Easy Flossing - Sven Kruse - E-Book

Easy Flossing E-Book

Sven Kruse

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten betreut der Autor als Sportphysiotherapeut Athleten. Dabei setzt er Easy Flossing therapieunterstützend ein. Easy Flossing ist das vorübergehende Umwickeln von Gelenken oder Körperteilen mit elastischen Latexbändern mit dem Ziel, Schmerzen zu lindern, den Stoffwechsel anzuregen sowie Kraft und Beweglichkeit zu verbessern. Dieses Buch zeigt verständlich und praxisnah, wie sich die Wirkung der Therapie von Bewegungseinschränkungen und Schmerzen dank Easy Flossing steigern lässt. Der Schwerpunkt liegt auf dem richtigen Anlegen der Flossing-Bänder und den verschiedenen Wickeltechniken. - Wirkweise der Therapie - Indikationen für das Easy Flossing - Materialkunde Flossing-Bänder - Anlage an Gelenken, für das Myofasziale System, muskuläre Anlage usw. mit vielen Fotos und Fallbeispielen - Hypothesen zu den noch zu erforschenden Effekten des Flossings

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Seitenzahl: 241

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Easy Flossing

Sven Kruse

Unter Mitarbeit von Johannes Ermel

160 Abbildungen

Vorwort

Sven Kruse

Seit Jahrzehnten betreue ich als Physiotherapeut Athleten unterschiedlichster Disziplinen, darunter zahlreiche Olympiateilnehmer. Der Schwerpunkt meiner Tätigkeit im Leistungssport liegt allerdings beim Eishockey. Verletzt sich dabei ein Sportler, ist vor allem eins gefragt: Schnelligkeit. Schnelligkeit bei der Entscheidung, was zu tun ist, und Schnelligkeit bei der Entscheidung, ob der Sportler wieder aufs Eis darf. Auch beim Behandeln hat man nicht viel Zeit, denn jede Verzögerung kann nicht nur den Spielverlauf, sondern auch den Heilungsverlauf negativ beeinflussen. Manchmal muss man sich dabei auch auf sein Gespür und seine Erfahrung verlassen und Dinge tun, die man zuvor so noch nicht gemacht hat. Man muss gewissermaßen experimentieren.

So begann auch meine Erfahrung mit dem Flossing. Als ich im Rahmen meiner Crossfit-Ausbildung im Jahr 2013 die festen Latexbänder kennenlernte, die dort v.a. zum Mobilisieren eingesetzt wurden, wurde ich schnell neugierig. Einerseits waren mir die Bänder nicht ganz unbekannt, weil amerikanische Eishockeyspieler diese Bänder immer wieder beim Aufwärmen einsetzten. Andererseits erinnerte manches daran an eigene Erfahrungen, die ich im Kraftsport mit ▶ Fahrradschläuchen gemacht hatte. Schon bei nächster Gelegenheit probierte ich an mir selbst und einigen Athleten aus, welche Wirkung das Abbinden mit diesen Bändern auf den Organismus hat. Die Bänder habe ich mir 2014 in den USA besorgt, wo deren Verwendung in Athletenkreisen schon länger in Mode war.

Beim Weltkongress der Physiotherapeuten in Singapur im Jahr 2015 kam schließlich der Kontakt mit der Firma Sanctband zustande, einem führenden Hersteller von Therapie- und Trainingsprodukten in Asien. Importeur der Bänder in Deutschland ist die Firma Wagus, vertreten von Inhaber und Geschäftsführer Bernd Becker. Gemeinsam hatten wir die Idee, Bänder für das Flossing herzustellen, die mehreren Ansprüchen genügen sollten: Wir wollten stabile, hautverträgliche Bänder, die möglichst von allen Patienten vertragen werden. Die Bänder sollten eine optimale Länge haben, um möglichst vielseitig einsetzbar zu sein. Und die Bänder sollten unterschiedliche Stärken aufweisen, um den unterschiedlichen Bindegewebstypen und Einsatzzwecken gerecht zu werden.

Nach mehreren Versuchen einigten wir uns darauf, die Bänder in vier Stärken herstellen zu lassen. Mit 2,50 m Länge und 5 cm Breite wurde ein Maß gefunden, das den Einsatz der Bänder an oberen und unteren Extremitäten und auch am Rumpf ermöglichte. Später kamen schmalere Bänder (2,5 cm) hinzu, die für das Flossen von Fingern und Zehen geeignet sind. Schließlich Bänder mit 7,5 cm Breite und inzwischen sogar Bänder mit 3,5 m Länge für besondere Einsatzzwecke.

Begleitend zum vermehrten Einsatz der Flossbänder unterrichtete ich zunächst Mitarbeiter und seit 2015 auch andere interessierte Ärzte und Therapeuten. Die Easy Flossing Academy bildet inzwischen mit einem eigens geschulten Lehrteam im gesamten deutschsprachigen Raum, in Polen, den Niederlanden, Spanien, Slowenien, Griechenland, mehreren asiatischen Ländern und Südafrika regelmäßig Therapeuten aus, die mit Easy Flossing ihr therapeutisches Spektrum erweitern wollen.

Bedanken möchte ich mich bei meiner Mitarbeiterin Cordula Schönthaler, die für mich alle organisatorischen Aufgaben übernommen hat. Auch Mitarbeiter aus meinem Praxis und Lehrerteam haben ihren Anteil an dem Gelingen des Buchprojekts. Mit ihren Fragen und Anregungen und mit z.T. erheblichem Aufwand haben sie mir bei der Recherche und Erstellung des Kursmanuskriptes, das diesem Buch zugrunde liegt, geholfen. Dem Thieme Verlag und insbesondere dem Lektor Johannes Ermel danke ich für gute Zusammenarbeit und die große Geduld, die angesichts meiner beruflichen Belastung und wegen der vielen Verpflichtungen bei der Bearbeitung des Manuskriptes erforderlich war. Auch bei den Modellen, die bei den Aufnahmen geduldig die Anlagen der Flossingbänder ertrugen, möchte ich mich bedanken und wünsche allen Lesern viele Therapieerfolge mit Easy Flossing.

