Ebola und andere Killerkeime - Bernd Neumann - E-Book

Ebola und andere Killerkeime E-Book

Bernd Neumann

4,5

  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

SARS, EHEC, Schweinegrippe – all diese Krankheiten dominierten die Schlagzeilen. Menschen starben, die Bevölkerung lebte in Angst, doch die Reaktion der medizinischen Behörden erschien oftmals schwerfällig, es häuften sich Pannen im Umgang mit den Krankheiten. Und noch immer warnen viele Fachleute, dass unser Gesundheitssystem nicht ausreichend vorbereitet ist und es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir von einer weiteren Epidemie heimgesucht werden. Bernd Neumann erklärt in diesem akribisch recherchierten Ratgeber, warum unsere Gesellschaft nach wie vor stark gefährdet ist, welche Bedrohungen aktuell bestehen, wo es Defizite in der staatlichen Vorsorge und Betreuung gibt und was der Einzelne selbst tun kann, um sich und seine Lieben zu schützen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
1. Auflage 2014
© 2014 by rivaverlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Petra Holzmann, München
Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München
Umschlagabbildung: iStockphoto
Satz: Carsten Klein, München
E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-86883-216-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-147-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-368-8
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Der Mensch und die Keime
Gute Keime, böse Keime
Das Virus in uns
Seuchen in der Geschichte der Menschheit
Tuberkulose: Die ewige Geißel
Yersinia pestis: Erreger des Schwarzen Todes
Pocken: Schlimmer als Musketen und Goldgier
Cholera: Geboren aus Dreck und Elend
Masern: Nur eine harmlose Kinderkrankheit?
Influenza: Von wegen »nur« die Grippe
Können wir etwas daraus lernen?
Was macht unsere moderne Welt so anfällig für Killer-Keime?
Gefahr aus dem Dschungel
Von Affenfleisch und exotischen Heimtieren
Massentierhaltung: Brutkasten für neue Bakterien und Viren
Globalisierung: Viren reisen Economyclass
Der Klimawandel bringt auch neue Krankheiten
Antibiotika: Warum die einstigen Wunderwaffen immer häufiger versagen
Wenn das Krankenhaus krank macht
Wie kommt es zur Resistenzentwicklung?
Erst das Tier, dann der Mensch
Und was ist mit neuen Antibiotika?
Interview mit Prof. Dr. med. Iris F. Chaberny
Interview mit Dr. Albrecht Pellens
Die Zukunft der Krankheitserreger und das Überleben der Menschheit
Das 5-Stufen-Modell von Nathan Wolfe
Womit wir immer rechnen müssen: Der »Apokalypse-Keim«
Dies ist KEINE Übung!
Was wäre, wenn ...?
Noch Fiktion – bald schon Realität?
Interview mit Prof. Dr. Reinhard Kurth
Die aktuellen Bedrohungen
Die Kamel-Seuche MERS
Ebola: Ein internationaler Gesundheitsnotfall
Influenza: Kommt die Supergrippe?
EHEC 2011 war erst der Anfang
Affenpocken
Das tödliche Dutzend
Bioterrorismus: Der schmutzige Krieg
Mögliche Szenarien
Steckbrief: Milzbrand (Anthrax)
Steckbrief: Pest (Yersinia pestis)
Steckbrief: Tularämie
Steckbrief: Rotz
Steckbrief: Melioidose
Steckbrief: Hämorrhagisches Fieber (Ebola/Marburg)
Steckbrief: Pocken
Steckbrief: Influenza
Bauanleitungen für gefährliche Erreger
Interview mit Gunnar Jeremias
Wie kann ich mich und meine Familie schützen?
Von der Hand in den Mund
Das Immunsystem stärken
Welche Impfungen Sinn machen
Ausblick und Appell
Danksagung
Anhang
Institutionen
Bibliografie

Vorwort

Im Jahre 1998, ich war damals als Medizinredakteur bei der Zeitschrift FIT FOR FUN tätig, fiel mir ein 1400 Seiten starkes Buch in die Hände: Geißeln der Menschheit von Stefan Winkle. Trotz des geradezu biblischen Umfangs konnte ich das Werk kaum aus der Hand legen, so sehr faszinierte es mich. Der 2006 im Alter von 95 Jahren verstorbene Professor der Medizin beschrieb in diesem Werk akribisch und mit fesselnder Bildhaftigkeit die Geschichte der Seuchen, die Bedingungen ihrer Entstehung sowie die wechselseitige Abhängigkeit von Infektionsgeschehen, Völker- und Einzelschicksalen. Wenn­gleich Pest, Pocken, Cholera und Co. natürlich kein Thema für das Lifestyle-Magazin FIT FOR FUN waren, ließ mich das Thema bis zum heutigen Tag nicht mehr los.

Ich habe seither eine Menge über das Thema gelesen und mit möglicherweise morbidem Interesse zahlreiche Spielfilme wie Andromeda – Tödlicher Staub aus dem All, Outbreak, The Stand – Das letzte Gefecht, Contagion und I am Legend sowie diverse Dokumentationen zum Thema (zum Beispiel Die Pest, Granada Television 2004; Viren auf Weltreise von Hancock und Solberger) angeschaut. Dabei drängten sich mir immer wieder Fragen auf: Wie kommen wir dazu anzunehmen, dass wir, als Menschen von heute, von einem Massensterben, wie es etwa im Mittelalter der »Schwarze Tod« auslöste, verschont bleiben? Was geschieht, wenn sich ein Keim verbreitet, dem Antibiotika nichts anhaben können, gegen den es keine Impfung gibt? Sind die Behörden, ist die Öffentlichkeit auf so etwas vorbereitet?

