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Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Laurin ist ein beliebter Allgemeinmediziner und Gynäkologe. Bereits in jungen Jahren besitzt er eine umfassende chirurgische Erfahrung. Darüber hinaus ist er auf ganz natürliche Weise ein Seelenarzt für seine Patienten. Die großartige Schriftstellerin Patricia Vandenberg, die schon den berühmten Dr. Norden verfasste, hat mit den 200 Romanen Dr. Laurin ihr Meisterstück geschaffen. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. E-Book 71: Sie liebt, doch er ist nicht frei E-Book 72: Sie plante ein Verbrechen E-Book 73: Der Pianist und die Ärztin E-Book 74: Melinas Schwangerschaft und ihr Geheimnis E-Book 75: Mutterliebe – ein neues Wort für Lorena E-Book 76: Unsere Liebe darf nicht sein E-Book 77: Stiefschwestern liebt man nicht E-Book 78: Mit dir erst kam die Liebe E-Book 79: Konkurrenz für den Chefarzt Dr. Laurin E-Book 80:Wir finden deinen ­Vater, kleiner Jeremias E-Book 1: Sie liebt, doch er ist nicht frei E-Book 2: Sie plante ein Verbrechen E-Book 3: Der Pianist und die Ärztin E-Book 4: Melinas Schwangerschaft und ihr Geheimnis E-Book 5: Mutterliebe – ein neues Wort für Lorena E-Book 6: Unsere Liebe darf nicht sein E-Book 7: Stiefschwestern liebt man nicht E-Book 8: Mit dir erst kam die Liebe E-Book 9: Konkurrenz für den Chefarzt Dr. Laurin E-Book 10: Wir finden deinen ­Vater, kleiner Jeremias

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Inhalt

Sie liebt, doch er ist nicht frei

Sie plante ein Verbrechen

Der Pianist und die Ärztin

Melinas Schwangerschaft und ihr Geheimnis

Mutterliebe – ein neues Wort für Lorena

Unsere Liebe darf nicht sein

Stiefschwestern liebt man nicht

Mit dir erst kam die Liebe

Konkurrenz für den Chefarzt Dr. Laurin

Wir finden deinen ­Vater, kleiner Jeremias

Dr. Laurin – Staffel 8 –

E-Book 71-80

Patricia Vandenberg

Sie liebt, doch er ist nicht frei

»Schwester Marietta!«, rief Dr. Leon Laurin leise hinter der schlanken Krankenschwester her, die sich auf dem Absatz umdrehte und stehenblieb.

»Oh, Herr Doktor, Sie sind noch im Haus?« Ein Lächeln zeigte, dass sie sich freute, ihn zu treffen.

Marietta Feldmann war eben gekommen, um ihren Nachtdienst in der Prof.-Kayser-Klinik anzutreten, und nur in Ausnahmefällen war dann der Chefarzt Dr. Laurin noch anwesend.

»Ich hätte gern mit Ihnen gesprochen. Schwester Marie weiß schon Bescheid. Sie bleibt noch.«

Sie folgte ihm ins Chefzimmer.

Dr. Laurin kannte sie schon lange. Vor zehn Jahren hatte sie an der Prof.-Kayser-Klinik als Lernschwester angefangen, weil der frühe Tod ihres Vaters ihr geplantes Medizinstudium verhinderte. Sie musste für die Mutter und den jüngeren Bruder sorgen.

Dann hatte es sich ergeben, dass sie mehrere Jahre bei bester Bezahlung als Kinderschwester die Zwillinge des bekannten Wissenschaftlers Jan Kollander betreute.

Warum sie diese Stellung dann Hals über Kopf aufgegeben hatte, konnte Dr. Laurin nur ahnen, denn Sibylle Kollander hatte die Zwillinge in der Prof.-Kayser-Klinik zur Welt gebracht, und er hatte sie als eine reichlich exzentrische Frau kennengelernt.

Er wollte jetzt seine Gedanken nicht zu weit abschweifen lassen. Jedenfalls hatte es sich ergeben, dass Marietta von einer entfernten Verwandten ein kleines Vermögen erbte, und sie hatte dann doch noch das Medizinstudium begonnen. Nebenbei verdiente sie sich noch etwas als Nachtschwester in der Prof.-Kayser-Klinik dazu. Daher waren sie immer in Verbindung geblieben.

Dr. Laurin rückte nun endlich mit der Sprache heraus.

»In ein paar Tagen beginnen doch die Semesterferien, Marietta, und da Schwester Otti in Urlaub geht, wollte ich Sie fragen, ob Sie für Otti einspringen könnten.«

»Ich habe nichts vor«, erwiderte Marietta. »Es kommt mir sogar ganz gelegen.«

»Dann sind wir uns einig, Marietta?«, fragte Dr. Laurin.

»Freilich. Ich freue mich, wenn ich hier sein kann.«

»Vielleicht werden Sie einmal als Frau Doktor hier anfangen«, sagte er.

Sie seufzte leicht.

»Damit hat es ja nun noch ein paar Semester Zeit, und ich werde dann schon eine recht betagte Frau Doktor sein.«

»Oder gar eine verheiratete Frau Doktor«, meinte Dr. Laurin schmunzelnd.

»Nein, das bestimmt nicht«, erwiderte sie sehr bestimmt, und darüber dachte er dann noch nach.

Er sprach auch mit seiner Frau Antonia darüber, als er mit großer Verspätung heimkam. Die kleine Kyra hatte nicht einschlafen wollen, bis ihr Papi ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Und sie sagte ihm auch sehr vorwurfsvoll, dass es sehr spät sei.

»Es geht halt manchmal nicht anders, Schätzchen«, sagte er, aber nachdem sie ihren Kuss nun bekommen hatte, schlief Kyra auch bald ein.

Kevin und die Zwillinge Konstantin und Kaja waren schon ganz auf die Sommerferien eingestellt, und da alle drei gute Zeugnisse zu erwarten hatten, meinten sie, dass sie ruhig ein bisschen länger aufbleiben könnten.

»Macht noch ein Spielchen«, sagte Leon nachgiebig. »Ich möchte mich gern mit Mami unterhalten.«

Da wurde nicht gemurrt, denn sie waren nun schon so vernünftig, dass sie ihren Eltern ein gemütliches Zusammensein gönnten.

Antonia wusste schon, worum es ihrem Mann ging.

»Hat Marietta zugesagt?«, fragte sie.

»Ja, aber ich habe mir dann Gedanken gemacht. Das Mädchen gönnt sich überhaupt keinen Urlaub. Dabei ist sie immer ausgeglichen und sieht stets frisch aus.«

»Sie lebt eben solide«, sagte Antonia lächelnd. »Machst du dir jetzt Gedanken, warum dieses hübsche Mädchen noch solo ist, Leon?«

»Das auch. So viel anmutige Weiblichkeit kann doch nicht unbeachtet bleiben.«

»Das wird auch nicht der Fall sein, aber anscheinend hat sie für Männer nicht viel übrig. Vielleicht hat sie eine Enttäuschung erlebt, oder es ist ganz einfach das gute Verhältnis zu ihrem Bruder, das ihr wichtiger ist.«

Die Zwillinge und Kevin kamen nun wieder hereinspaziert.

»Wir gehen jetzt zu Bett«, erklärten sie.

»Wie vernünftig«, sagte Leon anerkennend. Kevin verschwand zuerst. Seine Augen waren schon ganz klein und müde.

Die Zwillinge mussten ihrem Papi erst noch erzählen, dass in ihrer Klasse mindestens vier Schüler sitzenbleiben würden.

Dann wünschten auch Konstantin und Kaja gute Nacht. »Wie ähnlich sie sich noch immer sind«, murmelte Leon nachdenklich.

Seine Gedanken wanderten nun zu einem anderen Zwillingspaar, das vor zehn Jahren in der Prof.-Kayser-Klinik zur Welt gekommen war und auch zu deren Mutter, die ihn heute nach langer Zeit wieder einmal aufgesucht hatte.

»Kannst du dich noch an Sibylle Kollander erinnern, Antonia?«

»Freilich, sie hat uns ja genug zu schaffen gemacht. Sie war gar nicht begeistert darüber, Zwillinge zu bekommen. Und viel gekümmert hat sie sich um die Kinder in der Folgezeit auch nicht. Das hat ja Marietta getan.«

Antonia runzelte leicht die Stirn. »Wie kommst du darauf, Leon? War sie doch wieder bei dir?«

Er nickte.

»Wir hatten nur ein Gespräch, aber übermorgen wird sie zu einer gründlichen Untersuchung kommen. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.«

»Vom Ehrgeiz und Stress aufgefressen?«, fragte Antonia.

»Das muss sich erst herausstellen, mein Liebes. Jedenfalls scheint sie jetzt ihres Berufes müde zu sein.«

»Ob es den Kindern noch etwas nützt?«, überlegte Antonia laut.

»Jedenfalls hat Kollander eine Engelsgeduld bewiesen«, sagte Leon.

*

Jan Kollander, ein weltweit anerkannter Wissenschaftler, der an einem Forschungsinstitut tätig war, saß an diesem Abend auch mit seiner Frau zusammen. Ein Gespräch wollte aber nicht in Gang kommen. Eigentlich hatten sie sich schon lange nichts mehr zu sagen.

Sibylle hatte ihren Beruf als Journalistin auch nach der Geburt der Zwillinge nicht aufgegeben, wie er eigentlich gehofft hatte. Sie tauge einfach nicht zur Hausfrau und Mutter, hatte sie erklärt. Dass es zwei statt eines Kindes geworden waren, hatte sie geschockt. Und sogleich wurde eine Kinderschwester engagiert.

Marietta Feldmann war das gewesen, gerade erst neunzehn Jahre jung, aber äußerst zuverlässig.