Iserlohn, im September 2017

Easy Flossing

Easy Flossing ist das vorübergehende Umwickeln von Gelenken oder Körperteilen mit elastischen Latexbändern mit dem Ziel, Schmerzen zu lindern, den Stoffwechsel anzuregen sowie Kraft und Beweglichkeit zu verbessern.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einführung

1.1 Geschichte

2 Bindegewebe

2.1 Aufbau und Funktion

2.1.1 Zellen

2.1.2 Fasern

2.1.3 Extrazelluläre Matrix

2.2 Ernährung des Bindegewebes

2.3 Klassifikation des Bindegewebes

2.3.1 Lockeres Bindegewebe

2.3.2 Dichtes oder faseriges Bindegewebe

3 Myofasziales System

3.1 Fasziales Netzwerk

3.1.1 Fernwirkungen im Fasziennetz

3.1.2 Myers Anatomy Trains

3.2 Anatomie der Faszien

3.2.1 Subkutangewebe

3.2.2 Oberflächliches Fettgewebe

3.2.3 Fascia superficialis (oberflächliche Faszie)

3.2.4 Tiefes Fettgewebe

3.2.5 Fascia profunda

3.2.6 Aponeurotische und epimysiale Faszien

3.3 Mechanische Eigenschaften

3.3.1 Elastizität

3.3.2 Plastizität

3.4 Kommunikation

3.4.1 Kommunikation im Fasziennetz

3.4.2 Kommunikation mit anderen Netzwerken

3.5 Ursachen für Veränderungen im myofaszialen System

3.5.1 Chronische Fehlbelastungen und Stress

3.5.2 Verletzungen

3.5.3 Immobilität und Alter

3.5.4 Sonstige Faktoren

4 Wirkweisen und Hypothesen

4.1 Myofasziale Kompression

4.1.1 Gelenkdistraktion

4.1.2 Separierende Translation der interfaszialen Etagen bei Bewegung

4.1.3 Stimulation von Hautafferenzen, Mechanorezeptoren und freien Nervenendigungen

4.1.4 Flüssigkeits- und Blutstau

4.1.5 Mechanotransduktion

4.1.6 Aufbrechen von Makromolekülen

4.2 Refill

4.2.1 Rehydration

4.2.2 Verbesserte Viskoelastizität/Verbesserung der Mobilität

4.3 Releasing

4.3.1 Fest, aber sanft

4.3.2 Druckinhibition

4.3.3 Rhythmische Bewegungen

4.4 Movement Development

4.4.1 Verbesserte Propriozeption

4.4.2 Verbesserte inter- und intramuskuläre Koordination

4.4.3 Bessere Rekrutierung von Muskelfasern („Strength Performance“)

4.4.4 Tonusregulation

4.4.5 Schmerzlinderung

4.4.6 Verbesserte Mobilität

4.5 Wundheilung

4.5.1 Akutphase

4.5.2 Umbauphase

4.6 Abschwellung/Wirkung auf das Lymphsystem

4.6.1 Verschiedene Ödemformen (Herpertz 2001)

4.6.2 Aufbau des Lymphgefäßsystems

4.6.3 Wirkmechanismen

5 Anwendungsgebiete, Indikationen und Kontraindikationen

5.1 Anwendungsgebiete

5.2 Indikationen

5.3 Kontraindikationen

6 Materialkunde

6.1 Latex

6.1.1 Verträglichkeit von Flossbändern aus Latex

6.2 Bandstärke

6.2.1 Vorteil der unterschiedlichen Bandstärken

6.3 Verschiedene Bandlängen und -breiten

6.4 Pflege und Desinfektion der Bänder

7 Prinzipien der Anwendung, allgemeine Richtlinien

7.1 Basis

7.2 Ermitteln der Anlagerichtung

7.2.1 Internal vs. external

7.2.2 Way of ease (indirekte Richtung)

7.2.3 Way of barrier (direkte Richtung)

7.3 Allgemeine Grundsätze

7.3.1 Von distal nach proximal

7.3.2 Schnell lösen!

7.3.3 Fascial Thrust

8 Praktische Durchführung

8.1 Vorbereitung

8.1.1 Aufklärung

8.1.2 Anamnese/Untersuchung

8.1.3 Entscheidung

8.2 Prozedere

8.2.1 Einschleichende Kompression

8.2.2 Steigerung

8.3 Behandlungstechniken

8.3.1 Senken des Muskel- und Faszientonus

8.3.2 Steigern des Muskel- und Faszientonus

8.3.3 Mobilisation

8.3.4 Aktive Bewegungen

8.3.5 Spezifische Leistungsoptimierung (Corrective Exercises)

9 Applikationsformen

9.1 Gelenkanlagen

9.1.1 Easy Flossing der Gelenke

9.1.2 Großzehengrundgelenk

9.1.3 Oberes Sprunggelenk

9.1.4 Kniegelenk

9.1.5 Daumensattel- und Daumengrundgelenk

9.1.6 Fingergelenke

9.1.7 Handgelenk

9.1.8 Ellenbogen

9.2 Sonderformen der Gelenkanlage

9.2.1 Glenohumeralgelenk

9.2.2 Hüftgelenk

9.3 Myofasziale Anlagen

9.3.1 Calcaneus

9.3.2 Achillessehne

9.3.3 Vorderes Schienbeinkantensyndrom (Shin splint), Fascia cruris

9.3.4 Fascia lata, Tractus iliotibialis (Abb. 9.31)

9.3.5 Subtuberale Anlage

9.3.6 Unterarm (Fascia antebrachii, Septum intermusculare mediale und laterale)

9.3.7 Epicondylitis

9.3.8 Fascia brachii (tiefe Oberarmfaszie, ventraler Anteil)

9.3.9 Fascia brachii, dorsaler Aspekt (M. triceps brachii)

9.3.10 Thorax

9.3.11 Applikationen am Becken (LWS/Pelvis)

