E-Book 271-280 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 271-280 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Ein neues Hotel in St. Johann E-Book 2: Glück in Gefahr E-Book 3: Lass mein Leben neu beginnen E-Book 4: Das Phantom vom Ainringer Wald E-Book 5: Ich lass mein Glück nie mehr los E-Book 6: Erste Liebe in St. Johann E-Book 7: Eine kleine Ewigkeit E-Book 8: Franziskas Geheimnis E-Book 9: Aufregung um Andrea E-Book 10: Der Zauber von St. Johann

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Seitenzahl: 1167

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Ein neues Hotel in St. Johann

Glück in Gefahr

Lass mein Leben neu beginnen

Das Phantom vom Ainringer Wald

Ich lass mein Glück nie mehr los

Erste Liebe in St. Johann

Eine kleine Ewigkeit

Franziskas Geheimnis

Aufregung um Andrea

Der Zauber von St. Johann

Der Bergpfarrer – Staffel 28 –E-Book 271-280

Toni Waidacher

Ein neues Hotel in St. Johann

Auf wessen Seite steht Christian?

Roman von Waidacher, Toni

Der Bau des Landhotels ›Ransingerhof‹ hatte schnelle Fortschritte gemacht. Wenn die Bauarbeiter weiter so fleißig waren, dann stand der Eröffnung in ein paar Wochen nichts mehr im Wege.

Zurzeit wurde noch die Außenanlage hergerichtet, während im Hotel selbst die letzten Zimmer eingerichtet wurden. Auch wenn noch gar keine Gäste da waren, so hatte Christian Lechner doch alle Hände voll zu tun. Der junge Münchner hatte seine Stelle als Hoteldirektor schon vor einigen Tagen angetreten und kümmerte sich derzeit um die Einstellung der Mitarbeiter.

Im Grunde stand der größte Teil der Crew schon. Vom Chefkoch bis zum Auszubildenden war die Küchenmannschaft vollzählig, ebenso die ›Schwarze Brigade‹, also das Servicepersonal, mit dem ›Chef de Rang‹ an der Spitze.

Fehlten nur noch die fleißigen Helfer, die hinter den Kulissen arbeiteten, sodass die Gäste sie kaum bemerkten – die Putzfrauen, Wäscherinnen und Zimmermädchen. Ihnen stand jedoch die wichtigste Person vor: Die Hausdame!

Als Herrin über das ›Housekeeping‹ oblag es ihr, dafür zu sorgen, dass alles zur Zufriedenheit der Gäste bereit war, wenn diese ihre Zimmer bezogen. Auch die Sauberkeit im Haus selbst unterlag ihrem kritischen Blick.

Und genau diese Frau erwartete Christian Lechner zum Einstellungsgespräch.

Der junge Hoteldirektor saß in seinem Büro, das sich im Erdgeschoss im hinteren Trakt der Hotelanlage befand und blätterte noch einmal die Bewerbungsunterlagen der Kandidatin durch. Christian war eins achtzig groß und von schlanker Gestalt. Er hatte kurzes dunkles Haar und ein markantes Gesicht, oval geschnitten, mit grauen Augen, die immer zu lächeln schienen. Indes sollte es nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Besitzer auch sehr ernst blicken konnte, wenn es dazu Anlass gab.

In einem Münchner Hotel hatte Christians Karriere begonnen. Während seiner Ausbildung zum Hotelfachmann hatte er alle Stationen des Hauses durchlaufen und seine Abschlussprüfung mit Auszeichnung bestanden. Gleich nach dem Erhalt der Urkunde war er ins Ausland gegangen. Ein halbes Jahr war er stellvertretender Direktor im besten Hotel Londons, anschließend waren Paris, Mailand und Rom weitere Stationen auf seiner Karriereleiter. Zuletzt hatte der Siebenundzwanzigjährige eines der größten Hotels in München geleitet, bis er in einer Fachzeitung das Stellengesuch las, das ihn schließlich in die Wachnertaler Alpen ziehen ließ.

Die Eröffnung eines neuen Hauses war für jeden, der in der Gastronomie tätig war, eine besondere Herausforderung, verlangte sie doch Durchsetzungskraft, Führungsqualitäten und Fachwissen auf allen Gebieten des Hotelwesens. Er musste sich mit tausend Dingen auskennen, etwa die Qualität des Porzellans genauso beurteilen können, wie er sicher in der Auswahl der Bettwäsche sein musste, in der die zukünftigen Gäste schlafen würden. Und das waren nur zwei von vielen Dingen, die sein Fachwissen erforderten.

Normalerweise wurde das alles gemeinsam mit den Betreibern des Hotels entschieden. Christian war deshalb sehr verwundert gewesen, als man ihn völlig freie Hand ließ. Patricia Vangaalen, die Besitzerin des ›Landhotel Ransingerhof‹, hatte ihm schon bei ihrem ersten Gespräch erklärt, dass sie von ihm erwarte, nur das Beste einzukaufen. Das Hotel solle die teuerste Ausstattung bekommen, die je ein solcher Betrieb gehabt hätte. Geld spiele absolut keine Rolle. Dem jungen Mann stockte fast der Atem, als er die Höhe des Budgets erfuhr, mit dem er künftig arbeiten konnte.

Solch eine Summe übertraf jede andere, die er bisher verwaltet hatte!

Diese Frau schien über schier unerschöpflichen Reichtum zu verfügen und bereit zu sein, ihn auch auszugeben. Wie Christian später erfuhr, gab es eine ganze Reihe weitere Investoren, die jedoch spielten in der Leitung des Unternehmens keine besondere Rolle. Herrin über alles war Patricia Vangaalen, und dieses Hotel sollte nicht das einzige seiner Art im Wachnertal bleiben. Wie man hörte, waren bereits zwei weitere Bauernhöfe von ihr gekauft worden, auf deren Grund ebenfalls Hotels entstehen sollten.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach Christians Gedanken. Elke Weber, seine rechte Hand, kündigte die Bewerberin um den Posten der Hausdame an. Der Hoteldirektor blickte auf die Uhr und nickte zufrieden.

Auf die Sekunde pünktlich!

Er stand auf, knöpfte die Anzugsjacke zu und ging der jungen Frau entgegen, um sie zu begrüßen.

Iris Ferber sah in Wirklichkeit noch attraktiver aus, als auf dem Foto in der Bewerbungsmappe. Ihr schulterlanges blondes Haar wurde von einem Band gehalten. Das dunkle Kostüm passte ihr ausgezeichnet und brachte die schlanke Figur hervorragend zur Geltung.

Ähnlich wie Christian hatte auch Iris in internationalen Hotels gearbeitet und konnte erstklassige Zeugnisse vorlegen.

Was sie an dem Posten reize?

Lächelnd antwortete sie auf die Frage des jungen Hoteldirektors: »Vermutlich dasselbe wie Sie. Es ist doch immer eine Herausforderung, aber auch ein besonderes Erlebnis, bei der Eröffnung eines neuen Hotels dabei zu sein.«

Im Grunde war es kein wirkliches Bewerbungsgespräch mehr, denn die Würfel waren längst gefallen. Iris Ferber brachte alles mit, was sie für ihre neue Tätigkeit brauchte. Vielmehr ging es Christian darum, die künftige Kollegin näher kennenzulernen und letzte Details mit ihr zu besprechen.

Wie die meisten Angestellten würde auch Iris hier im hinteren Trakt des Hauses ein großzügiges Zimmer bewohnen und im Hotel beköstigt werden. Schon morgen sollte sie anfangen.

»Ich hoffe, das bereitet keine Probleme?«

Die neue Hausdame des ›Ransingerhofes‹ schüttelte den Kopf. Gestern erst war sie aus Berlin gekommen, wo sie zuletzt gearbeitet hatte. In St. Johann wohnte sie in einer Pension und konnte sofort ins Hotel umziehen.

Christian Lechner trank seinen Kaffee aus und erhob sich.

»Prima, Frau Ferber«, sagte er, »dann herzlich willkommen an Bord. Auf gute Zusammenarbeit.«

Sie bedankte sich und erklärte, wie sehr sie sich auf die neue Aufgabe freue. Christian begleitete sie zur Tür und schaute ihr nach, bis sie das Vorzimmer verlassen hatte.

Hübsche Person!, ging es ihm durch den Kopf …

*

Iris war schon bei ihrer Ankunft in dem neuen Hotel stark beeindruckt gewesen. Jetzt schlenderte sie langsam zum Foyer, auf der Suche nach Herrn Langer, dem Hausmeister. Der Hoteldirektor hatte ihn zum Empfang bestellt, und dort stand er auch schon, als die neue Hausdame aus der Tür trat und zur Rezeption ging. Sein Name stand auf einem kleinen Messingschild, das er an die Brust geheftet hatte.

Ab morgen würde sie auch so ein Namensschild tragen.

»Grüß Gott«, begrüßte sie der knapp Fünfzigjährige lächelnd und reichte ihr die Hand. »Ich freu’ mich auf unsre Zusammenarbeit.«

»Ich mich auch«, lächelte Iris zurück.

Herbert Langer machte eine alles umfassende Bewegung.

»Der Herr Lechner hat mir aufgetragen, mich ein bissel um Sie zu kümmern und Ihnen alles zu zeigen«, sagte. »Fangen wir am besten mit Ihrem Reich an, Frau Ferber, die Gästezimmer.«

Sie fuhren in die erste Etage, des insgesamt drei Stockwerke umfassenden Hotels, und betraten eines der Zimmer. Iris staunte über die Pracht und den Komfort. So etwas hatte sie noch nie erlebt – und sie hatte wahrlich nicht in den schlechtesten Häusern gearbeitet.