Sie hatte Alexander und Ariane rührend betreut, während Sibylle wieder in der Welt herumreiste und nur Stippvisiten daheim machte. Wenn ihr Mann ihr Vorhaltungen machte, und das geschah nur maßvoll, denn Jan Kollander war ein sehr toleranter Mann, erwiderte sie, dass er ja auch seine Karriere im Auge hätte und ihr das gleiche Recht zusprechen müsse.

Sie war eine faszinierende Frau gewesen. Er war eingefangen worden von ihrer Klugheit, und für Sibylle hatte es gezählt, dass er ein interessanter Mann und bereits in jungen Jahren ein bekannter Wissenschaftler war.

Nun aber, an diesem Abend, saß sie schmal, blass und mit umschatteten Augen im Sessel und starrte vor sich hin.

Ihren Beruf hatte sie zwar noch nicht aufgegeben, aber seit einem Jahr unternahm sie keine Reisen mehr und arbeitete zu Hause. Ein Miteinander mit ihrem Mann gab es schon lange nicht mehr. Sie hatten sich arrangiert, wie Sibylle es ironisch genannt hatte.

Jan Kollander zuckte zusammen, als plötzlich Sibylles rauchige Stimme ertönte, die nicht mehr das sinnliche Timbre früherer Jahre hatte, sondern eher heiser klang.

»Ich war heute in der Schule«, sagte sie.

Seine Augenbrauen zuckten empor.

»Du warst in der Schule?«, fragte er konsterniert.

»Der Rektor hatte mich bestellt. Da musste ich wohl hingehen. Der Rektor hat mir empfohlen, sie noch die fünfte Klasse Grundschule machen zu lassen, bevor sie aufs Gymnasium gehen. Unsere Kinder!«

»Was ist schon dabei? Es sind Zwillinge. Ob nun ein Jahr früher oder später, das macht doch nichts. Sie sind gerade erst zehn.«

»Sie haben einen sehr intelligenten Vater, und ich denke, auch eine ebenso intelligente Mutter. Der Sohn von unserem Gärtner schafft den Übergang spielend.«

»Und nun bist du gekränkt«, sagte er kühl. »Du vergisst, dass unsere Kinder immer hin und her gezerrt wurden, und die Pflegerinnen waren auch nicht immer sehr engagiert. Wenn Marietta geblieben wäre …«

Sibylle sprang auf.

»Das musste ja kommen. Du hattest immer ein Faible für sie.«

»Sie hat die Kinder bestens versorgt. Sie haben sehr darunter gelitten, als sie ging.«

»Und du warst bis über beide Ohren in sie verliebt.«

Sibylle sagte es seltsam ruhig und ohne Vorwurf. Er war befremdet, weil es wie eine nüchterne Feststellung klang.

»So hast du es gesehen. Ich mochte sie, weil sie so unaufdringlich war.«

»Und sehr hübsch und intelligent. Sie hätte es weiter bringen können.«

»Dafür waren die finanziellen Voraussetzungen nicht gegeben. Aber wozu sollen wir darüber sprechen? Es ist fünf Jahre her. Ich bin nicht erschüttert, wenn die Kinder noch ein Jahr in die Grundschule gehen.«

»Wir könnten sie in ein Internat geben«, schlug Sibylle vor.

»Nein!«, widersprach er heftig. »Ich möchte nicht, dass sie auch mir entfremdet werden.«

»Ich werde vielleicht eine Kur machen«, sagte sie. »Mal sehen, was Dr. Laurin sagt. Übermorgen gehe ich zu ihm zur Untersuchung.«

Nun war Jan erstmal sprachlos.

»Ich habe keine Kondition mehr«, klagte Sibylle.

Plötzlich tat sie ihm leid. Ob sie Angst vor dem Alter hat, fragte er sich. Manchmal ergriff Frauen ja die Panik.

Schon ein paar Mal hatte er an eine Auflösung dieser Ehe gedacht, aber er hatte es einfach nicht fertiggebracht, seinen Entschluss auch in die Tat umzusetzen.

Scheidung, das war für ihn immer ein schreckensvoller Gedanke gewesen. Niemals hatte es in der traditionsbewussten Familie eine Scheidung gegeben. Aber auch Sibylle hatte nie von Scheidung gesprochen.

»Man muss sich eben arrangieren«, hatte sie stets gesagt. »Ewige Liebe gibt es nicht.«

War es überhaupt Liebe gewesen, was sie zusammenbrachte? Das hatte Jan sich manchmal gefragt. Aber wie es auch gewesen sein mochte, er war immer wieder von ihrer Persönlichkeit fasziniert worden. Und jetzt wurde ihm sehr deutlich bewusst, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war, wie es auch Dr. Laurin an diesem Tag schon festgestellt hatte.

»Du hast Raubbau mit deinen Kräften getrieben«, sagte er nachsichtig. »Vielleicht hilft dir eine richtige Kur. Und wegen der Kinder solltest du nicht gleich in Panik geraten. In vierzehn Tagen habe ich Urlaub, dann werde ich mich mehr mit ihnen beschäftigen.«

Sibylle betrachtete ihn stumm.

»Ich gehe jetzt zu Bett«, sagte sie. »Gute Nacht, Jan.«

»Gute Nacht«, erwiderte er. Und dann stellte er das Radio an, weil die Stille erdrückend auf ihn wirkte. Er musste seine innere unerklärliche Erregung abreagieren.

*

Schwester Marietta lief von einem Zimmer ins andere. Sie fand keine Minute der Besinnung. In dieser Nacht ging es wieder einmal turbulent zu. Aber sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie wurde nicht ungeduldig, auch wenn die Patientinnen manchmal ungehalten waren. Kranken verzieh sie alles. Bei den Gesunden war sie nicht so nachsichtig.

Aber sie hatte erlebt, wie krank ihr Vater war, wie ihre Mutter dahinvegetierte, weil ihre Trauer um ihren Mann, mit dem sie eine ganz tiefe, innige Liebe verbunden hatte, grenzenlos war.

Marietta wusste, was wahre Liebe bedeutete, denn zwischen ihr und ihrem um drei Jahre jüngeren Bruder bestand auch eine Geschwisterliebe, die sie über manchen Schmerz hinwegtröstete.

Gegen vier Uhr früh konnte sich Marietta endlich ein bisschen auf der Liege ausstrecken. Jetzt erst spürte sie, dass ihre Füße schmerzten, aber sie gab sich keinen tristen Gedanken hin.

Um fünf Uhr ging es schon wieder los. Auf der Säuglingsstation konnte man Unterstützung gebrauchen. Für Marietta war es das Schönste, wenn sie sich mit den Babys beschäftigen konnte. Dabei dachte sie dann immer wieder an Alexander und Ariane, die Zwillinge, die sie so geliebt hatte, und auch an deren Vater!

Um sieben Uhr wurde sie abgelöst. Sie fuhr in ihrem kleinen Wagen heim. Ganz leise schloss sie die Tür auf, wusch sich im Bad die Hände und ließ einen Strahl kalten Wassers über ihr Gesicht laufen. Dann ging sie in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang.

Doch wenige Minuten später stand Jobst in der Tür. Sie wollte noch immer nicht begreifen, dass ihr ›kleiner‹ Bruder sie um Haupteslänge überragte.

»Du solltest mich nicht so verwöhnen, Marietta«, sagte Jobst. »Ich mache das schon. Du musst doch müde sein.«

»Ach was«, erwiderte sie. »Ich habe auch Hunger. Übrigens werde ich in den Semesterferien Tagesdienst machen. Nun können wir die Wohnung so herrichten, wie es uns gefällt, Jobst.«

Er hatte ein schlechtes Gewissen, denn auch er wollte sich jetzt mehr Freizeit gönnen. Es gab da ein liebliches Wesen, das ihm sehr gefiel. Doch er hatte Hemmungen, mit Marietta jetzt schon darüber zu sprechen.

Marietta sah nicht aus, als hätte sie eine schlaflose Nacht hinter sich.

Sie trank einen Schluck Kaffee. »Weißt du, Jobst, ich denke es mir so«, begann sie lebhaft, »wenn du heiraten willst, kannst du drei Zimmer haben. Wir müssen uns das genau überlegen. Ich brauche ja nicht mehr als ein Zimmer.«

»So schnell denke ich nicht ans Heiraten«, wehrte er ab.

»Ich will nur nicht, dass du meinst, dass ich dagegen bin.«

Er musste aus dem Haus, um pünktlich an seiner Arbeitsstelle zu sein. Leicht wurde es ihm von den älteren Kollegen auch nicht gemacht. Aber immer redete Marietta ihm zu, dass aller Anfang eben schwer sei. Sie selbst hatte es auch nie leicht gehabt und es sich auch nicht leicht gemacht.

*

Dr. Laurins Arbeitstag hatte mit einer Operation begonnen, die glücklicherweise ohne Komplikationen verlaufen war. Danach war die Visite, und dann hatte er Sprechstunde.

»Das Wartezimmer ist voll«, bemerkte Moni. »Werden Sie es bis halb zwölf schaffen, Chef? Frau Fink ist doch immer in Hetze.«

»Wir werden schon zurechtkommen. Ich muss mit ihr sprechen.«

Wegen Sandra, dachte Moni, die recht gut Bescheid wusste. Ihre jüngeren Geschwister Dieter und Angelika besuchten auch das Gymnasium und hatten engen Kontakt zu den Laurin-Zwillingen.

Frau Fink kam pünktlich, und es dauerte auch nicht lange, bis er Hella Fink zu sich hereinbitten konnte.

Sie war Anfang Vierzig, früh verblüht, müde und oft deprimiert. Die Gründe kannte Dr. Laurin. Ihre älteste Tochter hatte einen Taugenichts geheiratet. Da musste sie immer heimlich mit Geld helfen. Der Junge stand vor dem Abitur und war gerade auch keine Leuchte. Sandra, die Jüngste, ein zartes Kind, hatte nun auch noch Probleme geschaffen, wie seine Kinder ihm berichtet hatten.

