zuviel. Übrigens würdest du dir so eine Einmischung in dein Leben verbitten.«

»Ich komme ja auch gut klar damit, oder nicht?« fragte sie Joachim schlagfertig.

»Stimmt. Aber wenn du ihr zuviel hilfst, wird sie nicht selbständiger werden.«

Christine seufzte übertrieben und brach das Thema ab. Joachim würde sie nicht im Stich lassen, das war klar. Er wußte, daß sie keine Ruhe geben würde.

Schon zwei Tage später hatte er einen Tip für sie.

»Die Schwester einer meiner Freunde geht nach Holland. Sie hat einen kleinen Secondhand-Laden, für den sie einen Nachmieter sucht. Eine Wohnung ist auch dabei, aber alles nur klein. Ich weiß nicht, ob das für deine Freundin in Frage kommt.«

Christine ließ sich die Adresse geben und bedankte sich bei Joachim.

»Wenn es klappt, laden wir dich zum Essen ein, Jo. Ich habe ein gutes Gefühl.«

»Ich nicht. Deine Freundin tut mir fast leid. Du kommst daher wie eine Dampfwalze.«

Christine lachte. Sie nahm ihm seine Bemerkung nicht übel. Vorsichtshalber schaute sie sich das Geschäft erst einmal selbst an. Der Laden war höchstens fünfzehn Quadratmeter groß und vollgestopft mit ihrer Meinung nach unmöglicher Kleidung. Aber die Inhaberin war um so netter. Sei wollte für die Regale nur sehr wenig Geld haben. Die Miete war günstig. Auch die Wohnung wäre gerade groß genug, um Ann-Katrin und Simon darin unterzubringen. Und sie wurde schon zum nächsten Ersten frei.

»Ich habe aber noch jemanden, der sich dafür interessiert«, teilte die junge Frau Christine mit.

»Kann ich nicht erst einmal erste Wahl sein? Bis… heute abend?«

»Ich denke, sie ist gar nicht für Sie, sondern für Ihre Freundin?«

»Ja, aber ich glaube, sie wird begeistert sein«, schwindelte Christine ohne die geringste Spur von schlechtem Gewissen.

»Na gut. Aber dann muß ich bis heute um… acht Bescheid wissen.«

Christine fuhr sofort zu Ann-Katrin. Eine mürrische ältere Frau öffnete auf ihr Klingeln die Tür.

»Ich möchte zu Ann-Katrin von Krampe.«

»Ich weiß aber nicht, ob sie da ist.«

»Dann sehen Sie bitte nach. Ihr Auto steht draußen.«

Die Haushälterin brachte es fertig, Christine die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Christine konnte es kaum fassen und war entschlossener denn je, Ann-Katrin hier herauszuholen.

*

Es war ein hartes Stück Arbeit, bis Ann-Katrin überzeugt war, es zu wagen. Christine mußte bei der Ladenbesitzerin sogar noch einen weiteren Tag Verlängerung erbitten, doch dann war es geschafft.

Letztendlich hatte Simon den Ausschlag gegeben. Er hatte nämlich gehört, was Christine erzählte und war sofort hell begeistert. Gegen die zwei kam Ann-Katrin mit ihren Argumenten nicht an.

»Zur Not kannst du ja erst einmal den Secondhand-Laden weiterführen, wenn du keinen Mut hast, eine Buchhandlung zu eröffnen. Oder bis du genug Geld hast.«

Ann-Katrin dachte daran, daß sie ihr Auto verkaufen könnte. Es war ursprünglich Carstens Wagen gewesen, ein Porsche. Er würde sicher einiges Geld bringen.

Sie unterschrieb den Mietvertrag und verbrachte eine schlaflose Nacht mit der Überlegung, wie sie es ihrer Schwiegermutter beibringen sollte, daß sie am nächsten Ersten auszog. Der Gedanke machte ihr Angst, aber nun war es zu spät zu kneifen. Christine war sogar schon dabei, den Umzug zu organisieren. Sie würde sich gar nicht mehr stoppen lassen.

Am nächsten Vormittag brachte Ann-Katrin Simon wieder zum Kindergarten. Er fühlte sich wohl dort und war begeistert, daß er dort nun bald jeden Tag hingehen konnte, wie seine Mutter es ihm versprochen hatte. Der Laden lag nicht weit entfernt davon.

Als sie zurückkam, wartete Livia schon auf sie.