Nach und nach führte sie der Hausmeister durch das ganze Hotel, zeigte ihr die Küche, das Restaurant, das Lager mit den Putzmitteln und die benötigten Geräte, wie Kehrmaschinen und dergleichen.

»Es wird ohnehin seine Zeit brauchen, bis Sie sich zurechtfinden«, meinte der Hausmeister. »Ehrlich gesagt, verlauf’ ich mich manchmal immer noch …«

Die Fünfundzwanzigjährige stimmte in sein Lachen ein.

Wenn alle Kollegen so nett waren wie Herbert Langer, dann würde hier ein angenehmes Betriebsklima herrschen, dachte Iris, als sie über den Parkplatz zu ihrem Auto ging.

Mit einem hatte der Hausmeister sicher Recht – sie würde Zeit brauchen, um sich in dem ganzen Komplex zurechtzufinden. Für morgen war aber erst einmal eine Versammlung aller Angestellten angesetzt, auf der die einzelnen Abteilungsleiter – auch Iris – vorgestellt wurden und ihre engsten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kennenlernen sollten.

Heute aber wollte sie den vorerst letzten freien Tag genießen. Mit einem wunderbaren Glücksgefühl im Herzen fuhr Iris nach St. Johann zurück.

»Und wie gefällt Ihnen die neue Arbeitsstätte?«, erkundigte sich Ria Stubler, als die junge Frau um die Rechnung bat.

»Das Hotel ist einmalig schön«, antwortete Iris und berichtete von einigen Attraktionen, die die Gäste erwarteten.

»Da kann ich nur hoffen, dass Sie mir net zu viele Gäste abspenstig machen«, meinte die Pensionswirtin.

»Ach wo«, winkte Iris ab. »Ich denk’ mal, dass im ›Ransingerhof‹ eine ganz andere Klientel absteigen wird, als bei Ihnen, Frau Stubler. Und wer einmal bei Ihnen gewohnt hat, der kommt doch immer wieder. Allein’ schon wegen des Frühstücks!«

Ria lächelte. Dass das Frühstück in der Pension Stubler seinesgleichen suchte, wusste sie. Ihre Gäste bestätigten es ihr immer wieder.

Iris ging kurz auf ihr Zimmer und packte schon mal einige Sachen, die sie nicht mehr benötigte, in die Reisetasche. Viel hatte sie ohnehin nicht dabei, das meiste war daheim bei ihren Eltern, in Offenburg, geblieben. Hier brauchte sie lediglich einige neue Sachen zum Anziehen in der Freizeit, im Hotel bekamen alle Angestellten die Dienstkleidung gestellt.

Es war kurz vor zwei, als die junge Frau auf die Straße trat und die Richtung zum Biergarten einschlug. Zwar hatte sie ein reichliches Frühstück genossen und war immer noch satt, aber einen Kaffee wollte sie trinken und dabei ein paar Ansichtskarten schreiben, die sie gestern Nachmittag gekauft hatte. Die Eltern, ein paar Verwandte und Freundinnen, und auch ehemalige Arbeitskolleginnen sollten einen kurzen Gruß von ihr erhalten.

Schon am Vortag war Iris erstaunt gewesen, was für ein Betrieb in dem Biergarten herrschte. Nur mit viel Glück hatte sie einen Platz an einem der langen Tische ergattern können. Heute stellte sie erfreut fest, dass auf der anderen Seite, wo die Einzeltische mit den bequemen Stühlen standen, noch etwas frei war. Eine Familie mit zwei Kindern, die dort gesessen hatte, schickte sich gerade an, den Biergarten zu verlassen. Iris setzte sich, bestellte einen Milchkaffee und holte Karten und Kugelschreiber aus der Handtasche.

Nachdem sie die Karten fertig geschrieben hatte, stellte sie verwundert fest, dass auf allen Karten dasselbe stand – nämlich wie nett ihr neuer Chef war …

Iris Ferber stieß leise, aber heftig die Luft aus. Was war das denn für ein Geschreibsel?

Mit einem leichten Stirnrunzeln dachte sie daran, dass sie schon die ganze Zeit über in Gedanken bei ihrem neuen Vorgesetzten war … Irgendwie ließ sich sein Bild einfach nicht vertreiben.

Verlegen schaute sie sich um, als fühle sie sich bei etwas Verbotenem ertappt.

Und blickte genau in das Gesicht von Christian Lechner!

Unwillkürlich schrak sie zusammen. Das gab es doch gar nicht, eben noch musste sie an ihn denken, und nun stand er vor ihr!

»Entschuldigen Sie«, bat er mit einem charmanten Lächeln, »ist an Ihrem Tisch noch ein Platz frei?«

Iris nickte automatisch und legte rasch die Karten aufeinander.

»Aber nur, wenn ich nicht störe«, setzte er hinzu.

Hatte aber schon einen Stuhl zurückgezogen und Platz genommen.

»Nein, gewiss nicht«, versicherte sie.

Christian blickte sie fragend an.

»Darf ich Ihnen noch etwas bestellen?«, erkundigte er sich höflich.

Sie entschied sich für ein Mineralwasser. Im Plauderton erzählte der Hoteldirektor, dass er gerade vom Chef des Hotels ›Zum Löwen‹ komme, bei dem er sich vorgestellt und eine gedeihliche Zusammenarbeit gewünscht hatte.

»Und Sie genießen Ihren letzten freien Tag?«, lächelte er.

Iris Ferber nickte.

»Ich freue mich aber auch schon auf die Arbeit«, antwortete sie. »Sie wird hart werden, aber bestimmt auch sehr abwechslungsreich.«

»Ja, ich bin sicher, dass da einiges auf uns zukommt«, nickte Christian. »Aber wir haben ja noch ein paar Wochen bis zur offiziellen Eröffnung.«

Sie unterhielten sich über viele Dinge an diesem Nachmittag. Der Küchenchef, der ein hervorragender Koch war, gehörte ebenso dazu, wie der noch nicht fertiggestellte Golfplatz, an dem die Arbeiten aber bis zur Eröffnung erledigt sein sollten.

Iris lauschte Christians Stimme und hatte immer mehr das Gefühl, sich in ihr zu verlieren. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder traurig sein sollte, als er sich verabschiedete.

Allein und verwirrt saß sie am Tisch und spürte, dass sie sich Hals über Kopf in Christian Lechner verliebt hatte!

*

Im Pfarrhaus saßen Sebastian und sein Bruder beim Nachmittagskaffee und unterhielten sich über den Neubau des Hotels und darüber, dass Patricia Vangaalen zwei weitere Bauernhöfe aufgekauft hatte, um aus ihnen weitere Hotels zu machen. Wie auch der ›Ransingerhof‹ lagen die beiden Grundstücke in der Nähe von Engelsbach.

»Ich frag’ mich nur, was will diese Frau mit den vielen Hotels?«, bemerkte Max Trenker.

»Das kann ich dir sagen«, entgegnete der Bergpfarrer. »Auf diese Weise versucht Frau Vangaalen doch noch ihre ›Wachnertaler Ferienwelt‹ zu verwirklichen.«

Dieses Projekt der Milliardärin war das erklärte Ziel ihrer Aktivitäten, seit Patricia Vangaalen zum ersten Mal in St. Johann aufgetaucht war. Damals hätte Markus Bruckner, der Bürgermeister, es gerne gesehen, wenn die ›Schwäbische Investment GmbH‹ in St. Johann investierte. Bruckner, der immer alles tat, um ›sein‹ Dorf für den Fremdenverkehr attraktiver zu machen, merkte gar nicht, was für ein falsches Spiel die Frau aus Stuttgart spielte. Erst als er, aufgrund der Machenschaften Patricia Vangaalens, seines Postens als Bürgermeister enthoben worden war, wachte er endlich auf.

Sebastian Trenker war es schließlich, der Bruckner auf den Bürgermeisterstuhl zurückhalf. Dieser vertraute Gegenspieler war ihm hundertmal lieber, als die Kandidaten, die im Sold der Frau Vangaalen standen.

Indes hinderte diese Erfahrung Markus Bruckner nicht daran, erneut mit der Frau zu paktieren, als es darum ging, zwei Grundstücke, die der Kirchengemeinde von St. Johann gehörten, zu verkaufen. Still und heimlich war die Sache eingefädelt worden, und einer der Drahtzieher war ausgerechnet Bischof Brandstetter, der Stellvertreter des erkrankten Bischofs Meerbauer.

»Kann man denn gar nix dagegen unternehmen?«, wollte der Polizeibeamte von seinem Bruder wissen.

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Ich fürcht’ net. Solang’ Frau Vangaalen keine illegalen Tricks anwendet, wie seinerzeit bei der Klinik ›Nonnenhöhe‹, sind uns die Hände gebunden. Auf die Proteste einiger aufrechter Umweltschützer pfeift die doch.«

»Eine Schande ist das!«, schimpfte Max. »Erst dieser Monsterbau in den Bergen, jetzt diese Häufung der Hotels. Wohin soll das denn führen?«

Der Geistliche trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse wieder ab.

»Du weißt ja, welche Beweggründe Frau Vangaalen hat«, antwortete er. »Diese Hotels werden einzig und allein dazu gebaut, um mir zu sagen: Du kannst net gegen mich an! So war es mit der Klinik, und so ist es mit dem, was sie jetzt macht. Ich bin überzeugt, dass diese Hotels dem ›Löwen‹ und den Pensionen und Privatunterkünften auf den Bauernhöfen Gäste wegnehmen werden, und Frau Vangaalen weiß genau, wie sehr sie mich damit trifft, weil ich mich um diese Leute sorge. Ria führt ihre Pension seit über vierzig Jahren, das Hotel ›Zum Löwen‹ ist ein eingeführtes Haus, und viele der Privatvermieter sind auf die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr angewiesen. Die Frau weiß ganz genau, dass mir St. Johann net gleichgültig ist, und genau das ist der Punkt, an dem ihre Rache ansetzt.«

Max kratzte sich am Kinn.