Um sie ging es jetzt. »Sie wissen, wie es um meinen Mann steht, Herr Dr. Laurin?«, sagte Frau Fink. »Gibt es noch eine Hoffnung, dass sich sein Zustand bessert?«

»Das kann ich nicht so einfach sagen, Frau Fink.«

»Wenn es nur eine Hoffnung gäbe, würde ich ja durchhalten, aber manchmal kann ich fast nicht mehr. Er ist so ungerecht. Die Kleine darf darunter nicht auch noch leiden. Sie kommt eben nicht mit in der Schule. Sie wird sitzenbleiben. Dann dreht mein Mann durch, da wir doch mit Klaus schon genug Sorgen haben.«

»Ich weiß es von Konstantin und Kaja«, sagte Leon. »Sie haben mich darum gebeten, mit Ihrem Mann zu sprechen.«

»Das ist sinnlos. Er ist nur noch aggressiv.«

»Ihr Mann ist nicht gesund, und damit wird er noch nicht fertig, Frau Fink.

Er macht sich Sorgen um seine Familie.«

»Steht es so schlimm, Herr Doktor?«, fragte Hella Fink.

»Es sind Gallensteine. Sie wissen, wie schmerzhaft die Koliken sind. Wenn Ihr Mann sich selbst mehr Ruhe gönnen würde, könnte es ihm helfen. Aber niemand kann ihn dazu zwingen, wenn er nicht einsichtig ist.«

»Wie lange sind Sie jetzt verheiratet, Frau Fink?«, fragte Dr. Laurin.

»Dreiundzwanzig Jahre. Und was wir alles miteinander erlebt haben«, sagte sie seufzend.

»Dann kennen Sie Ihren Mann doch am allerbesten. Reden Sie mal offen mit ihn. Andere Eltern haben auch Probleme mit ihren Kindern, und am Ende stellen sie sich dann als gar nicht so schlimm heraus. Aber er möchte doch sicher selbst nicht, dass seine Kinder nur noch Angst vor ihm haben.«

»Wenn ich nur wüsste, wie ich es anfangen soll, dass er mir ruhig zuhört«, sagte Hella Fink beklommen.

»Machen Sie doch mal einen Ausflug mit ihm. Sandra schicken Sie zu uns. Sie sollten einmal ganz allein sein an einem schönen Tag.«

»Er hat ja nie Zeit. Nur wenn mit einmal etwas fehlt, dann vergisst er alles andere.«

»Na also, dann fehlt Ihnen halt einmal etwas, und Sie sagen ihm, dass ich Ihnen dringendst eine Erholung angeraten hätte.«

»Aber die Kinder, die müssen doch versorgt werden.«

»Könnte da nicht mal Ihre Mutter einspringen, wenn Sie es ihr erklären, warum es so ist?«

Sie nickte.

»Ich werde es mal versuchen, Herr Doktor. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn es uns noch so schlecht ginge wie am Anfang unserer Ehe, denn da hat es überhaupt keine Probleme gegeben. Jetzt heißt es immer bloß, dass er unseren Lebensstandard halten müsse.«

Das hörte Dr. Laurin nicht zum ersten Mal. Bei vielen Menschen war es so. Der Wohlstand hatte auch seine Schwierigkeiten mit sich gebracht, auch für die Gesundheit der Menschen.

Dass es auch mit Dr. Jan Kollanders Zwillingen Schulschwierigkeiten gab, wusste er noch nicht.

*

Jan hatte die Kinder am Morgen zur Schule gebracht. Er hatte es sich nicht zur Gewohnheit gemacht, weil er sie nicht zu unselbständig aufwachsen lassen wollte, aber da es regnete, hatte er einen guten Grund dafür.

Sibylle schlief ohnehin noch. Sie stand jetzt nie früh auf. Derzeit betreute die vierzigjährige Frau Dümmler die Kinder, die sich aber nur Mühe gab, solange er im Haus war. Die Zwillinge hatten manches gegen sie einzuwenden. Bisher hatte Jan dies immer begütigend einzurenken versucht.

Nun wollte er mal ganz offen mit ihnen reden.

»Ich möchte mal mit euch reden, und augenblicklich habe ich doch so wenig Zeit.«

»Weil Mama gestern beim Rektor war?«, fragte Alexander.

»Auch deshalb und wegen Frau Dümmler und so manchem, was euch vielleicht nicht gefällt«, erwiderte Jan daraufhin.

»Und du schreibst uns eine Entschuldigung?«, fragte Alexander.

»Ja.«

»Ich möchte gar nicht ins Gymnasium«, sagte Ariane. »Ich werde Kindergärtnerin, damit die Kinder, deren Mutter dauernd weg ist, auch richtig versorgt werden.«

»Wie wir damals, als Marietta noch bei uns war«, warf Alexander ein.

Jan hielt den Atem an.

»Könnt ihr euch denn daran noch erinnern?«, fragte er erstaunt.

»Freilich. Das waren schöne Zeiten«, erwiderte Alexander.

»Mama ist krank. Sie müsste eine Kur machen«, sagte Jan überstürzt. »Dann wird es vielleicht auch wieder besser.«

Ariane warf ihm einen schrägen Blick zu, während Alexander trotzig die Lippen aufeinanderpresste und vor sich hin starrte.

»Meinst du?«, fragte sie.

Jan schluckte schwer. Nichts, gar nichts verband Sibylle und die Kinder, das wurde ihm wieder einmal klar.

»Wenn du Urlaub hast, machen wir dann wenigstens mal eine Bergtour?«, fragte Ariane.

»Wir werden bestimmt für ein paar Tage wegfahren. Das verspreche ich euch. Aber nun sagt mir mal, wo es in der Schule hapert.«

Alexander zuckte die Achseln.

»Eigentlich nirgendwo. Einser haben wir freilich nicht, aber sonst geht es doch. Nur dieser blöde Test, mit dem sind wir beide nicht zurechtgekommen, und das werten sie dann gleich psychologisch.«

»Ganz richtig«, erwiderte Jan.

»Geh du doch mal in die Schule und rede mit dem Rektor«, schlug Ariane vor. »Ich bin ja nicht wild darauf, aufs Gymnasium zu kommen. Es ist nur wegen Alex. Und wir wollen doch wenigstens zusammenbleiben.«

»Und nicht in ein Internat«, fügte Alexander hinzu.

»Mir würde es aber auch nichts ausmachen, wenn ihr noch ein Jahr auf der Grundschule bleibt«, sagte Jan. »Ich war in der Schule auch keine Leuchte.«

»Nicht?«, fragte Alexander staunend. »Warum bist du denn jetzt so gescheit?«

»Weil ich herausgefunden hatte, was mir liegt, und weil ich auch begriffen habe, worum es geht.«

Jan fühlte sich hilfslos. »Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit für euch habe«, schloss er.

»Väter müssen immer arbeiten«, sagte Alexander. »Aber wenn sie so massig viel Geld verdienen, braucht die Frau doch nicht auch noch zu arbeiten. Und außerdem mag Mama überhaupt keine Kinder.«

Das war hart! Es traf Jan wie ein Messerstich.

»Wir können sie auch nicht mehr so liebhaben, weil sie uns so lange allein gelassen hat. Wenn wir so gescheit wären wie Anderl, dann wäre sie vielleicht ein bisschen stolz, aber gerade darum will ich nicht so gescheit sein.«

Oh, Sibylle, dachte Jan, du ahnst ja nicht, was du angerichtet hast. Wieder ging es ihm durch den Sinn, ob es nicht besser gewesen wäre, sich von ihr zu trennen.

Und nun hatte er beschlossen, keine Ausrede zu benutzen, sondern seine Kinder in die Schule zu bringen und mit dem Rektor zu sprechen. Er wollte es genau wissen, warum dieser es für richtig hielt, sie noch ein Jahr zurückzustellen, bevor sie den Start auf das Gymnasium versuchten.

Er bekam eine sehr offene Antwort.

Den Kindern fehle es einfach an Reife und Ausgeglichenheit. Da sie sehr sensibel seien, wären sie den Anforderungen des Gymnasiums einfach nicht gewachsen.

»Es war nur eine Empfehlung meinerseits«, fügte der Rektor hinzu. »Selbstverständlich steht dem nichts im Wege, dass Ihre Kinder probeweise im Gymnasium aufgenommen werden. Sie haben es zu entscheiden.«

Und ich habe auch zu entscheiden, dass es bei uns endlich anders wird, dachte Jan. So kann es nicht weitergehen. Die Einstellung der Kinder zu ihrer Mutter kannte er nun. Aber das war nichts Neues für ihn.

*

Marietta war in die Stadt gefahren. Mittlerweile war es drei Uhr geworden. Sie hatte Schaufenster angeschaut, bisher aber nichts gefunden, was ihr gefallen hätte. Sie drehte jeden Euro lieber drei Mal um, bevor sie ihn ausgab für etwas, was ihr nachher nicht mehr zugesagt hätte.

Endlich stand sie vor einem Schaufenster und sah ein Kleid, das ihr Herz höher schlagen ließ. Zauberhaft war es. Aber dreihundert Euro?

Gewaltsam entriss sie sich dem Anblick dieses zauberhaften Kleides und drehte sich auf dem Absatz um. Da wäre sie beinahe mit einem Mann zusammengestoßen.

Weit wurden ihre Augen, aber völlig bewegungslos blieb sie stehen.

Der Mann schaute sie auch an, und seine Augen leuchteten auf.

