Echo Lake - Mein Herz schlägt für dich - Maggie McGinnis - E-Book

Echo Lake - Mein Herz schlägt für dich E-Book

Maggie McGinnis

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Beschreibung

In Echo Lake ist Herzflimmern garantiert! Delaney liebt ihren Job im Krankenhaus von Echo Lake - bis ihr Chef sie beauftragt, auf der Kinderstation Einsparpotenziale ausfindig zu machen. Bei ihrer Recherche trifft sie auf Kinderarzt Josh, der vor lauter Arbeit nicht weiß, wo ihm der Kopf steht, und sie deutlich spüren lässt, für was er sie hält: eine junge Frau, die von nichts eine Ahnung hat. Als es plötzlich um Leben und Tod eines jungen Patienten geht, arbeiten Delaney und Josh jedoch Seite an Seite. Finden auch ihre Herzen zusammen?

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536EpilogDank

Über das Buch

In Echo Lake ist Herzflimmern garantiert! Delaney liebt ihren Job im Krankenhaus von Echo Lake – bis ihr Chef sie beauftragt, auf der Kinderstation Einsparpotenziale ausfindig zu machen. Bei ihrer Recherche trifft sie auf Kinderarzt Josh, der vor lauter Arbeit nicht weiß, wo ihm der Kopf steht, und sie deutlich spüren lässt, für was er sie hält: eine junge Frau, die von nichts eine Ahnung hat. Als es plötzlich um Leben und Tod eines jungen Patienten geht, arbeiten Delaney und Josh jedoch Seite an Seite. Finden auch ihre Herzen zusammen?

Über die Autorin

Maggie McGinnis lebt mit ihren Kindern und Katzen in New England. Mit ihren romantischen Liebesromanen hat sie sich in den USA einen Namen gemacht und die USA-Today-Bestsellerliste erobert. Auch für den Golden Heart Award der amerikanischen Romance-Autoren war sie bereits nominiert. Mit ihren Romanen »Zweimal ist für immer« und »Küss mich, Doc« sowie ihrer Novelle »Ein Tanz im Schnee« nimmt sie uns mit ins zauberhafte Vermont.

MAGGIE McGINNIS

MeinHerz schlägtfür dich

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Angela Koonen

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Deutsche Erstausgabe

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by Maggie McGinnis

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Heart Like Mine«/02 Echo Lake

Published by arrangement with St. Martin’s Press, LLC.

All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Kerstin Ostendorf, Bonn

Titelillustration: © getty-images: DenisTangneyJr | Cecilie_Arcurs

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-7802-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für meine Töchter

Mögen sie eines Tages auch ihreunvollkommenen Helden finden

1

Hier riecht es nach Schweiß, verbranntem Kaffee und Tränen. Das war Delaney Blairs erster Gedanke, als sie sich in Erwartung ihres Todesurteils in den Besuchersessel vor dem Schreibtisch des Finanzchefs setzte.

Während der vergangenen Woche hatten dort schon sechs Kollegen gesessen, und jeder war anschließend von einer Eskorte des Personalbüros aus dem Haus geleitet worden, mit einem Logo-Kaffeebecher des Mercy Hospital und einem Stoffbeutel als zynischem Abschiedsgeschenk.

Rein äußerlich war sie eine erfolgreiche Finanzanalystin. Sie trug ein anthrazitgraues Business-Kostüm, ein professionelles Lächeln und ihre bevorzugten Jimmy Choos. Innerlich war sie jedoch so nervös, dass sich ihr Magen ständig zusammenzog.

Während Gregory noch mit seinem Kuli spielte, rechnete sie aus, wie lange ihre Ersparnisse für die Raten ihrer nagelneuen Wohnung reichen würden.

Nicht lange.

»Werde ich entlassen, Gregory? Bitte, sagen Sie es geradeheraus.«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Aber wenn Sie hören, was auf Sie zukommt, werden Sie sich wünschen, es wäre so.«

Frustriert strich er sich mit beiden Händen übers Gesicht. Delaneys Nervosität stieg. Sie hatte ihn bisher immer als ruhigen, nüchternen Menschen erlebt.

»Ich habe eine Aufgabe für Sie, aber … die wird Ihnen nicht gefallen. Gestern hat eine Vorstandssitzung stattgefunden. Am Ende wurde ein ziemlich bitterer Beschluss gefasst.« Abermals seufzend lehnte er sich zurück. »Wir müssen umfassende Kürzungen vornehmen, andernfalls kann das Krankenhaus dieses Jahr seine Zahlungspflichten nicht erfüllen.«

»Wie umfassend?«

»In allen Abteilungen. Bei allen Budgets.«

Delaney ließ sich gegen die Rückenlehne sinken und schloss die Augen. Manche Abteilungen arbeiteten schon jetzt mit Minimaletat. Das war das ewige Problem von Kleinstadtkliniken, aber im ländlichen Vermont war es noch ausgeprägter. Da Boston mit seinen vielen Großkliniken nur ein paar Stunden entfernt lag, nahmen die wohlhabenden, gut versicherten Patienten die Autofahrt auf sich, um sich dort behandeln zu lassen. Dadurch blieben kleineren Krankenhäusern wie dem Mercy nur die Notfälle und das bisschen Geld der schlecht oder gar nicht versicherten Landbevölkerung, die selbst jeden Cent zweimal umdrehen musste.

Delaney nahm den Schreibblock aus der Tasche und zückte den Kugelschreiber. Ich habe meinen Job noch. Mit diesem erleichternden Gedanken versuchte sie, die Mission-Impossible-Melodie in ihrem Kopf zu übertönen.

»Gut. Wann will der Vorstand den Kürzungsplan haben?«

»In dreißig Tagen.«

»In einem Monat?«, fragte Delaney ungläubig. »Sie lassen uns nur einen Monat Zeit?«

»Ich weiß.« Er seufzte ein weiteres Mal. »Und die jüngsten Entlassungen sind wahrscheinlich nur der Anfang.«

»Ich nehme an, Sie haben schon festgelegt, welche Abteilungen ich mir vornehmen soll?« Sie schloss die Faust um ihren Stift, damit nicht auffiel, dass ihre Hand zitterte. Wie sollte sie kürzen, wo nichts mehr zu holen war?

