E-Book 311-320 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 311-320 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Es ist dein Recht zu lieben, Lisa E-Book 2: Neues Glück für Hanna E-Book 3: Radtour ins Glück? E-Book 4: Vronis Sehnsucht nach der Heimat E-Book 5: Kann das Glück so einfach sein? E-Book 6: Wo die Liebe hinfällt … E-Book 7: Für wen schlägt dein Herz, Leonie? E-Book 8: Wenn die Vergangenheit nach dir greift … E-Book 9: Alter schützt vor Liebe nicht E-Book 10: Aus Liebe zu dir …

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Inhalt

Es ist dein Recht zu lieben, Lisa

Neues Glück für Hanna

Radtour ins Glück?

Vronis Sehnsucht nach der Heimat

Kann das Glück so einfach sein?

Wo die Liebe hinfällt …

Für wen schlägt dein Herz, Leonie?

Wenn die Vergangenheit nach dir greift …

Alter schützt vor Liebe nicht

Aus Liebe zu dir …

Der Bergpfarrer – Staffel 32 –

E-Book 311-320

Toni Waidacher

Es ist dein Recht zu lieben, Lisa

Darf die junge Frau wieder Hoffnung schöpfen?

Roman von Waidacher, Toni

Lisa Römisch saß eine ganze Weile auf der Kante des Bettes ihrer Tochter und starrte blicklos vor sich hin. Sie konnte nur einen ein-zigen Gedanken fassen: Jonas und Emilia waren weg, und die Schuld daran trug sie.

Es war die Schrift ihres Sohnes auf dem Zettel, den ihre Kinder ihr hinterlassen hatten: ‚Werde glücklich mit deinem Lover! Aber oh-ne uns!’

Nur ein paar Worte, mit Bleistift aufs Papier gekritzelt, aber niederschmetternd.

Lisa entrang sich ein trockenes Schluchzen. Sie konnte nicht ein-fach tatenlos herumsitzen. Es war Nacht, und die Kinder waren ir-gendwo unterwegs. Ein schier unerträglicher Zustand.

Wie in Trance erhob sie sich, verließ das Zimmer und ging zu der Kommode im Flur, auf der das Telefon stand. Nach und nach rief sie alle Bekannten und fernen Verwandten an, zu denen die Kinder mög-licherweise geflohen sein konnten. Niemand wusste etwas, und man riet ihr, die Polizei einzuschalten.

Zuletzt kontaktierte Lisa ihre Schwiegermutter. Elisabeth Römisch meldete sich. „Was willst du?“, fragte die Ältere ohne die Spur von Freundlichkeit und kurz angebunden.

„Sind der Jonas und die Emilia bei dir?“, erkundigte sich Lisa. Alles in ihr hatte sich dagegen gesträubt, diesen Anruf zu tätigen, wusste sie doch, wie ihre Schwiegermutter zu ihr stand. Sie war vom ersten Tag an gegen sie eingestellt gewesen. ‚Xaver hätte was Besse-res verdient’, war der gängige Spruch, den Elisabeth Römisch stets auf den Lippen gehabt hatte.

„Wieso?“, kam die Gegenfrage. „Sind die beiden denn net zu Hause? Hast du eigentlich schon mal auf die Uhr geschaut?“

„Ich war fort, mit einem Bekannten. Als ich vorhin heimgekommen bin, waren die beiden verschwunden. Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen …“

„So, so, mit einem Bekannten“, echote Elisabeth Römisch mit ät-zendem Unterton. „Vielleicht solltest du Liebhaber sagen.“

„Selbst wenn’s so wär’, es würd’ dich nix angehen“, wehrte sich Lisa. Die Art und Weise, wie ihre Schwiegermutter mit ihr umging, ließ ihren Widerspruchsgeist erwachen.

„Es geht mich was an. Du bist mit meinem Sohn verheiratet.“

„Der Xaver ist seit einem Jahr spurlos verschwunden, und die letzten beiden Jahre mit ihm davor waren auch net gerade erfreulich. Der ist doch nur noch hinter dem Alkohol hergehechelt.“

„Vielleicht denkst du mal drüber nach, warum er getrunken hat“, keifte Elisabeth Römisch. „Er war net eine Minute lang glücklich mit dir. Drum hat er getrunken. Letztendlich hast du ihn aus dem Haus getrieben. Das, scheint mir, ist dir jetzt bei deinen Kindern auch gelungen.“

„Ich hör’ mir das net länger an“, stieß Lisa hervor. Sie vibrier-te innerlich. Zu ihren Sorgen wegen der Kinder, zu den Schuldgefüh-len, die sie sich selber einredete, gesellten sich nun die gehässi-gen Tiraden ihrer Schwiegermutter. „Sag mir jetzt klipp und klar: Sind die Kinder bei dir oder net?“

„Nein, sie sind net hier. Ich hoff’ nur, dass …“

Ehe sie eine weitere Gehässigkeit äußern konnte, unterbrach Lisa die Verbindung. Sie legte das Telefon weg, ging in die Küche und stellte sich, ohne das Licht anzumachen, ans Fenster. Die Seiten-straße von St. Johann, in der ihre Wohnung lag, war von Straßenla-ternen beleuchtet. Etwa alle hundert Meter stand eine und warf ihr gelbes Licht auf den Asphalt.

Lisa fühlte sich von Gott und der Welt verlassen. Die Finsternis im Raum umschloss sie und machte ihr die Verlorenheit bewusst, die sie tief in sich fühlte. Mit brennenden Augen starrte sie hinaus in die Nacht und stellte sich unablässig die Frage, wo Emilia und Jonas gerade sein mochten.

Sie lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. Ihre Gefühle drohten sie zu überwältigen. Um nicht in Tränen auszubrechen, biss sie sich auf die Lippen. Das alles erschien ihr plötzlich wie ein schreckli-cher Albtraum, doch es war Realität. Die zitternde Anspannung ihrer Nerven entlud sich in einem Stöhnen.

Dieser Zustand der absoluten Niedergeschlagenheit hielt mehrere Minuten lang an. Schließlich begriff Lisa, dass es sie nicht weiter-brachte, wenn sie hier am Fenster stand und vor sich hin brütete. Du musst etwas tun!, spornte sie sich aufs Neue an, und es gelang ihr, die Erstarrung abzuschütteln und ihr Denken zu ordnen.

Sie war sich absolut nicht sicher, ob ihre Schwiegermutter die Wahrheit gesagt hatte und ob sie tatsächlich ahnungslos gewesen war. Lisa war geneigt anzunehmen, dass sich die Kinder zu ihrer Oma bege-ben hatten und ihre Schwiegermutter dies aus Gehässigkeit ver-schwieg.

Da waren aber auch tiefschürfende Zweifel. Möglicherweise hatte Elisabeth Römisch wirklich keine Ahnung …

Lisa dachte daran, Konrad anzurufen. Obwohl sie sich liebten, war wegen der ablehnenden Einstellung ihrer Kinder an diesem Abend keine rechte Stimmung aufgekommen. Morgen würde er nach Wolnzach zurück-fahren, wo er lebte und arbeitete. Lisa sah von dem angedachten An-ruf ab, denn sie wollte ihn nicht mit ihren Problemen belasten. Sollte sie in ihm auch noch Schuldgefühle erzeugen? Nein! Es genüg-te, dass sie sich in den bittersten Vorwürfen erging.

Sie kam in diesen Minuten zu dem niederschmetternden Schluss, dass ihre Liebe wohl keine Zukunft hatte. Das hieß für sie, dass sie wieder einmal gezwungen sein würde, zu verzichten. Sie entschloss sich, Konrad, wenn die Kinder wieder zu Hause waren und sie den Auf-ruhr in ihrem Innern einigermaßen unter Kontrolle hatte, anzurufen und ihn zu bitten, nicht mehr nach St. Johann zu kommen und sie zu vergessen. Er würde den Grund wissen wollen, und sie würde ihm er-klären, dass sie gezwungen sei, sich zwischen ihm und ihren Kindern zu entscheiden. Die Entscheidung sei zugunsten von Emilia und Jonas ausgefallen.

Es ließ sie innerlich erbeben. Ihr Herz pochte einen heftigen Rhythmus in ihrer Brust, sie wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Die Enttäuschung und der Frust saßen tief. Warum durfte sie sich ihr Leben nicht nach ihren eigenen Vorstellungen einrichten? Warum sprach man ihr seit Jahren das Recht dazu ab? Alle Menschen hatten das Recht zu lieben. Warum sie nicht?

Sie ging noch einmal in den Flur, suchte auf der Telefonliste, die sie irgendwann einmal angelegt und an eine Pinnwand aus Kork ge-heftet hatte, die Nummer des Polizeireviers und wählte sie an. Das Freizeichen ertönte einige Male, dann erklang der automatische An-rufbeantworter, der ihr mitteilte, dass die Dienststelle nicht be-setzt sei. Max Trenker, der den Anrufbeantworter besprochen hatte, gab für dringende Fälle seine Diensthandynummer bekannt.

Lisa schaute auf die Uhr. Es war halb elf Uhr vorbei, und sie sagte sich, dass die Kinder vielleicht aus eigenem Antrieb wieder heimkämen und sie, wenn sie Max Trenkers Feierabend störte, unter Umständen einen blinden Alarm auslöste. Tief im Inneren wusste sie, dass ihre Hoffnung, die beiden würden wieder nach Hause kommen, sinnlos war. Dennoch klammerte sie sich daran wie eine Ertrinkende an den rettenden Strohhalm.

Nein, die Polizei wollte sie nicht einschalten – noch nicht. Aber sie brauchte jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten, dem sie ihre Ängste und Nöte anvertrauen konnte.