»Marietta«, rief er. »Sie sind es wirklich? Mein Gott, wie lange haben wir uns nicht gesehen. Wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut«, erwiderte Marietta mit zittriger Stimme. »Wie geht es Ihnen, Herr Dr. Kollander?«

»Mittelprächtig«, erwiderte er. »Aber ich freue mich, dass ich Sie mal wiedersehe. Haben Sie ein biss­chen Zeit? Können wir eine Tasse Kaffee zusammen trinken? Ich warte schon seit einer Stunde vergeblich auf einen Kollegen aus Amerika. Eben habe ich erfahren, dass das Flugzeug mit dreistündiger Verspätung ankommt. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, sagen Sie bitte nicht nein. Ich möchte so gern erfahren, wie es Ihnen ergangen ist und was Sie jetzt machen.«

»Jetzt studiere ich Medizin«, erwiderte Marietta geistesabwesend und immer noch ein bisschen benommen.

»Tüchtiges Mädchen. Wie haben Sie das fertiggebracht?«

Während er auf sie einsprach, schob er sie schon mit sanfter Gewalt in das Bistro, das nur ein paar Schritte entfernt lag. Sie sank auf einen weichen Stuhl und musste sich erst bewusst werden, dass ihr Jan Kollander wirklich gegenübersaß.

Er hatte ein paar Falten mehr, sein Haar war an den Schläfen leicht ergraut, aber sonst hatte er sich nicht verändert. Als sie das feststellte, sagte er: »Sie haben sich überhaupt nicht verändert, Marietta. Erzählen Sie von sich.«

»Sagen Sie mir erst, wie es Alexander und Ariane geht«, bat sie.

»Ganz gut, aber davon später. Zuerst möchte ich von Ihnen hören.«

»Ja, was gibt es da schon zu erzählen? Ich habe eine kleine Erbschaft gemacht und mich dann entschlossen, doch noch Medizin zu studieren. Manchmal helfe ich bei Dr. Laurin als Nachtschwester aus. Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, und nun bin ich mit meinem Bruder allein. Er ist Ingenieur und wird seinen Weg machen. Ich werde in den Semesterferien auch Tagesdienst in der Prof.-Kayser-Klinik machen. Sonst gibt es nichts zu berichten.«

»Nicht verheiratet oder verlobt?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte sie kurz. »Aber nun zu den Kindern. Das ist viel wichtiger.«

»Ich weiß nicht, ob das so viel wichtiger ist. Die Kinder haben es nicht leicht gehabt. Wir haben oftmals Personalwechsel gehabt. Seit einem Jahr ist meine Frau daheim, aber es hat sich nicht viel geändert. Was soll ich sagen, Marietta? Sie kennen das Dilemma ja aus Erfahrung. Die Kinder leiden darunter.«

»Sie sind groß geworden«, sagte Marietta. »Sie werden nächste Woche zehn Jahre.«

»Das wissen Sie noch?«, fragte er erstaunt.

»Wie könnte ich es vergessen«, sagte sie leise. »Fünf Mal durfte ich ihnen die Geburtstagskerzen anzünden. Haben Sie Bilder von ihnen dabei?«

»Ein paar«, erwiderte Jan und griff in seine Brusttasche. »Vom Winterurlaub. Sechs Tage haben wir in Verbier verbracht. Sie fahren jetzt schon ganz gut Ski.«

Er gab ihr die Bilder, und sie betrachtete diese lange. »Sie sind sich ähnlich geblieben. Ariane ist ernster als Alexander. Mein Gott, sind sie gewachsen. Jetzt müssten sie doch bald aufs Gymnasium kommen.«

»Das ist auch so ein Problem. Gut, dass ich mit Ihnen darüber sprechen kann.«

Jan Kollander war der Mann, dem kein anderer das Wasser reichen konnte, den sie liebte, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, ohne dass sie es mit einem Wort oder einem Blick verraten hätte.

Sie dachte an seine Kinder, die sie ebenfalls zärtlich geliebt hatte, die sie heranwachsen sah, bis sie fünf Jahre alt wurden. Aber sie musste nun auch an Sibylle Kollander denken, von der sie aus dem Haus gewiesen worden war.

»Wenn Sie denken, Sie könnten sich meinen Mann angeln, haben Sie sich getäuscht«, hatte Sibylle gesagt. »Verschwinden Sie, Sie kleines Dumm­chen.«

Und sie war gegangen. Sie hatte ihren Stolz und war nicht verzweifelt an dieser Demütigung, denn niemals war etwas zwischen ihr und Jan gewesen, aber ihre Liebe zu diesem Mann hatten auch solche Worte nicht auslöschen können. Nun hatte sie ihn wiedergesehen, hatte mit ihm gesprochen, hatte gefühlt, dass er sie genauso respektierte wie ehemals. Es war ein schöner Tag für sie, gemischt mit Wehmut, aber eben doch schön, weil sie nie falsche Hoffnungen gehegt hatte.

Über Sibylle hatten sie nicht gesprochen. Nur über die Kinder.

»Wie würden die beiden sich freuen, wenn Sie uns mal besuchen würden, Marietta«, hatte Jan gesagt.

»Nein, das werde ich nicht«, hatte sie erwidert. »Es ist schön, wenn sie mich nicht vergessen haben, aber es würde ihnen gar nicht helfen, wenn wir uns wiedersehen würden.«

Und mehr hatte sie nicht zu sagen brauchen. Sie hatten sich angeschaut, und damit war eigentlich alles gesagt, mehr als jemals zuvor gesagt worden war.

Nun, so dachte Marietta, durfte es nie mehr ein Wiedersehen geben. Sollte sie denn etwas wünschen, was sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren könnte? Ihre Liebe gehörte einem verheirateten Mann. Sie konnte nicht dagegen an, aber sie würde gewiss nichts tun, um das Schicksal herauszufordern.

Daheim angekommen, nahm sie das Fotoalbum hervor, in dem sie so viele Bilder von Alexander und Ariane gesammelt hatte, eine Woche jung, zwei, drei, vier, dann die ersten Jahre, im Sommer, im Winter, und nun konnte sie noch vier Fotos hinzufügen, die Jan Kollander ihr geschenkt hatte, mit den Schulkindern Alexander und Ariane, die auch schon ihre Sorgen hatten, wie ihr Vater berichtet hatte.

*

Sibylle Kollander erschien zu dem verabredeten Termin bei Dr. Laurin.

Moni hatte die Unterlagen über Sibylle Kollander herausgesucht. Die Karten lagen bereits auf Dr. Laurins Schreibtisch.

Moni wusste, dass Sibylle Kollander vor mehr als zehn Jahren Zwillinge in der Prof.-Kayser-Klinik zur Welt gebracht hatte, und von Schwester Marie hatte sie erfahren, dass Sibylle eine sehr bekannte Journalistin war, um die es erst in letzter Zeit stiller wurde.

Sibylle brauchte nur ein paar Minuten zu warten, dann kam Dr. Laurin schon im Eilschritt geradewegs aus dem OP, wo eine operative Entbindung stattgefunden hatte.

Auch die Entbindung der Zwillinge war durch Kaiserschnitt erfolgt. Sibyl­le war sehr schwach gewesen. Erst am vierten Tag hatte sie ihre Kinder zu sehen bekommen, und groß war ihre Freude nicht gewesen. Damals hatte Dr. Laurin gemeint, dass sie noch unter den Folgen der Narkose stünde, später war ihm klar geworden, dass diese junge Mutter sich überhaupt nicht freute.

Sibylle selbst war es gewesen, die Marietta dazu bewegte, als Kinderschwester zu ihnen zu kommen. Ein so großzügiges Gehalt hätte Dr. Laurin der jungen Schwester damals nicht zahlen können. Marietta hatte zusammen mit den Zwillingen und Sibylle Kollander die Klinik verlassen.

Zwei Mal war Sibylle dann zur Nachuntersuchung gekommen, später nicht mehr. Frank und frei hatte sie erklärt, dass sie keine weiteren Kinder mehr wünsche. Dr. Laurin hatte ihr geraten, ihrer angegriffenen Gesundheit wegen Antibabypillen nicht zu nehmen, und das hatte sie missverstanden.

Aber nun war sie doch wiedergekommen, zehn Jahre später, und wie sich nach der gründlichen Untersuchung herausstellen sollte, als todkranke Frau.

Da schwieg jede Antipathie. Dr. Laurin war erschüttert. Sibylle Kollander hatte nicht nur ein schweres Nierenleiden, sie hatte auch Leukämie.

Als er alle Befunde in den Händen hatte, war er so konsterniert, dass er mit seinem Kollegen und Freund Dr. Eckart Sternberg darüber sprach.

»Es tut mir leid, Leon, aber da ist nicht viel Hoffnung. Nach diesen Befunden hat sie höchstens noch ein halbes Jahr zu leben, und das ist hoch gegriffen. Du solltest ihren Mann davon in Kenntnis setzen.«

Dr. Laurin hatte Sibylle für nächste Woche zu einem Gespräch über die Befunde bestellt, aber wie sollte er ihr die Wahrheit sagen?

Moni sah einen Chef mit düsterer, nachdenklicher Miene und wagte nichts zu fragen. Schwester Marie wusste sofort, dass ihn schwerwiegende Gedanken bewegten.

»Um wen geht es?«

»Frau Kollander«, erwiderte er. »Sie ist todkrank. Vielleicht werden wir sie für eine Zeit aufnehmen müssen.«

»Wenn die Angehörigen Bescheid wissen, ist es immer besser. Was wird Marietta dazu sagen? Sie hat doch die Zwillinge aufgezogen.«

»Es bleibt unter uns, Marie«, entschied er. »Kein Wort zu Marietta darüber.«

Dr. Laurin konnte sich jedoch nicht entschließen, mit Jan Kollander zu sprechen, wenigstens jetzt noch nicht. Es war immer eine schwerwiegende und zwiespältige Entscheidung, einem engen Verwandten die Aussichtslosigkeit auf Genesung eines Patienten mitzuteilen, und er hätte es wohl noch weiter vor sich hergeschoben, wäre Jan Kollander nicht selbst gekommen.