In den vergangenen 30 Jahren sind rund 25 Millionen Menschen an Aids gestorben, mehr als 160 000 – vornehmlich Kinder – sterben jährlich an Masern, und 630 000 pro Jahr an Malaria. Da sich dieses Elend aber über­wiegend in Afrika abspielt, wiegen wir uns nur allzu leicht in trügerischer Sicherheit.

Doch denken Sie einmal zurück an die Schlagzeilen im Jahre 2003: »Arzt schleppt todbringende Krankheit bis Deutschland«, »Lungen-Virus bedroht die Welt«, als SARS, das »Schwere Akute Respiratorische Syndrom«, zu 78 Todesfällen in 17 Ländern und zu Umsatzeinbußen im internationalen Flug­verkehr von 45 Prozent führte?

Erinnern Sie sich noch daran, wie die Weltgesundheitsorganisation im Juni 2009 die sogenannte Schweinegrippe als »Notfall für die öffentliche Gesundheit von internationaler Bedeutung« einstufte? Wie die Bundesländer im Juli des Jahres 2009 50 Millionen Dosen Schweinegrippe-Impfstoff bestellten, um vor einer Pandemie gewappnet zu sein, und wie im Winter 2011 schließlich 196 Paletten des Impfstoffs ungenutzt vernichtet wurden?

Wissen Sie noch, wie sich im Wonnemonat Mai 2011 mehr als 3500 Deutsche mit dem Darmkeim EHEC infizierten und 47 davon an den Folgen starben?

Hatten Sie Angst? Angst davor, es könne Sie und Ihre Lieben treffen, es könne da auch im medizinisch so gut versorgten Deutschland etwas geschehen, dem wir nicht gewachsen sind? Falls ja, so befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Viele Fachleute warnten und warnen davor, die Gefahren nicht ernst genug zu nehmen – während andere ihnen Schwarzmalerei und Schlimmeres vorwerfen. Fakt ist aber: Die Vielzahl von Pannen im Umgang mit den bisherigen Bedrohungen beweist immer wieder, dass unsere Gesellschaft keinesfalls gut für den Ernstfall gerüstet ist.

Ich möchte mit diesem Buch keine Panik schüren, sondern aufklären. Anhand geschichtlicher Fakten will ich Ihnen zeigen, was es bedeutet, wenn eine todbringende Seuche um die Welt zieht. Ich werde Ihnen erklären, warum unsere Gesellschaft heute gefährdeter ist denn je und was geschehen müsste, um das Risiko möglichst gering zu halten. Sie werden erfahren, welche Bedrohungen aktuell bestehen und was im schlimmsten Fall geschehen könnte. Und ich werde Ihnen selbstverständlich sagen, was Sie selbst tun können, um sich zu schützen.

Bernd Neumann

Jesteburg, im September 2014

Einleitung: Der Mensch und die Keime

»Ich habe keine Angst vor dem Sterben, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.«

Woody Allen (*1935)

Die gute Nachricht zuerst: Auch wenn es zum weltweiten Ausbruch eines sogenannten »Apokalypse-Keims« kommt (Näheres dazu ab Seite 79), wird die Menschheit nicht aussterben. Und nun die schlechte: Da vielleicht 50 Prozent der Menschheit sterben werden – möglicherweise auch 90 Prozent oder mehr – beträgt die Überlebenswahrscheinlichkeit für jeden Einzelnen entsprechend eins zu eins bis etwa eins zu zehn. Vielleicht zählen Sie ja zu jenen, die aufgrund ihrer zufälligen genetischen Ausstattung immun gegen den jeweiligen Keim sind. Oder Sie erkranken, besiegen den Keim aber. Möglicherweise werden Sie auch einfach deshalb weiterleben, weil Sie nicht mit dem Keim in Berührung kommen. Wir wollen hier zwei Beispiele betrachten, die diese Behauptung belegen, eines aus dem Tierreich, das andere betrifft uns Menschen.

Im Jahre 1859 führte der britische Siedler Thomas Austin 24 Kaninchen in Australien ein, um die Tiere in freier Wildbahn jagen zu können. Weil in Australien aber weder Füchse noch andere natürliche Feinde des Kaninchens heimisch waren, vermehrten sich die Tiere so rasant, dass sie schließlich zu einer richtigen Plage wurden, da sie massiv die Ernte schädigten. Um ihnen den Garaus zu machen, infizierte man einige der frei lebenden Kaninchen mit dem Myxomatosevirus. Das Virus verbreitete sich wie ein Lauffeuer und tötete binnen Kurzem 99,8 Prozent der Kaninchen. Man sollte annehmen, dass die Plage damit ein Ende hatte. Aber weit gefehlt: Es dauerte lediglich vier Jahre, da hatten sich die übrig gebliebenen Kaninchen wieder so stark vermehrt, dass sie erneut zur Plage wurden. Wohlgemerkt: Die gesamte »neue« Kaninchenpopulation trug das Virus in sich, war jedoch resistent gegen den Keim geworden. Hätte man anschließend erneut Kaninchen eingeführt, so wären diese wiederum dem Virus zum Opfer gefallen.