»Hm«, überlegte er laut, »in ein paar Wochen sind Kommunalwahlen …, vielleicht bekommen wir ja einen neuen Landrat.«

Der gute Hirte von St. Johann lächelte.

»Wenn die Umweltpartei ihn stellt, könnt’ es sogar so kommen, wie du denkst.«

Xaver Burgthaler war ein bekannter und engagierter Politiker aus der Kreisstadt, der sich vehement für den Umweltschutz einsetzte. Würde er ins Landratsamt einziehen, könnte es tatsächlich geschehen, dass Patricia Vangaalen die nötigen Genehmigungen versagt würden. Doch auf solche Hoffnungen konnte man sich nur schwerlich verlassen.

Nach dem Kaffeetrinken ging Sebastian in die Kirche hinüber. Alois Kammeier, der Mesner, und Hubert Granninger warteten dort schon auf ihn. Gemeinsam stiegen sie in den Glockenturm hinauf. Vor einiger Zeit hatte sich dort oben ein Stein gelöst und war direkt vor den Eingang zur Kirche gefallen. Glücklicherweise war es am frühen Morgen geschehen, als sich noch kein Mensch dort aufgehalten hatte. Pfarrer Trenker beauftragte sofort die Baufirma Granninger, den Schaden zu begutachten und zu beheben. Eine ganze Zeit lang war der Turm durch ein grünes Netz gesichert, das verhindern sollte, dass möglicherweise weitere Steine in die Tiefe stürzten. Heute Mittag nun war das Netz wieder abgenommen worden. Die drei Männer begutachteten nun das Ergebnis der Renovierungsarbeiten. Die Mauer, mit ihren fensterartigen Öffnungen, war komplett hergerichtet worden, und der Bauunternehmer zeigte die Stelle, aus der der Stein sich gelöst hatte. Jetzt war sie sauber verputzt und von dem Schaden nichts mehr zu sehen.

»Wir haben drei weitere Steine herausgenommen und durch neue ersetzt. Sie waren schon genauso lose, wie der bereits heruntergefallene«, erklärte Hubert Granninger.

Sebastian war mit der Arbeit sehr zufrieden und bedankte sich.

Als der Bauunternehmer sich wenig später verabschiedete, kam ein junger Mann den Kiesweg herauf und erkundigte sich höflich, ob die Kirche geöffnet sei und besichtigt werden könne.

Der Bergpfarrer bejahte und folgte dem Mann.

*

Christian Lechner hatte das unerwartete Zusammentreffen mit Iris Ferber genossen. Die junge Frau war nicht nur eine äußerst attraktive Erscheinung, sondern darüber hinaus auch eine angenehme Gesprächspartnerin.

Und Christian merkte schnell, wie er zugeben musste, dass sie eine Saite in ihm zum Klingen brachte, die er lange nicht wahrgenommen hatte …

Aber eine schlimme Erfahrung, die er gemacht hatte, ließ den Hoteldirektor zurückschrecken, sich ernsthaft in Iris Ferber zu verlieben.

Frauen hatte es einige in seinem Leben gegeben. Die meisten waren eher flüchtige Bekannte, einmal glaubte Christian die Frau fürs Leben gefunden zu haben, doch Doreen Sander liebte einen anderen Menschen mehr – sich selbst. Es dauerte eine Weile, bis er dahinterkam, dass man ihn nur als Sprungbrett benutzen wollte, um Karriere zu machen.

Das Angebot ins Wachnertal zu wechseln, kam da gerade recht, und der Abschied aus München fiel Christian Lechner nicht schwer. Dennoch waren seine Gedanken jetzt wieder bei Doreen, als er den Kiesweg zur Kirche hinaufging.

Schon seit er ins Hotel gezogen war, um während der Arbeiten an der Außenanlage und der Einrichtung vor Ort zu sein, hatte Christian immer die Absicht gehabt, das Gotteshaus in St. Johann zu besichtigen. Die Kirche in Engelsbach hatte er sich bereits angeschaut und nun war er gespannt, was ihn hier erwartete.

Der große schlanke Mann, der vor der Kirchentür stand sah überhaupt nicht wie ein Geistlicher aus, Christian erkannte es lediglich an seinem Priesterkragen und dem kleinen goldenen Kreuz am Revers des Sackos.

Das Gesicht wies eine leichte Bräune auf, wie sie Menschen zu Eigen ist, die sich oft im Freien aufhalten. Freundlich bejahte er, als Christian fragte, ob die Kirche geöffnet sei.

Schon beim Eintreten war der junge Hoteldirektor von dem Anblick überwältigt. Er stand in dem kleinen Vorraum und blickte durch die Glastür.

Als er ein Geräusch hinter sich wahrnahm, drehte er sich um und sah den Geistlichen eintreten.

»Grüß Gott, noch mal«, lächelte er. »Ich bin Pfarrer Trenker. Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen, sich ein bissel umzuschauen.«

Christian stellte sich ebenfalls vor und bedankte sich mit einem Kopfnicken, als der Bergpfarrer ihm die Glastür aufhielt.

Hoch über ihm wölbte sich ein herrliches Deckenfresko. Szenen aus der Bibel waren meisterlich dargestellt, angefangen bei der Erschaffung der Welt, bis hin zur Sintflut und Noahs Arche.

Bewundernswert waren auch die Fensterbilder, die ebenfalls Motive aus dem Alten und Neuen Testament zeigten. Überall standen, von frommen Holzschnitzern geschaffen, wunderschöne Heiligenfiguren, die teilweise mit Blattgold verziert waren. Überhaupt waren Gold, Rot und Blau die vorherrschenden Farben – die Farben der Könige.

»Kommen S’«, bot Sebastian an, »ich führ’ Sie ein bissel herum.«

Langsam schritten sie den Mittelgang hinunter.

»Ich wundere mich ein wenig«, bemerkte der Besucher. »Das Dorf ist voller Touristen, aber hier ist alles leer …«

Der Geistliche erklärte ihm, dass bis heute Mittag am Glockenturm gearbeitet worden sei. Aus Sicherheitsgründen habe man den Publikumsverkehr eingeschränkt.

»Aber Sie können sicher sein, dass spätestens morgen wieder ganz viele Besucher herkommen«, setzte Sebastian hinzu.

»Das glaub’ ich gern. Ihre Kirche ist ja auch einmalig schön.«

Christian deutete auf ein Gemälde an der Wand, neben der Tür zur Sakristei.

Es war ein Porträt des Gottessohnes. ›Gethsemane‹, stand auf einem kleinen Schild daneben. Es zeigte Jesus Christus am Abend vor der Kreuzigung, im Gebet versunken. Dem unbekannten Künstler war es meisterhaft gelungen, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Schicksals im Gesicht des Erlösers wiederzugeben.

»Wer das Bild gemalt hat, weiß niemand«, erklärte der Bergpfarrer. »Der Künstler hat es leider net signiert. Aber nach Schätzungen verschiedener Experten, die das Bild untersucht haben, steht fest, dass es mehr als dreihundert Jahre alt ist.«

Er deutete auf eine Skulptur, die nur ein paar Schritte entfernt auf einem Sockel stand. Eine Madonna, die so schlicht war, dass genau diese Einfachheit jeden Betrachter ergriffen innehalten ließ.

»Damit ist das Gemälde nur wenige Jahre jünger, als unsere Madonna hier«, fügte er hinzu.

Christian hielt unwillkürlich die Luft an, so begeistert war er von dem Anblick der Gottesmutter.

»Aber, Hochwürden«, sagte er, »wenn Sie so eine wertvolle Figur besitzen, haben Sie keine Angst, dass sie gestohlen werden könnte? Man liest und hört doch immer wieder, dass gewissenlose Menschen in Kirchen einsteigen und sie ausrauben.«

Schmunzelnd erzählte der Geistliche, dass jeder Dieb, beim Versuch, die Madonna zu stehlen, durch den Alarm, den er damit selber auslöste, in die Flucht geschlagen würde.

»So schutzlos, wie’s den Anschein hat, ist die Figur net. Sie ist tatsächlich einmal vor Jahren gestohlen worden, doch die Kirchenräuber konnten gefasst werden, bevor die Madonna irgendwo im Ausland verschwand. Und seitdem ist sie durch eine Alarmanlage gesichert.«

Dass er und sein Bruder es waren, die die Diebe dingfest gemacht hatten, erwähnte Sebastian nicht …

Sie setzten ihren Rundgang fort, und Christian Lechner kam in den Genuss einer Kirchenführung, wie sie nur die wenigsten Besucher bekamen. Die beiden Männer verabschiedeten sich später draußen vor der Tür.

»Herzlichen Dank, Hochwürden«, sagte der junge Münchner. »Bestimmt war ich nicht zum letzten Mal hier.«

»Ich freue mich darauf, Sie mal wieder hier begrüßen zu können.« Der gute Hirte von St. Johann nickte dem sympathischen Mann zu und drückte die dargebotene Hand.

Während Christian Lechner den Kiesweg wieder hinunterging, kehrte Sebastian ins Pfarrhaus zurück.

Dabei fiel ihm ein, dass er ihn gar nicht gefragt hatte, in welcher Pension er wohnen würde.