Sibylle hatte am Abend einen Schwächeanfall gehabt. Sie hatte schon völlig geistesabwesend am Tisch gesessen, hatte sich plötzlich erhoben und war zusammengebrochen.

Die Kinder starrten Jan an, der neben Sibylle niederkniete. Er hob sie auf und trug sie in ihr Zimmer, legte sie auf das breite Bett und rief sogleich den Hausarzt an.

»Geht lieber zu Bett«, sagte Jan zu den Kindern, und dazu waren sie sehr schnell bereit. Es war ihnen unheimlich, dass ihre Mutter so plötzlich zusammengebrochen war. Sie hatten zum ersten Mal erlebt, dass jemand ohnmächtig wurde.

Jan lief im Zimmer hin und her und zerbrach sich den Kopf, was Sibylle fehlen könnte. Sie hatte doch davon gesprochen, dass sie bei Dr. Laurin gewesen sei. Es gab heutzutage so viele Mittel, um Schwächezustände zu bekämpfen. Hatte er ihr nichts gegeben?

Endlich kam der Hausarzt aus dem Zimmer. Sein Gesicht war verschlossen.

»Ihre Frau wird jetzt schlafen, Herr Kollander«, sagte er. »Sie gehört in klinische Behandlung. Eine Generaluntersuchung würde ich für sehr angebracht halten.«

»Soviel mir bekannt ist, war sie bei Dr. Laurin«, entfuhr es Jan.

»Dann wäre es wohl richtig, wenn Sie mit ihm sprechen würden. Dr. Laurin ist ein vorzüglicher und gewissenhafter Kollege.«

»Unsere Zwillinge wurden in der Prof.-Kayser-Klinik geboren«, sagte Jan. »Ja, ich werde mit Dr. Laurin sprechen.«

Dr. Kolbe schien erleichtert. Er verabschiedete sich nun rasch.

Jan ging in das Zimmer seiner Frau. Sie schlief fest.

Frau Dümmler zeigte sich an diesem Abend von ihrer schlechtesten Seite. Musste man ihr auch zugute halten, dass sie nicht gerade freundlich von Sibylle behandelt worden war, so fiel sie doch dermaßen aus der Rolle, dass Jan genug hatte und ihr auf der Stelle kündigte.

*

Am nächsten Morgen brachte Jan die Kinder wieder zur Schule, diesmal jedoch zur rechten Zeit. Sibylle hatte noch geschlafen, als sie das Haus verließen. Die Haushälterin hatte versprochen, nach ihr zu sehen. Jan wollte mit Dr. Laurin sprechen und hatte schon das Institut verständigt, dass er erst mittags kommen würde. Ganz freimachen konnte er sich nicht, da der amerikanische Besuch da war. Keinesfalls konnte Sibyl­le in diesem Zustand allein bleiben. Aber was sollte er machen?

»Was ist eigentlich mit Mama?«, fragte Alexander.

»Sie ist krank«, erwiderte Jan.

»Und Frau Dümmler ist weg? Für immer?«, wollte Ariane wissen.

»Ja, ich habe sie weggeschickt.«

»Wir kommen schon mit Katrin allein zurecht, Papi. Mach dir da keine Sorgen«, versicherte Alexander. »Mama kommt doch sicher ins Krankenhaus.«

»Es ist möglich«, sagte Jan tonlos.

Ariane stieß ihren Bruder an, was bedeuten sollte, dass sie jetzt lieber nicht mehr reden sollten. Sie waren inzwischen bei der Schule angelangt.

»Mach dir nicht zu viele Sorgen, Papi«, verabschiedete sich Ariane. »Es wäre nur schade, wenn der Urlaub verdorben wäre.«

Darauf hatten sie sich gefreut, da sie ihren Vater sonst so wenig hatten.

Jan fuhr zur Prof.-Kayser-Klinik. Er wollte versuchen, Dr. Laurin zu sprechen, und er hatte Glück. Leon Laurin war soeben erst gekommen. Operationen standen nicht auf dem Plan. Jan entschuldigte sich, dass er sich nicht angemeldet hatte, aber da winkte Dr. Laurin nur ab.

Jan erzählte, was am gestrigen Abend vorgefallen war. Dr. Laurin hörte gespannt zu.

»War meine Frau bei Ihnen?«, fragte Jan.

Dr. Laurin bestätigte es.

»Sie hielten ihren Zustand nicht für bedenklich?«

»Doch, für sehr bedenklich, aber ich konnte keine Diagnose stellen, bevor ich nicht alle Befunde hatte. Ich wollte ihr auch nicht aufs Geratewohl ein Medikament geben, da sie ohnehin genug schluckt.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Jan heiser.

»Dass sie sehr viele Tabletten schluckt. Es ist verständlich, denn sie muss häufig sehr starke Schmerzen haben. Haben Sie davon nichts bemerkt?«

»Nur, dass sie zeitweise sehr erschöpft wirkte, dann aber wieder hektische Betriebsamkeit entwickelte. Ich muss gestehen, dass es zwischen uns kaum noch Gemeinsamkeiten gab. Meine Frau war ständig unterwegs. Erst seit etwa einem Jahr hat sie das Reisen aufgegeben, und zu Hause gearbeitet.«

»Auch noch in letzter Zeit?«, fragte Dr. Laurin interessiert.

»Das weiß ich nicht. Sibylle mochte es nicht, wenn ich mich um ihre beruflichen Dinge kümmerte. Mir wäre es auch bedeutend lieber gewesen, wenn sie den Beruf aufgegeben hätte, als die Zwillinge geboren wurden. Darf ich jetzt erfahren, was die Befunde aussagen?«

»Wollen Sie es erfahren?«, fragte Dr. Laurin stockend.

»Ja, gewiss«, erwiderte Jan sehr bestimmt.

»Hoffnungslos. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nichts anderes sagen kann, Herr Kollander. Neben einem Nierenleiden auch noch Leukämie. In diesem Stadium gibt es keinen Arzt und keine Therapie, die da helfen könnte. Zudem trägt sie die Krankheiten schon eine beträchtliche Zeit mit sich herum, ohne dass sie sich in ärztliche Behandlung begeben hat. Ich will damit sagen, dass ihr vielleicht zu helfen gewesen wäre, und ich frage mich, wie sie es bisher ausgehalten hat.«

»Sibylle wollte nie krank sein. Sie hatte in manchen Dingen sehr eigenwillige Ansichten, so intelligent sie sonst auch ist.«

»Was man nicht wahrhaben will, schiebt man von sich weg. Das erlebe ich öfter.«

»Sie darf es nicht erfahren«, sagte Jan. »Könnten wir es vielleicht einrichten, dass sie damit getäuscht wird eine …

Ach, ich weiß nicht, wie es möglich sein sollte.«

»Was geht Ihnen durch den Sinn?«

»Wenn Sie ihr sagen würden, dass eine klinische Untersuchung notwendig ist. Ihr Zustand wäre so schlimm, dass sie daheim nicht die nötige Betreuung hätte, aber ich nehme an, dass sie sich dagegen sträuben wird, in eine Klinik zu gehen.«

»Man kann sie nicht dazu zwingen. Wenn Ihre Frau dazu bereit ist, werde ich sie hier unterbringen. Vielleicht kann man ihr Leben verlängern, aber ob das nun die richtige Entscheidung ist? Zu retten ist sie nicht, Herr Kollander. Wunder können wir nicht bewirken.«

»Das Leben bedeutet Sibylle so viel«, sagte Jan leise.

»Vielleicht täuscht sie ihre Umwelt. Wenn man dem Tod so nahe ist, wandelt sich die Psyche.«

Diese Worte nahm Jan gar nicht mehr bewusst in sich auf. Er dachte jetzt nur an Sibylle, die dem Tod Geweihte, deren Nähe er manchmal kaum noch ertragen konnte, von der er sich trennen wollte, die ihren Kindern nichts bedeutete. Sie war ein

bedauernswerter schmerzgeplagter Mensch.

Niedergedrückt von solchen Gedanken fuhr er heim.

Sibylle war wach. Katrin berichtete, dass sie ein paar Schluck Tee getrunken hatte, aber nichts essen wollte.

Er ging zu ihr und nahm ihre Hand.

»Du fühlst dich nicht besser, Sibyl­le?«, fragte er.

Sie bewegte verneinend den Kopf. »Ich sollte doch lieber in die Klinik gehen«, sagte sie.

»In die Prof.-Kayser-Klinik?«, fragte er.

Sie nickte zustimmend. »Ich könnte die lebhaften Kinder nicht ertragen«, stieß sie hervor.

Doch seltsamerweise hatte Jan das Gefühl, dass sie das nicht aus innerer Überzeugung sagte, sondern nur als eine Ausrede benutzte.

»Es wird alles wieder gut werden, Sibylle«, sagte Jan mit erzwungener Ruhe.

»Sicher. Dr. Laurin ist ein sehr guter Arzt. Ich hätte früher auf ihn hören sollen.«

Jan war konsterniert. »Ich habe mit den Kindern gesprochen. Wir werden sie doch im Gymnasium anmelden. Wenn sie nicht mitkommen sollten, wiederholen sie die Klasse.«

»Du wirst schon den richtigen Weg wählen, Jan«, sagte sie, und wieder konnte er nur staunen über solche Einsicht und Sanftmut.

Als sie dann bei der Prof.-Kayser-Klinik ankamen, war sie allerdings so schwach, dass sie nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Er trug sie hinein, und da begegnete ihnen Marietta.

Jan stockte fast der Atem, doch Sibylle nahm nichts wahr. Sie hatte die Augen geschlossen.

Marietta verhielt den Schritt. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Augen waren schreckensweit geöffnet.

»Dr. Laurin weiß Bescheid«, sagte Jan schweratmend. Da kam auch schon Schwester Marie herbeigeeilt, dann auch Dr. Laurin und Dr. Petersen.