»Zunächst gebe ich Ihnen nur eine. Der Vorstand hat einer Schwerpunktliste für die erste Kürzungsrunde zugestimmt, und im folgenden Monat werden wir die nächste Stufe in Angriff nehmen.«

»Gut. Welche Abteilung hat diesen Monat den Kürzeren gezogen?«

Gregory holte tief Luft. »Die Pädiatrie.«

»Die … wie bitte?« Delaneys Stift glitt ihr aus der Hand und fiel auf den Teppich. »Sie lassen mich das Budget der Kinderstation kürzen?«

Gregory stand auf, ging zum Fenster, kehrte um und lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. Er deutete auf sein Gesicht. »Sehen Sie die dunklen Ringe unter meinen Augen? Ich habe mir drei Nächte um die Ohren geschlagen, um eine Lösung zu finden. Ich wollte Ihnen die Kinderstation nicht zuweisen.«

»Warum tun Sie es dann?«

»Weil ich diese Aufgabe noch weniger jemand anderem geben will. Die Kinderstation liegt Ihnen am Herzen, Delaney.«

»Allerdings! Warum sollte ich ihr dann Geld wegnehmen wollen?«

»Ich weiß, dass Sie es nicht wollen. Aber wenn ich die Aufgabe nicht Ihnen übertrage, muss ich sie Kevin geben. Soll er etwa das Budget zusammenstreichen?«

Delaney sah ihren blonden Büronachbarn, diesen Blödmann, lebhaft vor sich und schüttelte hastig den Kopf. »Um Gottes willen, nein.«

»Wir sitzen zwischen den Stühlen, Delaney. Ich weiß, es tut Ihnen weh, den Rotstift anzusetzen, aber ich denke, es wäre für Sie noch schlimmer, wenn jemand anderes das tut. Bei Ihnen kann ich mich darauf verlassen, dass Sie wohlüberlegt und objektiv an die Sache herangehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das über … andere auch behaupten kann.«

Aufgewühlt hob Delaney ihren Stift vom Boden auf. Verdammter Mist! Die Kinderabteilung war mit Abstand der letzte Ort, an dem sie anfangen wollte, Gelder zu streichen, und doch musste sie nun genau das tun.

»Ist dem Vorstand klar, dass wir vielleicht wichtige Projekte aufgeben müssen? Und Personal?«

Er presste die Lippen aufeinander und nickte. »Ja, aber uns bleibt keine andere Möglichkeit. Wir müssen eben darauf achten, dass die Budgetanpassungen die Patienten möglichst wenig beeinträchtigen.«

»So nennen wir das jetzt? Budgetanpassung?« Delaney schüttelte den Kopf. »Sollen wir die Sache offen angehen? Kennen die leitenden Ärzte die Zahlen?«

Gregory seufzte. »Wenn nicht, dann haben sie den Kopf bisher in den Sand gesteckt. Eigentlich sollten wir Kooperation erwarten können. Aber Sie wissen ebenso gut wie ich, dass kein Stationsleiter in diesem Krankenhaus freiwillig sein Behandlungsangebot kürzt. Da rennen wir gegen eine Wand, Delaney.«

Sie nickte langsam. Ihr schwirrte der Kopf. »Gibt es eine Zielvorgabe? Einen Prozentsatz? Womit arbeite ich?«

Nach kurzem Zögern begab Gregory sich hinter seinen Schreibtisch, nahm einen Stoß zusammengehefteter Blätter und reichte ihn ihr. Dabei tippte er mit grimmiger Miene auf den unteren Rand des Deckblatts.

»Da steht die Zahl.«

Delaney starrte darauf, bis ihr die Ziffern vor den Augen verschwammen. Es war unmöglich, ganz und gar unmöglich, in der pädiatrischen Abteilung so viel Geld einzusparen. Oder in irgendeiner anderen.

»Gregory …«

»Ich weiß.« Er klopfte ihr zweimal auf die Schulter und ging zur Tür, um sie zu öffnen. »Ich schlage vor, Sie geben in den nächsten Wochen möglichst viel Arbeit an Megan ab, damit Sie genügend Zeit haben.«

Da das Gespräch offenbar beendet war, stand sie auf. »Danke. Dass Sie mich nicht entlassen haben.«

Er lächelte müde. »Schön, dass ich heute wenigstens einen glücklich machen konnte.«

»Ich bezweifle, ob glücklich -«

»Ich weiß.« Er deutete auf die Papiere und kehrte zu einem ernsten Ton zurück. »Wir müssen das hinkriegen, Delaney. Wenn nicht, bekommen wir vielleicht beide am Ende des Monats einen Kaffeebecher und eine Eskorte zum Ausgang.«

Zehn Stunden später nahm Delaney einen großen Schluck von ihrer Frozen Margarita und hoffte, den Arbeitstag mithilfe des Tequilas möglichst schnell zu vergessen. Im Mexicali, dem neuesten Restaurant der Stadt, hatten sie und Megan einen Tisch im Freien ergattert und kurz darauf die Drinks bekommen, die dazu geschaffen waren, einen jeden miesen Tag vergessen zu lassen.

Durch das Ambiente einer umgebauten Mühle mit hohen Holzbalken und warmen Ziegelmauern, die noch dazu mitten in Echo Lake stand und einen tollen Blick auf den Abenake River bot, war das Mexicali bereits äußerst beliebt. Noch besser als die Lage gefielen Delaney die Margaritas, von denen jeder nur zwei pro Abend bekam, und die hausgemachten Tortillachips.

Sie hob ihre Haare an, damit die leichte Brise ihr den Nacken kühlte. Den Tisch im Freien hatten sie nur bekommen, weil es auf der Terrasse eigentlich zu heiß war, aber sie konnte dem Reiz des Flusses nie widerstehen.