Allerdings, wie ein Urlauber sah er gar nicht aus. Dass er diesen sympathischen Burschen noch einmal wiedersehen würde, daran zweifelte er indes nicht. Aber er ahnte nicht, wer dieser Christian Lechner wirklich war – schon gar nicht, dass dieser in Lohn und Brot von Patricia Vangaalen stand …

*

Im Nachhinein empfand Iris Ferber es als Glücksfall, dass sie weder in Engelsbach, noch in Waldeck ein Zimmer bekommen hatte. Beide Dörfer lagen näher zum Landhotel ›Ransingerhof‹, aber wo sie auch angefragt hatte, überall hieß es, man sei ausgebucht.

Dass sie schließlich in der Pension Stubler unterkommen konnte, verdankte die junge Hotelfachfrau dem Umstand, dass dort ein Gast wegen dringender geschäftlicher Termine vorzeitig hatte abreisen müssen. Und so schätzte Iris sich glücklich, die Bekanntschaft der patenten Wirtin gemacht zu haben, und in den Genuss des besten Frühstücks gekommen zu sein, dass man ihr jemals vorgesetzt hatte. Hier war alles frisch und hausgemacht, nichts kam aus der Tüte oder war in Portionen abgepackt.

Die Frühstückseier wurden erst dann gekocht, wenn die Gäste ihren Wunsch geäußert hatten, wie sie gekocht werden sollten, aber selbstverständlich konnte man auch Spiegeleier mit Speck bekommen, oder Rührei, vielleicht mit Schinken oder Kräutern, je nach Gusto.

Dass die Semmeln und Brote frisch waren, verstand sich von selbst, ebenso wie die Marmelade eigenhändig von Ria Stubler gekocht wurde. Und der Kaffee schmeckte, wie frisch geröstet.

Tatsächlich bezog die Wirtin ihn von einer kleinen Privatrösterei in der Kreisstadt, von wo aus er zweimal die Woche geliefert wurde.

An diesem Morgen hatte Iris Ferber allerdings überhaupt keinen Appetit, weder die röschen Semmeln, noch der verlockend aussehende Bergkäse, dem sie gestern ordentlich zugesprochen hatte, weil er so lecker war, konnten sie reizen. Selbst der Kaffee stand in der Tasse vor ihr auf dem Tisch und wurde kalt.

»Was ist denn mit Ihnen los?«

Besorgt blickte Ria Stubler die junge Frau an. Es war noch früh am Morgen, und Iris Ferber war der einzige Gast, der bisher zum Frühstück erschienen war.

»Ich hab’ überhaupt keinen Hunger«, antwortete sie und holte tief Luft.

»Das ist die Aufregung«, erklärte die Wirtin. »Schließlich ist ja heut’ Ihr erster Arbeitstag. Aber grad darum sollten S’ was essen. Es wird sonst nachher recht unangenehm, wenn S’ erst mal ein flaues Gefühl im Magen haben und dabei arbeiten sollen.«

Iris lächelte bei dem Gedanken, dass sie später mit den anderen neuen Kolleginnen und Kollegen zusammensitzen könne, und ihr Magen durch lautes Knurren bekannt gab, dass sie Hunger hatte …

Nein, dieses Risiko wollte sie lieber nicht eingehen!

»Sie haben ja recht«, nickte sie und griff zu dem Glas mit dem frisch gepressten Orangensaft.

Sie trank einen Schluck und nahm dann eine Semmel aus dem Brotkorb. Ria lächelte zufrieden und ging ins Haus hinein.

Iris hatte Butter auf eine Semmelhälfte gestrichen und eine Scheibe Käse darauf gelegt. Es war wirklich die Nervosität vor dem ersten Arbeitstag und all dem Neuen, was auf sie zukommen würde, die ihr den Appetit verdarb. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es den anderen vermutlich ebenso ging, und es wahrscheinlich gar nicht so schlimm werden würde, wie sie jetzt empfand.

Allerdings fürchtete sie doch etwas, und das war die Begegnung mit Christian Lechner!

Den ganzen übrigen Tag hatte sie gestern an ihn denken müssen, nachdem er sich im Biergarten von ihr verabschiedet hatte. Iris war noch einen Moment sitzen geblieben, ehe sie aufstand und zum Rathaus ging, wo sie die Ansichtskarten in den Postkasten einwarf. Dann kehrte sie langsam zur Pension zurück und setzte sich auf den Balkon vor ihrem Zimmer.

Das Gefühl, sich in Christian verliebt zu haben, war immer noch da, und es wich auch nicht, je länger sie darüber nachdachte.

Himmel, sie kannte diesen Mann doch erst ein paar Stunden!

Und er hatte mit keiner Silbe, keiner Geste zu verstehen gegeben, dass er mehr als kollegiales Interesse an ihr hatte. Sie wusste ja nicht einmal, ob er vielleicht sogar gebunden war.

Doch keiner der Vernunftgründe, die sie anführte, reichte aus, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Iris selbst hatte keinen festen Freund. Zwar hatte es immer wieder jemanden gegeben, in den sie sich hätte verlieben können, doch ihr Beruf machte es schwer, sich fest zu binden. Zweimal war sie in ›festen Händen‹ gewesen, aber beide Male scheiterten die Beziehungen an den unregelmäßigen Arbeitszeiten, die in der Gastronomie nun einmal obligatorisch waren. Wenn die anderen Leute feierten, mussten die Angestellten der Hotels und Gaststätten arbeiten, und das war in den meisten Fällen einer zwischenmenschlichen Beziehung sehr abträglich.

Iris hatte sich endlich durchgerungen, auch noch die zweite Hälfte der Semmel zu essen, sogar das gekochte Ei schmeckte wieder ausgezeichnet. Einige der anderen Gäste traten auf die Terrasse, als die junge Frau ihr Frühstück gerade beendet hatte und sich erhob.

Der Koffer stand schon an der Rezeption. Iris legte ihren Zimmerschlüssel auf den kleinen Tresen, aus der Küche kam Ria Stubler.

Die Wirtin streckte Iris lächelnd einen kleinen Strauß bunter Gartenblumen entgegen.

»Alles Gute und viel Erfolg für den ersten Arbeitstag«, sagte sie herzlich. »Ich hoff’ sehr, dass Sie Gefallen an Ihrer neuen Aufgabe finden, und dass Sie mich mal besuchen, wenn S’ Ihren freien Tag haben.«

Die junge Frau freute sich riesig über den Blumenstrauß. Sie umarmte Ria und drückte sie fest an sich.

»Ganz bestimmt komme ich mal vorbei«, versprach sie. »Und ganz, ganz lieben Dank für alles, Frau Stubler.«

»Sagen S’ ruhig Ria«, lächelte die Wirtin.

»Und Sie sagen Iris.«

Ria begleitete sie nach draußen. Nachdem der Koffer im Auto verstaut war, stieg Iris ein, ließ die Seitenscheibe herunter und winkte zum Abschied.

»Viel Glück!«, rief die Pensionswirtin.

»Danke! Auf bald mal.«

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals hinauf, als Iris Ferber durch das Dorf fuhr und die Richtung nach Engelsbach einschlug. Ein neuer, aufregender Lebensabschnitt lag vor ihr.

Was würde der erste Tag davon bringen?

*

Die Angestellten des ›Ransingerhofes‹ saßen in dem großen Veranstaltungssaal und blickten gespannt auf die Bühne, auf der zu späteren Gelegenheiten Musiker sitzen würden, Vorstände von Gesellschaften die Anwesenden begrüßen und vielleicht bedeutende Persönlichkeiten Reden halten. Jetzt hatten dort mehrere Personen Platz genommen, darunter auch Iris Ferber. In der Mitte der Tischreihe, mit dem Gesicht zu den Mitarbeitern, saß Christian Lechner und stellte die Leiter der einzelnen Abteilungen vor. Zuvor hatte er ein wenig über sich erzählt und zum Ausdruck gebracht, wie sehr er sich auf die neue Aufgabe freue, das Landhotel als neuer Direktor zu leiten.

Jeder der rund zweihundert Angestellten trug ein Namensschild, fast die Hälfte von ihnen wohnte auch im Personaltrakt des ›Ransingerhofes‹, die anderen kamen aus dem Wachnertal und der näheren Umgebung und fuhren nach Dienstschluss nach St. Johann, Waldeck und Engelsbach zurück. Ein paar lebten in Garmisch Partenkirchen oder Mittenwald.

Rechts neben Iris saß Lukas Dörfler, der mit zwei Sternen dekorierte Küchenchef, links Thomas Schaffer, gelernter Restaurantfachmann mit abgelegter Meisterprüfung, der den Service leitete. Weiterhin hatten die Chefin des Personalbüros und der Leiter der Haustechnik am Tisch Platz genommen. Sie alle würden jeden Morgen im Direktionsbüro zusammensitzen und den Tagesablauf besprechen, bevor sie an ihre Arbeit gingen.

Christian Lechner ergriff noch einmal das Wort.

»Ich wünsche uns allen also eine gute Zusammenarbeit«, sagte er. »Und wenn es mal irgendwelche Probleme geben sollte, dann scheuen Sie sich nicht, Ihren direkten Vorgesetzten oder Vorgesetzte anzusprechen. Auch ich bin jederzeit für Sie zu sprechen. Jetzt wollen wir aber an die Arbeit gehen. Ich kann Ihnen versprechen, die Zeit bis zur offiziellen Eröffnung wird schneller vergehen, als wir es uns vorstellen.«

Die Mitarbeiter klatschten Beifall und verließen den Saal. Iris Ferber stand auf und nahm die Mappe, die sie auf ihrem Platz vorgefunden hatte. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sprach Christian Lechner sie an.

»So, die nächste Zeit wird noch ein bissel turbulent«, meinte er, »aber dann wird sich wohl alles einspielen.«

Obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopfte, wirkte die neue Hausdame des Luxushotels ›Ransingerhofes‹ äußerlich ruhig.