Pfarrer Trenker! Er hatte sich immer wieder um sie und die Kinder gekümmert, nachdem Xaver vor einem Jahr aus der Entzugsklinik geflo-hen war und es kein Lebenszeichen mehr von ihm gegeben hatte. Der Bergpfarrer hatte ihr auch in letzter Zeit immer wieder mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und jeder im Wachnertal wusste, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit für die Probleme seiner Mitmenschen ein offenes Ohr hatte.

In ihrer Verzweiflung rief ihn Lisa an.

Dreimal erklang das Freizeichen, dann meldete sich die dunkle, ruhige Stimme des Pfarrers. Er sagte: „Guten Abend, Lisa.“ Ihre Num-mer war im digitalen Telefonbuch seines Festnetzanschlusses gespei-chert, und so wurde ihr Name auf dem Display angezeigt. „Wo brennt’s, dass du mich um diese späte Stunde noch anrufst?“

„Ich hoff’, Herr Pfarrer, ich hab’ Sie net aus dem Schlaf geris-sen“, sagte Lisa, ohne auf seine Frage einzugehen. „Aber ich weiß net, an wen ich mich sonst wenden könnt’.“

„Ich hab’ noch net gelegen“, versetzte Sebastian. „Du störst net. Also raus mit der Sprache, Lisa. Was ist der Anlass für deinen An-ruf?“

Lisa berichtete mit stockender Stimme. Als sie geendet hatte, murmelte der Bergpfarrer. „Mir scheint, dass es der Jonas jetzt ziemlich übertreibt. Dass er die treibende Kraft war, dürft’ so gut wie sicher sein. Ich glaub’ nämlich net, dass die Emilia von sich aus von zu Hause weggelaufen wär’. – Du sagst, dass niemand eine Ah-nung hat, wo die beiden sein könnten. Hast du wenigstens meinen Bru-der verständigt?“

„Die Polizeiwache ist net besetzt. Ich weiß net, ob ich net die Pferde scheu mach’, wenn ich Ihren Bruder zu Hause anruf’ und die Kinder als abgängig melde. Vielleicht kommen sie zurück, und alles löst sich in Wohlgefallen auf.“

„Hast du dem Konrad Pfeiffer Bescheid gesagt?“, fragte Sebastian.

„Nein. Ich will ihn net damit belasten, und schon gar net will ich in ihm irgendwelche Schuldgefühle wachrufen. Ich …“ Lisa brach ab. Es kostete sie Mühe, die nächsten Worte auszusprechen. Sie hatte nämlich vor, genau das Gegenteil von dem zu tun, was ihr der Pfarrer vor einigen Tagen geraten hatte.

‚Ich bin der Meinung, dass du dich lang genug verkrochen und nim-mer so recht am Leben teilgenommen hast’, hatte er zum Ausdruck ge-bracht. ‚Ein bissel Freud’ am Leben muss der Mensch jedoch haben, sonst verkümmert er. Du hast dir nix vorzuwerfen. Und du musst auch kein schlechtes Gewissen haben …’

Bei Gott, sie hatte ein denkbar schlechtes Gewissen!

„Was wolltest du sagen, Lisa?“, fragte Sebastian.

Lisa nahm sich ein Herz und antwortete: „Ich werd’ ihn bitten, nimmer zu kommen, Herr Pfarrer. Ich würd’s net verkraften, wenn mei-ne Kinder sich von mir abwenden, nur weil ich mich als stur und ei-genwillig erweis’. Mein Kinder sind mir wichtiger als alles andere.“

„Diese Einstellung ist einerseits nachvollziehbar, andererseits aber net unbedingt zu akzeptieren, Lisa. Was deine Kinder treiben, ist egoistisch. Sie sind stur und eigenwillig und versuchen, dir ih-ren Willen aufzuzwingen.“

„Ich will nur, dass sie bald wieder bei mir sind“, murmelte Lisa. „Dafür bin ich bereit, zurückzustecken. Meine Bedürfnisse sind un-wichtig. Es geht mir nur um die Kinder.“

„Sie kommen net weit, Lisa. Ich vermut’ ganz stark, dass sie sich bei jemand verstecken, der dir das verschwiegen hat – aus welchem Grund auch immer. Das ist allerdings reine Spekulation, und ich will net darauf vertrauen. Darum werd’ ich meinen Bruder informieren, da-mit er Suchmaßnahmen einleitet. Ich werd’ ihn bitten, dich auf dem Laufenden halten. Ist das für dich in Ordnung?“

„Ja, Herr Pfarrer. Allein das Wissen, dass nach den beiden inten-siv gesucht wird, ist schon ein bissel beruhigend und verleiht Zu-versicht.“

„Ich werd’ das Nötige veranlassen, Lisa“, versicherte der Pfar-rer. „Mein Bruder wird mit dir Verbindung aufnehmen.“

*

Max Trenker hatte schon im Bett gelegen und war am Einschlafen, als ihn das Klingeln des Telefons hochschrecken ließ. Er warf die Zudecke von sich, sprang auf, lief auf den Flur, wo das Telefon auf einem Tischchen stand, und hatte im nächsten Moment seinen Bruder an der Strippe. „Ich hoff’, du hast noch net geschlafen, Bruderherz. Wenn doch, tut’s mir leid. Aber der Anruf ist unabdingbar …“

Er berichtete. Zuletzt sagte er: „Die Lisa denkt, dass die Kinder zu ihrer Oma, der Römisch-Liesl, gegangen sind. Die Liesl bestreitet das allerdings und behauptet, bis zu der Minute, in der die Lisa bei ihr angerufen hat, ahnungslos gewesen zu sein.“

„Das Verhältnis der beiden ist doch eh net das Beste“, gab Max zu verstehen.

„War’s noch nie und wird’s wahrscheinlich auch niemals sein“, pflichtete Sebastian bei. „Ich will dir ja nix dreinreden, Bruder. Aber ich denk’, du musst was unternehmen. Es ist ja net auszuschlie-ßen, dass die beiden Kinder irgendwo herumirren.“

„Ich werd’ zunächst mal zur Lisa fahren und mit ihr reden“, er-klärte Max. „Und dann will ich bei der Großmutter der Kinder vorbei-schauen. Sie ist meiner Meinung nach die erste Adresse, zu der sich der Jonas und seine Schwester möglicherweise begeben haben.“

„Das Ganze kommt der Römisch-Elisabeth natürlich wie gerufen, um der ungeliebten Schwiegertochter eins auszuwischen“, verlieh der Pfarrer seinen Gedanken Ausdruck. „Aber es liegt mir fern, ihr was zu unterstellen.“

„Die Gedanken sind frei …“, gab Max zu verstehen.

„… und wärst du in Ketten geboren“, vollendete Sebastian. „Frei nach Friedrich Schiller. – Gut, Max. Halt’ mich bitte auf dem Lau-fenden.“

„Mach’ ich“, versprach Max und blickte auf Claudia, seine Frau, die jetzt erschien. Sie wirkte schlaftrunken. Max legte den Telefon-hörer fort und klärte sie mit knappen Worten auf, dann verlor er keine Zeit mehr, zog sich an und verabschiedete sich von ihr.

Wenige Minuten später parkte er den Dienstwagen vor dem Haus, in dem Lisa und ihre Kinder wohnten. Und eine weitere Minute später ließ ihn die verhärmte, blasse Fünfunddreißigjährige, die vom Leben noch nie etwas geschenkt bekommen und der das Schicksal wieder ein-mal ein absolutes Tief beschert hatte, in die Wohnung. Sein Kommen überraschte Lisa nicht, denn Pfarrer Sebastian hatte sie gleich nach dem Gespräch mit seinem Bruder entsprechend informiert.

Max las die knapp gehaltene Mitteilung, die Jonas verfasst hatte. „Ich schließe net aus, dass deine Kinder zu ihrer Oma gegangen sind, Lisa“, sagte er dann. „Mein Bruder hat mir allerdings erzählt, dass deine Schwiegermutter das bestreitet.“ Wie der Pfarrer kannte er Li-sa, seit sie auf der Welt war, und daher war er mit ihr per du. „Was hast du für ein Gefühl? Hat sie dich belogen, oder ist sie bis zu deinem Anruf wirklich ahnungslos gewesen?“

„Ich weiß es net“, murmelte Lisa, und ihre Stimme klang brüchig. „Um mir zu schaden, würde meine Schwiegermutter wahrscheinlich sogar einen Meineid schwören. Auch ich hab’ den Verdacht, dass sie die Kinder versteckt. Das ist aber reine Vermutung. Ich kann’s net ein-schätzen, wofür sich der Jonas entschieden hat. Er ist fünfzehn und denkt oft schon wie ein Erwachsener. Drum schließ’ ich auch net aus, dass er und die Emilia sich vielleicht in irgendeinem Schober oder in einer der Heuhütten auf den Viehweiden verkrochen haben.“

„Habt ihr euch gestritten?“, wollte Max wissen.

„Eigentlich net“, antwortete Lisa. „Die Kinder haben allerdings unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie meine Gefühle zu Konrad Pfeiffer net akzeptieren.“ Ihre Augen füllten sich mit Trä-nen. „Ich hätt’ die Verabredung am Abend absagen sollen“, murmelte sie mit müder Stimme. „Aber ich wollt’ mich wenigstens einmal in meinem Leben durchsetzen. Mit meiner Sturheit hab’ ich wahrschein-lich sehr viel kaputtgemacht.“

„Du musst die Schuld net bei dir suchen, Lisa“, versuchte Max, die Frau zu trösten. „Nach allem, was ich weiß, ist der Jonas immer noch davon überzeugt, dass der Xaver irgendwann zurückkehrt, und seine Großmutter schürt diese Überzeugung. Der Bursch’ weiß wahr-scheinlich net, wem er mehr Glauben schenken soll. Dir, die du davon überzeugt bist, dass dein Mann gar nimmer lebt, oder seiner Oma, die ihm ständig das Gegenteil einredet. Da er sehr an seinem Vater ge-hangen hat, ist er wahrscheinlich für das, was seine Oma sagt, emp-fänglicher, weil es seine Hoffnung schürt. Du sagst, er denkt manch-mal wie ein Erwachsener.“ Max zuckte mit den Schultern. „Mag sein. Im Grunde aber ist er ein pubertierender Jugendlicher, in dessen Kopf einiges durcheinandergeht. Der Umgang ist net einfach.“

„Ich möcht’, dass die Kinder wieder heimkommen“, murmelte Lisa. „Alles andere ist für mich nebensächlich. Ich will, dass wir uns wieder verstehen und wieder eine Familie sind, in der es friedlich und harmonisch zugeht.“

„Wir finden deine Kinder“, versicherte Max. „Ich werd’ jetzt die Bergrettung in Garmisch anrufen. Die Nacht ist klar, und sie können mit Wärmebildkameras den Ainringer Forst und das Gebiet rund um St. Johann absuchen. Sollten der Jonas und die Emilia in der Zwischen-zeit oder im Laufe der Nacht heimkommen, dann sag mir bitte Be-scheid, Lisa.“

Die Fünfunddreißigjährige versprach es.