9.3.12 Myofasziale Kombinationsanlage Schulter mit Relation Diaphragma

9.3.13 Kombinationsanlage Oberschenkel mit Relation zum Becken (Aufdehnung der Leistenregion)

9.4 Muskuläre Anlage (Sponge-Techniken)

9.4.1 Oberschenkel

9.4.2 Arm

9.5 Posttraumatische Anlage

9.6 Lymphanlage

9.6.1 Kontraindikationen

10 Fallbeispiele

10.1 Fußballspieler mit Sprunggelenksdistorsion

10.2 Männlicher Patient nach Polytrauma

10.2.1 Behandlung der Schulter

10.2.2 Behandlung des Handgelenks

10.3 Patientin mit Wadenschmerzen

10.4 Behandlungsbeispiele aus dem Leistungssport

10.4.1 Single Leg Squat

10.4.2 Deep Side Lunge

10.4.3 Kettlebell-Squat mit Kombinationsanlage

10.4.4 Walking Dumbell Lunges

11 Ausbildung Easy Flossing

11.1 Zielgruppe

11.2 Kursinhalte

11.3 Literatur

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Einführung

Flossbänder gehören inzwischen zum Handwerkszeug vieler Physiotherapeuten. Am Anfang belächelt, von manchen gar als Scharlatanerie bezeichnet, ist das Arbeiten mit den festen Latexbändern in der Fachwelt inzwischen längst etabliert. Dazu beigetragen haben neben dem verblüffenden Erfolg der Methode die breite Akzeptanz in sportmedizinischen und physiotherapeutischen Fachkreisen und die immer größere Bekanntheit der Technik, die zu einer vermehrten Nachfrage bei Sportlern und Patienten geführt hat.

Nachdem ich meine ersten Erfahrungen mit Flossing gemacht hatte, habe ich gemeinsam mit der Firma Sanctband und dem deutschen Importeur, der Firma Wagus, die ersten eigenen Flossbänder entwickelt. Mit der Zeit wurden diese Bänder immer mehr unseren Bedürfnissen angepasst. Dabei lag unser Augenmerk von Beginn an darauf, den unterschiedlichen Anforderungen und Zielsetzungen gerecht zu werden. Inzwischen stellt Sanctband die Flossbänder in unterschiedlicher Ausführung her ( ▶ Abb. 6.1). So findet man für jede Indikation und jeden Patienten immer ein geeignetes Band – Easy Flossing eben.

In dem vorliegenden Buch stelle ich mein Konzept vor und erkläre die unterschiedlichen Anwendungsbereiche ( ▶ Tab. 1.1). Die Effektivität der Technik hängt stark von dem richtigen Einsatz der Bänder ab. Das stellen meine Kollegen und ich in der Praxis und bei zahlreichen Lehrgängen täglich fest. In Kap. ▶ 6 erkläre ich Ihnen, wie Sie das jeweils geeignete Band auswählen und ein optimales Behandlungsergebnis erzielen.

Tab. 1.1

 Indikationen und Wirkungen von Easy Flossing.

Indikationen

Wirkungen

Bewegungseinschränkungen

Verbessern der Gelenkbeweglichkeit

Schmerzen am Bewegungsapparat

Schmerzreduktion

Koordinationsstörungen

Verbessern der inter- und intramuskulären Koordination und der Propriozeption

hohe Verletzungsanfälligkeit/Rezidivprophylaxe

Verbessern der Rekrutierung von Muskelfasern

posttraumatische Funktionsstörungen

Verbessern der Propriozeption

Adhäsionen von Narben und Bindegewebe

Lösen von Adhäsionen und Crosslinks

Unterstützen der Wundheilung, Regeneration

Ausschwemmen von Mediatoren

Schwellungen unterschiedlicher Genese (posttraumatisch, Ödeme)

Verbessern des Lymphabflusses (Drainagefunktion)

Die Liste der hier aufgezählten Indikationen für Easy Flossing nennt die häufigsten Anwendungsbereiche. Sicherlich gibt es weitere Indikationen, bei denen Flossing mit Erfolg eingesetzt werden kann. Die genannten Wirkungen haben wir in der täglichen Arbeit mit dem Flossband beobachtet. Für die meisten gibt es bisher keine wissenschaftlichen Belege, weil das Flossen eine noch relativ neue Technik ist. Die wahrscheinlichen Wirkmechanismen werden in Kap. ▶ 4 genauer beschrieben.

Lag der Schwerpunkt beim Flossen zunächst darauf, bewegungsabhängige Schmerzen zu verringern und die Beweglichkeit zu verbessern, setzen mein Team und ich Flossing heute auch zur Verbesserung der Bewegungskoordination, zur besseren Kraftgenerierung, unmittelbar nach Verletzungen und zu vielen anderen Zwecken ein. In Kap. ▶ 5.2 finden Sie die entsprechenden Indikationen.

Hinweis

Auch wenn wir in diesem Buch versuchen, sämtliche Anlageformen in Wort und Bild genau darzustellen, ersetzt dies nicht die Schulung bei einem erfahren Lehrer unseres Teams.