Das andere Beispiel führt uns ins 15. Jahrhundert, kurz nachdem Kolumbus 1492 in der Karibik gelandet war. Die spanischen Eroberer führten Krankheiten wie Pocken und Masern im Gepäck, die in der Neuen Welt unbekannt waren. Nur 100 Jahre später waren 90 Prozent der amerikanischen Ureinwohner tot, auch durch die grausamen Unterdrückungsmethoden, vor allem aber wegen der Krankheiten, gegen die zwar viele der Konquistadoren einen natürlichen Schutz besaßen, nicht aber die Ureinwohner. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, also 600 Jahre später, hatten ihre Nachfahren wieder jene Zahl erreicht, die sie bei Kolumbus’ Landung aufwiesen.

Gute Keime, böse Keime

»Was, wenn man den Leuten irgendwann sagen würde, dass mehr Tiere auf dem Zahnfleisch der Menschen leben, als es Menschen im gesamten Königreich gibt? [...] Alle Leute in den Niederlanden zusammen sind geringer an Zahl als die Tiere, die ich an diesem einen Tag in meinem Mund herumtrage.« Diese Worte notierte der niederländische Tuchhändler Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) am 17. September des Jahres 1683 in seinem Notizbuch. Der Niederländer hatte bei seinen Experimenten mit selbst gebauten Mikroskopen nichts weniger als die Welt der Bakterien entdeckt – vor mehr als 300 Jahren.

Van Leeuwenhoek hatte mit seiner Schätzung durchaus recht: Allein in unserem Mundraum leben etwa 10 Milliarden Bakterien (1010) unterschiedlicher Arten, von denen gut 350 bereits identifiziert sind. Man geht aber davon aus, dass es mehr als 1000 im Mundraum befindliche Arten gibt.

Wir sind geneigt, Bakterien pauschal als Bösewichte zu betrachten, die uns Lungenentzündung, Durchfall und Magenkrebs bescheren. Doch diese Sicht ist sehr eingeschränkt, um nicht zu sagen grundlegend falsch. Denn ohne Bakterien wären wir weder am Leben noch das, was wir sind. Machen wir einen kurzen Ausflug in die Welt der Mikroben, zunächst in die der Bakterien.

Die allermeisten Bakterien sind uns wohlgesonnen. Während unser Körper aus rund 10 Billionen Zellen (1013) besteht, werden wir von insgesamt gut 100 Billionen (1014) Bakterien bevölkert, von denen etwa 99 Prozent in unserem Darm leben. Sogar in unseren Lungen – sie galten bis zum Jahre 2007 als keimfrei – treiben sich auch bei gesunden Menschen mindestens 128 verschiedene Arten Bakterien herum.

Diese Vielzahl an bakteriellen Mitbewohnern lässt uns nicht nur (meist) in Ruhe, sondern ist sogar von zentraler Bedeutung für unsere Gesundheit. Fehlen Bakterien beispielsweise im Darm oder ist ihre Artenzusammensetzung durcheinandergeraten, so werden wir unweigerlich krank. Viele kennen das: Nach der Einnahme eines Antibiotikums kommt es oft zu Durchfall und anderen Darmproblemen, einfach weil die Bakterienflora des Darms durch das Antibiotikum verändert wurde. Normalerweise regeneriert sich die Bakterienflora binnen weniger Tage oder Wochen nach dem Absetzen des Antibiotikums. Welch extreme Auswirkungen das aber auch haben kann, illustriert ein Fall aus dem Jahre 2008: Eine Patientin des US-amerikanischen Gastroenterologen Dr. Alexander Khoruts litt nach einer Antibiotikatherapie unter einer schweren Durchfallerkrankung. Innerhalb von acht Monaten nahm die Frau 27 Kilo ab und wäre nach Einschätzung ihres Arztes bald verstorben. Verantwortlich war ein Bakterium namens Clostridium difficile, das 3 bis 15 Prozent der Erwachsenen in ihrem Darm tragen, das sich aber im Normalfall nicht bemerkbar macht, da es den Darm nur in geringer Zahl besiedelt. Die Antibiotikabehandlung aber hatte die Zusammensetzung der Darmbakterien der Frau komplett verändert, sodass sich Clostridium difficile extrem vermehren konnte. Oft hilft in solchen Fällen die Behandlung mit einem anderen Antibiotikum. Nicht so bei Dr. Khoruts Patientin. Der Clostridiumstamm in ihrem Darm war resistent gegen die Antibiotika, ließ sich von ihnen also nichts anhaben. Der Mediziner musste einen anderen Weg wählen, um seine Patientin zu retten. Er vermischte eine kleine Menge des Stuhls ihres Ehemannes mit einer Salzlösung und brachte diese in den Dickdarm seiner Patientin ein. Innerhalb nur eines Tages verschwand der Durchfall. Auch die auslösenden Clostridien waren in ihrem Darm nach der »Transplantation« nicht mehr nachweisbar. Die kleine Menge Stuhl mit einer normalen Bakterienfauna hatte offenbar das Gleichgewicht im Darm wiederhergestellt und die Frau vor dem sicheren Tod bewahrt.