»Ja, bis zur Eröffnung sind wir alle eingearbeitet«, antwortete sie.

Der junge Direktor nickte.

»Davon bin ich überzeugt. Die Leute scheinen mir alle sehr motiviert zu sein.«

Er erkundigte sich, ob sie mit ihrer Unterkunft zufrieden sei. Iris nickte nachdrücklich.

»Ich habe während meiner Laufbahn schon mehrmals auch an meinem Arbeitsplatz gewohnt«, erzählte sie. »Aber so ein luxuriöses Zimmer hatte ich noch nie.«

»Frau Vangaalen möchte eben, dass sich ihre Mitarbeiter wohlfühlen.«

Sie hatten die große Halle durchquert und gingen zu den Aufzügen. Wie alle Hotelangestellten wohnte natürlich auch Christian Lechner im Personaltrakt.

»Werden wir denn die Besitzerin des Hauses einmal kennenlernen?«, fragte Iris, während sie darauf warteten, dass einer der drei Lifte hielt.

Christian nickte.

»Schon in den nächsten Tagen findet ein Meeting aller Abteilungsleiter mit Frau Vangaalen statt«, antwortete er. »Ein entsprechendes Memo bekommen Sie rechtzeitig.«

Sie fuhren in den zweiten Stock hinauf.

Die anderen Angestellten waren schon nach oben gefahren oder hatten die Treppe genommen. Andere waren bereits an die Arbeit gegangen. Jedenfalls waren Iris und Christian alleine in dem Lift.

Was, wenn er jetzt stehen bleibt …, ging es der jungen Frau durch den Kopf.

Verstohlen blickte sie ihren Vorgesetzten an. Der dunkle Anzug stand ihm ausgezeichnet, er war elegant, ohne dabei protzig zu wirken. Der Duft seines gewiss teuren, aber unaufdringlichen Rasierwassers stieg ihr in die Nase. Iris schloss für Sekunden die Augen und stellte sich vor, wie sie sich hier im stehen gebliebenen Fahrstuhl küssten …

Mit einem leichten Ruck hielt die Kabine.

»Also, dann einen schönen Tag noch«, wünschte Christian und nickte ihr lächelnd zu.

»Ihnen auch«, konnte sie eben noch sagen, dann schloss sich die Tür wieder, und sie fuhr weiter.

Wenig später öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer. Als sie es am Morgen zum ersten Mal betreten hatte, glaubte Iris, sich geirrt zu haben und in einem der Gästezimmer zu sein. Aber das war natürlich Unsinn, der Personaltrakt war von dem eigentlichen Hotelbereich streng getrennt. Aber die Zimmer der Angestellten unterschieden sich nur unwesentlich von denen, für die die Gäste bezahlten.

Ein großes Bett stand an der Wand, daneben ein Kleiderschrank, Tisch, zwei Sessel, eine Anrichte, ein Schreibtisch, mit Stuhl und ein eigenes Badezimmer, das alles gehörte dazu. Das Hotel war im alpinen Stil gebaut worden, und zu jedem Stockwerk gehörte ein umlaufender Balkon. Doch jetzt hatte Iris keine Zeit, sich nach draußen in die Sonne zu setzen. Sie legte die Mappe auf den Tisch, überprüfte noch einmal den Sitz ihres Kostüms und ging wieder hinaus.

Jeder leitende Angestellte verfügte über ein Handy, über das er jederzeit erreichbar war. Außerdem hatte er so die Möglichkeit, die mit ihm arbeitenden Kollegen und Kolleginnen zu kontaktieren. Iris rief Carola Bertram, ihre Assistentin, an und bat um ein Treffen in ihrem Büro. Als Hausdame verfügte sie über ein eignes. Zusammen mit der Kollegin galt es nun, die angelieferten Waren zu kontrollieren, die für den Bereich des Housekeeping benötigt wurden. Dazu gehörten nicht nur die Reinigungsmittel und Maschinen, sondern auch die kleinen Präsente, welche die Gäste in ihren Zimmern und Suiten vorfanden; Duschgel, Seife, Pralinés und dergleichen mehr.

*

Auch wenn der ›Ransingerhof‹ im alpenländischen Stil erbaut worden war, gefiel er Sebastian Trenker dennoch nicht. Das lag vor allem daran, dass dieser Hotelkomplex, durch seine auffallende Größe, ebenso wenig in die Landschaft passte wie ein Wolkenkratzer. Indes, er stand nun einmal, und man musste sich halt mit ihm abfinden.

Nicht aber mit dem Bau zweier neuer Hotels!

»Wenn man sich das mal auf der Karte anschaut, dann merkt man sofort, worauf das Ganze abzielt«, sagte Sebastian.

Er hatte eine Landkarte auf dem Tisch ausgebreitet. Sein Bruder blickte ihm über die Schulter. Die drei Grundstücke der ehemaligen Bauernhöfe grenzten unmittelbar aneinander, dass das ganze Areal nun wie ein einziges wirkte. Das Schwimmbad, das bereits fertiggestellt war, befand sich ziemlich genau in der Mitte dieses Dreiecks und war von jedem Grundstück aus bequem zu erreichen.

»Hier, da und da plant Frau Vangaalen kleine Ferienhäuser.«

Der Polizist sah seinen Bruder verwundert an.

»Woher weißt du das?«

Sebastian lächelte.

»Ich hab’ gestern mit dem Xaver gesprochen«, erzählte er. »Der hat Einblick in den Bauantrag genommen, den die Investmentgesellschaft gestellt hat. Weiterhin sind hier, auf dem früheren Willingerhof, ein Hotel geplant, sowie ein Tennisplatz. Du siehst, das Ganze läuft darauf hinaus, die ›Wachnertaler Ferienwelt‹ als vollendete Tatsache zu präsentieren. Die zu den Höfen gehörenden Almhütten, die ja längst net mehr genutzt wurden, sollen wieder aktiviert werden. Wie Xaver erfahren hat, sind da ebenfalls Ferienwohnungen in Planung.«

»Lieber Himmel!«, entfuhr es Max. »Was kommt denn da auf uns zu?«

»Jede Menge Ärger«, erwiderte der gute Hirte von St. Johann. »Keine der drei Gemeinden ist für solch einen Ansturm von Urlaubern gerüstet. Die ganze Infrastruktur fehlt, und was der Bau neuer Straßen in der Umwelt anrichtet, von den Abgasen der Autos, mit denen die Leut’ herkommen werden, ganz zu schweigen, na ja, das weißt’ ja selbst.«

Sein Bruder nickte düster.

»Und da kann man gar nix machen?«

Sebastian zuckte die Schultern.

»Wenig. Wenn Frau Vangaalen die notwendigen Genehmigungen bekommt, dann wird niemand sie hindern können.«

Max zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Mein lieber Schwan«, meinte er, »dann können wir demnächst nach sonst wohin fahren, wenn wir unsre Ruhe haben wollen!«

»Noch ist net aller Tage Abend«, erwiderte der Geistliche beschwichtigend. »Xaver und seine Partei setzen alles daran, die Sache doch noch zu verhindern. Für den nächsten Montag ist eine Kundgebung auf dem Rathausplatz in der Stadt geplant. Außerdem werden Informationsbroschüren gedruckt und verteilt, die den Leuten die Augen öffnen sollen. Nur wenn alle an einem Strang ziehen und beim Landrat protestieren, wird man Frau Vangaalen stoppen können.«

Max nickte verstehend.

»Ich weiß jedenfalls, was ich wähle.«

Sein Bruder lächelte. Sebastian wusste, dass er in Max einen verlässlichen Mitstreiter hatte. Ihm lag die Heimat genauso am Herzen, wie dem Bergpfarrer, und sie waren bereit, für ihren Erhalt zu kämpfen.

Der Zusammenhalt aller gegen den Bau der Ferienanlage, war ihre einzige Hoffnung, diesen Wahnsinn zu stoppen.

Nach dem Gespräch mit Max fuhr Sebastian nach Engelsbach. Angesichts des schönen Wetters hatte er sich einen Rucksack, mit etwas Proviant und Wasserflasche, übergehängt und sich auf sein Fahrrad geschwungen. Die Kilometer bis zum neuen Hotel hätte der Geistliche auch locker zu Fuß gehen können, was ihm neben dem Radfahren ohnehin das liebste Fortbewegungsmittel war, aber Sebastian hatte ohnehin eine Rundtour geplant und wollte später noch nach Waldeck weiter. Obgleich er sonst zu seinen Besuchen im dortigen Altenheim mit dem Auto fuhr, wollte er heute diese Strecke mit dem Rad bewältigen.

Auch wenn die Straße stetig bergauf führte, war der Geistliche doch so durchtrainiert, dass er die Steigungen ohne besondere Mühe nahm. Als er am ›Ransingerhof‹ ankam, sah man ihm nicht an, dass er knapp zwanzig Kilometer mit dem Rad gefahren war.

Sebastian stellte sein Gefährt an die Mauer, die den Parkplatz begrenzte, und klemmte seinen Rucksack und Fahrradhelm auf dem Gepäckträger fest. Nachdem er die Hosenklammern entfernt hatte, fuhr er sich durch das Haar und ging zum Eingang des Hotels.