Ein weiteres Ziel dieses Buches ist es, Ihnen die Wirkung unserer Methode zu erklären. Daher freue ich mich, Ihnen erstmals die Ergebnisse einer Studie präsentieren können, in der wir die Wirksamkeit der Methode bei Epicondylitis wissenschaftlich belegen konnten ( ▶ [30]). Aktuell wird diese Studie zur Veröffentlichung vorbereitet. Es gibt inzwischen auch eine Arbeit aus Neuseeland, in der die Wirkung von Flossing auf die Beweglichkeit des oberen Sprunggelenks und die Sprunghöhe untersucht wurde ( ▶ [11]). Dabei kamen die Autoren zu der Erkenntnis, dass das Flossingband sowohl für die Prävention von Verletzungen als auch für die Verbesserung der Leistungsfähigkeit eingesetzt werden kann. Es bleibt abzuwarten, welche Erkenntnisse weitere Studien, die sicher bald folgen werden, zutage fördern.

Neben den genannten Studien gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, insbesondere aus dem Gebiet der Faszienforschung, die die Wirkung der Methode schlüssig begründen. Nicht zuletzt gibt uns der Erfolg des Easy-Flossing-Konzepts recht. Täglich berichten uns Patienten und Athleten, wie gut ihnen Flossing geholfen hat.

1.1 Geschichte

Schon in der Antike bandagierten sich die Sportler und Gladiatoren vor Wettkämpfe Arme und Beine. Gefertigt wurden die Bandagen häufig aus Leder oder aber aus textilen Materialien. Sie dienten einerseits dem eigenen Schutz, sollten aber auch die Wirkung eigener Angriffe verstärken. Bei Sportarten wie dem Boxen oder Karate schützten Bandagen auch heute noch die Fäuste vor Verletzungen.

Eine andere Verwendung von Bandagen findet man bei der Versorgung von Verletzungen. Nach Prellungen und Verstauchungen unterstützen Wickel und Bandagen die Heilung und sollen auch verhindern, dass die betroffene Extremität weitere Schäden erleidet.

Mit abgestufter, flächiger Kompression mithilfe von Binden oder speziell angefertigten Bandagen und Strümpfen unterstützt man außerdem den venösen Rückstrom und hilft, lymphpflichtige Lasten aus dem Gewebe zu entfernen. In diesem Fall unterstützen die Bandagen die Regeneration oder dienen der Prävention von Ödemen.

Der japanische Mediziner Yoshiaki Sato hat bereits in den 60er-Jahren damit angefangen, im Training seine Extremitäten abzubinden, um mit weniger Gewicht einen höheren Erfolg zu erreichen. Zu Beginn der 70er-Jahre kamen im Kraftsport immer öfter Kompressionsbandagen zum Einsatz, die das Schmerzempfinden reduzierten und eine bessere Kraftentwicklung ermöglichen sollten (→ Fallbeispiel).

Fallbeispiel

Ich selbst habe in den 80er- und 90er-Jahren als Kraftsportler erstmals erfahren, wie Schmerzen nach dem Abbinden von Extremitäten plötzlich verschwinden. Im Training hatte ich große Schmerzen, wenn ich mich mit dem Gewicht auf den Schultern aus der Hocke aufrichten wollte. Nicht nur die Squats waren schmerzhaft, selbst beim Treppabgehen störte mich ein schmerzhaftes Stechen im Kniegelenk. Erst nachdem mir mein Trainer das Gelenk mit einem zerschnittenen Fahrradschlauch fest umwickelt hatte, konnte ich die Bewegungen wieder schmerzfrei ausführen. Auch andere Sportler experimentierten damals mit Fahrradschläuchen. Ähnliche Erfahrungen muss auch Kelly Starrett gemacht haben, als er begann, Athleten systematisch mit Latexbändern die Extremitäten abzubinden, und dabei den Begriff „Flossing“ etablierte.

Den positiven Effekt auf die Kraftentwicklung macht man sich seit einiger Zeit beim Okklusionstraining (auch „Blood Flow Resistance Training“, ▶ Abb. 1.1) zunutze, dessen Wirkung inzwischen mehrfach belegt werden konnte ▶ [4]; ▶ [58]). Dabei werden Extremitäten zu Beginn des Trainings für bis zu 15 min mit elastischen Bändern abgebunden. Dies hat den Effekt, dass der Einstrom arteriellen Bluts distal der abgebundenen Stelle reduziert wird, während der venöse Abtransport für die Dauer des Abbindens vollständig unterbrochen wird. Infolgedessen ändert sich das biochemische Milieu. Unter diesen Bedingungen ist ein effektives Hypertrophietraining schon mit relativ geringen Intensitäten (zwischen zehn und 40 Prozent der Maximalkraft) möglich. Verantwortlich dafür sind endokrine und zelluläre Reaktionen, die Veränderung des Laktatspiegels, eine vermehrte Gefäßneubildung und mechanische Effekte ( ▶ [8]).

Abb. 1.1 Beim Okklusionstraining bindet sich der Trainierende spezielle Bänder um Arm oder Bein.

Ende der 90er-Jahre des vergangenen und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde der Kompression vor allem ein leistungssteigernder und regenerationsfördernder Effekt zugeschrieben. 1998 lief die französische Fußballnationalmannschaft mit Gummistrümpfen auf in der Hoffnung, dadurch eine bessere Leistung zu erzielen. Später folgten die Schwimmer, die mit ihren engen Anzügen tatsächlich Rekord um Rekord erzielten ▶ [36]. Weltbekannt wurde Paul Biedermann, als er 2009 bei der Schwimm-WM in Rom mit einem solchen Anzug den Weltrekord über 200 und 400 m Freistil holte. Heute ist diese Methode der Leistungssteigerung im Schwimmsport bei Wettkämpfen verboten. Wegen des regenerationsfördernden Effekts werden die Anzüge im Training von Schwimmern, Gewichthebern und Kraftsportlern aber immer noch verwendet.