Max setzte sich in sein Dienstfahrzeug und telefonierte von dort aus mit der Bergwacht, danach rief er den Bereitschaftsdienst in der Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen an und meldete, dass in St. Johann zwei Kinder vermisst wurden. Er gab eine Personenbeschreibung durch und informierte den Kollegen, mit dem er sprach, dass die Bergrettung bereits eingeschaltet war.

„Vielleicht können S’ eine Suchaktion starten“, meinte der Beamte in der Inspektion. „In einem kleinen Ort wie St. Johann, wo jeder jeden kennt, lässt sich so etwas doch leicht organisieren.“

„Ich muss erst noch eine andere Möglichkeit ausschließen“, erwi-derte Max, ohne dies näher zu erläutern. „Wenn die Kinder bis morgen früh net gefunden werden, werd’ ich natürlich alles, was zwei Beine und Zeit hat, mobilisieren und die Gegend durchkämmen lassen.“

Nachdem alles geschehen war, was Max für wichtig erachtete und wozu er in einem solchen Fall verpflichtet war, fuhr er zur Wohnung der Großmutter der Kinder. Elisabeth Römisch wohnte in einem Mehrfa-milienhaus am westlichen Ortsrand zur Miete. Es gab ein Klingel-schild mit acht Namen an der Haustür, und auf einem der Schildchen stand: ‚Römisch E.’

Max läutete. Es dauerte eine ganze Weile, bis eine schlaftrunkene Frauenstimme aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage erklang: „Wer ist da? Falls du es bist, Lisa, dann kannst du gleich wieder verschwinden. Die Kinder sind net bei mir.“

„Hier ist Max Trenker von der Polizei, Frau Römisch. Ich hätt’ Sie ganz gern gesprochen.“

„Hat mir jetzt das treulose Weibsbild auch noch die Polizei auf den Hals gehetzt?“, keifte Elisabeth aufgebracht.

„Na, na, na“, kam es mahnend von Max. „Was sind denn das für Äu-ßerungen, Frau Römisch. Die Lisa vergeht regelrecht vor Sorge um ih-re Kinder. Ich hab’ mit ihr gesprochen und alles Nötige veranlasst, werd’ aber den Verdacht net los, dass die beiden sich bei Ihnen ver-stecken.“

„Das Weibs…, ich will sagen, die Lisa hätt’ sich das früher über-legen sollen. Vom Jonas weiß ich, dass sie mit einem fremden Mann angebandelt hat und mit ihm sogar schon zweimal weg war. Dabei ist sie verheiratet und weiß genau, wie sehr die Kinder an ihrem Vater hängen. Sie handelt ohne Rücksicht auf die Gefühle ihrer Kinder. Erst hat sie den Xaver aus dem Haus getrieben, und jetzt – wie’s ausschaut – auch den Buben und das Madel. Das Weib ist ja dem Teufel zu schlecht. Der Xaver hätt’ die Finger von ihr lassen müssen.“

„Das ist Ihre persönliche Meinung, Frau Römisch, und ich hab’ net vor, mit Ihnen deswegen eine Diskussion zu führen“, sagte Max leicht genervt. „Ich will lediglich von Ihnen wissen, ob der Jonas und die Emilia bei Ihnen sind oder net. Ich rat’ Ihnen, mich net anzulügen. Noch kann ich die Suchaktion mit Hubschraubern sowie einer Hunde-staffel und vielen Beamten abblasen. Sollten Sie die Kinder bei sich haben, es aber net verraten, wird das für Sie sehr, sehr teuer, Frau Römisch.“

„Die Kinder sind net da!“, blaffte Elisabeth. „Ihren letzten Satz fass’ ich als Drohung auf, Herr Trenker. Glauben Sie denn, Sie kön-nen mich einschüchtern? Dürfen S’ das überhaupt, älteren Menschen Angst machen? Das ist ja fast schon Nötigung.“

„Ich wollt’ Sie nur drauf hinweisen, dass immense Kosten auf Sie zukommen, wenn wir eine teure Suchaktion starten, die im Endeffekt Sie verursachen, wenn Sie es verschweigen, dass der Jonas und die Emilia bei Ihnen sind.“

„Die Lisa sollt’ dafür aufkommen müssen“, giftete Elisabeth. „Sie hat die Kinder durch ihr Verhalten dazu getrieben, von zu Haus’ aus-zureißen. Aber die kriegt ihr Fett schon noch weg. Alles rächt sich auf Erden – alles.“

Es knackte im Lautsprecher, Zeichen für Max, dass Elisabeth das Gespräch beendet hatte. Ein wenig unschlüssig stand er da. Die Kirchturmuhr schlug halb zwölf.

Wie kann ein Mensch nur so verbittert und gehässig sein?, fragte er sich betroffen. Die Lisa hat ihrer Schwiegermutter nie was getan, sie war dem Xaver immer eine gute Frau und den Kindern eine vorzüg-liche Mutter. Umgekehrt war’s. Die Elisabeth hat vom ersten Tag an, an dem ihr der Xaver die Lisa vorgestellt hat, gegen die Lisa intri-giert und sie schlecht gemacht. Und seit der Xaver verschwunden ist, hetzt sie die Kinder gegen die eigene Mutter auf. Das ist unterste Schublade.

Max setzte sich in Bewegung und ging zu seinem Auto, nahm hinter dem Steuer Platz, startete aber den Motor nicht, sondern rief im Pfarrhaus an. Sebastian, der diesen Anruf erwartet hatte, meldete sich. „Wie schaut’s aus, Max?“

„Ich hab’ mit der Lisa gesprochen“, antwortete Max, „und in Gar-misch sowohl bei der Bergrettung als auch bei der PI alles Nötige veranlasst. Jetzt steh’ ich mit meinem Auto vor der Wohnung der Rö-misch-Liesl. Sie bestreitet, die Kinder bei sich zu verstecken. Auch, als ich sie darauf hingewiesen hab’, dass ihr die Suchaktion gegebenenfalls teuer zu stehen kommen kann, hat sie auf ihrer Aussa-ge beharrt. Ich schätz’, Bruder, dass die Hubschrauber der Bergwacht gleich zu hören sein werden. Wir können jetzt nur abwarten, ob die Suche zu einem Ergebnis führt. Mehr kann ich im Moment net tun. Fin-den wir die Kinder in der Nacht net, werd’ ich morgen so viele Leute wie möglich mobilisieren und mit ihnen die Gegend rund um St. Johann durchkämmen.“

„Sag mir Bescheid, eh ich die Morgenmesse les’“, bat Sebastian. „Dann kann ich in der Kirche schon einen entsprechenden Aufruf täti-gen.“

„Das ist eine gute Idee, Sebastian. Ja, wirklich. Na gut, du weißt jetzt Bescheid. – Ich kann dir gar net sagen, wie leid mir die Lisa tut. Sie sucht jetzt die Schuld bei sich. Ich hab’ zwar ver-sucht, ihr das auszureden, ob’s mir gelungen ist, weiß ich net. Sie ist jedenfalls total am Boden zerstört.“

„Sie hat’s wirklich net leicht, die Lisa“, pflichtete Sebastian seinem Bruder bei. „Jetzt ist sie sogar bereit, ihr persönliches Glück dem Willen, ich könnt’ auch sagen der Sturheit ihrer Kinder zu opfern. Ich find’s schade. Aber ich glaub’ net, dass es mir zusteht, mich in ihre Herzensangelegenheiten einzumischen. Wenn sie mich um Rat fragt, bekommt sie ihn. Ansonsten aber …“ Sebastian brach ab.

„Du hast recht“, erklärte Max. „Man kann sie als Außenstehender zu nix drängen. Sie wird selber wissen müssen, was richtig oder falsch ist. Ihr einen Rat aufzudrängen, wär’ net angebracht. – Ich fahr’ jetzt in die Dienststelle. An Schlaf wird heut’ Nacht wohl nimmer zu denken sein. Bis morgen, Bruder. Ich melde mich bei dir. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Max. Hoffen wir, dass die Sach’ gut ausgeht. Die Messe beginnt um viertel sieben Uhr. Wenn du mir kurz vorher Be-scheid sagen tätest …“

„Alles klar, Sebastian.“

Es dauerte nicht lange, dann zogen über dem Wachnertal zwei Heli-kopter der Bergwacht mit viel Lärm ihre Bahnen auf der Suche nach den abgängigen Kindern von Lisa Römisch. Die Wärmebildkameras, die sie an Bord hatten, tasteten Quadratmeter für Quadratmeter das Ter-rain rund um St. Johann und den Ainringer Forst ab. Doch Jonas und Emilia blieben verschwunden. Es war, als hätte die Erde sie ge-schluckt.