Megan kramte ein Haargummi aus ihrer Beuteltasche hervor und band ihre langen blonden Locken zu einem verschlungenen Knoten. Delaney beneidete ihre Assistentin um den langen Bauernrock und die weite Bluse. Darin war ihr sicherlich nicht so warm wie Delaney in ihrem Bürokostüm, das sie nicht mehr gegen etwas Luftigeres hatte eintauschen können.

Megan studierte die Speisekarte. »Nehmen wir die Nachos?«

»Schwimmen Fische im Wasser?«

»Die meisten. Zumindest alle, die du nicht übers Wochenende zum Füttern hattest.« Megan zog eine Braue hoch, und Delaney beugte sich tiefer über ihre Karte.

»Ich habe mich schon tausendmal dafür entschuldigt. Ich konnte nicht ahnen, dass Mrs. Rileys Katze sich auf meine Veranda schleichen würde. Oder dass sie eine Vorliebe für Goldfische hat.«

»Für meine zukünftigen Kinder werde ich dich nicht als Babysitterin engagieren, nur falls du dich das fragst.«

Delaney tat, als ob sie schauderte. »Sehr gute Entscheidung.«

Sie sah über das Geländer auf den Fluss, der für Juli noch bemerkenswert schnell dahinströmte. Während sie das Wasser betrachtete, kam ihr eine Erinnerung – an einen heißen Sommertag, große Reifenschläuche, Geplansche und Gelächter … und einen Rettungswagen.

Blinzelnd schüttelte sie die Bilder ab.

Megan hatte das Kinn in die Hand gestützt. Sie rührte träge in ihrem Glas und blickte Delaney unverwandt an. »Weißt du, deine neue Aufgabe hat auch etwas Gutes.«

»Wie das?«

»Da Dr. Kendrick sein Sabbatjahr hat, wirst du mit dem vorübergehenden Leiter der Kinderstation zusammenarbeiten, Josh Mackenzie.«

»Und?« Delaney sah sie fragend an. Sie war dem Mann noch nie begegnet, aber er konnte nicht anders sein als die übrigen Klinikärzte: überarbeitet, genervt von ständigen Besprechungen und voreingenommen gegen Mitarbeiter der Finanzabteilung.

»Du kennst Josh Mackenzie nicht?«

»Nein. Seit mir die Budgetkürzung seiner Station aufs Auge gedrückt wurde, hat er meine Einladungen zu einem Gespräch ignoriert.« Für sie war der Name bloß eine Unterschrift auf Verwaltungsformularen.

»Du weißt, ich habe das schon tausendmal gesagt, aber es wäre gut, wenn du ab und zu mal die Vorstandsetage verlassen und die echten Menschen treffen würdest, die im Mercy arbeiten.«

»Ich … treffe jede Menge von ihnen.« Delaney zog die Brauen zusammen. Sie hatte keine Zeit, um in der Cafeteria oder am Wasserspender auf dem Flur herumzutrödeln.

»Du bist zurückhaltend. Du bist schwer beschäftigt. Du hast keine Zeit für Geselligkeit unter Kollegen. Das sehe ich doch.«

»Was du nicht alles siehst! Ich habe dir Gregorys Zahlen gezeigt. Wir sind dem Untergang geweiht.«

Megan nippte an ihrer Margarita, in der das Eis schnell schmolz. Am Stiel des Glases rann das Kondenswasser herab. Delaney war so müde, dass sie einen Tropfen verfolgte, bis er in die Serviette einzog.

Megan schnippte mit den Fingern vor Delaneys Gesicht. »Hey … Hast du schon Ideen, wie du die Sache angehen willst? Meiner Ansicht nach wird man echte Menschen einbeziehen müssen. Viele vielleicht.«

»Eine sehr lustige Idee.« Delaney versuchte, ein Stückchen Eis mit dem Strohhalm aufzuspießen. »Ich habe mir eine Liste von Ausgabenbereichen gemacht, die zu prüfen sind. Ich habe einen Plan. Es muss etwas geben, das wir streichen können, ohne die Sicherheit der Patienten zu gefährden, oder?«

Seit dem Gespräch mit Gregory war sie in Gedanken mit dem Problem beschäftigt. Den Nachmittag über hatte sie eine Liste nach der anderen geschrieben und die Zahlen von fünf Haushaltsjahren verglichen, bis sie glasige Augen bekommen hatte.

»Okay, sag’s mir. Was hast du vor?«

»Als Erstes werde ich ein Gespräch mit Dr. Mackenzie ansetzen. Morgen früh.«

Megan nickte nachdenklich. »Was willst du sagen? Wie willst du es angehen?«

Delaney straffte die Schultern, was sie in den letzten acht Stunden auffällig oft getan hatte. »Ich werde mich vorstellen und sagen, ich sei mit einer routinemäßigen Prüfung der Abteilungsbudgets betraut. Dann frage ich ihn, ob er Vorschläge machen möchte, wo wir kürzen können.«

»Na, ob das so klappt, ist fraglich.«

»Ich weiß.« Delaney machte ein düsteres Gesicht.