Doch Bakterien sind für uns noch in anderer Weise lebensnotwendig. Man schätzt, dass etwa 5 Quintillionen (5 x 1030, eine 5 mit 30 Nullen!) Bakterien die Erde bevölkern und zusätzlich rund eine Trillion (1018) gebunden an Staubpartikel in der Atmosphäre herumschwirren. Ohne sie wäre Leben, wie wir es kennen, gar nicht möglich. Denn über vielfältige Recyclingprozesse versorgen Bakterien uns mit den überlebenswichtigen Elementen Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Kohlenstoff und 25 weiteren Substanzen.

Wie sehr unser Leben mit der Existenz der Bakterien verwoben ist, beweisen auch die Ergebnisse des Human Microbiome Projects, das 2007 von den US-amerikanischen National Institutes of Health ins Leben gerufen wurde. Ziel dieses Projektes ist es, alle Bakterien zu erforschen, die auf und im Menschen leben – das sogenannte Mikrobiom –, ihre genetische Ausstattung und die Wechselwirkungen, in denen sie zu uns Menschen als Wirt stehen. Welche Herausforderung das darstellt, lässt sich bereits daran erkennen, dass dieses Mikrobiom mindestens 100-mal mehr Gene enthält als der Mensch selbst.

Schon länger bekannt ist, dass Bakterien auf der Haut unsere äußere Hülle vor Infektionen schützen und Bakterien in unserem Darm Vitamin K produzieren, das unter anderem wichtig ist für die Blutgerinnung. Erst im Verlauf der letzten Jahre aber hat sich herauskristallisiert, wie eng die Symbiose zwischen uns und »unseren« Bakterien tatsächlich ist. Die Bakterien in unserem Darm sorgen beispielsweise dafür, dass unser Immunsystem ausreifen kann und dass Beschädigungen an der Darmwand ausheilen können. Sie stellen Anti­biotika her, die uns vor gefährlichen Keimen schützen, und haben Einfluss darauf, wie unser Körper Fett speichert. Ist das Darm-Mikrobiom nicht im Gleichgewicht, können verschiedene Arten von Krebs, entzündliche Darm­erkrankungen, Fettleber und möglicherweise sogar Nervenkrankheiten wie Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS), Tourette-Syndrom und Autismus die Folge sein.

Aufgrund der Tatsache, dass sich der Mensch und sein Mikrobiom im Laufe von vielen Hunderttausenden von Jahren gemeinsam entwickelt haben und heute eine meist sehr gut funktionierende Symbiose bilden, bezeichnen die Mikrobiom-Forscher den Menschen und sein Mikrobiom gern auch als »Super-Organismus«. Diese Sichtweise macht durchaus Sinn, eröffnet sie doch aus medizinischer Sicht einige neue Optionen. So lassen sich über gezielte Veränderungen der Darmflora – etwa über sogenannte Prä- oder Probiotika – schon heute Krankheiten positiv beeinflussen. In der Zukunft, so hoffen die Forscher, werden sich aus einer genaueren Kenntnis des Mikrobioms auch Krankheiten oder Prädispositionen für diverse Leiden frühzeitig erkennen und heilen lassen. Und, um nochmals auf den Anfang dieses Abschnitts zurückzukommen: Die allermeisten Bakterien der heute insgesamt rund 6000 bekannten Bakterienarten sind uns wohlgesonnen oder schaden uns zumindest nicht. Nur rund 100 Arten sind es, die uns etwas anhaben können, manche allerdings in ganz beträchtlichem Ausmaß.

Das Virus in uns

Im Herbst 1990 wurde das internationale Humangenomprojekt (engl. Human Genome Project, HGP) gegründet. Dessen Ziel sollte sein, das gesamte Genom des Menschen – also das gesamte menschliche Erbgut – als Abfolge der Basenpaare auf der DNS der Chromosomen darzustellen. Am 12. Februar 2001 war es so weit: Sowohl das ursprüngliche Projekt als auch das 1998 gestartete private Konkurrenzvorhaben der US-Firma Celera meldeten, das komplette Genom sei »entschlüsselt«.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man angenommen, der Mensch müsse etwa 100 000 Gene haben, wobei Gene als DNS-Abfolgen zu verstehen sind, die als Bauplan für Eiweiße dienen. Wie die Analyse aber zeigte, sind es nicht mehr als 23 000 Gene, nur unwesentlich mehr als der Fadenwurm (19 000) oder die Taufliege (13 500) aufzuweisen haben. Was die Größe des genetischen Speichers angeht, ist der Mensch diesen niederen Tierformen also kaum überlegen. Zu unserer Ehrenrettung mag aber dienen, dass zumindest die Umsetzung von Genen in Eiweiße beim Menschen wesentlich effizienter gelöst ist, sodass wir mit derselben Anzahl von Genen mehr Eiweiße produzieren können.

Die größte Überraschung aber war etwas anderes: Diese 23 000 Gene machen nur etwa 1,5 Prozent der menschlichen DNS aus, und die Frage stellte sich: Wozu dienen dann die restlichen 98,5 Prozent?

Bis vor wenigen Jahren hielt man das alles für Junk-DNS, evolutionären Müll ohne Funktion. Doch die genauere Betrachtung dieses »Mülls« offenbarte eine weitere Überraschung: Gut 8 Prozent davon sind Viren-DNS, und weitere 34 Prozent bestehen aus sogenannten Retrotransposons, die dem Erbgut von Viren ähneln und nur den einen Zweck haben, sich selbst zu vervielfältigen. Zusammengenommen bestehen fast 50 Prozent unserer DNS aus Virus- und virusähnlichem Material, deutlich mehr also als das tatsächlich menschliche Genmaterial!