*

Gegen fünf Uhr morgens wurde die Suche abgebrochen. Man ging da-von aus, dass die Kinder die Nacht nicht irgendwo im Freien ver-bracht, sondern irgendeinen Unterschlupf gefunden hatten.

Max Trenker, der sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, wurde vom Abbruch der Suchaktion in Kenntnis gesetzt. Er war zwar ziemlich müde, bevor er aber nach Hause fuhr, um ein paar Stunden zu schlafen, wollte er Lisa aufsuchen und sie bezüglich des Ausgangs der Suche in Kenntnis setzen. Er hätte das auch telefonisch erledi-gen können, sagte sich aber, dass es besser sein würde, ihr die Nachricht persönlich zu überbringen. Ihr Nervenkostüm war am vergan-genen Abend schon recht dünn gewesen …

Gesagt, getan.

Lisa sah blass und übernächtigt aus. Ihre Augen waren gerötet und lagen in tiefen, dunklen Höhlen. Der herbe Zug in ihren Mundwinkeln schien sich verstärkt zu haben. Sie schien um Jahre gealtert zu sein. Hätte Max nicht gewusst, dass sie seelisch litt und psychisch unter einem enormen Druck stand, hätte er hinter dem Aussehen und dem ganzen Eindruck, den sie vermittelte, eine körperliche Krankheit vermutet. Er ahnte, dass auch sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugemacht hatte.

Ihr erwartungsvoll fragender und gleichzeitig ängstlicher, aber auch hoffnungsvoller Blick hatte sich regelrecht an Max’ Gesicht festgesaugt. Ihre Augen flackerten voller Unruhe und ihre Lippen bebten leicht. Sie war nur noch ein Nervenbündel. Max musste weder Arzt noch Psychiater sein, um erkennen zu können, dass sich Lisa in einem sehr bedenklichen körperlichen und seelischen Zustand befand.

Max presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Schlechte Nachricht …“ Der hoffnungsvolle Ausdruck in Lisas Augen erlosch, als hätte Max eine Kerze ausgeblasen. „Keine Spur von den beiden. Leider“, setzte er hinzu.

Lisas Gesichtszüge schienen zu erschlaffen. Ihre Hoffnung, dass Jonas und Emilia gefunden worden waren und zu ihr zurückgebracht wurden, war zerplatzt. Es war zu viel für sie. Sie ächzte, taumelte, ihre Knie knickten ein, und Max griff instinktiv zu. Im letzten Mo-ment verhinderte er, dass sie zu Boden stürzte.

Da sie sich im Flur ihrer Wohnung befanden, hob Max die völlig Benommene, die selbst über keinerlei Kraft mehr zu verfügen schien, auf die Arme und trug sie ins Wohnzimmer, wo er sie vorsichtig auf die Couch legte. Lisa wimmerte leise. Sie hatte die Augen geschlos-sen, ihr Körper zuckte wie unter Krämpfen.

Max wusste, was zu tun war. Lisa hatte seiner Ansicht nach einen schweren Nervenzusammenbruch, und er konnte sie jetzt auf keinen Fall alleine in der Wohnung zurücklassen. Unabhängig davon war er fest davon überzeugt, dass hier ärztliche Hilfe und Fürsorge vonnö-ten waren. Also kontaktierte er die Notrufleitzentrale der Klinik und man sagte ihm zu, den Rettungsdienst unverzüglich loszuschicken.

Max ging ins Badezimmer, nahm ein Handtuch vom Haken, hielt es unter das laufende, kalte Wasser, wrang es aus und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück. „Lisa“, sagte er eindringlich, „kannst du mich verstehen?“

Außer einem leisen, kläglichen Wimmern zeigte Lisa keine Reakti-on.

Max wischte ihr mit dem feuchten Handtuch das Gesicht ab. Lisas Lider begannen zu flattern, dann zuckten sie in die Höhe und sie schaute Max mit trüben Augen an. Sie war wie betäubt. Tatsächlich war sie der Besinnungslosigkeit nahe. Ihr Bewusstsein war zerrissen, sie war nicht in der Lage, irgendeinen Gedanken zu fassen, die Erin-nerung wollte sich nicht einstellen, und sie brachte keinen gedank-lichen Zusammenhang zustande.

Es dauerte nicht lange, dann konnte Max die Sirene des Krankenwa-gens hören. Er verließ die Wohnung und ging nach unten, wo in dem Moment, in dem er aus der Haustür trat, der Krankenwagen hinter sei-nem Einsatzfahrzeug stoppte. Martinshorn und Motor verstummten, der Notarzt und zwei Sanitäter sprangen aus dem Fahrzeug.

„Folgt mir!“, rief Max und eilte vor den drei Männern die Treppe hinauf. Oben angekommen sagte er zum Notarzt: „Wahrscheinlich ein schwerer Nervenzusammenbruch. Ihre Kinder sind abgängig …“ Mit knap-pen Worten klärte er den Arzt auf.

Während der Notarzt Lisa erstversorgte und die beiden Sanitäter nach unten liefen, um eine Trage zu holen, rief Max seinen Bruder an. „Die Suche ist ergebnislos abgebrochen worden“, sagte er, nach-dem sich die Brüder begrüßt hatten. „Als ich die Lisa in Kenntnis gesetzt hab’, ist sie zusammengebrochen. Im Moment sind der Notarzt und zwei Ersthelfer da. Der Arzt hat ihr ein kreislaufstärkendes Mittel gespritzt. Sie wird in die Bergklinik gebracht, wo man sich um sie kümmern wird.“

„Ich werd’ mich nach der Morgenandacht gleich hinauf zur Klinik begeben“, erklärte Sebastian, erschüttert bis ins Mark. „Und die Leut’, die die Messe besuchen, werde ich bitten, jeden verfügbaren Verwandten oder Bekannten aufzufordern, Suchtrupps zu bilden und die Gegend nach den Kindern zu durchkämmen.“

„Da in den nächsten Stunden für mich wohl net an Schlaf zu denken ist, werd’ ich zusammen mit der Lena die Suchtrupps organisieren“, sagte Max. „Die Leut’ mögen sich also bei der Polizeiwache einfin-den.“

„Ich werd’s genauso weitergeben“, versprach der Pfarrer.

*

Während Sebastian die Morgenmesse hielt, betrat Konrad Pfeiffer den Frühstücksraum der Pension ‚Edelweiß’. Die kleine Reisetasche, in der er die wenigen Utensilien verstaut hatte, die für seine Dienstreise nach St. Johann vonnöten gewesen waren, stellte er unter dem Tisch auf den Fußboden.

Es gab hier nur sechs Tische mit jeweils vier Stühlen. Drei der Tische waren besetzt. Die Anwesenden unterhielten sich leise.

Marion Trenker kam zu dem Tisch, den Konrad gewählt hatte, und sagte: „Guten Morgen, Herr Pfeiffer. Sie haben wohl schon gepackt. Was möchten S’ denn, Kaffee oder Tee?“

„Kaffee bitte, wie immer“, antwortete er. „Sagen S’ mal, Frau Trenker“, fügte er hinzu. „Was war denn heut’ Nacht im Wachnertal los? Bis in die Früh haben einige Hubschrauber einen fürchterlichen Lärm veranstaltet, sodass an Schlaf nicht zu denken war.“

„Ich habe mich auch schon gewundert“, erwiderte Marion. Sie kam aus Norddeutschland und sprach Hochdeutsch. „Der Andreas und ich ha-ben zuerst gedacht, dass die Bergwacht vielleicht eine Übung veran-staltet. Aber so etwas wird normalerweise angekündigt. Deshalb war es wahrscheinlich keine Übung, sondern ein Ernstfall. Ich vermute, dass jemand in Bergnot geraten ist und gesucht wurde.“

Sie entfernte sich in die Küche, um für Konrad den Kaffee zu ho-len. Es dauerte etwas länger als normal. Konrad hatte sich längst schon am Büffet bedient und aß, als Marion mit der Kanne aus Edel-stahl kam. Sie schaute ernst drein. „Der Andreas hat den Max kontak-tiert, weil wir angenommen haben, dass der am ehesten weiß, was in der Nacht los war. Heute früh, zwischen fünf und sechs Uhr, hat man ja auch ein Martinshorn hören können.“

Sie schenkte Konrads Tasse voll und stellte die Kanne auf den Tisch. „Es war in der Tat keine Übung, die die Bergrettung in der Nacht durchgeführt hat. Die beiden Kinder von Lisa Römisch, die Sie ja kennen, sind abgängig. Sie sind gestern Abend weggelaufen, und seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihnen.“

Konrad war blass geworden. Sogar seine Lippen hatten eine gräuli-che Färbung angenommen. „Grundgütiger!“, brach es aus ihm heraus. „Die Lisa und ich waren gestern Abend zusammen essen. Ich …, wir … Nun, ich will kein Geheimnis draus machen. Wir haben zusammengefun-den. Die Lisa und ich lieben uns.“ Er griff sich an die Stirn. „Das ist wohl auch der Grund, weshalb ihre Kinder ausgerissen sind. Sie wollen net, dass sich ihre Mutter mit einem anderen Mann einlässt. – Man hat die beiden also net gefunden?“

„Nein. Als der Max die Lisa heut’ früh informiert hat, erlitt sie einen Schwächeanfall. Sie befindet sich jetzt in der Bergklinik. Der Pfarrer hat in seiner Morgenandacht die Bewohner von St. Johann auf-gerufen, sich zu organisieren und Suchtrupps zu bilden. Weit können die Kinder ja nicht gekommen sein.“ Marion atmete durch. Ihre Miene drückte aus, was sie empfand: Anteilnahme! „Ich befürchte, dass die Lisa langsam am Leben verzweifelt“, fügte sie hinzu. „Sie wird vom Schicksal schon ganz besonders hart gebeutelt. Jetzt, nachdem sich die Kinder auch noch von ihr abwenden, scheint sie am Ende ihrer Kräfte zu sein.“