»Es wäre vielleicht besser, ganz direkt zu sein, meinst du nicht auch?«

»Nicht, wenn ich ein zweites Gespräch möchte.«

»Gutes Argument.« Megan schien kurz zu überlegen. »Mir kommt da eine Idee.«

»Ich bin ganz Ohr.«

Megan zeigte mit ihrem Strohhalm auf Delaneys Brust. »Du könntest ein, zwei Knöpfe offen lassen. Bei dem Gespräch.«

»Wie bitte? Das ist deine Lösungsidee?«

»Ich meine ja bloß. Du stehst schon auf der Verliererseite, bevor der Kampf losgeht. Er wird dich nicht willkommen heißen, und er wird nicht kooperieren. Garantiert nicht.«

»Das ist doch albern.« Delaney griff sich automatisch an die Knopfleiste ihrer Bluse. »Ich werde ganz bestimmt nicht meinen …«

»Ach, komm.« Megan zwinkerte. »Die uralten Tricks wirken nicht ohne Grund, weißt du. Er ist jung, er ist Single …«

»Also, im Ernst, Meg.«

»Na schön. Willst du einen guten Rat von jemandem, der den ganzen Tag mit Menschen zu tun hat, anstatt mit Zahlen?«

»Ich versuche jetzt mal, nicht beleidigt zu sein. Falls dir das etwas bedeutet.«

Megan lachte. »Du musst dich bei ihm beliebt machen, sein Vertrauen gewinnen. Und zwar bevor du anfängst, seine Gelder zusammenzustreichen.«

»Natürlich. Ganz klar.« Delaney räusperte sich. »Äh, hast du eine Idee, wie ich das tun soll? Sein Vertrauen gewinnen, meine ich.«

Grinsend schob sich Megan einen Tortillachip in den Mund. »Indem du einen Knopf mehr öffnest.«

2

»Ha, Doc. Hier haben Sie sich versteckt.«

Josh schreckte hoch und schaute blinzelnd auf sein Handy. Scheiße. Beim vorigen Blick auf das Display war es noch Montagabend gewesen. Jetzt war es Dienstagmorgen, sieben Uhr. Er hatte Kaya die halbe Nacht lang im Arm gewiegt. Ihm tat der Rücken höllisch weh, weil er stundenlang in derselben Haltung im Schaukelstuhl gesessen hatte.

Und jetzt trat die Oberschwester der Kinderstation ihren Dienst an. Er seufzte. Millie war alt genug, um seine Mutter zu sein, und wer glaubte, jemand anderes als sie leite die Station, war auf dem Holzweg. Josh Mackenzie mochte vorübergehend Leiter der pädiatrischen Abteilung sein, aber Millie Swan hatte eindeutig das Sagen.

Müde strich er sich übers Gesicht und merkte, dass er sich dringend rasieren sollte. »Ich habe mich nicht versteckt.«

»Wie geht es ihr?« Millie deutete mit dem Kinn auf das vierjährige Mädchen.

»Sie hatte eine schlimme Nacht.«

Millie zog die Brauen hoch. »Haben Sie sie die ganze Nacht im Arm gehalten?«

»Nicht die ganze.« Ihm war unwohl bei der Lüge, aber Millie bekäme einen Anfall, wenn sie wüsste, dass er – seit wann? – seit Sonntag kaum geschlafen hatte.

»Josh, Sie betreiben Raubbau an Ihren Kräften.«

Er senkte den Blick auf seine Patientin, da sie gerade im Schlaf stöhnte, und sprach flüsternd weiter. »Was hätte ich tun sollen, Millie? Sie alleinlassen? Wir wissen doch beide, dass wir selbst in den ruhigsten Nächten nicht genügend Krankenschwestern haben. Und diese Nacht war allerhand los. Das haben Sie bestimmt schon gehört.«

»Ja.« Millie strich der Kleinen die Haare aus der Stirn und sagte sanft: »Ich wünschte, ihre Eltern könnten bei ihr sein. Das arme Ding ist viel zu oft allein.«

Er deutete mit dem Kopf zum Flur. »Wie läuft es da draußen?«

»Tja, die Station ist voll belegt, und zu allem Überfluss sind heute die vier frischgebackenen Ärzte gekommen, die von Tuten und Blasen noch keine Ahnung haben.«

Josh lachte leise. »Das ist nicht nett.«

»Die stehen herum und machen einen nutzlosen Eindruck. Wie soll ich es anders ausdrücken?«

»Millie, die sind zum ersten Mal auf einer Station. Natürlich sind sie noch nutzlos. Das ist jeden Juli so, wenn die Neuen kommen.«

»Na ja, ich mochte die Alten. Wir haben diese Woche keine Zeit, um den Neulingen etwas beizubringen. Die Station platzt aus allen Nähten.«

»Dann sind sie wenigstens vom ersten Tag an der vollen Belastung ausgesetzt. Das ist der Traum jedes neuen Assistenzarztes.«

Sie schnaubte frustriert. »Und der Albtraum jeder Oberschwester. Wir sind schwer in Versuchung, sie in den Putzmittelraum zu stecken.«

Josh schüttelte lächelnd den Kopf. Millie sah seit über dreißig Jahren jeden Juli die neuen Assistenzärzte kommen und die alten gehen. Sie wusste ganz genau, wie die Ausbildung lief, und am Ende ihrer Zeit waren die Ärzte der Kinderstation immer die besten. Millie nörgelte eine Woche lang herum, bis die Neuen kapiert hatten, wer der Boss war.

Nämlich Millie.

»Das schaffen wir schon, Millie. Wie immer.«

»Okay.« Sie wirkte ein wenig beschwichtigt, aber wie er aus Erfahrung wusste, würde das höchstens drei Minuten anhalten. »Ach, übrigens, Therese hat Ihnen gerade einen frischen Kaffee auf den Schreibtisch gestellt.«

»Sie wollen mir ja bloß den Bürosessel schmackhaft machen.«

»Schon möglich, aber zu meiner Verteidigung: Ich würde Sie im Bereitschaftsraum verstecken, wenn ich Ihnen dadurch ein paar Stunden Schlaf verschaffen könnte.«

»Ich weiß.« Er gähnte unwillkürlich.

»Kommen Sie.« Millie beugte sich herunter und streckte die Hände aus. »Geben Sie mir das Kind, und gehen Sie den Kaffee trinken. Dann lasse ich Sie vielleicht an die Patienten heran. Solange ich hier arbeite, läuft kein halbtoter Doc durch meine Flure.«

Behutsam übergab er ihr die schlafende Kaya, dann lehnte er sich zurück und reckte sich.