Zehn Minuten später lag Sibylle in ihrem Bett, von tiefer Bewusstlosigkeit umfangen.

Jan hatte Marietta nicht mehr gesehen, bevor er die Klinik verließ. Als er wegfuhr, dachte er daran, was Sibylle wohl sagen würde, wenn sie Marietta hier wiedersah.

Das Schicksal nahm seinen Lauf. In seinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander.

*

»Was ist mit Frau Kollander, Marie?«, fragte Marietta in der Mittagspause.

Marie zuckte mit den Schultern, obgleich sie doch genau Bescheid wusste. Aber Dr. Laurin hatte gesagt, dass sie schweigen solle, und so schwieg sie.

Immerhin hatte Marietta so viele Kenntnisse, dass dieses Schweigen kaum etwas nützen würde.

Vorerst war sie tief erschüttert. Sie hatte vergessen, wie weh ihr diese Frau getan hatte. Es war lange her, und damals war sie eine andere gewesen, eine schöne lebenssprühende Frau, von ihrer Wirkung überzeugt, gewöhnt, überall Mittelpunkt zu sein, umschwärmt begehrt. Eine Frau, die sich nicht um ihre Kinder, kaum um ihren Mann kümmerte, aber auch nicht ertrug, dass eine andere im Hause war, die von ihrem Mann geschätzt und von den Kindern geliebt wurde.

Jetzt war Sibylle Kollander krank, todkrank, wie Marietta ahnte, denn so sah ein Mensch nicht aus, wenn noch ein Funken Hoffnung bestand.

»Sie waren ziemlich lange bei den Kollanders?«, fragte Marie.

»Fünf Jahre.«

»Sind Sie gut mit Frau Kollander ausgekommen?«

»Sie war selten daheim. Dann aber wollte sie die Erziehung der Kinder selbst übernehmen, und ich wollte das Studium beginnen«, antwortete Marietta.

Es entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber was wirklich gewesen war, wollte Marietta nicht preisgeben.

»Wir können es so einrichten, dass Sie Frau Kollander nicht zu betreuen brauchen, Marietta«, sagte Schwester Marie.

»Wenn sie es ablehnt, gut«, sagte Marietta verhalten.

»Sie würden sich nicht weigern?«

»Warum sollte ich das? Sie ist krank, sehr krank, wie es scheint. Ich bin hier, um Kranke zu pflegen. Sie hat mein ganzes Mitgefühl.«

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, dachte Schwester Marie. Von Marietta konnte man das ohne jede Ironie sagen.

*

Marietta war die erste, die Sibylle wahrnahm, als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte. Zuerst war ihr Blick glanzlos und weltenfern, dann aber saugte er sich an diesem Gesicht fest.

»Marietta?«, murmelte sie fragend.

»Ja, ich bin es, Frau Kollander.«

»Wie kommen Sie zu uns?«

»Sie sind in der Prof.-Kayser-Klinik, und ich bin hier Krankenschwes­ter«, erwiderte Marietta.

Es war verblüffend, fast unbegreiflich, wie rege Sibylles Geist immer noch war.

»Es ist gut, ein vertrautes Gesicht zu sehen«, sagte sie.

Dies wiederum verblüffte Marietta.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie.

»Bleiben Sie bei mir. Ich muss mich erst zurechtfinden. Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, was geschehen ist. Helfen Sie mir bitte.«

»Ihr Mann hat Sie hergebracht«, antwortete Marietta. »Es ging Ihnen nicht gut.«

»Schon am Abend nicht. Ja, ich erinnere mich. Diese dumme Schwäche. Ich habe Durst.«

»Ich hole sofort etwas. Was möchten Sie trinken?«

Dr. Laurin hatte angeordnet, dass sie alles bekommen solle, was sie verlange, und das hatte Marietta noch nachdenklicher gestimmt.

»Jetzt hole ich erst etwas zu trinken und bestelle Ihnen das Essen«, sagte Marietta.

»Ja, das ist nett. Danke.«

Marietta war fassungslos, so völlig verändert war Sibylle. Und meist waren Kranke doch noch viel unduldsamer als Gesunde.

Sibylle trank durstig. »Das schmeckt gut«, sagte sie zwischen zwei Schlucken. »Jetzt fühle ich mich schon bedeutend wohler.«

»Das Essen wird auch gleich kommen«, sagte Marietta.

Ein nachdenklicher, eigenartiger Blick traf sie. »Sie sind sehr nett, Marietta. Habe ich mich damals nicht ziemlich dumm benommen?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Ich auch nicht mehr so recht. Sind Sie schon lange hier an der Klinik?«

»Nein, ich studiere Medizin.«

»Sie wollen Ärztin werden und arbeiten als Krankenschwester. Wird Ihnen das nicht zuviel?«

Marietta konnte nur staunen, wie konzentriert Sibylle war und wie deutlich sie sprach.

»Nein, es wird mir nicht zuviel«, erwiderte sie. »Ich bin sehr gern hier.«

»Ich habe gedacht, Sie würden längst verheiratet sein. Sie sind doch wie zur Mutter geschaffen. Ich hingegen bin das nicht«, fügte sie nach kurzer Pause hinzu.

»Sie sind mit Ihrem Beruf verwachsen«, meinte Marietta nachdenklich. »Aber wenn Ihre Kinder selbst erwachsen sind, werden sie es verstehen.«

»Ist Ihre Toleranz eigentlich grenzenlos?«, fragte Sibylle. Dann trank sie den letzten Schluck und lehnte sich zurück. »Eigentlich bin ich schon wieder müde. Ich bin nur noch müde, Marietta. Die Jagd nach dem Erfolg fordert Opfer. Ich bin ziemlich am Ende.«

»Das dürfen Sie nicht sagen.«

Noch einen Blick warf ihr Sibylle zu, dann schloss sie die Augen.

»Ich möchte schlafen, nur noch schlafen«, murmelte sie.

*

Heinrich Fink war kein hoffnungsloser Fall, und wenn er eine gute Stunde hatte, konnte man auch mit ihm reden. Hella Fink hatte ziemlich lange auf diese gute Stunde warten müssen. An diesem Tag war er gutgelaunt nach Hause gekommen, und auch ziemlich früh.

»Wo ist Sandra?«, fragte er. Nach den beiden Großen erkundigte er sich schon gar nicht mehr.

»Sie ist bei Dr. Laurin eingeladen.«

»Na ja, dagegen ist nichts zu sagen. Sie könnte sich an den Zwillingen ein Beispiel nehmen. Bei denen gibt es keine Fünfen.«

Wenn er nur nicht wieder brummig wird, dachte Hella Fink.

»Sie nimmt sich ja ein Beispiel, Heinz«, sagte sie. »Aber das Kind kann vor lauter Angst gar nicht mehr denken.«

»Warum hat sie Angst?«, fragte er erstaunt.

»Nun, schon deshalb, weil du ein paar Mal operiert werden musstest. So etwas nimmt sich ein Kind doch auch zu Herzen, und dann, mir geht es eben auch nicht mehr so gut wie früher, das spürt sie.«

»Was fehlt dir, Hella?«, fragte er besorgt.

»Ich bin nervös und kribbelig, und da schnauze ich sie auch schon mal an. Wenn man in die Wechseljahre kommt, hat man eben seine Wehwehchen, das sagt Dr. Laurin auch. Öfter mal ausspannen soll ich, und du auch, und zwar ohne Kinder.«

»Ich habe durch die Krankheit schon zuviel Zeit verloren«, sagte er brummig.

»Ach was. Was haben wir denn von dem Geld, wenn wir nicht gesund sind, und was haben wir vom Leben, wenn wir uns dauernd ärgern? Die Kinder müssen sich doch einmal allein durchbeißen. Eintrichtern kann man ihnen die Weisheit nicht. Und je mehr man an ihnen herumkritisiert, desto schlimmer wird es. Schau, wenn Sandra es nicht schafft, schicken wir sie auf die Handelsschule.«

»Und wenn sie dann den nötigen Verstand hat, wirft sie uns vor, dass wir sie nicht das Abitur machen ließen. Ich weiß doch, wie es bei mir war.«

»Gut, dass du dich erinnerst«, sagte sie mit einem feinen Lächeln.

»Bist du nun zufrieden?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

»Du meinst, dass du es ganz schlau angefangen hast, um deinen ›Alten‹ weich zu machen, aber ich kenne dich zu gut, Hella.«

»Du bist kein ›Alter‹, du sollst dich nur nicht mehr so viel ärgern, dann fühlst du dich auch besser.«

»Das hat dir bestimmt Dr. Laurin gesagt. Ist er etwa dein Beichtvater?«

Sie errötete. »Man kann so gut mit ihm reden. Er ist ein feiner Mensch und ein hervorragender Arzt, und die Laurins haben ein vorbildliches Familienleben.«

»Was man von uns nicht sagen kann, meinst du?«

»Wenn man zuviel erwartet, wird man enttäuscht, wenn man wenig erwartet, kann man sich eines Tages vielleicht freuen.«

»Dann soll sie halt in Gottes Namen sitzenbleiben«, platzte er heraus. »Aber sie bleibt auf dem Gymnasium, basta.«

Er griff nach ihrer Hand. »Ich will nicht, dass du auch noch krank wirst. Am Wochenende könnten wir einmal einen Ausflug machen. Aber die Kleine kommt mit, sonst habe ich keine Ruhe. Und dann werde ich auch mal mit ihr reden, damit sie nicht denkt, dass ihr Vater ihr den Kopf abreißt.«

*

Bei den Laurins wurde die Zeit nicht etwa verspielt, sondern es wurde eifrig gelernt. Zwei Arbeiten wurden vor den Zeugnissen noch geschrieben, in Mathematik und in Latein. In den beiden Fächern stand es schlecht um Sandra. Aber Konstantin hatte sich ausgerechnet, dass sie mindestens von einer Fünf herunterkommen könne, wenn sie in einem Fach eine Zwei schreiben würde.