„Ich muss sofort zu ihr!“, stieß Konrad hervor. „Entschuldigen Sie bitte, Frau Trenker, wenn ich alles stehen und liegen lasse. Aber ich kann hier net sitzen und frühstücken, während die Lisa in der Klinik möglicherweise an den Ereignissen zerbricht.“ Er erhob sich. „Ich werd’ meinen Chef anrufen und ihn bitten, mir für den Rest der Woche Urlaub zu gewähren.“ Er stutzte, denn ihm kam in den Sinn, dass er quasi schon ausgecheckt hatte. „Kann ich das Zimmer wieder haben? Ich würd’s bis zum Sonntag brauchen.“

„Das geht in Ordnung“, antwortete Marion. „Haben Sie mir nicht erzählt, dass ihr Sohn alleine zu Hause ist?“

„Ich werd’ meine Schwester anrufen und sie bitten, sich um ihn zu kümmern“, erklärte Konrad. „Danke, Frau Trenker, danke für Ihr Ver-ständnis. Nehmen S’ es mir net übel, wenn ich das Frühstück stehen lass’. Ich – ich hab’ das Gefühl, auf glühenden Kohlen zu sitzen.“

„Gehen Sie ruhig, Herr Pfeiffer. Ihre Reisetasche können sie an der Rezeption abstellen. Ich bringe sie nachher wieder auf Ihr Zim-mer.“

„Ich steh’ in Ihrer Schuld, Frau Trenker. Vielen, vielen Dank. Aber jetzt …“ Er eilte zur Tür. Wenig später war er mit seinem Auto zur Bergklinik unterwegs.

Während der Fahrt telefonierte er zuerst mit seinem Chef in Wolnzach und dann mit seiner Schwester. Er bekam den Urlaub geneh-migt, und seine Schwester versprach, sich um den sechzehnjährigen Martin zu kümmern. Als sie begann, Fragen zu stellen, würgte Konrad das Gespräch ab, indem er sagte: „Ich ruf’ dich irgendwann im Laufe des Tages an und erzähl’ dir den Grund, der mich in St. Johann hält. Jetzt hab’ ich keine Zeit.“

Er war in der Tat mit fiebriger Rastlosigkeit erfüllt. Die Unge-wissheit, was wirklich hinter Lisas Schwächeanfall steckte, ließ seinen Verstand regelrecht schmerzen. In ihm tobte ein wahrer Sturm, den zu kontrollieren er Mühe hatte.

Der Klinikparkplatz war ziemlich leer, und Konrad parkte gleich in der Nähe des Eingangs. Der Blumenkiosk in der Eingangshalle, gleich neben der Cafeteria, hatte schon geöffnet, und der aufgeregte Mann erstand einen Strauß mit roten Rosen. Dann erkundigte er sich, auf welcher Station und in welchem Zimmer er Lisa suchen musste.

Er musste in die dritte Etage. Im Schwesternzimmer erfuhr er, dass Lisa noch untersucht wurde. „Weiß man überhaupt schon irgendet-was?“, fragte er. „War es wirklich nur ein Schwächeanfall, oder steckt was Ernsteres hinter ihrem Zusammenbruch? Das Herz vielleicht …“

„Ich kann Ihnen nichts sagen“, erwiderte die Stationsschwester. „Zum einen weiß ich nix, außer dass sie untersucht wird, zum anderen sind Sie weder der Ehemann noch sonst irgendwie mit Frau Römisch verwandt. Ich dürft’ Ihnen gar keine Auskunft geben, selbst wenn ich was wüsst’.“

Konrad musste die Ungewissheit noch eine Weile ertragen. Alle Au-genblicke schaute er auf die Uhr. Es war, als würde jemand, den er nicht sehen konnte, die Zeiger festhalten. Er zersprang fast vor Un-geduld.

*

Nach dem Segen, den er am Ende eines jeden Gottesdienstes aus-sprach, beeilte sich Sebastian, in die Sakristei zu kommen und sein Messgewand abzulegen. Er wollte in die Bergklinik. Er wollte wissen, wie es Lisa ging, und er wollte mit ihr reden, ihr Trost spenden und Mut machen. Sie durfte auf keinen Fall resignieren.

In dem Moment, als er aus der Sakristei lief, wurde er angerufen: „Habe die Ehre, Hochwürden. Sie rennen ja, als hätten S’ was gestoh-len und wären auf der Flucht.“

Sebastian hielt inne und drehte sich zu dem Sprecher um. Es war Bürgermeister Markus Bruckner. Er trug, wie fast immer, seinen grau-en Trachtenanzug, dazu ein weißes Hemd mit Krawatte, die vom Stil her zum Anzug passte, einen ebenfalls grauen Hut mit Gamsbart, sowie eine zum Anzug gehörende Weste, die sich über seinem beachtlichen Bauch spannte wie die Bespannung einer Trommel.

„Das mit den Römisch-Kindern ist ja allerhand“, sprach der Ge-meindevorsteher weiter. „Ich hab’ geglaubt, ich hör’ net richtig, als Sie’s vorhin ihrer Predigt angehängt haben. Schließen S’ sich jetzt etwa den Suchtrupps an?“

„Nein, ich fahr’ hinaus auf die Nonnenhöh’, um mich nach Lisas Zustand zu erkundigen. Wieso warst denn du heut’, an einem Werktag, in der Messe, Markus? Normalerweise sehe ich dich doch nur am Sonn-tag, wenn du mit deiner Frau zur Andacht kommst.“

„Ich wollt’ von Ihnen hören, was Sie zu den Plänen des Gemeinde-rats von Engelsbach sagen, Hochwürden“, gab der Bürgermeister süffi-sant lächelnd zu verstehen. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie dort ein Feriendorf in der Planung haben. Als ich das vernommen hab’, sind sofort Sie mir in den Sinn gekommen. Ich kann mir nämlich sehr gut vorstellen, dass Sie ein derartiges Ansinnen im Quadrat springen lässt.“

Die linke Braue Sebastians hob sich ein wenig. „Du grinst wie ein Honigkuchenpferd, Markus. Die Vorstellung, dass ich im Quadrat spring’, scheint dich ja ungeheuer zu amüsieren.“

„I wo, Hochwürden. Es ist ganz schlicht und einfach die Freud’ am Leben, die mich lächeln lässt. Wir haben eine wunderbare Zeit, die Arbeit macht Spaß, denn niemand bereitet mir Ärger, in der Familie läuft’s auch harmonisch … Was will man mehr?“

In diesem Moment sah der Bergpfarrer vom Portal der Kirche her die dreiundsechzigjährige Elisabeth Römisch dem Eingang zum Friedhof zustreben. Sie hielt den Kopf gesenkt und schaute zu Boden, als wollte sie vermeiden, dass sie von Sebastian, an dem sie ja vorbei-gehen musste, angesprochen wurde. Sie war, wie immer, schwarz ge-kleidet. Seit ihr Mann vor einigen Jahren gestorben war, kannte Se-bastian an ihr keine andere Farbe mehr.

„Tja, Markus“, sagte er. „Was will man mehr? Ich muss dir recht geben. Was sagst du denn zu dem Projekt, das man in Engelsbach ins Auge gefasst hat? So viel ich weiß, arbeitet die Gemeinde mit einer Bauträgergesellschaft aus Berlin zusammen.“ Sebastian hatte es plötzlich nicht mehr ganz so eilig. Elisabeth Römisch schlich an ihm und dem Gemeindeoberhaupt vorbei, murmelte einen Gruß und schien aufzuatmen, dass sie nicht angesprochen worden war. Sie beschleunig-te ihre Schritte etwas, als wollte sie sehr schnell so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und den Pfarrer bringen.

Die hat ein schlechtes Gewissen!, zuckte es durch den Verstand des Pfarrers. Er hörte den Bürgermeister sagen: „Tun S’ nur net so, als würden S’ net genau wissen, was sich in Engelsbach abspielt, Hochwürden. Sie haben doch alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit die Diözese das riesige Gartengrundstück der Schuirer-Marie-Luise der Gemeinde vor der Nase weggeschnappt hat.“ Er lachte auf; es war ein verbindliches Lachen. „Jetzt steh’ ich wenigstens nimmer allein da mit all den Niederlagen gegen Sie, Hochwürden. Jetzt haben S’ dem Greitlinger-Sepp auch gezeigt, wo der Bartl den Most holt.“

„Hätt’ ich zulassen sollen, dass der Greitlinger gegen das alte Weibl ein Enteignungsverfahren anstrengt, Markus?“

„Na ja, manchmal muss man als Bürgermeister oder Gemeinderat das schwere Geschütz auffahren“, versetzte Bruckner.