Die 8 Prozent Viren-DNS gehören zu den sogenannten Retroviren, zu denen beispielsweise auch das Aidsvirus gehört. Wenn sich ein Organismus mit einem Retrovirus infiziert hat, baut sich das Virus in die DNS der Wirtszelle ein, um in der Folge den Stoffwechsel der Zelle für seine eigenen Zwecke zu benutzen, etwa um neue Viren herzustellen. Wenn dies zum Beispiel bei einer Blutzelle wie einem weißen Blutkörperchen geschieht, so ist nur das Individuum betroffen. Geschieht dies aber mit Zellen der sogenannten Keimbahn – also Ei oder Samenzelle –, so kann das Retrovirus auf den Nachwuchs übertragen werden und sich auf diese Weise auch in künftigen Generationen zeigen. Genau das muss bei all diesen in unserem Erbgut nachweisbaren Viren-Genen geschehen sein.

Die große Zahl an Viren-DNS in unserem Erbgut macht eines ganz klar: Die Geschichte der Menschheit und die der noch nicht menschlichen Vorfahren ist bis viele Millionen Jahre in die Vergangenheit hinein geprägt gewesen von Virenangriffen. Diese Angriffe haben mit Sicherheit vielen unserer Vorfahren Krankheiten und eventuell den Tod gebracht. Die Tatsache, dass sich diese Menge an Viren-DNS in unserem Erbgut befindet, beweist jedoch, dass es immer Individuen gab, die diese Angriffe überlebt haben.

Es stellt sich aber eine weitere Frage mit bedeutenden Konsequenzen: Hat die Viren-DNS möglicherweise noch eine Funktion? Ja! Beispielhaft dafür ist das Gen Syncitin-1, das ursprünglich für die Schutzhülle eines Virus zuständig war und im Menschen nun notwendig ist für das korrekte Funktionieren der Gebärmutter, ebenso wie das ebenfalls aus einem Virus stammende Gen Syncitin-2. Auch die DNS-Teile, die diese Gene an- und ausschalten, stammen ursprünglich aus Viren. Es gibt viele weitere Beispiele von Genen viralen Ursprungs, auch wenn noch nicht alle Funktionen im Detail ergründet sind.

Erst in den vergangenen zehn Jahren ist aus Forschungen deutlich geworden, dass Viren einen ganz erheblichen Einfluss auf die Evolution des Menschen und seiner Vorfahren hatten und wohl noch haben. »Auch das Aidsvirus HIV-1 könnte das Potenzial besitzen, in die Keimbahn einzudringen und so unsere Evolution in neue und unerwartete Richtungen zu steuern«, schreibt der Buchautor, Mediziner und Biologe Frank Ryan. »Für uns ist es eine Seuche – aber es könnte für unsere Nachfahren lebenswichtig werden.«

Selbstverständlich sind Bakterien und Viren in unserem täglichen Erleben in erster Linie Krankmacher mit oftmals katastrophalen Folgen. Dennoch, und nur das sollten diese kurzen Ausflüge in die Welt der Bakterien und Viren zeigen, sind sie ein wichtiger Teil von uns, ohne den wir nicht leben könnten und ohne den wir nicht das wären, was wir sind.

Seuchen in der Geschichte der Menschheit

Einmal in jeder Generation sollen sie von der Seuche befallen werden, so steht es in der Bibel.

Mutter Abigale in Stephen Kings Roman The Stand – Das letzte Gefecht

Es steht außer Frage, dass die Menschen des Altertums (3500 v. Chr. bis 500 n. Chr.) wie schon die Frühmenschen unter grässlichen Infektionskrankheiten zu leiden und oft genug zu sterben hatten. Den Menschen im Mittelalter (500 bis 1500 n. Chr.) ging es nicht besser, ebenso wenig den neuzeitlichen Menschen ab 1500 n. Chr. Manche dieser Krankheiten waren nur in bestimmten Weltgegenden bekannt, waren hier harmlos, dort tödlich. Jede Weltgegend und jedes Zeitalter hatte seine Seuchen, die Tod und Verderben brachten. Einige davon möchte ich Ihnen auf den folgenden Seiten vorstellen, damit Sie sich ein ungefähres Bild machen können, wie verheerend Bakterien und Viren wüten können.

Tuberkulose: Die ewige Geißel

›Was ich dich fragen wollte‹, fing er an ... ›Der Fall in meinem Zimmer war also gerade eingegangen, als ich kam. Sind sonst schon viele Todesfälle vorgekommen, seit du hier oben bist?‹ – ›Mehrere sicher‹, antwortete Joachim. ›Aber sie werden diskret behandelt, verstehst du, man erfährt nichts davon oder nur gelegentlich, später, es geht im strengsten Geheimnis vor sich, wenn einer stirbt, aus Rücksicht auf die Patienten und namentlich auf die Damen, die sonst leicht Anfälle bekämen. Wenn neben dir jemand stirbt, das merkst du gar nicht. Und der Sarg wird in aller Frühe gebracht, wenn du noch schläfst, und abgeholt wird der Betreffende auch nur in solchen Zeiten, zum Beispiel während des Essens.‹

Thomas Mann (1875–1955), Der Zauberberg

Bleich, dürr, unfähig aufzustehen und unter unermesslichen Schmerzen starb der 15-Jährige nahe der Küste im heutigen Ligurien (Italien). Die Tuberkulosebakterien hatten seine Wirbelsäule zerfressen und ihm die letzten Jahre seines Lebens in ein nicht enden wollendes Martyrium verwandelt. Nichts und niemand konnte dem Jungen helfen, weder Heilkräuter noch Opfergaben. Wir wissen nicht, wer den Halbwüchsigen schließlich in der Höhle 90 Meter über dem Wasserspiegel des Mittelmeers begrub. Aus der Art und Weise der Bestattung können wir aber schlussfolgern, dass der Junge trotz seiner schweren Krankheit in die Gesellschaft seiner Zeit integriert war – in die der Jungsteinzeit vor rund 5 500 Jahren.