Kelly Starrett schließlich war der Erste, der zusammen mit Glen Cordoza in dem Buch „Werde ein geschmeidiger Leopard“ (im Original erschienen 2013 unter dem Titel „Becoming a Supple Leopard“) den Begriff Flossing in der aktuellen Bedeutung in die Literatur einführte ▶ [47]. Hatte man bis dahin beim Begriff „Flossing“ an den Einsatz von Zahnseide zum Reinigen der Zahnzwischenräume gedacht, bezeichnete Starrett damit das Abbinden von Gelenken und Extremitäten mit elastischen Latexbändern. Eigentlich verwendet er den Begriff „Vodoo-Flossing“, möglicherweise weil er sich die Effekte beim Flossing anfangs selbst nicht richtig erklären konnte.

Alles nur Zauber also? Keineswegs! Um zu verstehen, warum sich durch Kompression solch unterschiedliche Effekte wie Schmerzlinderung, Verbesserung der Mobilität und Regeneration oder Leistungssteigerung erzielen lassen, ist ein Ausflug in die Physiologie des Bindegewebes hilfreich.

2 Bindegewebe

2.1 Aufbau und Funktion

Das Bindegewebe ist das formgebende Gewebe des menschlichen Körpers. Eine wesentliche Aufgabe ist es, die vielen unterschiedlichen Organe und Gewebe miteinander zu verbinden und ihnen eine Struktur zu geben ▶ [48]).

Bindegewebe besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: Zellen, Fasern und Grundsubstanz (Extrazellulärmatrix) ( ▶ Abb. 2.1). Die verschiedenen Anteile haben unterschiedliche Funktionen:

Zellen regeln den Stoffwechsel

Fasern bestimmen die mechanischen Eigenschaften

Grundsubstanz sorgt für Verformbarkeit und Viskosität

Je nach Anteil der drei Grundbestandteile hat das Bindegewebe unterschiedliche Eigenschaften. Es gibt lockeres, zellreiches (Fettgewebe) und faseriges Bindegewebe (Sehnen, Bänder). Die Festigkeit dieser Gewebe wird in erster Linie von der Konsistenz der Grundsubstanz bestimmt, die von viskös bis fest (Knochen) sehr unterschiedlich sein kann▶ [48]).

Abb. 2.1 Die verschiedenen Bestandteile des Bindegewebes (nach ▶ [48].

2.1.1 Zellen

Der Mensch besteht aus einer nahezu unendlichen Zahl von Zellen. Diese stehen miteinander in Verbindung, bilden Zellverbände, die zu Organen differenzieren und durch die Makromoleküle und Fasern der Zellzwischenräume zusammengehalten werden.

Grundsätzlich verfügt jede Zelle über die wesentlichen Funktionen lebender Organismen: Stoffwechsel, Bewegung, Vermehrung (Zellteilung) sowie Kommunikation (Reizfortleitung). Trotz dieser Komplexität kann man vier grundlegende Zelltypen unterscheiden, weil verschiedene Zelltypen sich auf bestimmte Aufgaben spezialisiert haben ( ▶ Tab. 2.1). Aus diesen vier elementaren Zelltypen gehen alle Gewebe in unserem Körper hervor ▶ [24]).

Tab. 2.1

 Die vier elementaren Zelltypen. des menschlichen Organismus

Zelltyp

Hauptaufgabe

Nervenzelle

Informationsübertragung

Muskelzelle

Kontraktion

Epithelzellen

Ausbreitung auf Oberflächen, Aufnahme von Nährstoffen, Ausschüttung chemischer Stoffe (Hormone, Enzyme und andere Botenstoffe)

Bindegewebszellen

Synthese von unterschiedlichen Stoffen und Fasern, Abgabe in den Interzellularraum

Bindegewebszellen können besser als andere Zellen viele unterschiedliche Stoffe bzw. Fasern synthetisieren und diese in den Interzellularraum abgeben. Aus diesen Stoffen bilden sich dann spezifische Binde- und Stützgewebe wie beispielsweise Knochen, Knorpel und Gelenkkapseln, aber auch die Substanzen, die den Raum zwischen den Zellen ausfüllen und ihm seine Form geben: die extrazelluäre Matrix. Grundsätzlich unterscheidet man spezifische (ortsständige) und freie Bindegewebszellen.

2.1.1.1 Spezifische Bindegewebszellen

Spezifische Bindegewebszellen sind in der Regel ortsständig, können aber wandern und produzieren Bindegewebsfasern und die Grundsubstanz. Sie verfügen über Fortsätze, mit denen sie Kontakt zu benachbarten Zellen oder Matrixproteinen herstellen ( ▶ Abb. 2.2). Im Embryonalstadium sind sie noch wenig differenziert und können als Mesenchymzellen im Prinzip alle spezifischen Bindegewebe bilden. Später findet eine immer stärkere Ausdifferenzierung ortsständiger Bindegewebszellen statt. Diese bilden für jedes Gewebe einen unterschiedlichen „Fasermix“ ( ▶ Tab. 2.2).

Abb. 2.2 Typischer Aufbau einer Bindegewebszelle am Beispiel eines Fibroblasten (links). Mit den Fortsätzen können die Zellen in Kontakt mit benachbarten Zellen und Matrixproteinen treten.

Tab. 2.2

 Spezifische Bindegewebszellen.