„Um damit auf Spatzen zu schießen“, ergänzte Sebastian. „Hoffent-lich war’s dem Greitlinger eine Lehre. Die anderen Gemeinden, für den Fall, dass der eine oder andere Verantwortliche auf dumme Gedan-ken kommt, sollten’s als Präzedenzfall verstehen.“

„Heut’ reden S’ aber wieder recht geschwollen daher, Hochwürden. Prä-ze-denz-fall! Donnerwetter. Nur gut, dass ich über ein gewisses Maß an Allgemeinbildung verfüg’. Ein anderer wüsst’ wahrscheinlich gar net, was Sie meinen.“

„Wenn du’s weißt, Markus, dann ist’s ja gut. Du bist nämlich ei-ner der Verantwortlichen in den Gemeinden, der auf blödsinnige Ge-danken kommen könnt’, für den Fall, dass der Greitlinger Erfolg hat.“

„Das sind Aussagen, Hochwürden, die ich gar net gern hör’. Soll ich Ihnen was sagen?“

„Mach’ aus deinem Herzen keine Mördergrube, Markus.“

„Sie haben mir wieder einmal den Tag verdorben. Und da ein Un-glück selten allein kommt, werd’ ich mich für die nächsten acht oder neun Stunden auf einiges gefasst machen.“

„Das ist Aberglaube, Markus. Auch kann ich weit und breit nix von einem Unglück erkennen. Außerdem könntest du dich nützlich machen, indem du zur Polizeiwache gehst, um dich einem der Suchtrupps anzu-schließen, die nach den Kindern der Römisch-Lisa suchen. Das würd’ deinem Ansehen in der Gemeinde ganz gewiss net schaden.“

„Bei mir stehen einige wichtige Termine an, Hochwürden, die net verschoben werden können. Ich würd’ mich natürlich an der Suche be-teiligen, das ist keine Frage, aber es geht net.“

„Dann lass’ dich net aufhalten, Markus“, sagte Sebastian, der be-obachtete, wie Elisabeth Römisch den Friedhof verließ. „Ich wünsch’ dir einen ruhigen Arbeitstag. Bitte, entschuldige mich jetzt. Ich muss mit der Elisabeth reden.“

„Tun S’ sich keinen Zwang an, Hochwürden“, murmelte Bruckner. „Ich wünsch’ Ihnen auch was.“

„Ich möchte’ net wissen, was“, versetzte Sebastian grinsend, ver-passte dem Gemeindevorsteher mit der flachen Hand einen kamerad-schaftlichen Klaps gegen den Oberarm und wandte sich ab, um Elisa-beth Römisch den Weg an der Friedhofsmauer entlang zur Hauptstraße abzuschneiden. „Auf ein Wort, Frau Römisch!“, rief der Bergpfarrer und näherte sich der Dreiundsechzigjährigen mit schnellen, ausholen-den Schritten.

Der Blick des Bürgermeisters folgte ihm für einige Sekunden, dann zuckte Bruckner ergeben mit den Schultern und setzte sich in Bewe-gung. Er fand die Idee, die in Engelsbach geboren worden war, sehr gut, und war entschlossen, sie aufzugreifen, sollte die Gemeinde En-gelsbach erfolgreich sein und ihren Plan umsetzen.

Einen Dämpfer hatte sein Vorsatz erhalten, als er vernehmen muss-te, dass sich Pfarrer Trenker gegen das Projekt starkmachen würde und schon einen Teilerfolg errungen hatte. Aus den Auseinanderset-zungen mit dem Bergpfarrer war er, der Bürgermeister, immer als zweiter Sieger hervorgegangen. Das hatte ihn vorsichtig werden las-sen.

*

Elisabeth Römisch war widerwillig stehen geblieben, nachdem sie Sebastian angerufen hatte, und hatte sich dem Heraneilenden zuge-wandt. Ihr Mund bewegte sich, als würde sie etwas kauen. Die Unbe-haglichkeit stand ihr auf die Stirn geschrieben.

Als Sebastian auf fünf Schritte an sie herangekommen war, ver-langsamte er seinen Gang, und zwei Schritte vor Elisabeth blieb er schließlich stehen. „Guten Morgen, Frau Römisch. Waren S’ am Grab Ihres Mannes?“

Sie nickte. „Das besuch’ ich immer nach der Messe“, antwortete sie und legte den Kopf etwas schief. „Was sagen S’ denn, Hochwürden? Da hat sich meine Schwiegertochter wieder was geleistet, gell? Jetzt hat sie’s sogar geschafft, die Kinder aus dem Haus zu treiben. Das müssen S’ sich mal vorstellen, Hochwürden! Die Emilia ist dreizehn, ein Kind noch, und hält’s daheim nimmer aus, weil die Mutter so ein Luderleben führt. Und was den Jonas anbetrifft, so hat das liederli-che Weibsstück von dem Buben eh nix mehr zu erwarten. Der ist er-wachsen genug, um einschätzen zu können, dass seine Mutter ihren Mann, seinen Vater also, schamlos betrügt.“

Sebastian fühlte sich peinlich berührt. „Langsam, Frau Römisch“, sagte er, „ganz langsam. Von der Lisa weiß ich, dass Sie nie einen Weg zu ihr gefunden haben und ihr alles Mögliche ankreiden. Ich weiß aber auch, dass Ihre Anschuldigungen unwahr und aus der Luft gegrif-fen sind.“ Sebastian nahm kein Blatt vor den Mund. Die gehässigen Aussagen Elisabeths hatten nach seiner Kenntnis weder Hand noch Fuß, und das erzürnte ihn.

Elisabeth schnappte regelrecht nach Luft. „Sie unterstellen mir, dass ich lüg’, Hochwürden!“, blaffte sie. „Mir, einer gottesfürchti-gen Christin, die fast jeden Tag die Messe besucht! Das – das trifft mich sehr, das trifft mich bis in meine Seele. Die Lisa hat meinen Buben in die Alkoholsucht getrieben, Hochwürden, sie ist dafür ver-antwortlich, dass er bei Nacht und Nebel davongelaufen ist, und jetzt setzt sie ihren Kindern ihr neues Gspusi vor die Nase. Finden S’ das anständig, Hochwürden? Ich net. Ich find’s verwerflich.“

„Ich hab’ Sie eigentlich net aufgehalten, Frau Römisch, um mit Ihnen über die Lisa zu debattieren. Was den Xaver anbetrifft, so war es net die Lisa, die ihn zum Alkohol hat greifen lassen, sondern seine eigene Unzufriedenheit. Sein Leben ist net seinen Erwartungen entsprechend gelaufen. Das hat meiner Meinung nach aber net an sei-nem Leben, sondern an ihm selber gelegen. Er hat seine Erwartungen ganz einfach zu hoch angesetzt.“

„Jetzt geben S’ wohl noch meinem Buben die Schuld, Hochwürden?“, regte sich Elisabeth auf. „Er war ein geduldiger, verträglicher und hochanständiger Bursch’, mein Xaver. Nachdem er einige Jahre mit der Lisa verheiratet war, hat man regelrecht zuschauen können, wie er immer mehr nachgelassen hat. Er ist regelrecht verfallen. Er hat das einzig Richtige getan und einen Schlussstrich gezogen. Der Jonas und ich und auch die Emilia glauben ganz fest daran, dass er irgendwann wiederauftaucht. Und dann wird er von der Lisa Rechenschaft fordern – Rechenschaft dafür, dass sie sein Leben ruiniert hat, das Leben seiner Kinder und auch mein Leben. Denken S’ denn, Hochwürden, das alles geht spurlos an mir vorbei? Mich wühlt das alles auf, ich find’ keinen Schlaf mehr, und jetzt hab’ ich auch noch die Kinder am Hals, für die ich …“

Sie brach ab und schaute Sebastian erschrocken an.

„Warum sprechen S’ net weiter, Frau Römisch?“

„Die Kinder sind fort“, murmelte Elisabeth. „Ich kann nur hoffen, dass die Suche nach ihnen heut’ von Erfolg gekrönt ist.“

„Ja, das gebe Gott“, sagte Sebastian. Die Frage, die er ihr mit aller Eindringlichkeit stellen wollte, hatte sie bereits beantwor-tet. Unabsichtlich zwar, aber Sebastian war sich jetzt sicher, dass sie die Kinder versteckt hielt. Ihrer letzten Aussage maß Sebastian nicht den geringsten Wert bei. Sie war ausschließlich ein Ablen-kungsmanöver. „Vielleicht denken Sie mal über alles nach, Frau Rö-misch“, empfahl der Pfarrer. „Durchleuchten S’ einfach mal selbst-kritisch Ihre Einstellung zur Lisa und führen S’ sich vor Augen, dass sie nie was getan hat, das Ihr Urteil über sie rechtfertigen könnt’. Das ist der Rat, den ich Ihnen geb’, Frau Römisch. Listen S’ einfach mal vollkommen objektiv die Fakten auf, die das ganze Dilem-ma in Ihrer Familie ausgelöst haben. Vielleicht kommen S’ dann von selbst drauf, dass die Lisa am wenigsten Schuld an der ganzen Ent-wicklung hat.“

„Dass Sie für sie Partei ergriffen haben, Hochwürden, das hab’ ich schon gemerkt. Das Weib streut auch Ihnen Sand in die Augen. Aber das werden S’ irgendwann schon merken, und dann kommt auch für Sie das böse Erwachen.“

„Ihnen ist net zu raten, Frau Römisch. Ich will Sie auch gar nim-mer länger aufhalten. Habe die Ehre, Frau Römisch.“

Sebastian wandte sich ab und strebte dem Pfarrhaus zu.

Elisabeth starrte ihm versteinertem Gesichtsausdruck hinterher und fragte sich, ob der Pfarrer den Fehler bemerkt hatte, den sie begangen hatte, obwohl sie sich bemüht hatte, ihn schnell auszumer-zen.

Sebastian betrat das Pfarrhaus.

„Kommen S’ nur, Hochwürden“, empfing ihn Sophie Tappert, seine Haushälterin. „Der Kaffee wird kalt, und das weiche Ei schmeckt auch net, wenn’s zu stark abkühlt.“

„Die beiden Kinder sind bei ihrer Oma“, stieß der Pfarrer hervor. Für ihn war das Frühstück im Moment nebensächlich. „Ich werd’ sofort dem Max Bescheid sagen.“

Sophie ließ ihn gewähren. Als Max das Gespräch annahm, sagte Se-bastian: „Ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, Max, dass die Römisch-Liesl die beiden Kinder versteckt hält.“

„Woher nimmst du diese Sicherheit?“, fragte Max.