»Hast du ihn schon wieder dorthin gebracht? Ich habe mit einem Kinderpsychologen gesprochen. Er ist wie ich der Meinung, daß Simon den Tod seines Vaters noch nicht überwunden hat und es ihm schadet, wenn er abgeschoben wird.«

»Er wird nicht abgeschoben. Und welcher verantwortungsvolle Psychologe würde eine solche Antwort geben, ohne Simon auch nur einmal gesehen zu haben?«

Ann-Katrin war so wütend über die Einmischung, daß sie jetzt keine Angst mehr hatte, Livia von dem Auszug zu erzählen. Sie mußte hier weg, Christine hatte recht.

»Er hat Simon gesehen. Ich war vorgestern mit ihm bei dem Arzt.«

»Du warst mit ihm dort? Ohne mir etwas zu sagen?« fragte Ann-Katrin fassungslos.

»Ja. Du bist meiner Meinung nach nicht in der Lage, dich angemessen um Simon zu kümmern. Simon machte einen verstörten Eindruck auf den Psychologen.«

»Das wundert mich gar nicht, wenn du ihm erzählst, du willst mit ihm in den Zoo gehen und ihn dann statt dessen dorthin schleppst. Ich kann es einfach nicht glauben, was du dir da erlaubt hast!«

»Er ist der Sohn meines Sohnes. Ich habe eine Verpflichtung…«

»Du hast höchstens das Recht, ihm eine liebevolle Großmutter zu sein. Vielleicht solltest du das mal überprüfen lassen! Ich finde nämlich, daß du ziemlich schlecht abschneidest.«

Livia schnappte nach Luft. Ann-Katrin war noch nie so deutlich geworden. Aber es tat ihr gut. Ihre Schwiegermutter war entschieden zu weit gegangen. Wie gut, daß es Christine gab!

»Ich habe dir noch etwas mitzuteilen. Es paßt gerade sehr gut, finde ich. Am Ersten ziehe ich mit Simon aus. Du wirst irgendwann die neue Anschrift bekommen, solange bringe ich ihn hin und wieder zu Besuch. Allerdings werde ich dabeibleiben, wenn du mit Simon zusammen bist.«

Damit ließ Ann-Katrin Livia einfach in der Halle stehen. Sie konnte ihren Anblick keine Sekunde länger ertragen. Um ihre Wut in sinnvolle Kanäle zu lenken, begann sie, Schubladen aufzuräumen. Sie mußte unbedingt Kartons besorgen. Jetzt hielt sie hier nichts mehr.

Nachdem sie Simon vom Kindergarten abgeholt hatte, fuhr sie noch einmal zu ihrer zukünftigen Wohnung. Die Vormieterin war so nett, sie hereinzulassen. Ann-Katrin wollte die Räume ausmessen, um zu sehen, wieviel von den mit Carsten angeschafften Möbeln sie mitnehmen konnte. Simon stöberte begeistert im Laden herum.

Als sie ihre Skizzen fertig hatte, mochte Ann-Katrin noch immer nicht nach Hause fahren. Ihre Schwiegermutter hatte sich bestimmt wieder eine neue Bosheit ausgedacht. Darauf war sie nicht neugierig. Christine hatte heute keine Zeit, sie bereitete den Geburtstag ihrer Eltern vor. Aber statt dessen könnte sie mit Simon ins Einkaufszentrum fahren und ein bißchen bummeln.

In dem Eiscafé, zu dem Simon unbedingt wollte, traf Ann-Katrin Dr. Schweizer. Sie war mehr als überrascht, hielt es aber für einen glücklichen Zufall. Jetzt, wo sie ihr Leben mit Hilfe von Christine endlich selbst in die Hand nahm, hätte sie vielleicht auch einmal Zeit, sich mit ihm zu treffen. Ann-Katrin hatte das Gefühl, als sei

sie aus einem langen Schlaf erwacht.

»Oh, Frau von Krampe! Haben Sie Lust, hier Platz zu nehmen? Guten Tag, Simon.«

Simon hatte die Frage schon auf seine Weise beantwortet. Er kletterte bereits auf einen der Stühle. Ann-Katrin bedankte sich und setzte sich ebenfalls.