Zelltyp

Vorkommen

Funktion

Besonderheit

Fibroblasten, Fibrozyten

in faserarmen und faserreichen Geweben mit ausreichendem Sauerstoffangebot

Produktion von Fasern und Grundsubstanz,

Freisetzung von Kollagenasen, die stabilisierende Verbindungen im Gewebe aufbrechen können

relativ hoher pH-Wert, niedriger Säuregrad des Gewebes

hoher Energieverbrauch

enthalten Stressfasern, die aus Aktin- und Myosinfilamenten bestehen und kontrahieren können

Myofibroblasten

u.a. Milz und Gefäßwand, bei Entzündungen und Verletzungen überall im Körper

wichtige Rolle bei der Wundheilung (Proliferationsphase)

enthalten große Mengen an Stessfasern

Chondroblasten/Chondrozyten

in sauerstoffarmen Geweben wie Knorpel, Disken, Menisken, Band- und Sehneninsertionen

Produktion von Fasern und Grundsubstanz

vorwiegend interstitielles Wachstum (von innen heraus)

niedriger pH-Wert, saures Gewebe

Osteoblasten

an den Rändern von Knochengewebe

bildet Knochengewebe

hoher Energieumsatz, benötigt viel Sauerstoff

Osteozyten

im Knochengewebe

ruht mit verminderter Syntheseleistung im Knochengewebe

werden wieder aktiv, wenn sie von Osteoklasten aus dem Knochen herausgelöst wurden

Die Bezeichnung „…blast“ und „…zyt“ weist auf unterschiedliches Alter bzw. Funktion von Zellen hin. Während „…blast“ (z.B. Osteoblast, Chondroblast) junge Zellen mit hoher Stoffwechselrate bezeichnet, kennzeichnet „…zyt“ (Osteozyt, Chondrozyt, etc.) ältere Zellen mit geringer oder ruhender Syntheseleistung ( ▶ [51]). Fibrozyten z.B. sind Fibroblasten mit geringer Syntheseleistung, sie können in Fibroblasten umgewandelt werden.

Fibroblasten

Fibroblasten sind für das Bindegewebe besonders wichtige Zellen. Sie produzieren fast alle Bestandteile, aus denen die Extrazelluläre Matrix (s.u.) aufgebaut ist. Man findet Fibroblasten überall im Bindegewebe, teils mit spezifischen Funktionen:

Myofibroblasten können sich dank großer Mengen kontraktiler Filamente im Zellinneren, die man Stressfasern nennt, wie glatte Muskelzellen aktiv zusammenziehen. Sie sind bei der Wundheilung besonders wichtig, weil sie in der Proliferationsphase das neu gewachsene Gewebe stabilisieren und mithelfen, die Wundränder zusammenzuziehen. Bei entzündlichen Prozessen wie rheumatischen Erkrankungen oder M. Dupuytren erhöht sich die Zahl aktiver Myofibroblasten.

Stimuliert wird die Aktivität von Myofibroblasten durch Wachstumsfaktoren, durch CO2, den pH-Wert in der Extrazellulären Matrix und die sympathische Reflexaktivität. Aber auch vasokonstriktive Stoffe wie Oxytocin und Antihistaminika haben einen Einfluss. An Faszien-Präparaten konnte gezeigt werden, dass für eine Kontraktion, die die Spannung der Faszie erhöht, mindestens 20 min benötigt werden; ein Prozess, der wahrscheinlich auf die Kontraktion der Myofibroblasten zurückzuführen ist. Vollständig entspannt sind sie erst nach mehreren Stunden. Der Einfluss auf die Spannung der Faszien macht sich erst bemerkbar, wenn viele Myofibroblasten gemeinsam aktiviert werden. Das Dehnen von Gewebe unter Myofibroblasteneinfluss ist wenig erfolgversprechend ▶ [51]; ▶ [27]).

Fibroblastische Retikulumzellen (es gibt auch andere) findet man im retikulären Bindegewebe. Mit ihren Fortsätzen bilden sie ein engmaschiges Netzwerk. Sie sind an der Bildung von Retikulinfasern und Grundsubstanz beteiligt.

2.1.1.2 Weitere Zellen, die sich im Bindegewebe befinden

Freie oder mobile Zellen des Immunsystems werden mit dem Blut in das Bindegewebe transportiert und können sich wie die Fibroblasten dort frei bewegen. Sie stammen von Knochenmarkszellen ab und übernehmen in erster Linie Aufgaben der Abwehr ▶ [45]).

Mastzellen

Kommen in fast allen Gewebearten vor, gehäuft u.a. in der Haut. Mastzellen setzen primäre Mediatoren wie Histamin, Heparin oder Leukotrien frei, die die Gefäßwände erweitern und deren Permeabilität erhöhen. Dadurch verbessert sich die Durchblutung des Gewebes. Außerdem setzen Mastzellen Stoffe frei, die wiederum die Bildung sekundärer Mediatoren wie Prostaglandin E2 fördern. Auch Prostaglandin E2 bewirkt eine Gefäßdilatation und erhöht die Durchlässigkeit der Gefäßwand. Diese Veränderungen unterstützen die Wundheilung ▶ [51]).

Makrophagen

Makrophagen sind langlebige, relativ große Abwehrzellen, die unterschiedliche körpereigene und körperfremde Zellen und Objekte regelrecht auffressen könnnen. Osteoklasten sind spezielle Makrophagen, die nur im Knochen vorkommen.

Leukozyten

Leukozyten gelangen durch die Gefäßwand ins Gewebe und beseitigen Fremdkörper und Zellreste. Man unterscheidet Granulozyten und Agranulozyten. Die Mehrzahl der Agranulozyten sind Lymphozyten, die v.a. im Lymphsystems besonders häufig anzutreffen sind. Nach Verletzungen und bei Entzündungen erhöht sich ihr Vorkommen im Bindegewebe.

Easy Flossing bei chronischen Entzündungen

Easy Flossing hat eine ähnlich heilungsfördernde Wirkung wie tiefe Massagen. Der gegenüber oberflächlichen Massagetechniken länger anhaltende Effekt tiefer Friktionen („Deep Friction“ nach Cyriax) beruht entweder auf der Freisetzung zell- bzw. gefäßaktiver Substanzen wie Histamin oder er kommt durch das gezielte Setzen kleiner Verletzungen zustande. Bei der Kombination von Easy Flossing mit manuellen Weichteiltechniken und aktiven Bewegungen gibt es vermutlich ähnliche Effekte. Außerdem werden möglicherweise auch freie Bindegewebszellen in größerer Menge ins Gewebe „gelockt“, was die körpereigene Abwehr fördert und die Heilung unterstützt (siehe Kap. ▶ 4.2).