„Ich hab’ nach der Morgenmesse eben mit ihr gesprochen. Dabei hat sie sich verplappert. Sie hat sinngemäß gesagt, dass sie nach all dem Hickhack mit ihrem Sohn und der Lisa nun auch noch die Kinder am Hals habe. Ist denn unbedingt ein Durchsuchungsbeschluss notwendig, um die Kinder aus ihrer Wohnung zu holen und zu ihrer Mutter zurück-zubringen?“

„Ich fahr’ gleich mal zu ihr. Der Lena sag’ ich Bescheid, dass sie noch warten soll, ehe sie die Suchtrupps, die sich gebildet ha-ben, losschickt.“

„Informier’ mich, wenn du was Näheres weißt, Max. Vielleicht gibt sie die Kinder heraus, ohne dass du die Wohnung betreten musst. Ei-gentlich müssten die beiden heute zur Schule. Wenn sie dem Unter-richt fernbleiben, obwohl sie weder davon befreit noch beurlaubt sind, muss die Schule tätig werden. – Ich will gleich mal in die Klinik fahren und nach der Lisa schauen. Zuspruch, denk’ ich, wird ihr guttun. Und ich hoff’, dass sich ihr Zustand als net besorgnis-erregend erweist.“

„Ich werd’ auch die Schulen von Jonas und Emilia verständigen“, versicherte Max. „Bis später, Bruder. Danke für den Hinweis.“

„Keine Ursache.“

Sebastian hatte eigentlich gar keinen Appetit mehr, denn der Stress am frühen Morgen war ihm auf den Magen geschlagen. Dennoch würgte er das Frühstück, das Sophie bereitet hatte hinunter. Kaum, dass er den letzten Bissen seiner Marmeladesemmel mit dem letzten Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, verließ er das Pfarrhaus, hol-te sein Auto aus der Garage und fuhr hinaus zur Nonnenhöhe.

Zehn Minuten später sagte man ihm an der Rezeption, auf welche Station er sich begeben musste, um Näheres über den Gesundheitszu-stand von Lisa Römisch zu erfahren.

Er fuhr hinauf in die dritte Etage. Schon durch die gläserne Pen-deltür, die den weitläufigen Korridor mit den Krankenzimmern vom Treppenhaus trennte, konnte er einen Mann mit einem Strauß roter Ro-sen in der Hand im Flur sitzen sehen. Sebastian drückte einen Flügel der Tür auf. Konrad Pfeiffer drehte den Kopf und wandte ihm das Ge-sicht zu …

*

„Grüaß Ihnen“, grüßte Sebastian und setzte sich auf den Stuhl ne-ben Konrad. „Sie sind der Herr Konrad Pfeiffer, gell?“

„Ja. Woher kennen Sie meinen Namen?“ Konrad war echt überrascht.

„Die Lisa hat mich in Kenntnis gesetzt. Ich bin Pfarrer Trenker, mir untersteht die Pfarrgemeinde St. Johann.“

„Freut mich“, sagte Konrad und gab Sebastian die Hand, der sie schüttelte. „Die Lisa hat mir von Ihnen erzählt“, fuhr Konrad fort. „Sie sind also der Cousin meines Pensionswirts. Nachdem seine Frau mir gesagt hat, was geschehen ist, hab’ ich für den Rest der Woche Urlaub beantragt.“ Er seufzte. „Lisas Untersuchung ist noch immer net abgeschlossen. Ich bin fix und fertig, Herr Pfarrer. Hat man in der Zwischenzeit wenigstens die Kinder gefunden?“

„Nein. Aber ich bin davon überzeugt, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis man sie aufgespürt hat. Ich hab’ heut’ nach der Morgenmesse mit der Schwiegermutter der Lisa gesprochen und geh’ ganz fest davon aus, dass sie die Kinder bei sich in der Wohnung hat. Sicher wissen Sie über Lisas Verhältnis zur Oma der Kinder Be-scheid, Herr Pfeiffer.“

Konrad nickte. Dann sagte er: „Ich liebe die Lisa, Herr Pfarrer, und sie liebt mich. Keiner von uns beiden kann sich ein Leben ohne den anderen vorstellen. Von der Lisa weiß ich, dass Sie mit einem Ihnen bekannten Rechtsanwalt die rechtlichen Anforderungen an eine Scheidung in diesem besonderen Fall abklären wollten.“ Konrads er-wartungsvoller Blick hing an Sebastians Gesicht.

„Das ist richtig. Ich hab’ auch schon mit Dr. Holzinger in Gar-misch gesprochen. Die Möglichkeit der Scheidung besteht, wenn die Lisa nachweist, alles Erdenkliche unternommen zu haben, um den Wohn- oder Aufenthaltsort ihres Mannes herauszufinden. Da das der Fall ist – es sind ja so ziemlich alle infrage kommenden Behörden eingeschal-tet worden, um Xaver ausfindig zu machen –, dürft’ einer Scheidung nix entgegenstehen.“

„Wenigstens eine gute Nachricht“, murmelte Konrad.

In diesem Moment kam aus einer der Türen ein Arzt auf den Flur. Er kannte den Pfarrer, grüßte ihn, gab auch Konrad die Hand und sag-te dann: „Es ist nix Ernstes bei der Frau Römisch. Lediglich ein Schwächeanfall. Wir lassen sie den Tag und die Nacht über zur Be-obachtung noch in der Klinik. Es sind aber keinerlei Komplikationen zu erwarten. Wir bringen sie jetzt aufs Zimmer, und dann können Sie zu ihr.“

„Gott sei dank, nix Ernstes“, stieß Konrad hervor, nachdem er sich bei dem Arzt bedankt hatte und dieser weitergegangen war. Er und Sebastian hatten sich erhoben. Jetzt wurde auch ein Bett, auf dem Lisa lag, aus dem Untersuchungsraum geschoben. Konrad trat an das Bett heran und ging nebenher. „Wie geht’s dir denn, Spatzl?“, fragte er.

Lisa sah krank und zerbrechlich aus. „Es geht schon wieder“, mur-melte sie. Die Worte kamen kraftlos und kaum verständlich über ihre farblosen Lippen. „Hat man die Kinder schon gefunden?“

Es war Sebastian, der sich Konrad angeschlossen hatte, der ant-wortete: „Bis jetzt net, Lisa. Wir sind aber guter Dinge, dass wir sie innerhalb der nächsten Stunde ausfindig machen können.“

Müde schloss Lisa die Augen. Die wenigen Worte, die sie gespro-chen hatte, hatten sie schon überfordert. Ihre Lider zuckten. Sebas-tian fragte sich unwillkürlich, was wohl mehr angeschlagen war: ihre Seele oder ihr Körper.

Das Bett wurde in ein Zimmer geschoben, in dem zwei weitere Bet-ten standen, die jedoch nicht belegt waren. „Frau Römisch braucht Ruhe“, mahnte der Pfleger, der zusammen mit einer Krankenschwester das Bett in den Raum gebracht hatte. „Sie scheint eingeschlafen zu sein“, fügte er nach einem Blick auf das entspannte Gesicht der Pa-tientin hinzu. „Das Beruhigungsmittel, das man ihr gespritzt hat, scheint schon zu wirken.“

„Ich wollt’ mich eh nur persönlich davon überzeugen, wie’s um sie bestellt ist“, erklärte der Pfarrer. „Jetzt, da ich weiß, dass bei der Lisa keine größere gesundheitliche Schädigung vorliegt, kann ich beruhigt nach Hause zurückkehren. Alles andere werden wir wieder hinkriegen“, fügte er zuversichtlich hinzu. „Deshalb sollten Sie noch bleiben, Herr Pfeiffer. Ich denk’ nämlich, dass es gut ist, wenn jemand an Lisas Bett sitzt, dem sie zugetan ist. Das trägt si-cher zu ihrer – ähm, Stabilisierung bei.“

Zwar wusste er, dass Lisa den Entschluss gefasst hatte, Konrad zu bitten, sich nicht länger um sie zu bemühen, doch Sebastian hoffte ganz stark, dass ihre Liebe zu Konrad stärker sein möge als der Wil-le, dieser Liebe zu entsagen.

„Geben S’ mir die Rosen“, sagte die Krankenschwester lächelnd. „Ich tu’ sie in eine Vase und stell’ sie dann auf den Nachttisch der Lisa.“

Konrad reichte ihr den Strauß und bedankte sich. „Ich werd’ auch ganz ruhig sein“, sagte er an den Pfleger gewandt, „und dafür Sorge tragen, dass sich die Lisa net aufregt.“

„Na dann …“, erwiderte der Pfleger und folgte der Krankenschwes-ter aus dem Zimmer.

„Ich geh’ dann mal“, murmelte Sebastian. Er sprach flüsternd. „Bestellen S’ der Lisa, dass es eine Spur zu ihren Kindern gibt. So-bald wir sie haben, erfährt sie es.“

Sebastian verließ die Klinik und kehrte ins Pfarrhaus zurück.

In dem Moment, als er die Haustür aufdrückte, läutete das Tele-fon. Sophie kam wie ein Blitz aus der Küche und riss den Hörer von der Ladestation. Es war, als hätte die Haushälterin unter Strom ge-standen. Die ganze leidige Angelegenheit, die Unsicherheit wegen der Römisch-Kinder, das alles schien auch ihr zuzusetzen, obwohl sie gar nicht unmittelbar von den Vorfällen betroffen war. Ein schneller Blick auf das Display verriet ihr, dass es Max war, der anrief.