»Das bringe ich nie fertig«, meinte Sandra, die noch kleiner und zierlicher war als Katja.

»So darf man gar nicht rangehen«, sagte er. »Du musst sagen, dass du es schaffen willst. Und wenigstens Latein kannst du schaffen. Das kann man sich einpauken.«

Kyra fand es höchst langweilig, dass sie einander in dieser komischen Sprache Vokabeln abhörten, und Kevin hatte dafür auch nicht viel übrig.

»Mich packt das kalte Grausen, Mami, wenn ich das erst einmal lernen muss«, sagte er.

»Du kannst ja mit Englisch anfangen.«

»Das wird aber Papi nicht wollen.«

»Er wird nichts dagegen haben, wenn du es willst.«

»Ich muss es mir überlegen. Latein kann man wenigstens so schreiben, wie man es spricht, aber Englisch ist vielleicht noch schwerer. Wenn Sandra es bloß noch schaffen würde«, schloss er seufzend. »Sie ist so nett.«

Sie war wirklich ein reizendes Kind, und jetzt war sie mit Feuereifer dabei.

»Es ist schön, wenn man Geschwister hat, mit denen man lernen kann«, sagte sie nachdenklich. »Meine sind ja so alt.«

Ob Kyra das auch mal sagen wird, ging es Antonia durch den Sinn. Doch sie wies diesen Gedanken von sich. Nein, bei ihnen war es anders.

Wirklich? Wer konnte es wissen? Manchmal bekam sie es ein bisschen mit der Angst, weil es bei ihnen so gar keine Schwierigkeiten mit den Kindern gab. Und auch sonst nicht. War es nicht fast zuviel des Glückes, wenn man miterlebte, was in anderen Familien so alles geschah?

Unwillkürlich faltete Antonia die Hände. Lieber Gott, betete sie, lass es so bleiben. Ich bin ja so dankbar für jeden Tag, der gut zu Ende geht.

Was soll nur werden?, dachte dagegen Jan Kollander. Wie werden es die Kinder aufnehmen?

Dass ihre Mama in die Klinik gebracht werden musste, hatten sie ziemlich gleichmütig aufgenommen. Katrin hatte es auch geradeheraus gesagt, und Fragen hatten sie nicht gestellt.

Katrin hatte ein gutes Herz, aber zart besaitet war sie nicht. Sie hatte von Sibylle auch schon einiges hinnehmen müssen.

Sie war auch froh, dass Frau Dümmler nicht mehr da war, die ihr dauernd hereingeredet hatte. Alexander und Ariane machten ihr nicht viel zu schaffen. Sie fragte sich jetzt, wozu sie überhaupt eine Extraaufsicht gebraucht hatten.

Katrin kam vom Lande und hatte nichts dafür übrig, dass so viel Getue um Kinder gemacht wurde. Allerdings regte sie sich gewaltig auf, wenn etwas mit den Zwillingen geschah, und dann machte sie ein großes Getue, als Alexander mit blutendem Knie heimkam.

»Gott, o Gott, auch das noch!«, jammerte sie.

»Reg’ dich nicht auf, Katrin, so schlimm ist das nicht«, beruhigte Alexander sie. »Davon stirbt man nicht.«

Aber als Jan heimkam, war das Knie dick, und den Schmerz konnte Alexander nicht mehr verheimlichen. Jan erinnerte sich daran, dass eigentlich die Tetanusimpfung schon wiederholt sein sollte.

»Du kommst mit zur Klinik«, sagte er. »Das soll sich Dr. Sternberg ansehen.«

»Ich bleibe aber nicht in der Klinik«, erklärte Alexander bockig. »Jetzt ist es so gemütlich zu Hause.«

Ariane wollte natürlich auch mitfahren, und Katrin meinte nun doch, dass der Herr Doktor es nicht so leicht hatte mit diesen beiden lebhaften Kindern. Ja, früher, als die Marietta noch im Haus war, das war alles reibungslos gegangen. Katrin dachte sehr oft an diese Zeiten, wenn sie es auch nicht laut werden ließ.

*

Alexander hatte gewaltige Schmerzen, so tapfer er sie auch ertragen wollte. Sein Vater musste ihn in die Klinik tragen.

Und wieder kam Marietta daher. Jan sah sie nicht, und Alexander sah sie auch nicht, aber Ariane!

»Marietta!«, rief sie, und ihre Stimme überschlug sich fast.

Jan konnte es später nicht begreifen, wie es möglich war, dass Ariane sie sofort erkannt hatte. Man sagte doch, dass Kinder schnell vergaßen.

Marietta konnte nicht weitergehen. Ariane hing an ihrem Hals, und Alexander wollte es ihr gleich tun.

»Alex hat ein schlimmes Knie«, sagte Ariane. »Kennst du uns wirklich noch, Marietta?«

»Freilich kenne ich euch«, antwortete Marietta verhalten.

»Und Papi kennst du auch noch?«

Marietta nickte.

»Darf ich bei Marietta bleiben, Papi?«, fragte Ariane.

»Ich will auch bleiben«, maulte Alexander.

»Dich bringe ich zu Dr. Sternberg«, sagte Jan. »Marietta wird keine Zeit haben.«

Marietta wurde von widersprüchlichen Empfindungen bewegt. Verstand oder Gefühl, wem sollte sie nachgeben?

Das Gefühl siegte.

»Doch, ich habe Zeit. Ich bin eben abgelöst worden. Was hast du denn gemacht, Alexander?«

»Hingefallen ist er«, erklärte Ariane. »Ganz blöd, in so einen alten Stacheldraht hinein.«

»Gut, dass ich das erfahre«, sagte Jan.

»Wir wollten Katrin nicht aufregen«, meinte Ariane entschuldigend.

»Und du kannst jetzt bei Marietta bleiben«, beschwerte sich Alexander.

»Wir sehen uns nachher auch noch, Alexander«, tröstete Marietta liebevoll.

»Bestimmt?«

»Ja, bestimmt.« Marietta fing einen dankbaren Blick von Jan auf, und ihr Herz begann schmerzhaft zu schlagen. Leicht war es eben doch nicht, ihn zu sehen und ihn jetzt wohl noch oft zu sehen. Sie hatte gemeint, dass ihre Liebe nun doch zum Schweigen gekommen wäre, wenn es auch niemals ein Vergessen geben würde. Aber was so tief saß, konnte man nicht aus dem Herzen reißen. Sie liebte ihn eben, und er war nicht frei! Und da sich nun Ariane an sie schmiegte mit einem glückseligen Lächeln, war es vollends unmöglich.

»Warum bist du hier, Marietta? Warum bist du nicht bei uns?«, fragte Ariane.

»Ihr seid doch schon groß«, antwortete Marietta ausweichend.

Sie hatten sich viel zu erzählen.

Marietta ging mit Ariane hinaus in den Park, während auf der chirurgischen Station festgestellt wurde, dass Alexander einen Meniskusriss hatte und außerdem eine Tetanusspritze dringend nötig war.

»Wenn Marietta hier ist, bleibe ich gerne in der Klinik, Papi«, erklärte Alexander.

Er sollte sowieso zur Beobachtung bleiben, aber Dr. Sternberg musste ihm erklären, dass Marietta für die Frauenstation zuständig war. Das behagte dem Jungen nicht.

»Dann will ich lieber nach Hause.«

»Marietta könnte dich ja besuchen«, sagte Dr. Sternberg.

Alexanders Gesicht hellte sich auf.

»Aber Ariane wird schön sauer sein«, sagte er.

Und wie sauer sie war! Dafür wollte sie Marietta jetzt ganz für sich haben.

»Marietta möchte sicher heimfahren«, sagte Jan.

»Ich könnte Ariane mitnehmen«, schlug Marietta vor. »Nachher könnten Sie sie abholen. Mein Bruder macht sich Sorgen, wenn ich zu lange ausbleibe.«

Jobst durfte sie nicht vernachlässigen, wusste sie doch nun, welche Enttäuschung er mit Gaby erlebt hatte und um wie viel mehr er nun an ihr hing, die ihn bisher niemals enttäuscht hatte.

»Sag doch ja, Papi«, flehte Ariane.

»Ist es immer noch die gleiche Adresse?«, fragte Jan.

»Immer noch.« Sie sah ihn nicht an. Jäh wurde ihr bewusst, wie leicht er sie einmal hätte besuchen können, aber daran hatte er wohl nie gedacht.

Und es war gut so. Es hatte keine Probleme gegeben. Jeder war seinen Weg gegangen, und nun hatten sie sich wieder getroffen. Es war so bestimmt, doch Marietta verknüpfte damit keine Wünsche.

*

Als Jan Sibylles Krankenzimmer betrat, schlug sie die Augen auf. Sie hatte vor sich hingedämmert. Vieles war ihr durch den Kopf gegangen.

»Wie geht es dir?«, fragte Jan.

»Ganz gut. Marietta ist hier. Hast du sie schon getroffen?«

Er nickte. Er wollte nicht lügen, wenngleich er fürchten musste, dass sie nun wieder Anschuldigungen hervorbrachte.

Doch die blieben aus.

»Es ist sehr beruhigend für mich«, sagte Sibylle zu seinem Erstaunen. »Sie tut mir jeden Gefallen. Meinst du nicht, dass es möglich wäre, dass sie wieder zu uns kommt? Ich werde doch wahrscheinlich länger hierbleiben müssen.«

»Soviel ich weiß, studiert sie Medizin. Sie hat es mir gesagt. Sie hilft hier nur in den Semesterferien aus.«

»Wir könnten ihr mehr Geld bieten, Jan.« Er war so aus der Fassung gebracht, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.