»Ach, eines noch«, sagte Millie und drehte sich an der Tür noch einmal um. »Therese hat eben einen interessanten Anruf für Sie entgegengenommen. Jemand aus der Finanzabteilung.«

Josh riss die Augen auf. Anrufe von dort bedeuteten selten etwas Gutes. »Worum geht es?«

»Keine Ahnung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie kennen Therese. Sie wird es Ihnen selbst sagen wollen.«

Als Millie den Flur entlangeilte, musste er trotz seiner plötzlichen Gereiztheit lächeln. Oh ja, er kannte Therese. Sie war die Stationssekretärin, und sie wusste von jedem Anruf, von jedem Schriftstück, das die Abteilung passierte. Sie verwaltete die Terminpläne, sie entschied, welcher Patient in welches Zimmer gelegt wurde und welche Kollegen zu Mittag essen gehen durften – und wann. Ihre Macht auf der Kinderstation war monumental, aber Josh hatte schnell begriffen, dass unter ihrer rauen Schale ein weicher Kern steckte.

Darum standen auf ihrem Schreibtisch jeden Montagmorgen frische Blumen, dank der Dauerlieferung, die er in seinem ersten Monat am Mercy veranlasst hatte. Ihr Geburtstag war in seinem Kalender eingetragen, und er ließ sich von seiner guten Freundin Josie helfen, bei jedem gegebenen Anlass das richtige Geschenk auszusuchen.

Und deshalb durfte er mittags essen gehen … manchmal.

Er stemmte sich aus dem Schaukelstuhl, um den Raum zu verlassen. In der Tür hielt er inne und schaute seufzend zum Schwesternzimmer. Auf dem Flur herrschte emsiger Betrieb. Josh war sich nicht sicher, ob er schon bereit war, es mit den Anforderungen des Tages aufzunehmen. Doch das musste er. Sie hatten auch so schon zu wenig Ärzte, zu wenig Pflegepersonal, zu wenig von allem.

Ja, es sah ganz so aus, als hätte er wieder einen Tag ohne Mittagessen vor sich.

Die Finanzabteilung würde warten müssen.

Sechs Stunden später ging Josh auf dem Weg zu einem Patienten am Schwesternzimmer vorbei, als Therese sich über den Tresen beugte und ihn heranwinkte. »Dr. Mackenzie, wenn Sie einen Moment Zeit haben, würde ich gern ein paar Dinge mit Ihnen erledigen.«

Er sah auf die Uhr und drehte sich um. Du lieber Himmel! Wieso war es plötzlich Nachmittag? Ihm knurrte der Magen. Seit er um halb acht im Pausenraum das Schälchen Mikrowellen-Haferbrei in sich reingeschaufelt hatte, hatte er nichts mehr gegessen.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Therese: Wenn Sie mir ein Sandwich besorgen, bin ich Ihr Sklave.«

Sie lachte. »So einen habe ich schon einen zu Hause. Im Moment brauche ich von Ihnen nur ein paar Unterschriften.«

Sie reichte ihm ein Tablet über den Tresen und drehte ihren Computerbildschirm so, dass er lesen konnte, was er unterschrieb. Während er sich durch Behandlungsanweisungen und Medikamentenrezepte klickte, blätterte Therese durch Mitteilungszettel. Alle Benachrichtigungen liefen über Computer, aber da Josh nie Zeit hatte, sich in sein Büro zu setzen, griffen sie zusätzlich auf die altmodischen rosa Formulare zurück.

»Möchten Sie eine Übersicht?« Sie hielt den Stapel hoch und fächerte ihn auf wie ein Kartenblatt.

»Wenn’s nicht anders geht.«

»Dr. Peterson bittet um einen Rückruf wegen Ian. Aus der Radiologie sind die Befunde für den Kleinen in Zimmer vier gekommen, und bei Sasha soll morgen eine Lumbalpunktion gemacht werden.«

Josh zog mitfühlend die Brauen zusammen. »Das wird ihr gar nicht gefallen. Können Sie dafür sorgen, dass dann eine Sozialarbeiterin bei ihr ist?«

»Habe sie schon eingeplant.«

»Danke.« Er gab ihr das Tablet zurück. »Also wird nichts aus meinem Sandwich?«

»Bedaure. Darum müssen Sie sich selbst kümmern. Ich habe Ihnen heute schon Kaffee gebracht.«

Schmunzelnd wandte er sich ab, um zu seinem Büro zu gehen. Er brauchte etwas im Magen, bevor er nach einem Patienten schaute. Vielleicht fand sich in einer Schreibtischschublade noch ein Päckchen Erdnussbutter-Kräcker oder etwas Ähnliches.

Doch er kam nur drei Schritte weit, da Therese ihn noch einmal aufhielt. »Ach, eine Nachricht habe ich noch für Sie: Delaney Blair von der Finanzabteilung möchte Sie sprechen.«

Josh runzelte die Stirn. Den Namen kannte er, aber nicht das Gesicht dazu. Das musste der Anruf sein, von dem Millie heute Morgen erzählt hatte.

»Was will sie?«

»Das wollte sie nicht sagen.«

Er nahm den rosa Zettel, auf dem Delaneys Durchwahl notiert war. »Ich melde mich später bei ihr.«

»Sie hat es heute schon zweimal versucht. Es scheint wichtig zu sein.«

Seufzend ging er in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Er schaute zu seinem Schreibtischsessel, sehr in Versuchung, für fünf Minuten die Augen zuzumachen. Aber bei einem Blick durch das Gangfenster verwarf er den Gedanken wieder.

Zurzeit lagen bei ihnen Kinder mit Krebs, mit Infektionskrankheiten, mit Mitochondriopathie und Anorexie, Kinder, die zu Hause keine ausreichende Pflege erhielten und solche, die frisch operiert waren oder denen die OP noch bevorstand.

Die Krankenschwestern taten ihr Bestes, um die viele Arbeit zu bewältigen. Doch wenn er den Gang hinunterblickte, stand außer Zweifel, dass er irgendwie an mehr Personal kommen musste.

Vielleicht war es das, worüber diese Ms. Blair mit ihm reden wollte: eine personelle Aufstockung.