Die Tür glitt automatisch auseinander, vor ihm lag ein roter Teppich, in der Lobby glänzte der Marmor des Fußbodens. Rechts war der lang gezogene Empfang, an dem zwei junge Frauen offenbar gerade eingearbeitet wurden. Ein Mann stand neben ihnen und erklärte den beiden das Buchungssystem. Auf der anderen Seite standen bequeme Sessel mit kleinen Tischen davor, in einem kleinen Geschäft waren bereits Andenken und andere Sachen ausgestellt, die dort verkauft werden sollten. Der Geistliche schaute nach oben und sah die riesigen Leuchter, die vom obersten Stockwerk herunterhingen. An der linken Wand floss ein künstlicher Wasserfall und mündete in einer Art tropischer Landschaft. Ein exzentrischer Innenarchitekt hatte sich offenbar hier austoben dürfen. In einer Großstadt hätte es vielleicht sogar gepasst, hier aber wirkte es auf den Geistlichen eher fehl am Platze, zumal das Hotel selbst ja das typische bayerische Flair vermitteln sollte.

»Entschuldigen Sie«, sagte eine Stimme hinter ihm, »aber das Hotel wird erst in ein paar Wochen eröffnet.«

Sebastian drehte sich um und blickte Christian Lechner ins Gesicht, der ihn überrascht ansah.

»Hochwürden«, rief der junge Hoteldirektor, »ich hätte Sie fast nicht erkannt!«

Der Geistliche schmunzelte.

»Ich lauf’ net immer in meiner Soutane herum«, entgegnete er und schaute Christian fragend an. »Aber was machen Sie hier?«

Der junge Mann lachte.

»Ich leite den ›Ransingerhof«, erklärte er. »Ich bin der Direktor.«

*

Der Bergpfarrer verbarg seine Überraschung. Dass er Christian Lechner vielleicht einmal wiedersehen würde, hatte er ja durchaus für möglich gehalten. Doch dass dieser mit dem neuen Hotel zu tun hatte, konnte er freilich nicht ahnen.

»Kommen Sie«, lud Christian ihn ein. »Neulich haben Sie mich in Ihrer Kirche herumgeführt, heute spiele ich mal den Fremdenführer.«

Sebastian nickte und folgte ihm.

Es war schon beeindruckend, was er zu sehen bekam. Die beiden Zimmer, in den Christian Lechner ihn führte, waren elegant eingerichtet, das Restaurant strahlte deutlich die gehobene Kategorie aus, die zahlungskräftige Kunden anziehen sollte. Christian wies auf den Sternekoch hin, der in den besten Häusern in Europa gearbeitet hatte.

Der Wellnessbereich im Keller des Hotels genügte höchsten Ansprüchen, und die Zahl der Angestellten war erfreulich. Zumindest wurde die Arbeitslosigkeit in der Gegend gesenkt.

So hat alles seinen Vor- und Nachteil, ging es Sebastian durch den Kopf, als er später in der Lobby saß und mit dem jungen Direktor Kaffee trank.

Auch wenn Christian Lechner für Patricia Vangaalen arbeitete, schmälerte diese Tatsache keineswegs die Sympathie, die der Geistliche für ihn empfand. Sebastian Trenker wusste sehr gut zu unterscheiden, ob jemand aufrichtig war oder etwas vor ihm verbarg. Seinem Gegenüber war ihm jedenfalls nicht unlieb, und es dauerte nicht lange, bis der Geistliche den jungen Mann zu einer Bergtour einlud.

»Herzlich gerne«, sagte Christian spontan zu. »Seit ich hier bin überlege ich, wann ich endlich einmal auf die Berge könnte. Aber die Arbeit hat mir bisher keine Gelegenheit dazu gelassen. Jetzt erst wird es langsam ruhiger.«

»Schön, dann kommen S’ doch einfach mal zum Kaffee ins Pfarrhaus, Herr Lechner«, schlug Sebastian vor, »und wir besprechen bei einem Stück Kuchen alles weitere.«

»Ja, Hochwürden«, nickte der Hoteldirektor erfreut, »das mache ich. Vielen Dank.«

Er deutete zum großen Panoramafenster hinaus, von wo aus man die Berge sehen konnte.

»Die sind doch ein grandioses Stück Natur«, schwärmte er. »Älter als die Menschheit. Wenn Felsen und Steine erzählen könnten – was würden wir alles erfahren!«

Sebastian lächelte ob dieser Begeisterung. Unzählige Male hatte er dort oben gesessen und ähnlich gedacht.

Er verabschiedete sich von Christian Lechner, der ihn nach draußen begleitete.

»Bis nächste Woche, Hochwürden.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Ich freue mich«, entgegnete der Geistliche und schwang sich auf sein Fahrrad.

Christian Lechner kehrte ins Hotel zurück. Zufrieden dachte er daran, dass bisher alles reibungslos geklappt hatte. Die Mitarbeiter waren höchst motiviert, und alles lief wie am Schnürchen. In der nächsten Woche würden sie dann auch die Besitzerin persönlich kennenlernen, und bald darauf eröffnete das Hotel.

An diesem Samstagnachmittag waren die meisten Angestellten, die nicht im Haus wohnten, gar nicht im Hotel. Auch diejenigen, die hier ihre Unterkunft hatten, waren irgendwo hingefahren, in die Stadt oder an den Achsteinsee zum Schwimmen. Christian überlegte, was er mit dem freien Nachmittag anfangen sollte. Die Eltern in München hatte er erst vor ein paar Tagen besucht. Und demnächst wollten sie herkommen und die neue Wirkungsstätte ihres Sohnes besichtigen. Schwimmen war sicher auch sehr reizvoll, allerdings vermutete er zu Recht, dass sich bei diesem Wetter die Leute selbst im See wie Sardinen in der Dose quetschen würden.

Also vielleicht mit einem guten Buch auf die Dachterrasse setzen?

Noch war es möglich, später würden es die Hotelgäste sein, die sie bevölkerten.

Als Christian kurze Zeit später aus dem Fahrstuhl auf die Terrasse trat, sah er, dass er nicht alleine diese Idee hatte. In einem Liegestuhl saß Iris Ferber und blätterte in einer Zeitschrift.

»Grüß Gott«, lächelte er. »Genießen Sie auch das herrliche Wetter hier oben?«

Iris wollte aufspringen.

»Um Himmel willen, bleiben Sie nur sitzen«, lächelte Christian.

Er deutete auf einen freien Stuhl.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Aber selbstverständlich«, nickte sie und strich ihren Pulli glatt.

Der Direktor setzte sich.

»Ungewöhnlich, wenn man nichts zu tun hat, was?«, bemerkte er. »Vor allem, wenn man ständiges Arbeiten gewohnt ist.«

Iris pflichtete ihm bei.

»Aber demnächst geht es hier ja anders zu.«

Christian nickte.

»Genau, und darum wollen wir die ruhige Zeit noch ein wenig genießen.«

Er schlug das Buch auf. Es war die Biographie eines großen französischen Hoteliers. Christian hatte bereits einige Kapitel darin gelesen. Doch jetzt konnte er sich nicht so recht auf das Geschriebene konzentrieren. Immer wieder glitt sein Blick zum Nachbarstuhl hinüber und verharrte nachdenklich auf Iris Ferber …

Seit dem Vorstellungsgespräch ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ganz besonders hatte er dann ihre zufällige Begegnung im Biergarten genossen, und immer wenn er sie hier im Hotel sah oder sprach, war da ein Gefühl, das er nur zu gut kannte.

Sie war eine ganz besondere Frau, und doch konnte Christian nicht aus seiner Haut heraus und zu seinen Gefühlen stehen. Was er erleben musste, hatte sich wie ein eiserner Panzer um sein Herz gelegt, als müsse es geschützt werden.

Vor der Liebe!

Irgendwie musste sie seinen Blick gespürt haben, denn Iris hob den Kopf und sah ihn fragend an.

»Entschuldigen Sie«, bat er hastig. »Ich wollte Sie nicht so anstarren. Ich war eben mit meinen Gedanken ganz weit fort …«

Sie lächelte und blickte wieder in die Zeitschrift. Aber auch Iris konnte sich kaum merken, was sie da las. Die Buchstaben glitten vorüber und waren im nächsten Moment vergessen, wenn sie die Seiten umblätterte.

Immer wieder hatte sie den Gedanken, in Christian Lechner verliebt zu sein, zurückgewiesen. Doch im Grunde ihres Herzen wusste Iris längst, dass jedes Leugnen ihrer Gefühle sinnlos war.

Sie erstarrte, und das Blut schoss durch ihre Adern, als er sie plötzlich ansprach.

»Sagen Sie, Iris, hätten Sie Lust, heute Abend mit mir auszugehen?«

*

Schon im nächsten Moment hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen und die Frage verschluckt!

Christian fragte sich unwillkürlich, welcher Teufel ihn da geritten hatte, dass er sich zu dieser Einladung hatte hinreißen lassen.

Aber nun war sie einmal ausgesprochen und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.

»Selbstverständlich nur, wenn Sie nichts Besseres vorhaben«, hörte er sich sagen. »In St. Johann ist Tanzabend, und ich dachte, vielleicht haben Sie Lust.«

Iris schluckte hastig und nickte.

»Ja, vielen Dank, Herr Lechner«, antwortete sie und registrierte nebenbei, dass er sie eben zum ersten Mal mit ihrem Vornamen angeredet hatte.

»Sagen Sie doch Christian«, bat er lächelnd und stand auf. »Dann bestelle ich mal eben zwei Karten. Der Herr Reisinger hat nämlich gesagt, dass das ratsam wäre. Der Tanzabend ist immer gut besucht. Treffen wir uns so gegen sechs in der Lobby.«

Iris Ferber nickte automatisch. Das glückliche Lächeln lag immer noch auf ihren Lippen, als Christian längst im Lift verschwunden war.

Du hast eine Verabredung mit ihm!

Dieser Gedanke wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Die letzten Tage war Iris schon glücklich gewesen, wenn sie Christian nur gesehen hatte, bei der morgendlichen Besprechung klopfte ihr Herz schneller, und abends saß sie in ihrem Zimmer und träumte von ihm.