Zum Einsatz kommen diese Techniken bei der Therapie chronischer Beschwerden in schlecht durchbluteten Geweben. Die Stimulation einer Entzündung als erste Phase der Wundheilung kann so die Heilung einleiten und deren vollständigen Ablauf fördern. Auch die vermehrte Durchblutung trägt zur Heilung bei ▶ [51]).

Die schnelle Wirkung von Easy Flossing beruht vermutlich sowohl auf neurologischen Reflexen (z.B. Axonreflex, siehe Kap. ▶ 4.1.3) als auch auf humoralen Mechanismen. Bestärkt werden wir in dieser Annahme durch die positive Rückmeldung von Athleten und Patienten, die nach der Behandlung mit dem Flossband oft über eine spontane merkliche und auch messbare Besserung der Beweglichkeit, weniger Schmerzen und das Nachlassen anderer Beschwerden berichten.

2.1.2 Fasern

Wie bereits erwähnt bestimmen Fasern die mechanischen Eigenschaften des Bindegewebes. Grunsätzlich unterscheidet man zwei Arten ( ▶ Tab. 2.3):

kollagene Fasern

elastische Fasern

Easy Flossing und Bindegewebssynthese

Weil die Bestandteile von Bindegewebsfasern kontinuierlich in den Bindegewebszellen synthetisiert werden, ist eine ausreichende Versorgung der Zellen mit Enzymen, Vitaminen und Spurenelementen essenziell wichtig. Mit dem Schwammeffekt trägt Flossing dazu bei, dass diese Stoffe auch bei schlechter Durchblutung, nach Verletzungen und nach hohen Belastungen in ausreichender Menge in den Zellen ankommen.

Tab. 2.3

 Aufbau und Funktion der Bindegewebsfasern.

Bezeichnung

Aufbau

Funktion

kollagene Fasern

Tripelhelix aus Aminosäuren, unverzweigte Fasern aus Mikrofibrillen

hohe elastische Steifigkeit, Stabilität, Reißfestigkeit abhängig von der Kollagenart und der dominanten Belastung

elastische Fasern

kurze Verbindungen von Aminosäuren, stark verzweigt

hohe Verformbarkeit und Flexibilität

2.1.2.1 Kollagene Fasern

Kollagene Fasern bestehen aus Fibrillen und Mikrofibrillen ( ▶ Abb. 2.3). Die Grundstruktur, das Tropokollagen, bildet drei umeinandergedrehte Proteinketten (Tripelhelix), die als gestreckte Moleküle die helikale Grundstruktur der Fasern bilden. Der Aufbau ähnelt dem eines Stahlseils und hat wie dieses eine hohe elastischische Zugfestigkeit. Kollagenstränge können daher viel Kraft aufnehmen, ohne wesentlich ihre Länge zu verändern. Nach der Belastung kehren sie in ihre ursprüngliche Form zurück. Es gibt sehr viele unterschiedliche Kollagentypen, je nachdem, welcher Belastung das jeweilige Gewebe ausgesetzt ist. Kollagen ist neben Wasser der zweitgrößte Bestandteil des Bindegewebes ▶ [51]).

Abb. 2.3 Aufbau einer Kollagenfaser.

Die Nachgiebigkeit von Kollagenfasern beruht auf dem wellenförmigen Verlauf der Kollagenfasern und -fibrillen ( ▶ Abb. 2.4a). Dieser Verformbarkeit sind jedoch Grenzen gesetzt. Ein wichtiger Aspekt hierbei sind Geschwindigkeit und Größe der auf das Gewebe einwirkenden Kraft: Je langsamer und kontinuierlicher die Belastung im Gewebe steigt, umso besser kann sich das Gewebe der Belastung anpassen und sich verformen. Es adaptiert ▶ [51]).

Einfluss von Dehnung auf Kollagenfasern

Laut Stecco haben Carano und Siciliani 1996 nachgewiesen, dass sich der Turnover von Kollagenfasern durch Dehnung der Fibroblasten beschleunigen lässt. Dabei scheint intermittierendes Dehnen effektiver zu sein als kontinuierliches Dehnen. Verantwortlich für den beschleunigten Turnover ist die vermehrte Freisetzung von Kollagenase durch Fibrozyten auf Druck- und Dehnungsreize hin. Das Enzym Kollagenase zerschneidet Kollagenstränge, sodass eine Neustrukturierung mit nachgebildetem Kollagen möglich wird. Nach 10–15 Minuten nimmt dieser Effekt ab.

Easy Flossing und Turnover von Kollagenfasern

Easy Flossing verstärkt die Kompression und Dehnung von Fibroblasten, es wirkt großflächig auf das Bindegewebe ein. Daher hat Easy Flossing vermutlich auch einen positiven Effekt auf den Turnover von Kollagenfasern. Der Beweis dieser These muss noch durch geeignete Studien erbracht werden.

Form follows function

Bei der Morphogenese (Formbildung) des Menschen im Rahmen seiner individuellen Entwicklung (Ontogenese) richten sich Kollagenfasern im Gewebe entsprechend der vorherrschenden Belastung aus. Regelmäßige Zugspannung aus derselben Richtung hat eine parallele Faserausrichtung zur Folge. Es entsteht geformtes, straffes Bindegewebe, wie man es z.B. in Sehnen und einigen Bändern findet. Erfolgt die Belastung immer wieder aus unterschiedlichen Richtungen, orientieren sich die Fasern in allen Richtungen im Raum, ähnlich einem dreidimensionalen Maschengitter. Man findet solche Fasern im ungeformten, straffen Bindegewebe von Kapseln, Faszien und um Muskeln und Nerven ( ▶ Abb. 2.4) ▶ [51]).