Na klar.

Er sah auf das rosa Formular, zerknüllte es schließlich und warf es in den Papierkorb. Er hatte keine Zeit, um in die Vorstandsetage hochzufahren und sich anzuhören, dass sie mehr mit weniger erreichen müssten oder neue Vorschriften anstünden oder der Klinikauftrag mehr Engagement verlange.

Wenn jemand aus den heiligen Hallen der Finanzabteilung ein Gespräch wünschte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Nach einem Blick auf den hektischen Flur betrachtete er den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch, für den er auch heute keine Zeit haben würde.

Wenn Ms. Blair ihn sprechen wollte, würde sie zu ihm kommen müssen.

»Du wirst eben zu ihm gehen müssen, Delaney«, sagte Megan zwei Tage später und setzte sich halb auf Delaneys Schreibtischecke.

Delaney beneidete ihre Assistentin um das legere Outfit: langer Rock, Kreolen und eine lange, weite Baumwollbluse. Im College hätte sie dazu noch einen Schal um den Kopf und Schnürstiefel getragen, aber ins Büro kam sie mit einfachen Ledersandalen.

Delaney schaute an sich hinunter. Wann war sie eigentlich dieser Country-Club-Typ geworden? Sie sah ja fast aus wie ihre Mutter! Ihre ordentlich gebügelte Bluse wurde durch ein nüchternes Kostüm betont, und als sie an ihre Perlenkette fasste, seufzte sie. Dann glitt ihr Blick an ihren Waden entlang zu den Jimmy Choos, die sie sich vorigen Monat geleistet hatte. Das hatte sie einem Kaufrausch zu verdanken, ihrer Verneigung vor der Weiblichkeit und vor verschwenderischer Geldausgabe, und sie war vernarrt in die Schuhe, oh ja.

Aber die Perlen sollte sie unbedingt ausrangieren.

»Ich kann nicht einfach da runtergehen, Megan.« Wenn sie nur an die Kinderstation dachte, bekam sie eine Gänsehaut im Nacken. Nein, sie konnte definitiv nicht.

»Nun ja, offensichtlich kommt er aber nicht zu dir.«

»Wie kann er meine Anrufe einfach ignorieren? Er ist ganz schön unhöflich.«

»Oder vollauf beschäftigt. Hast du gesehen, wie viele Betten diese Woche bei denen belegt sind?«

»Nein«, räumte Delaney verlegen ein. Das gehörte nicht zu den Dingen, die sie täglich im Auge behielt.

»Es ist auch sehr gut möglich, dass er dich nicht absichtlich ignoriert. Ich meine ja bloß.«

»Das werde ich prüfen.« Delaney klickte sich in das System, in dem die Zahl der stationären Patienten erfasst wurde. Als sie zur pädiatrischen Abteilung kam, machte sie große Augen. »Du lieber Himmel …«

»Genau.« Megan nickte.

»So viele Betten haben die doch gar nicht.«

»Ich weiß. Sie mussten zwei Jugendliche zu den Erwachsenen verlegen.«

Delaney klickte den vergangenen Monat an. Die Patientenzahl schwankte, aber nur geringfügig.

»Es könnte also auch daran liegen, dass Dr. Mackenzie nicht zurückruft.« Megan neigte sich über den Schreibtisch zu Delaney und knöpfte ihr den obersten Blusenknopf auf. »Das heißt für dich: heute Nachmittag dritter Stock. Er kommt eindeutig nicht zu dir rauf.«

Delaney lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie war nie wieder auf der Kinderstation gewesen – nicht seit Parkers Tod.

»Delaney? Alles in Ordnung?« Megan musterte sie. »Du bist weiß wie die Wand, Mädchen. Jagt es dir solch einen Schrecken ein, außerhalb der Vorstandsetage mit jemandem reden zu müssen?«

»Nein«, hauchte Delaney.

»Oh.« Megan schlug sich die Hand vor dem Mund. »Oje. Es tut mir leid.« Sie kniff beschämt die Augen zusammen. »Es tut mir leid. Das war gedankenlos von mir.«

Delaney nickte langsam. »Schon gut. Es ist … lange her. Natürlich denkst du nicht mehr daran.«

»Hätte ich aber tun sollen. Es tut mir wirklich leid.« Megan suchte Blickkontakt, aber Delaney wich ihr aus. »Soll ich dich begleiten?«

»Nein, Meg. Ich will überhaupt nicht hingehen.«

»Aber …«

»Ich weiß. Er kommt nicht herauf.« Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Vielleicht wäre es doch gar nicht so schlimm. Vielleicht würde sie doch aus dem Aufzug steigen können, ohne vor Panik weiche Knie zu kriegen. Vielleicht würde sie doch nicht überall Parker sehen.

Vielleicht konnten Schweine doch fliegen.

Sie sah nach rechts, nach links, griff nach einem Stapel Unterlagen, legte ihn wieder hin. Dabei bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten.

Verfluchter Mist.

Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen, und dafür brauchte sie Dr. Mackenzies Mitarbeit. Und um seine Mitarbeit zu bekommen, musste sie den Mann offenbar auf seinem eigenen Territorium stellen.

Sie atmete tief durch. Sie musste … einfach hingehen. In den Aufzug steigen, auf die Drei drücken und sich zusammennehmen.

»Ich komme klar. Bestimmt.« Sie stand auf.

»Du gehst jetzt?«

»Muss ich ja.« Delaney legte sich eine Hand auf den Magen. Ihr war ein wenig übel. »Ich habe eine Deadline. Dr. Mackenzie lässt mir eigentlich keine Wahl.«

»Und ich soll dich ganz bestimmt nicht begleiten?«

Delaney musste sich zu einem Lächeln zwingen, was Megan ihr garantiert ansah. »Die Vorstandsetage muss sich schon genug anhören, weil sie mit der Alltagsrealität des Mercy nicht in Berührung kommt. Da sollte ich die Leute nicht auf den Gedanken bringen, ich bräuchte jemanden, der mir den Weg in den dritten Stock zeigt.«

»Ich bin doch deine Assistentin. Es würde gar nicht auffallen, wenn ich dabei bin – um Protokoll zu führen zum Beispiel.«

»Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Wirklich. Aber ich muss allein gehen. Das hätte ich längst mal tun sollen. Ich werde schon klarkommen.«

Megan zog nur stumm die Brauen in die Höhe.