»Natürlich hätte ich sie gerne um mich, aber ich bin ja nicht so wichtig wie die Kinder.«

Jan geriet noch mehr aus der Fassung.

»Es ist mir unmöglich, sie darum zu bitten, Sibylle«, sagte er heiser.

»Dann werde ich es tun. In ein paar Tagen vielleicht. Frau Dümmler könntest du entlassen.«

»Das habe ich bereits gestern getan.«

»Aber dann sind die Kinder ja ohne Aufsicht.«

»Katrin kümmert sich schon um sie. Mach dir darüber keine Gedanken.«

»Ich habe bisher nicht viel für die Kinder getan, und ich werde es auch nicht nachholen können. Warum hast du bei mir ausgehalten, Jan?«

Er war betroffen und erschüttert.

»Wir sind verheiratet, Sibylle.«

»Wir schworen uns Treue. Bis dass der Tod uns scheidet«, sagte sie schleppend. »Ich war dir nicht immer treu.«

»Sprich nicht darüber. Du sollst nicht soviel denken, du sollst viel schlafen.«

»Ja«, nickte sie. »Ich bin immer müde.«

Und vielleicht weiß sie auch nicht mehr, was sie spricht, dachte er, aber dann fing er einen Blick auf, der das Gegenteil bewies. Der Blick war forschend und unergründlich zugleich. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm bis in die Seele schaute.

Wie kam es nur, dass sie so freundlich von Marietta sprach? Es wollte ihm nicht in den Sinn, dass sie Marietta sogar wieder im Hause wissen wollte. Unerklärlich war ihm diese Wandlung, aber es mochte ja sein, dass sie morgen wieder ganz anders denken und sprechen würde.

*

Jan ging noch einmal hinüber zu Alexander, den man in ein kleines Zimmer gelegt hatte. Er hatte eine Spritze bekommen und schlief nun auch.

Dr. Eckart Sternberg war noch in der Klinik. Ein Unglück kommt selten allein, dachte er, als er Jan nachblickte. Aber Alexander würde bald wieder daheim sein, während Sibylle Kollander …

Dr. Sternberg wollte jetzt nicht weiterdenken.

Alexander hatte ihm schwärmerisch von Marietta berichtet. Auch er war erstaunt, wie gut sich der Junge zurückerinnern konnte. Die Zwillinge mussten sehr viel über Marietta gesprochen haben.

Auch Marietta selbst kam aus dem Staunen nicht heraus, als Ariane immer wieder sagte: »Weißt du noch?«

An kleine unwichtige Begebenheiten wurde sie erinnert. Von ihrer Mutter sprach Ariane nicht.

Jobst war noch einmal kurz weggegangen. Er kam zurück, als Jan gerade auf die Türklingel drückte.

Die beiden Männer maßen sich mit einem langen forschenden Blick.

»Ich bin Jobst Feldmann«, sagte Jobst.

»Herr Dr. Kollander?«

Jan nickte zustimmend. Dann machte Marietta die Tür auch schon auf. Ariane war an ihrer Seite.

»Du bist ja schon da, Papi. Die Zeit ist aber schnell vergangen.«

»Ich meine, dass es schon ziemlich spät geworden ist«, sagte Jan.

»Wo ist Alexander?«

»Er muss ein paar Tage in der Klinik bleiben.«

Ariane war tief bekümmert. Es war das erste Mal, dass sie von ihrem Zwillingsbruder getrennt war. »Und nun kann er gar nicht zur Schule gehen.«

»Wir werden ihn jeden Tag besuchen«, wurde sie von ihrem Vater getröstet.

»Dann sehe ich dich auch jeden Tag, Marietta«, freute sich Ariane nun.

»Einstweilen herzlichen Dank für alles«, sagte Jan zu Marietta gewandt.

Von Ariane bekam sie noch einen Kuss, von Jan einen festen Händedruck.

»Für alles«, wiederholte Jobst gedankenvoll, als sie allein waren. »Er also ist es!«

»Was meinst du damit?«, fragte Marietta.

»Eine logische Folgerung. Du warst fünf Jahre bei ihnen und bist nicht vergessen.

Und du hast auch nicht vergessen. Du bist ein hübsches Mädchen und hast nie Interesse für einen anderen Mann gezeigt. Ich habe Augen im Kopf, Marietta.«

»Und viel Fantasie«, sagte sie.

»Wir brauchen uns doch nichts vorzumachen. Er ist ein interessanter Mann, aber er ist verheiratet.«

»Genau, und deshalb gib dich nicht überflüssigen Gedanken hin.«

Sie wollte jetzt nicht sagen, dass Sibylle todkrank in der Klinik lag und auch von ihr gepflegt wurde.

Ein langes Schweigen war zwischen ihnen, dann sagte Jobst leise:

»Du bist ein großartiges Mädchen, Marietta. Du hättest ein ganz großes Glück verdient. Was hast du schon von deiner Jugend gehabt, woran du dich gern zurückerinnern würdest?«

»Du hast es ja vorhin erlebt. Ich habe beglückende Jahre mit zwei Kindern verbracht. Es ist wunderschön, dass sie mich nicht vergessen haben. Und außerdem habe ich einen sehr, sehr netten Bruder.«

Woher nahm sie nur diese innere Ruhe, diese Reife und Güte? Jobst war es unbegreiflich. Marietta war doch noch so jung.

Nein, bange brauchte ihm nicht um sie zu sein, aber es schmerzte ihn, dass sie mit einer unerfüllten Liebe lebte, die doch dazu geboren schien, einen Mann glücklich zu machen, Kindern eine liebevolle Mutter zu sein.

*

Drei Tage war Sibylle nun schon in der Klinik, und es schien, als sei eine leichte Besserung in ihrem Befinden eingetreten. Hoffnung gab diese den Ärzten nicht. Sie kannten das Auf und Nieder bei diesen Krankheiten. Was jedoch jeden in Erstaunen setzte, war die Geduld, die sie an den Tag legte.

Jede freie Minute verbrachte Marietta bei Alexander, der sich sehr rasch erholte. Gleich nach dem Mittagessen brachte Katrin Ariane zur Klinik. Sie hielt sich dann nicht lange auf, während Ariane bei ihrem Bruder blieb, bis Mariettas Dienst beendet war.

Sibylle hatte noch nicht den Wunsch geäußert, ihre Kinder zu sehen.

Es war Sibylle auch verschwiegen worden, dass Alexander ebenfalls in der Klinik lag. Es gab Stunden, in denen sie ganz gegenwärtig war, Zeitungen las, sogar schrieb, dann aber folgten wieder solche der völligen Apathie.

Dr. Laurin unterhielt sich oft mit seinem Freund und Kollegen Dr. Petersen über diese Patientin, die ihm mehr und mehr Rätsel aufgab. Dr. Petersen kannte sie ja nicht von früher. Er war noch nicht an der Prof.-Kayser-Klinik tätig, als Sibylle die Zwillinge zur Welt gebracht hatte.

»Sollte sie doch um ihren wahren Zustand wissen?«, überlegte Dr. Laurin. »Sie begehrt nicht auf, sie wehrt sich nicht. Jedem, der sie von früher kennt, muss es unbegreiflich sein. Und dann ihr Verhältnis zu Marietta …« Er unterbrach sich und schwieg nachdenklich.

»Die Krankheit, die die Psyche verändert«, stellte Dr. Petersen fest. »Die Sanften werden aufsässig, die Widerspenstigen sanft. Aber es kann doch noch ziemlich lange dauern, Leon. Willst du sie so lange in der Klinik behalten? Sie ist doch kein Fall für unsere Station.«

»Aber zu Hause sind zwei Kinder, und sie braucht ständige Pflege. Sie hat auch noch nicht den Wunsch geäußert, nach Hause zurückzukehren.«

»Sie äußert überhaupt keine Wünsche, außer dass Marietta soviel wie möglich bei ihr ist. Meinst du nicht, dass sie damit überfordert wird?«

»Ich werde mit ihr sprechen«, erwiderte Dr. Laurin.

Während der nächsten Tage kam er aber nicht dazu, denn es war sehr viel zu tun. Dann trat plötzlich eine Verschlechterung in Sibylles Befinden ein.

Es war der Samstag, an dem Alexander aus der Klinik entlassen wurde. Jan holte ihn ab. Er war vorher nicht bei Sibylle gewesen, er wollte erst am Nachmittag kommen.

Sibylle hatte an diesem Morgen erklärt, dass sie sich so wohl fühle, dass sie aufstehen könne. Es gab keine Einwände.

Sie sollte alles das tun, was sie gern tun wollte.

Sie ging an Mariettas Arm im Zimmer hin und her. »Ich habe es Ihnen zu verdanken, dass mir so viel wohler ist«, sagte Sibylle mit einer eigentümlichen Betonung, die Marietta jedoch nicht bewusst wurde.

»Das freut mich«, erwiderte sie. »Nun setzen Sie sich eine Weile ans Fenster. Zuviel dürfen Sie sich nicht gleich zumuten, Frau Kollander.«

»Was fehlt mir eigentlich? Wollen Sie mir nicht die Wahrheit sagen, Marietta?«, bohrte Sibylle weiter.

»Es ist ein allgemeiner Schwächezustand«, erwiderte Marietta ausweichend.

Sibylle setzte sich in den Sessel am Fenster. »Ich darf Sie nicht von der Arbeit abhalten«, sagte sie müde. »Wenn Sie nachher wieder ein biss­chen Zeit für mich haben, würde ich mich freuen.«

»Möchten Sie etwas lesen? Ich lasse Ihnen ein paar Zeitschriften bringen.«

»Ja, danke. Sie sind sehr lieb.«

Schwester Irma brachte die Zeitschriften. Aber Sibylle schien das gar nicht zu bemerken. Sie starrte zum Fenster hinaus.