Welche Mechanismen genau die Organisation der Kollagenfasern und anderer Bestandteile des Bindegewebes beeinflussen, ist noch nicht endgültig geklärt. Unbestritten ist z.B., dass Art und Qualität des Bindegewebes von Sehnen und anderer Gewebe von der mechanischen Beanspruchung abhängen ▶ [22]). Welche Kräfte dabei noch eine Rolle spielen, ist weniger klar. Möglicherweise gehört dazu auch der → piezoelektrische Effekt.

Hinweis

Piezoelektrischer Effekt Der aus der Physik bekannte Effekt, dass kristalline Strukturen auf wechselnden Druck mit einer Änderung der elektrischen Ladung reagieren, kann auch an menschlichen Zellen beobachtet werden. Schon vor 50 Jahren fanden Forscher heraus, dass das relativ stabile Kollagenmolekül (Tropokollagen) piezoelektrische Eigenschaften aufweist und dass sich die Ladungsverteilung abhängig von Zug- und Druckkräften ändert ( ▶ [2]). Die Ausrichtung der Kollagenmoleküle, die den Faserverlauf der Sehne bestimmt, orientiert sich dabei an der Polarisationsrichtung. Selbst an den Zähnen, die im Gegensatz zu einer Sehne ja so gut wie keine Mobilität aufweisen, konnte dieses Organisationsprinzip nachgewiesen werden. Ob die Effekte aber auch bei zeitlich schneller ablaufenden Prozessen eine Rolle spielen, ist nicht bekannt.

Myers zitiert zwar im Zusammenhang mit der Remodellierung des Bindegewebes Dr. James Oschman, einen Protagonisten der energetischen Medizin: „Fast alle Gewebe des Körpers erzeugen elektrische Felder, wenn sie komprimiert oder gedehnt werden; [diese sind] repräsentativ für die Kräfte, die auf die beteiligten Gewebe einwirken …, und enthalten Informationen über die genaue Art der stattfindenden Bewegung. … Eine der Aufgaben dieser Informationen ist es, die Form zu kontrollieren.“ ( ▶ [24]) Allerdings weiß auch er, dass sich eine solche Behauptung aus heutiger Sicht nicht mehr halten lässt, nicht zuletzt weil sie nur den einen Effekt benennt und die mittlerweile bekannten Steuerungsmechanismen, z.B. das mechanosensitive Ablesen von Genen, nicht miteinbezieht.

Frau Dr. Heike Jäger von der Universität Ulm, die schon lange über das Bindegewebe forscht, machte mich darauf aufmerksam, dass es im Körper eine Reihe von mechanosensitiven Membranproteine, wie Integrin-Komplexe, mechanosensitive Kationenkanäle und Transporter, gibt, die mechanische Reize von außen in die Zelle vermitteln, wodurch die Zellstruktur, der Stoffwechsel und auch eine Vielzahl von Genen im Zellkern mechanosensitiv reguliert werden. Es ist daher prinzipiell richtig, dass mechanischer Druck einen großen Einfluss auf Zellen hat – und damit auch auf die Regeneration und Kräftigung des Bindegewebes und der Muskulatur. Es könnte sogar sein, dass hier ein Schlüssel für die Erklärung der vielfältigen Wirkungen mechanischer Beeinflussung des Bindegewebes zu finden ist. In den etablierten Publikationen zum Thema Faszien und Bindegewebe aber, auf denen auch meine Argumentation fußt, sind diese neuesten Erkenntnisse nur zum Teil einbezogen. Es bleibt also sehr spannend, was in den nächsten Jahren aus dem Gebiet der Gewebephysiologie bekannt wird.

Abb. 2.4 Kollagene Fasern richten sich nach der vorherrschenden Belastung aus.

Abb. 2.4a Am Muskel-Sehnen-Übergang erkennt man sehr schön die parallele Ausrichtung der kollagenen Fasern. Die leichte Wellenform der einzelnen Fasern (engl: „Crimp“) ermöglicht eine Nachgiebigkeit der Sehnen, die in gewissem Maß auf Zugbelastungen nachgeben. Dies reduziert die Belastung an den Übergängen zu Knochen und Muskelfasern.

Abb. 2.4b Der Verlauf der Kollagenfasern in der Membrana fibrosa ist typisch für ungeformtes, straffes Bindegewebe, das Belastungen aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt ist.

Altersbedingte Veränderungen des Bindegewebes verzögern

Physiologisch unterscheiden sich in Abhängigkeit von Belastung und Alter die Produktion und Ausrichtung der Kollagenfasern (vgl. Kap. ▶ 3.5.3). Die veränderte Ordnung und Konzentration der Kollagenfasern haben einen großen Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften der Extrazellulären Matrix (EZM), ihren Ernährungszustand und letztlich auch auf die Funktion. Durch einen aktiven Lebensstil und gezielte Gymnastik können die altersbedingten Veränderungen im Bindegewebe verzögert werden ( ▶ [44]).

Retikuläre Fasern

Retikuläre Fasern bestehen hauptsächlich aus Kollagen Typ III. Sie sind dünner als andere Kollagenfasern und weniger auf Zugbelastung spezialisiert. Meist sind sie netzförmig angeordnet und gewährleisten so eine gute Verformbarkeit des Gewebes. Man findet retikuläre Fasern fast überall im Körper als Bestandteil von Retikulin, das ein fein vernetztes Stützgerüst für viele Organe bildet. Bei der Wundheilung schließt Kollagen Typ III die Wunde und wird später durch andere Kollagentypen ersetzt ( ▶ [51]; ▶ [45]; ▶ [48]).

2.1.2.2 Elastische Fasern