Diesen Traum allerdings hatte sie nicht zu träumen gewagt!

Immer noch wie betäubt betrat sie ihr Zimmer. Iris stand ratlos vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Alles, was sie sah, schien ihr unpassend.

Endlich, nach einer halben Ewigkeit, entschied sie sich für eine leichte Bluse, schlicht weiß, dazu trug sie eine schwarze Hose, und eine weinrote Lederjacke.

Es war allerdings auch höchste Eisenbahn, die Uhr zeigte kurz vor sechs, als sie die Halle betrat!

Christian Lechner erhob sich aus dem Sessel, in dem er gesessen hatte, und kam ihr lächelnd entgegen. Sie verließen die Halle und fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage, wo er seinen Wagen stehen hatte. Galant öffnete Christian ihr die Tür und ließ sie einsteigen. Iris’ Herz schlug wieder bis zum Hals hinauf, als er sich neben sie setzte und losfuhr.

»Es war doch gut, dass ich angerufen habe«, erzählte er, während der Fahrt. »Der Herr Reisinger konnte uns aber noch einen schönen Tisch reservieren.«

»Der Tanzabend ist vermutlich ein ganz schönes Spektakel«, meinte Iris.

»Hier heißt das ›Gaudi‹«, schmunzelte er.

»Stimmt«, lachte sie. »In Bayern spricht man ja etwas anders, als bei uns in der Frankfurter Gegend.«

»Ich hab viel geübt, um den Dialekt wegzubekommen«, gestand Christian. »Aber seit ich wieder hier bin, schlägt er doch hin und wieder durch.«

Dann erzählte er von der Bekanntschaft mit Pfarrer Trenker, und dass der Geistliche am Nachmittag das Hotel besichtigt habe. Iris verneinte die Frage, ob sie den guten Hirten von St. Johann schon kennengelernt habe. Allerdings hatte Ria Stubler ihr von dem ›Bergpfarrer‹, wie ihn die Leute nannten, erzählt.

»Bergpfarrer?«, fragte Christian.

»Ja, ich habe es erst auch nicht verstanden«, erklärte sie. »Aber ganz offenbar ist Hochwürden seit seiner frühesten Jugend ›bergverrückt‹ und hat sogar als Bergführer gearbeitet, um sich etwas zum Studium dazuzuverdienen. Niemand kennt sich da oben so gut aus, wie er, und deshalb nennen ihn die Leute eben den ›Bergpfarrer‹.«

Christian nickte verstehend und erzählte von der Einladung zur Bergtour.

»Haben Sie schon mal so eine Wanderung gemacht?«, wollte er dann wissen.

Iris Ferber schüttelte den Kopf.

»Bisher leider nicht.«

»Das hört sich ganz so an, als hätten Sie Lust dazu …«

Sie wiegte den Kopf.

»Ach, vorstellen könnte ich es mir schon«, entgegnete sie.

»Dann kommen Sie doch mit!«

Sie blickte ihn skeptisch an.

»Glauben Sie denn, das geht so einfach?«

»Warum denn nicht? Wie ich Pfarrer Trenker einschätze, wird er nichts dagegen haben. Ich frage ihn einfach mal bei Gelegenheit.«

Christian lenkte seinen Wagen auf den Parkplatz des Hotels.

»Sind wir nicht zu früh?«, fragte Iris.

Der Hoteldirektor lächelte.

»Ich habe mir erlaubt, einen Tisch im Restaurant zu reservieren«, antwortete er. »Mal sehen, was es Leckeres zu essen gibt.«

Er sah Iris fragend an.

»Oder haben Sie schon gegessen?«

Sie schüttelte den Kopf. Keinen Bissen hätte sie vor Aufregung herunterbekommen. Und ob sie jetzt etwas würde essen können, war auch fraglich.

Sepp Reisinger, der Inhaber des Hotels ›Zum Löwen‹ begrüßte sie höchstpersönlich und führte sie an ihren Tisch. Irma, seine Frau, kam eigens aus der Küche, um die Kollegen aus dem Nachbardorf willkommen zu heißen.

»Ich habe schon so viel von Ihren Kochkünsten gehört, Frau Reisinger«, sagte Christian charmant. »Ich denke, wir brauchen gar keine Speisekarte und verlassen uns ganz darauf, dass Sie uns etwas Köstliches zaubern.«

Solche Gäste waren Irma ohnehin die liebsten. Solch ein Kompliment aber aus dem Mund eines Mannes vom Fach, freute sie freilich doppelt.

»Sie werden net enttäuscht sein«, versprach sie und ging in die Küche zurück.

Sepp servierte zwei Gläser Rieslingssekt als Aperitif und folgte dann seiner Frau, um mit ihr die Speisenfolge abzusprechen und den entsprechenden Wein auszusuchen.

Währenddessen unterhielten sich Iris und Christian. Sie sprachen über alles Mögliche, und jeder gestand sich insgeheim ein, dass sie es taten, um ihre Nervosität zu überspielen.

Irma Reisinger hatte nicht zu viel versprochen. Den Auftakt bildete eine geeiste Gurkensuppe mit frischen Krabben als Einlage, was angesichts der Temperatur, die immer noch herrschte, nicht nur köstlich schmeckte, sondern auch herrlich erfrischte.

Zu der gebratenen Kalbsleber, mit Salbei und Rosmarinkartoffeln, servierte Sepp Reisinger einen ›Chianti Classico‹, der es mit den vielfältigen Aromen aufnehmen konnte. Den Abschluss bildete eine gebrannte Creme, die die geniale Köchin mit einem Hauch Lavendel aromatisiert hatte, ein süßer Dessertwein setzte dazu Akzente.

»Ich habe lange nicht so gut gegessen!«, bemerkte Iris.

Christian nickte zustimmend.

»Aber unser Herr Dörfler bringt ja seinen guten Ruf als Sternekoch schon mit«, meinte er. »Ich verstehe nur nicht, wieso die Frau Reisinger noch nicht so ausgezeichnet worden ist.«

Genau das sagte er der Wirtin und Chefköchin, als sie wieder an den Tisch kam und höchstpersönlich den Espresso servierte.

Irma bedankte sich und hoffte, dass sie und ihr Mann vielleicht einmal Gelegenheit hätten, das neue Hotel zu besuchen und die Küche auszuprobieren.

Sepp führte seine Gäste anschließend auf den großen Saal, auf dem schon reges Treiben herrschte.

*

»Na, das ist aber schön, dass Sie auch hergekommen sind!«

Die Stimme des Geistlichen ließ Christian herumfahren.

»Pfarrer Trenker, guten Abend. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen«, lachte er.

Der Hoteldirektor deutete auf seine Begleiterin.

»Darf ich vorstellen, Frau Iris Ferber. Sie ist unsere Hausdame. Iris, das ist Pfarrer Trenker.«

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, nickte Sebastian und reichte der jungen Frau die Hand.

»Ganz meinerseits«, antwortete Iris, während sie die Hand drückte und gleichzeitig versuchte, ihre Überraschung zu verbergen.

Christian hatte schon erwähnt, dass der Geistliche gar nicht so wie ein Kirchenmann aussah. So attraktiv hatte sie ihn sich aber nicht vorgestellt.

»Habt ihr schon einen Tisch?«, erkundigte sich der gute Hirte von St. Johann. »Kommt doch einfach mit mir. Bei uns ist heut’ Platz genug.«

Am Tisch der Honoratioren saßen Max und Claudia, und ihnen gegenüber das Ehepaar Wiesinger. Sebastian stellte seine beiden Begleiter vor und machte sie mit den anderen bekannt.

Christian und Iris fühlten sich herzlich aufgenommen, und als später der Apotheker und seine Frau, sowie der verwitwete Metzger hinzukamen, wurden sie von ihnen so freundlich behandelt, als wenn sie schon lange dazugehörten.

Der junge Hoteldirektor hatte einen leichten portugiesischen Weißwein bestellt. Der ›Vinho Verde‹ hatte nur wenig Alkohol und wurde, weil sie ja noch mit dem Auto nach Engelsbach zurückfahren mussten, außerdem mit Mineralwasser verdünnt.

Iris und Christian stießen an und prosteten den anderen zu und gleich nachdem sie getrunken hatten, verschwanden sie auf die Tanzfläche.

»Ein schönes Paar«, bemerkte Elena Wiesinger.

Claudia nickte zustimmend.

»Bloß schad’, dass sie für die Vangaalen arbeiten«, meinte Max.

»Sie wissen sicher net, mit wem sie es bei dieser Frau zu tun haben«, nahm Sebastian sie in Schutz.

Er erzählte von seinem Besuch in dem neuen Hotel am Nachmittag. Auch wenn ihm die Dimension des Baues nicht gefiel, von dem Standort ganz zu schweigen, gab es durchaus auch einen positiven Aspekt.

»Immerhin haben zweihundert Leute Lohn und Brot gefunden«, resümierte der Bergpfarrer schließlich.

Nach drei Tänzen kamen Iris und Christian abgekämpft an den Tisch zurück.

»Ist hier tatsächlich immer so viel Trubel?«, wandte sich die junge Frau an den Geistlichen.

Sebastian nickte.

»Der Tanzabend ist für die Leut’ hier die einzige Möglichkeit, mal so ganz ausgelassen zu feiern und für ein paar Stunden alle Sorgen zu vergessen«, antwortete er.

»Jedenfalls ist es herrlich hier«, lachte sie. »Ich hab’ schon lange nicht mehr so getanzt.«

Die beiden kamen ins Gespräch, und Sebastian erfuhr, wo Iris bisher überall gearbeitet hat. Die Karriere der jungen Hausdame beeindruckte ihn wirklich. Bestrebt, ihr Ziel zu erreichen, war Iris Ferber unbeirrt ihren Weg gegangen.