Versuchen wir uns einmal vorzustellen, wie die steinzeitlichen Menschen gelebt haben. Sehen auch Sie das Bild eines fellbekleideten, langhaarigen Jägers vor sich, der sich mit dem Speer gegen einen angreifenden Säbelzahntiger verteidigt oder gemeinsam mit Sippenangehörigen ein Mammut erlegt? Kaum jemand wird an einen ausgemergelten, tuberkulosekranken Jungen denken oder an einen anderen unserer frühen Vorfahren, der von Fieberkrämpfen geschüttelt, mit eitrigen Pusteln am ganzen Körper oder Blut spuckend seinem letzten Atemzug entgegensiecht.

Und doch, so muss es gewesen sein. Denn die Menschen der Steinzeit – und sogar jene noch viel früherer Epochen – sind nicht nur hungers gestorben oder wilden Tieren zum Opfer gefallen. Sie haben wie die heutigen Menschen unter ansteckenden Krankheiten gelitten, an denen viele jämmerlich zugrunde gingen. Vor Herzinfarkt, Diabetes, Alzheimer und anderen Zivilisationskrankheiten mussten sie sich freilich nicht fürchten: Reichliche körperliche Bewegung, die meist eher magere Kost und ihre relativ kurze Lebenserwartung von etwa 20 Jahren bewahrte sie vor diesen Leiden. Es waren vielmehr Keime wie das Bakterium Mycobacterium tuberculosis, der Erreger der Tuberkulose (kurz Tb), die sie leiden und sterben ließen.

Die Tuberkulose ist im Verlaufe der vergangenen Jahrhunderte mit vielen verschiedenen Namen belegt worden: Schwindsucht, Morbus Koch, Kirch­hofshusten oder auch »die Motten«. Die Tuberkuloseerreger werden von Mensch zu Mensch durch das Einatmen infektiöser Tröpfchen übertragen oder aber – seltener – über den Genuss von Milch oder rohem Fleisch erkrankter Rinder. Wenngleich es verschiedene Formen der Tuberkulose gibt, war es beim Menschen doch meist die Lungentuberkulose, die Ende des 19. Jahrhunderts noch die Hälfte aller Todesfälle der 15- bis 40-Jährigen verursachte.

Bis zum Jahre 2002 ging die Forschergemeinde davon aus, dass der Tuberkuloseerreger vom Rind auf den Menschen übersprang, als unsere steinzeitlichen Vorfahren Rinder, Schweine und andere Tiere zu Haus- und Nutztieren machten. Diese durchaus plausible Annahme wurde jedoch durch die molekularbiologischen Untersuchungen einer internationalen Forschergruppe widerlegt. Der Vergleich bestimmter Abfolgen des Erbguts der verschiedenen Tuberkuloseerreger ergab, dass sowohl der Keim der Rinder-Tuberkulose als auch der Menschen-Tuberkulose einen früheren gemeinsamen Vorfahren hatten, woraus folgt, dass die Tuberkulose dem Menschen schon lange vor der Domestizierung des Rindes zu schaffen gemacht hat. Weitere Untersuchungen belegen eindeutig, dass der Tuberkuloseer­reger bereits vor rund 9000 Jahren im Menschen »heimisch« war. Andere weisen darauf hin, dass er sogar schon vor 35 000 Jahren, möglicherweise vor 500 000 Jahren Schicksal spielte.

Dass die Tuberkulose nach wie vor eine große Rolle spielt, zeigt eine Statistik der WHO, in der die Todesfälle durch Tuberkulose im Jahre 2012 gelistet sind: Afrika 480 000, Amerika 25 000, Östlicher Mittelmeerraum 104 000, Europa 40 000, Südostasien 500 000, Westpazifikraum 115 000 – global gesehen: mehr als 1,2 Millionen Tuberkuloseopfer in nur einem Jahr.

Yersinia pestis: Erreger des Schwarzen Todes

So konnte, wer – zumal am Morgen – durch die Stadt gegangen wäre, unzählige Leichen liegen sehen. Dann ließen sie Bahren kommen oder legten, wenn es an diesen fehlte, ihre Toten auf ein bloßes Brett. Auch geschah es, dass auf einer Bahre zwei oder drei davongetragen wurden, und nicht einmal, sondern viele Male hätte man zählen können, wo dieselbe Bahre die Leichen des Mannes und der Frau oder zweier und dreier Brüder und des Vaters und seines Kindes trug.