„Ihr Bruder kommt soeben von der Klinik zurück, Max. Einen Moment …“ Sie hielt Sebastian das Telefon hin. „Ihr Bruder, Hochwürden.“

Sebastian nahm den Hörer und hob ihn an sein Ohr. „Was gibt’s, Max?“

„Ich hab’ mit der PI in Garmisch telefoniert. Ich bekomm’ in spä-testens einer halben Stunde den richterlichen Beschluss gefaxt, der es mir erlaubt, die Wohnung der Römisch-Liesl nach den Kindern zu durchsuchen. Mein Vorgesetzter hat gemeint, es wär’ net ratsam, die Wohnung ohne Durchsuchungsbeschluss zu betreten, da ja die Kinder bei ihrer Oma net gefährdet sind und deshalb von Gefahr im Verzug kaum die Rede sein kann.“

„Warst du schon bei der Frau Römisch?“, fragte Sebastian. „Du wolltest doch gleich nach unserem Gespräch zu ihr fahren.“

„Ich hab’ mir das anders überlegt, da ich mir net ganz sicher war. Mit Gefahr im Verzug zu argumentieren und ihre Wohnung einfach zu betreten, hätt’ ins Auge gehen können. Drum hab’ ich mich in Gar-misch rückversichert, und mein Vorgesetzter hat mir Recht gegeben. Mit einem Durchsuchungsbeschluss bin ich auf der sicheren Seite. – Wie geht es der Lisa?“

„Den Umständen entsprechend ganz gut. Es war ein Schwächeanfall. Sie muss wieder zu Kräften kommen. Der Konrad Pfeiffer ist bei ihr. Er wird ihr helfen, das Tief, in dem sie sich befindet, zu überwin-den. Stehen die Suchtrupps noch bereit, oder sind die Leute wieder nach Hause gegangen, nachdem die Aktion zurückgestellt worden ist?“

„Einige sind heimgegangen“, antwortete Max. „Aber sie haben der Lena ihre Telefonnummer gegeben, damit sie sie bei Bedarf anruft. Die anderen warten noch.“

„Ich glaub’, du kannst sie heimschicken, Max. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass die Kinder bei der Liesl sind.“

„Das ist auch meine feste Überzeugung“, pflichtete Max seinem Bruder bei.

*

Lisas Lider zuckten in die Höhe. Kurze Zeit starrte sie verständ-nislos zur Zimmerdecke hinauf. Jemand hielt ihre rechte Hand fest. Langsam setzte die Erinnerung ein, sie drehte den Kopf und schaute in Konrads Augen, die voll Sorge und mit dem Ausdruck von grenzenlo-ser Liebe auf sie gerichtet waren. Sie versuchte zu lächeln, doch ihr Lächeln verrutschte und geriet zu einer kläglichen Grimasse.

Konrad drückte ihre Hand, die ihm kälter als normal vorkam. „Ganz ruhig, Schatz“, murmelte er. „Ich schätze, dass innerhalb der nächs-ten Stunde die erlösende Nachricht kommt, dass die Kinder gefunden worden sind.“

„Hat man denn eine Spur?“, fragte Lisa. Die Möglichkeit, die Kon-rad in Aussicht gestellt hatte, schien sie zu beleben, denn ihre Stimme klang etwas kräftiger und hoffnungsvoller.

„Ja. Die Polizei kümmert sich darum.“

„Die Polizei?“

Konrad nickte. „Pfarrer Trenker hat heut’ früh nach der Messe mit deiner Schwiegermutter gesprochen. Sie hat sich verraten. Mit neunu-ndneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit sind die Kinder bei ihr. Max Trenker will sich drum kümmern.“

„Du weißt sicher, aus welchem Grund die Kinder weggelaufen sind“, murmelte Lisa.

Konrad presste einen Moment lang die Lippen zusammen, Zeichen seiner Verbitterung. Dann antwortete er: „Ja, meinetwegen. Sie ak-zeptieren net, dass wir uns lieben. Die treibende Kraft war wohl dein Sohn, der Jonas. Der hat es mich ja nur zu deutlich spüren las-sen, wie er zu mir steht.“

Die nächsten Worte auszusprechen, kostete Lisa Überwindung. Den-noch hielt sie damit nicht hinter dem Berg: „Unsere Liebe hat einen Keil zwischen mich und meine Kinder getrieben. Die Vorstellung, dass sich der Jonas und auch die Emilia von mir abwenden, ist bei mir zum Albtraum geworden, Konrad. Ich hoff’, du verstehst das. Unsere Liebe hat keine Chance. Darum hab’ ich eine Entscheidung getroffen.“

Konrad schluckte. In seinem Hals steckte plötzlich ein Kloß, den er nicht hinunterzuwürgen vermochte. „Du hast dich für deine Kinder entschieden, net wahr?“, entrang es sich ihm, und seine Stimme woll-ten ihm kaum gehorchen.

„Ja. Bitte, versteh mich, Konrad.“ Lisas Stimme kam wie ein Wind-hauch, ihre Augen baten um Verständnis und Verzeihung. „Ich liebe dich wirklich, aber es würd’ mich für den Rest meines Lebens unsäg-lich bedrücken, meine Kinder enttäuscht und unglücklich gemacht zu haben. Wenn ich morgens in den Spiegel schauen und mein Gesicht se-hen würd’, säh’ ich immer das Gesicht einer Mutter, die ihre Kinder im Stich gelassen hat, und zwar gerade in der Zeit des Erwachsenwer-dens, in der sie ganz besonders auf Fürsorge und Zuneigung angewie-sen sind. – Es würd’ immer wie eine unsichtbare Mauer zwischen dir und mir stehen, und eines Tages würd’ unsere Liebe daran zerbre-chen.“

„Ich versteh’s zwar net, Lisa, aber ich muss es akzeptieren.“ Konrad erhob sich. Er war zwar kein Mensch, der leicht aufgab. Aber Lisa war angeschlagen, und darauf nahm er Rücksicht. Dass sie sich nicht für ihn, sondern für ihre Kinder entschieden hatte, änderte nichts an seiner Einstellung zu ihr. Er liebte sie. Die Enttäuschung stand ihm aber ins Gesicht geschrieben. „Dann bleibt es mir nur, Li-sa, dir für die Zukunft alles Gute zu wünschen. Ich werd’ nach Wolnzach zurückkehren. Darf ich dich irgendwann in nächster Zeit mal anrufen und mich erkundigen, wie’s dir geht?“

„Natürlich, Konrad. Ich liebe dich doch, aber unsere Liebe hat keine Zukunft. Darum sollten wir einen Schlusspunkt setzen, ehe es richtig weh tut. Meinst du net auch?“

„Es tut schon richtig weh, Lisa. Aber es ist dein Wunsch, und ich werd’ mich auf keinen Fall zwischen dich und deine Kinder zu drängen versuchen. Leb wohl, Lisa, und schau, dass du so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommst. Das wünsch’ ich dir von ganzem Herzen.“

„Bekomm’ ich einen Kuss zum Abschied?“, fragte Lisa.

„Natürlich. Warum net? Ich seh’s dir an, wie schwer dir der Ver-zicht fällt. Aber es gibt eben Situationen im Leben, die uns zwin-gen, loszulassen. Lieben heißt oftmals auch loslassen.“

Konrad beugte sich über sie und küsste sie auf die blassen Lip-pen. „Behüt’ dich Gott, Lisa“ murmelte er und kämpfte gegen die Trä-nen an, die seine Stimme zu ersticken und seine Augen zu füllen drohten. „Ich meld’ mich bei dir, wenn sich die Wogen in deiner Fa-milie wieder geglättet haben.“

„Sei mir net bös’, Konrad“, entrang es sich Lisa.

„Wie könnt’ ich?“, versetzte er, hob die rechte Hand zum Gruß und fügte hinzu: „Halt’ die Ohren steif, ja!“ Es sollte aufgekratzt klingen, war aber nur ein lahmes Gemurmel. Dann verließ er schnell das Zimmer.

Als er wenig später hinter dem Steuer seines Autos Platz genommen hatte, startete er den Motor nicht sogleich, denn er musste erst das Chaos tief in seinem Innern unter Kontrolle bringen. ‚

So platzen Träume, dachte er. Seine Illusion, mit Lisa ein glück-liches, zufriedenes Leben zu führen, lag in Scherben. „Ich könnt’ heulen wie ein Schlosshund“, murmelte er für sich, beugte sich weit nach vorn und legte die Stirn auf das Lenkrad.

Gedanken kamen und gingen, doch keiner ließ sich festhalten. Es war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Liebe hieß, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Seine Gefühle fuhren Achterbahn. Du musst es nehmen, wie es ist, versuchte er sich einzu-reden. Du kannst nichts erzwingen. Also find’ dich damit ab, dass sich die Lisa für ihre Kinder entschieden hat. Du bist außen vor, und das ist Fakt.

Konrads Stimmung war auf dem Nullpunkt.

Er schrak zusammen, als jemand gegen die Seitenscheibe klopfte. Es war eine ältere Frau. Konrad ließ das Fenster herunter und schau-te sie fragend an. „Ist Ihnen net gut, junger Mann?“, erkundigte sie sich. „Soll ich vielleicht einen Arzt rufen?“

„Nein, es ist alles in Ordnung“, versicherte Konrad. „Ich – ich hab’ nur nachgedacht. Trotzdem, vielen Dank dafür, dass Sie sich meinetwegen Sorgen gemacht haben.“

„Das ist doch Christenpflicht“, erwiderte die ältere Dame und lä-chelte Konrad an. Es war ein warmes, mütterliches Lächeln. „Aber wenn’s Ihnen gut geht, dann freut mich das. Einen schönen Tag noch.“

Sie wandte sich ab und ging davon.

„Gleichfalls“, rief ihr Konrad hinterher, dann gab er sich einen Ruck und startete den Motor …

*

Max Trenker und seine Kollegin, die hübsche Polizeioberkommissa-rin Lena Egginger, betraten das Haus, in dem Elisabeth Römisch in der ersten Etage eine kleine Wohnung hatte. Vor wenigen Minuten war der richterliche Beschluss per Fax in der Dienststelle eingegangen, und Max hatte keine Zeit verloren.

Ehe sie losgefahren waren, hatte Max die kleine Gruppe von Män-nern und Frauen, die noch vor der Polizeidienststelle versammelt ge-wesen war, um Suchtrupps zu bilden und die Gegend nach den Römisch-Kindern zu durchkämmen, gebeten, wieder nach Hause zu gehen. Er hat-te dies damit begründet, dass es eine Spur zu den Kindern gäbe und sich die weitere Suche wohl erübrigt hätte.