»Hat der Christian schon erzählt, dass wir auf Bergtour gehen wollen?«, fragte der Geistliche.

Iris nickte.

»Hätten S’ net Lust, uns zu begleiten?«

»Und wie!«, lächelte sie. »Ich wollte Sie ohnehin noch fragen.«

»Nun, das hat sich ja erledigt. Ich würd’ vorschlagen, dass Sie und Christian morgen Nachmittag zum Kaffee ins Pfarrhaus kommen, dann besprechen wir die Details.«

»Sehr gerne«, nickte sie.

Christian, der sich mit Max unterhalten hatte, freute sich, dass Iris sie begleiten durfte.

Als sie auf der Tanzfläche waren, hätte es nicht viel gefehlt, und er hätte sie geküsst. Vergessen war der Kummer, den Doreen ihm bereitet hatte. Hier war eine Frau, die alles in ihm ansprach. Eine Frau, die er wieder würde von Herzen lieben können. Seine Gefühle nahmen fast Überhand, und er musste aufpassen, seinem Verlangen nicht nachzugeben.

Denn, was sie vielleicht für ihn empfand, wusste er nicht. Er ahnte es vielleicht, so wie sie ihn manchmal ansah, schien sie sich ganz offenbar in seiner Gesellschaft wohlzufühlen.

Aber reichte das, um davon ausgehen zu können, dass sie seine Gefühle erwiderte?

Dass sie nicht verheiratet war, wusste er ja aus ihren Bewerbungsunterlagen. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie ungebunden war.

Andererseits – würde sie dann den Abend mit ihm verbringen und nicht mit ihrem Freund oder dem Verlobten?

Der Dirigent unterbrach Christians Gedanken, als er ans Mikrophon trat und Damenwahl verkündete.

Lächelnd stand der junge Hoteldirektor auf, als Iris ihn zum Tanzen aufforderte.

*

»Unterhalten Sie sich gut?«, fragte Christian, als der Tanz zu Ende war.

»Großartig«, antwortete Iris und fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Es könnte bloß etwas kühler sein.«

»Wollen wir einen Moment vor die Tür gehen?«, schlug er vor.

Die junge Frau nickte.

»Gute Idee.«

Draußen war es zwar immer noch mild, im Gegensatz zu der Temperatur auf dem Saal allerdings viel erfrischender. Andere Gäste hatten dieselbe Idee gehabt und spazierten, einzeln oder in Gruppen, vor dem Hotel und suchten ein wenig Abkühlung.

Iris und Christian machten ein paar Schritte die Straße hinunter. Hier draußen war es richtiggehend erholsam. Auf dem Saal herrschte so ein Lärm, dass sie für die Stille jetzt dankbar waren.

Christian Lechner räusperte sich. Sie waren unter einer Straßenlaterne stehen geblieben und blickten sich fast verlegen an.

»Wirklich ein schöner Abend«, bemerkte er.

Iris nickte.

Vor allem, weil du da bist, hätte sie beinahe gesagt, biss sich aber im letzten Moment auf die Lippe. Sie lächelte und senkte den Blick, als sie bemerkte, wie er sie ansah.

»Iris …?«

Christians Stimme klang rau. Er nahm ihre Hand und zog sie an sich.

»Vielleicht spürst du es ja«, fuhr er fort. »Ich muss dir einfach sagen, was ich für dich empfinde …, du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Iris, ich habe mich in dich verliebt …«

So, jetzt war es heraus!

Christian atmete tief durch und sah sie erwartungsvoll an. Iris hatte gespürt, dass jetzt der Augenblick gekommen war, und doch war es ihr, als träume sie. Sie hob den Kopf und blickte ihn an. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann ließ sie sich gegen seine Brust sinken und schmiegte sich fest an ihn.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich auf diese Worte gewartet habe!«, flüsterte sie. »Ich liebe dich doch auch.«

Seine Hand fuhr unter ihr Kinn und hob es an. In ihren schönen Augen schimmerte es feucht vor Glückseligkeit, als er sich zu ihr beugte und sie zärtlich küsste. Tief in ihrem Innern stieg ein Gefühl auf, das sie lange nicht empfunden hatte.

Jubeln hätte Iris in diesem Moment mögen, ihr ganzes Glück herausschreien!

Lange Zeit standen sie da, küssten sich und erklärten einander, wie lieb sie sich hätten.

»Wir müssen wohl mal langsam auf den Saal zurück«, schmunzelte Christian schließlich. »Man wird uns sonst noch vermissen.«

Sebastian lächelte, als sie an den Tisch zurückkamen, und es wunderte den Geistlichen nicht, dass die beiden sich jetzt plötzlich duzten.

Auch wenn es schon spät war, blieben sie noch ein paar Stunden und tanzten in den Morgen hinein. Als Iris dann selig in ihrem Bett lag, sehnte sie schon wieder den neuen Tag herbei.

Trotz des wenigen Schlafes war die junge Hausdame des Landhotels früh wieder auf den Beinen. Sie saß im Personalrestaurant und frühstückte mit Carola Bertram, als Christian hinzukam.

»Guten Morgen«, grüßte er und beugte sich zu Iris hinunter, um sie wie selbstverständlich zu küssen.

Iris’ Assistentin lächelte.

»Darf man gratulieren?«, fragte sie.

Christian grinste breit und sah dabei aus, wie ein großer Lausbub, den man bei einem Streich erwischt hatte.

»Aber nicht weitersagen!«, raunte er Carola Bertram verschwörerisch zu.

Dabei saßen ungefähr fünfundzwanzig andere Kollegen beim Frühstück und waren Zeugen geworden, wie ihr Vorgesetzter die Hausdame geküsst hatte.

»Morgen lernen wir also Frau Vangaalen kennen«, bemerkte Christian, als sie auf dem Weg zum Achsteinsee waren.

Dass sie an diesem Morgen zum Schwimmen fahren wollten, hatten sie in der Nacht auf der Fahrt von St. Johann zurück zum Hotel verabredet, als Christian vorschlug, zu dieser späten Stunde noch schwimmen zu wollen.

Es war kein ganz ernst gemeinter Vorschlag, aber sie bekamen spontan Lust, am nächsten Vormittag einen Ausflug an den See zu unternehmen.

»Hast du sie auch noch nicht kennengelernt?«, wunderte sich Iris.

Christian schüttelte den Kopf.

»Meine Einstellung geschah über eine Agentur«, erzählte er. »Frau Vangaalen hatte sie beauftragt, weil sie selbst keine Erfahrung in der Gastronomie hat. Was ich im Übrigen für eine gute Idee halte. Besser, als wenn sie selber die Leute ausgesucht hätte.«

»Meine Bewerbung ging dann ja schon direkt an Herrn Heuer, den Personalchef«, nickte Iris verstehend.

»Und ich habe sie auf den Tisch bekommen«, lächelte er …

Bis zum Achsteinsee war es nicht sehr weit zu fahren. Es war kurz nach elf, als sie dort ankamen. Iris hatte ein paar belegte Brote gemacht und einige Wasserflaschen gekauft, die nun in einem Korb auf der Rückbank lagen. Als sie dann ihr Ziel erreicht hatten, staunten sie erst einmal über die vielen Autos auf dem Parkplatz.

»So früh schon alles voll?«, murmelte Christian verblüfft.

Zwar gab es einen jungen Mann, der sie einwies, dennoch musste Christian eine Weile suchen, bis er endlich eine Lücke fand, in der er den Wagen abstellen konnte. Sie stiegen aus, nahmen den Korb, und schlossen das Auto ab. Während Christian den Korb trug, hatte sich Iris eine Decke unter den Arm geklemmt.

Sie kamen an einem großen Campingplatz vorüber, auf dem etliche Zelte und Wohnwagen standen. Sie hatten schon gelesen, dass der Achsteinsee ein beliebtes Ausflugsziel war, und dass zahlreiche Camper jedes Jahr gerne wieder herkamen. Als sie dann die Liegewiese erreichte, wusste sie, warum das Gebiet so beliebt war.

Der See lag vor einem atemberaubenden Panorama der steil aufsteigenden Berge. Sein Wasser schimmerte bläulich. Ganz viele Badelustige tummelten sich darin. In der Mitte war eine künstliche Insel verankert, weiter hinten fuhren Boote, und einige Windsurfer versuchten ihr Glück. Rings um das Ufer führte die Promenade, an der unzählige kleine

Geschäfte lagen. Boutiquen, Andenkenläden, aber auch solche, in denen man Badehosen und Anzüge kaufen konnte, natürlich auch Wasserbälle, sogenannte Wasserkanonen und was es sonst noch alles gab, was den Kindern Freude machte, im Grunde aber nur erfunden worden war, um die Erwachsenen zu ärgern …

An der Promenade standen zahlreiche Cafés, Wirtshäuser und Eisdielen, dort fand sich etwas für jeden Geschmack.

Sie schauten sich nach einem Platz um, an dem sie ihre Decke ausbreiten konnten. Dabei legten sie keinen besonderen Wert darauf, stundenlang in der Sonne zu brutzeln. In der Nähe des Zaunes, der den Campingplatz von der Liegewiese trennte, fanden sie schließlich eine freie Stelle, die sogar ein wenig von den hohen Bäumen dahinter überschattet wurde. Dort machten sie es sich bequem.

»Wollen wir gleich ins Wasser?«, fragte Christian.

Iris nickte. Sie gingen zu den Umkleidekabinen. Und schon bald darauf liefen sie, Hand in Hand, zum Seeufer.