»Haben Sie Ihre Praxis hier in der Nähe?«

»Ja. Ich arbeite mit meinem Vater zusammen. Im Moment haben wir Mittagspause.«

»Ach so.«

»Wie geht es deinem Knöchel, Simon? Alles in Ordnung?«

Simon war in das Studium der Eiskarte vertieft und nickte nur. Ann-Katrin bestellte sich einen Cappuccino, und nachdem Simon sich für einen Schokoladenbecher entschieden hatte, konnten sie ihre Unterhaltung fortsetzen. Sie fühlte sich ein wenig befangen, weil sie sich so freute, Dr. Schweizer getroffen zu haben. Ob er noch an seine Einladung dachte, die sie damals nicht angenommen hatte? Würde er sie wiederholen? Und wie könnte sie ihm auf unauffällige Weise mitteilen, daß sich ihr Leben total ändern würde?

Auch das übernahm Simon.

»Wir haben einen Laden. Mama verkauft alte Kleider«, platzte er mit der großen Neuigkeit heraus.

»Wie bitte? Alte Kleider?« wiederholte Carlos Schweizer erstaunt.

»Im Moment ist in dem Laden ein Second-Hand-Geschäft untergebracht«, klärte Ann-Katrin ihn auf. »Ich werde sobald wie möglich versuchen, eine kleine Buchhandlung zu eröffnen. Aber es stimmt, wir haben eine kleine Wohnung gemietet, zu der der Laden gehört.«

»Das sind ja wirklich gute Nachrichten. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie den Sprung schaffen würden.«

»War es so deutlich?«

»Mehr als das.«

Ann-Katrin nahm ihm seine Offenheit nicht übel. Wichtiger war ihr, ob er sie für ihre Haltung vielleicht verachtete und sie deshalb gar nicht wiedersehen wollte. Das täte mehr weh.

Doch sie konnte beruhigt sein. Als er gehen mußte, hielt er ihre Hand einen Moment fest.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich an? Ich habe auch noch eine Einladung ausgesprochen, die Sie noch nicht angenommen hatten.«

»Ich kann für Simon einen Babysitter bekommen…«

»Wunderbar. Dann Freitag? Zum Essen? Ich hole Sie um acht ab, ja?«

»Ja, gern…«, bestätigte Ann-Katrin mit klopfendem Herzen. Es ging alles recht schnell, doch sie sah keinen Grund, das Tempo zu drosseln.

*

Carlos Schweizer war auch privat sehr mutig, stellte Ann-Katrin fest. Er machte deutlich, daß sie ihm einiges bedeutete, er sich aber nicht mehr gemeldet hätte, weil er befürchtete, daß sie sich von dem Einfluß ihrer Schwiegermutter nie würde freimachen können. Um so mehr bewunderte er sie nun.

Ann-Katrin wollte richtigstellen, daß nicht sie den ersten Schritt getan hatte, ließ es dann aber sein. Es tat gut, sich in seiner Bewunderung zu sonnen. Christine würde es nicht übelnehmen. Sie war begeistert gewesen, als Ann-Katrin ihr von dem Rendezvous erzählt hatte.

Jetzt saß Alida zu Hause bei Simon. Ann-Katrin hatte der Siebzehnjährigen eingeschärft, daß sie von der Schwiegermutter keine Anweisungen entgegenzunehmen hätte. Alida sah nicht so aus, als würde sie sich einschüchtern lassen.

Sie genoß es sehr, mit dem Arzt in dem schönen Restaurant zu sitzen. Er war bereits beim Hauptgericht dazu übergegangen, mit ihr zu flirten. Ann-Katrin tat sich noch etwas schwer, sie war es einfach nicht mehr gewöhnt, aber er schien ihre Antworten nicht allzu dumm zu finden. Als Carlos Schweizer vorschlug, noch tanzen zu gehen, mußte sie allerdings ablehnen.

»Ich habe versprochen, Alida um zwölf nach Hause zu bringen, und es ist schon elf.«

»Na schön, aber wir müssen das bald nachholen. Ich bin sicher, daß Sie eine wunderbare Tänzerin sind. Außerdem habe ich dann einen legalen Grund, Sie in die Arme zu nehmen.«

Ann-Katrin hätte ihn fast gefragt, warum er dazu einen solchen Grund brauche, schluckte es aber im letzten Moment herunter. Es ging so schon schwindelerregend schnell mit ihnen.

Auf dem Weg zur Villa hielt er plötzlich am Straßenrand.

»Ich nehme an, daß es Ihnen trotz allem unangenehm wäre, wenn ich Sie vor der Haustür küsse. Deshalb tue ich es schon hier. Darf ich?«