»Na gut, es wird mir zusetzen. Aber ich werde es überleben. Besser?«

»Zumindest ehrlicher, ja.« Megan nahm Delaneys Notizbuch von ihrem Schreibtisch. »Hast du deine Liste mit den Kürzungsvorschlägen?«

»Ich dachte, ich soll beim ersten Gespräch auf nett machen.«

»Das war vor drei Tagen unsere Strategie, Liebes. Für nett haben wir keine Zeit mehr. Du wirst alles auf eine Karte setzen müssen, fürchte ich.«

Zehn Minuten später fuhr Delaney mit angehaltenem Atem in den dritten Stock hinunter. Als der Aufzug am vierten Stock vorbeisank, schloss sie den obersten Blusenknopf, der sich immer wieder durch das Knopfloch schob. Auf keinen Fall würde sie zu Megans Trick greifen, zumindest nicht jetzt schon.

Als die Türen zur Seite glitten, zögerte sie auszusteigen. Ihr Atem ging plötzlich zu schnell, ihre Arme begannen zu kribbeln. Sie war sehr versucht, den Türschließer zu drücken und das Gespräch auf später zu verschieben.

Jeden Tag, wenn sie zur Arbeit kam, parkte sie auf dem Angestelltenparkplatz, lief ein paar Hundert Meter über den Besucherparkplatz, marschierte durch das Foyer und drückte im Aufzug auf den obersten Knopf. In den fünf Jahren war sie immer am dritten Stock vorbeigefahren. Daher konnte sie jetzt überhaupt nicht einschätzen, wie sie nach dem Aussteigen zurechtkäme.

Schließlich machte sie doch den Schritt über die Schwelle und zuckte nervös zusammen, als sich die Türen leise zischend hinter ihr schlossen. Sie ging drei weitere Schritte und ballte die Fäuste, um nicht kehrtzumachen und den Aufzug zu rufen. Die Wand gegenüber war mit bunten Dschungeltieren bemalt, der Boden rot, grün und gelb gestreift.

Plötzlich sah sie vor ihrem geistigen Auge Parker auf dem Dreirad an einem grünen Streifen entlangflitzen, dann zur Seite sinken, weil er keine Luft mehr bekam.

Mühsam schluckend verdrängte sie das Bild und schaute sich nach beiden Seiten um. In welcher Richtung lag Dr. Mackenzies Büro?

Soweit sie sehen konnte, nahmen ein paar Büro- und Konferenzräume die Mitte des Flügels ein. Die Patientenzimmer befanden sich auf dem rechten und dem linken Flur. Dort war ein pausenloser Betrieb zu beobachten, der sie beeindruckte.

Die Krankenschwestern in ihren farbigen Kitteln sausten von einem Zimmer ins andere, und Delaney sah auch ein Grüppchen junger Mediziner, die sich Mühe gaben, kompetent zu erscheinen. Ihre nagelneuen weißen Arztmäntel verrieten jedoch das Gegenteil.

Ihr Vater hatte ihr im Lauf der Jahre viele Anekdoten über seine Assistenzärzte erzählt, denen sie ihr Leben nun niemals anvertrauen würde. Jedes Jahr im Juli tat sie ihr Möglichstes, um sich nicht zu verletzen oder krank zu werden, da in jedem Krankenhaus der Vereinigten Staaten die Universitätsabsolventen mit viel theoretischem Wissen, aber ohne praktische Erfahrung auf die Patienten losgelassen wurden.

Diese dort sahen ganz genau so aus. Als sie den Flur hinunterging, trat eine diensteifrige Krankenschwester auf die Anfänger zu und wies sie auf einen Konferenzraum hin. »Wenn Sie nutzlos herumstehen wollen, tun Sie es da, wo wir Sie nicht sehen können.«

Delaney runzelte missbilligend die Stirn und musste doch schmunzeln. Offenbar war ihr Vater mit seinem Unmut im Juli nicht allein.

Dann drehte sich die Frau um und entdeckte sie, woraufhin ihre Lippen – Delaney war sich ganz sicher – ein wenig schmaler wurden. Sie war ein Ebenbild von Betty White, allerdings ohne das liebliche Lächeln. »Kann ich helfen?«, fragte sie, aber ihre Haltung sagte: Können heißt noch nicht Wollen.

»Ja, danke.« Delaney bemühte sich, die richtige Mischung aus Selbstbewusstsein und Herzlichkeit in ihren Ton zu legen. »Ich bin Delaney Blair. Ich möchte zu Dr. Mackenzie.«

Die Krankenschwester sah sie noch abweisender an, und Delaney hob ihr zittriges Kinn um einen Fingerbreit. »Aus der Finanzabteilung?«

»Ja.« Sie streckte der Schwester die Hand entgegen und bekam einen festen Händedruck.

»Millie Swan. Ich glaube, er ist in seinem Büro.« Sie deutete den Flur hinunter. »Dritte Tür links.«

»Danke.«

Delaney wandte sich zum Gehen, hielt aber noch mal inne, weil Ms. Swan weiterredete. »Wir haben heute die Station voll schwerkranker Kinder. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es kurz machen.«

Delaney nickte langsam. In bestimmtem Ton in die Schranken gewiesen, und noch vor ihrem Gespräch. »Ich werde … mich bemühen.«

Als sie Dr. Mackenzies Büro erreichte, sah sie ihn durch die halb offene Tür am Schreibtisch sitzen, den Kopf über Akten gebeugt, sodass er sie nicht sofort bemerkte.

Das war auch gut so, denn sie starrte ihn mit offenem Mund an.