Giovanni Boccaccio (1313–1375), Decamerone

Im Alten Testament der Bibel begegnet uns der Begriff »Pestilenz« mehr als 30-mal. Ob die im »Buch der Bücher« beschriebenen Epidemien allerdings tatsächlich durch das Pestbakterium Yersinia pestis oder einen anderen Erreger hervorgerufen wurden, ist noch nicht endgültig geklärt. Sicher aber ist, dass die Pest die folgenschwerste Seuche des europäischen Mittelalters (500 bis 1500 n. Chr.) war.

Nachdem der Erreger der Pest (Beulen- und Lungenpest) durch einen Flohbiss in den Körper des Opfers gelangt ist, dauert es bis zum Ausbruch der ersten Symptome drei bis sieben Tage. Wird das Bakterium von Mensch zu Mensch übertragen, sind es nur ein bis zwei Tage, oft sogar nur wenige Stunden. Zunächst erinnern die Symptome an einen grippalen Infekt mit Fieber, Schüttelfrost, Kopf- und Gliederschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Dann schwellen die Lymphknoten in Leisten und Achseln extrem schmerzhaft an und platzen schließlich auf. Aus dieser sogenannten Beulenpest entwickelt sich in 10 bis 15 Prozent der Fälle eine zu 100 Prozent tödliche Pestsepsis (Blutvergiftung), die wegen der dabei entstehenden schwarzen Hautverfärbungen zu der Bezeichnung »Schwarzer Tod« geführt hat. Die andere Form der Erkrankung, die Lungenpest, entsteht durch das Einatmen verseuchter Partikel und wird anschließend von Mensch zu Mensch über Husten und Niesen übertragen. Die Lungenpest führt bei 50 bis 90 Prozent der Erkrankten binnen ein bis drei Tagen zum Tode.

Als erste Pestpandemie – eine Pandemie ist eine Epidemie, die Ländergrenzen überschreitet – gilt die sogenannte Justinianische Pest, benannt nach dem byzantinischen Kaiser Justinian I., dessen Amtszeit von 527 bis 565 n. Chr. dauerte. Man geht davon aus, dass sich die Seuche von Ägypten aus nach Europa ausbreitete und dort von 541 bis 544 wütete. In dieser Zeit fiel jeder vierte Bürger des römischen Imperiums der Seuche zum Opfer, was nach Meinung von Historikern für den Niedergang des oströmischen Reiches verantwortlich war. Allein in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, tötete die Justinianische Pest täglich 10 000 Menschen.

Doch dies war erst der Auftakt des großen Sterbens. In der Zeit von etwa 1330 bis ins 18. Jahrhundert kam es in Europa immer wieder zu schweren Ausbrüchen der Pest. Der folgenreichste ereignete sich in den Jahren 1347 bis 1353. Diese Pandemie, die als Schwarzer Tod in die Geschichtsbücher eingehen sollte, hatte ihren Ursprung in Kaffa (heute Feodossija) auf der ukrainischen Halbinsel Krim, von wo aus sie sich binnen eines Jahres über Griechenland nach Italien, Frankreich, Spanien, Portugal und Nordafrika ausbreitete. Ein Jahr später war ganz Spanien betroffen, ebenso ganz Frankreich, Südengland und Süddeutschland. Im Verlaufe der nächsten zwei Jahre hatte die Seuche ganz Deutschland, England und Skandinavien in ihren Fängen.

Man geht davon aus, dass ein Drittel der europäischen Bevölkerung starb, insgesamt 15 bis 25 Millionen Menschen. Besonders schwer wütete der Schwarze Tod in England (30 bis 50 Prozent der Bevölkerung starben) sowie in Norwegen und Island (zwei Drittel der Bevölkerung gingen daran zugrunde). Paris verlor 150 000 seiner 200 000 Bürger, Magdeburg 50 Prozent, Hamburg 60 und Venedig 75 Prozent.

Nach dieser großen Pandemie flammte die Pest immer wieder auf: 1665 in London, 1708 in Deutschland, Skandinavien, Österreich und Russland, 1720 in Marseille. Man vermutet, dass die Pest vom 14. bis zum 18. Jahrhundert rund 50 Millionen Europäern das Leben kostete.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann in China eine neue große Pestpandemie, die in weiten Teilen Südostasiens ungezählte Menschenleben forderte und schließlich bis nach Nordamerika und Australien vordrang. Während dieses Seuchenzuges machten sich zwei Bakteriologen daran, den Verursacher des Sterbens zu finden: der in der Schweiz lebende Franzose Alexandre Yersin (1863–1943) und der Japaner Shibasaburo Kitasato (1852–1931). Im Jahre 1894 glaubten beide, das Pestbakterium gefunden zu haben. Das richtige aber hatte nur Yersin entdeckt. Er nannte es »Pasteurella pestis«, das ihm zu Ehren später in »Yersinia pestis« umbenannt wurde.

Erst zwischen 1896 und 1905 erkannten die Mediziner Masanori Ogata und Paul Simond den Zusammenhang zwischen dem massenhaften Sterben von Ratten und dem Ausbruch der Pest. Ratten sowie andere Tiere (zum Beispiel Murmeltiere, Präriehunde, Eichhörnchen) bilden ein sogenanntes natürliches Reservoir für das Pestbakterium. Das heißt, dass der Erreger auch diese Tiere befällt. Sterben nun die Ratten oder andere Wirtstiere, so suchen sich deren Flöhe einen neuen Wirt, beispielsweise den Menschen. Dabei übertragen sie die ursprünglich von der Ratte stammenden Bakterien auf den Menschen und infizieren diesen damit.

Auch heute noch existieren in vielen Weltgegenden Tierpopulationen, die mit dem Pestbakterium infiziert sind, etwa im Kaukasus, in Russland, Südostasien, China, Afrika, in Mittel- und Südamerika sowie im Südwesten der USA, nicht jedoch in Europa und Australien. Es wundert deshalb wenig, dass es nach wie vor zu Ausbrüchen kommt. Da sich die Erkrankung mittels Antibiotika in einem frühen Stadium jedoch gut behandeln lässt, scheint sie ihren Schrecken verloren zu haben, taucht aber immer mal wieder auf. Im Jahre 2003 etwa meldeten neun Länder (vornehmlich in Afrika) der Weltgesundheitsorganisation insgesamt 2118 Fälle mit immerhin »nur« 182 Todesfällen.

Pocken: Schlimmer als Musketen und Goldgier

Hunger und Pockennot richteten entsetzliche Verheerungen unter ihnen [den Indianern] an, denn wer der Seuche entkam, starb aus Brotmangel. Der Gestank verwesender Leichname, die niemand anzurühren oder zu beerdigen wagte, verpestete weite Gebiete. Die Häuptlinge befahlen schließlich, die Häuser einzureißen und die Toten notdürftig mit Schutt und Trümmern zu bedecken.

López de Gómara (1511–1566), Conquista de Mexiko, 1533 (zit. nach S. Winkle)

Während die Pest ihre Hochzeit in Europa vom 14. bis zum 18. Jahrhundert hatte, entwickelten sich die Pocken ab Mitte des 16. Jahrhunderts mit 10 bis 15 Prozent aller Todesfälle zu einer der häufigsten Todesursachen. Die Pocken werden von Variolaviren ausgelöst, die nach einer symptomfreien Zeit von 12 bis 14 Tagen zu hohem Fieber mit starkem Krankheitsgefühl (Kreuz- und Rückenschmerzen) führen. Hat das Fieber seinen Höhepunkt nach etwa vier Tagen überschritten, zeigt sich ein masernähnlicher Hautausschlag. Anschließend steigt das Fieber wieder, während aus den Flecken tief sitzende Knötchen werden. Aus ihnen bilden sich Bläschen auf der Haut, die zusammenfließen und eitrige Pusteln bilden. Überlebt der Kranke die Pocken, so bilden sich auf den Pusteln Borken, die nach etwa zwei Wochen abfallen und die typischen Pockennarben hinterlassen. In 25 bis 40 Prozent der Fälle aber verläuft die Krankheit tödlich.

Obgleich die Viren Menschen jeden Alters befallen können, grassierten Pocken vor allem unter Kindern, die dann entweder starben oder zeitlebens von hässlichen Narben entstellt und oft erblindet waren. Da sich Pockenviren nur unter Menschen verbreiten können – sie also nicht wie etwa das Pestbakterium einen tierischen Wirt haben –, benötigen sie eine ausreichend große Bevölkerungszahl, um am Leben zu bleiben. Und da es entsprechend große Menschengruppen frühestens ab der Jungsteinzeit vor circa 10 000 Jahren gab, können auch die Pocken nicht älter sein. Tatsächlich findet sich der erste Hinweis auf Pocken im Gesicht einer Mumie, dem des circa 1157 v. Chr. verstorbenen Pharaos Ramses V. aus Ägypten, das die typischen Pockennarben aufweist. Auch ein chinesisches Manuskript, entstanden etwa 40 Jahre nach dem Tod des Pharaos, beschreibt eine Krankheit, bei der es sich um die Pocken gehandelt haben könnte. Der erste eindeutige Beleg für die Existenz der Pocken aber stammt aus der Feder des Arztes Rhazes (Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi), der im 9. Jahrhundert n. Chr. in Bagdad lebte. Er schrieb die Abhandlung über Pocken und Masern, die zweifelsfrei eine Beschreibung der Pockensymptome enthält.

Die Pocken wurden in Europa zu keiner Zeit so sehr gefürchtet wie etwa die Pest. Doch in der Neuen Welt schlugen die Pocken kurz nach Kolumbus’ Ankunft im Jahre 1492 mit verheerender Macht zu. Die Spanier und die von ihnen mitgebrachten afrikanischen Sklaven schleppten die Pocken – und andere Krankheiten – ein, die binnen eines Jahrhunderts rund 90 Prozent der amerikanischen Ureinwohner ausrotteten und mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Zusammenbruch des Aztekenreiches in Mexiko sowie des Inkareiches in Peru führten. Auch wenn die Schätzungen weit auseinanderliegen, starben in der Neuen Welt etwa 50 bis 100 Millionen Ureinwohner an den Pocken und anderen »importierten« Krankheiten. Dass diese Seuchen dort so verheerende Auswirkungen hatten, während sie in Europa weit weniger grausam wüteten, hat einen einfachen Grund: Die Krankheiten waren dort unbekannt und trafen auf eine Bevölkerung, die – anders als in Europa – keine natürliche Immunität hatte aufbauen können. So überlegen auch die Waffen der spanischen und portugiesischen Invasoren waren und so gnadenlos und brutal auch ihr Vorgehen, war der Niedergang der amerikanischen Ureinwohner doch in erster Linie eine Folge der eingeschleppten Krankheiten.