Auf Megans Drängen hatte sie sich am Morgen sein Mitarbeiterprofil angeschaut, aber das Foto darin wurde dem Mann nicht annähernd gerecht.

Seine dunklen Haare waren ordentlich geschnitten, Kinn und Wangen dunkel von Bartstoppeln. Als er sich frustriert durch die Haare strich, starrte sie erneut mit offenem Mund, diesmal auf seine muskulösen, im richtigen Maß behaarten Unterarme, und stellte sich vor, wie er mit seinen Fingern – oh-oh – gewisse Dinge tat.

Jede Wette, dass das rauchblaue Oxfordhemd zu seiner Augenfarbe passte. Die Schicksalsgöttinnen hassten sie, das stand jetzt fest. Bisher hatte sie im Mercy mit lauter alten, schrulligen Ärzten zu tun gehabt. Nun traf sie mal einen, den sie nicht von der Bettkante schubsen würde, und musste ihm gleich zu Anfang eröffnen, dass sie ihm den Stationsalltag zur Hölle machen würde.

3

Josh hörte Absätze auf dem Flur klappern, die bei keinem Patientenzimmer innehielten. Ihm wurde mulmig. Die Krankenschwestern seiner Station bevorzugten Schuhe mit leisen Sohlen. Die Schuhe, die sich da zielstrebig seinem Büro näherten, klangen eher, als wären sie auf dem Teppichboden der Vorstandsetage zu Hause. Hatte Delaney Blair es aufgegeben, auf ihn zu warten? Kam sie, um ihm die Leviten zu lesen, weil er ihre Anrufe und E-Mails ignorierte?

Er war heute nicht in der Stimmung, um über sein Budget zu reden. Eigentlich war er nie in der Stimmung dazu, schon gar nicht mit jemandem, der hoch oben in einem Büro saß und mit Zahlen jonglierte, während die wahre Arbeit auf den übrigen fünf Etagen geleistet wurde. Mitarbeiter aus der Finanzabteilung ließen sich nur blicken, wenn sie jemanden zurechtweisen wollten … oder um über Kürzungen zu informieren.

Oder beides.

Kurz vor seiner Tür wurde das Klackern der Absätze langsamer und hörte schließlich auf, aber er blickte nicht hoch. Passiv-aggressives Abwehrspiel. Diesen Sport betrieb er noch nicht lange, und dennoch beherrschte er schon ein paar Spielzüge. Er ging in Arbeit unter, verdammt. Sie konnte gefälligst warten.

Und dann klopfte sie, aber nicht autoritär, wie er erwartet hatte. Es klang nicht nach »Ich komme von der Finanzabteilung. Zeigen Sie Respekt!«, sondern zaghaft. Kurz darauf vernahm er eine sanfte Stimme.

»Dr. Mackenzie?«

Er blickte auf. Im Türrahmen stand eine Frau von Ende zwanzig oder Anfang dreißig, das war schwer zu schätzen. Sie hatte schulterlange, wellige braune Haare, und ihr Körper steckte in einem Kostüm, das sie noch mehr als ihre Absätze als Mitarbeiterin des sechsten Stocks auswies.

Bevor er die Absätze ihrer Schuhe gehört hatte, die, wie er jetzt sah, schwarz, hoch und absolut scharf waren, hatte er mit einer alten Schachtel in orthopädischen Schuhen und einem an den falschen Stellen eng sitzenden Hosenanzug gerechnet.

Manchmal war es erfreulich, sich geirrt zu haben.

Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Sie müssen Ms. Blair sein.«

Angemessen kurz und kräftig schüttelte sie ihm die Hand. Ihm fiel außerdem auf, dass sie an der Linken keinen Ring trug, und im nächsten Moment schüttelte er über sich den Kopf, weil er hingeschaut hatte.

Sie lächelte. »Ich bedaure, wenn ich störe. Ich habe ein-, zweimal um Kontakt gebeten, bin mir aber nicht sicher, ob Sie meine Nachrichten bekommen haben.«

Er hob die Augenbrauen. »Sie haben es sechsmal versucht, und ich habe Ihre Nachrichten erhalten, ja.«

»Oh. Doch Sie haben beschlossen … nicht zu reagieren?«

Er deutete auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. »Ich hatte keine Zeit. Tut mir leid.«

»Darf ich mich setzen? Haben Sie einen Moment für mich?«

Er nickte, dann sah er zu, wie sie sich anmutig auf seinem Besuchersessel niederließ und die Beine übereinanderschlug. Sie schob die Haare hinter ein niedliches Ohr, aber eine widerspenstige Strähne fiel sofort wieder nach vorn, und er verspürte den Impuls, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen. Während sie sich zurechtrückte und ein paar Aktendeckel aus ihrer Tasche zog, atmete er tief durch und holte unter einem der vielen Stapel auf seinem Schreibtisch einen Notizblock hervor. Delaney Blair schien es ernst zu meinen. Da sollte er besser die gleiche Haltung zeigen, auch wenn er dafür eigentlich viel zu müde war.

Er lehnte sich zurück. »Was treibt Sie aus den heiligen Hallen der Finanzabteilung in den dritten Stock?«

Ups. Falscher Ton.

Sie stellte ihre Beine wieder nebeneinander, um sie gleich darauf erneut zu kreuzen. Dabei wirkte sie so, als fühlte sie sich ausgesprochen unwohl, und sie war auffallend blass. War sie nervös? Schließlich holte sie tief Luft und sah ihm in die Augen. »Ich bin hier, um mit Ihnen über Ihr Budget zu sprechen.«

Er schloss die Augen. Na, was sonst?

»Auf Anweisung des Vorstands.« Sie hielt inne und suchte sichtlich nach den passenden Worten. Fast hatte er Mitleid mit ihr. Aber nur fast.

»Lautet diese Anweisung unter anderem, mein Budget zu kürzen?«

»Ja.«

Immerhin direkt und ehrlich.

»Um wie viel?«

»Um möglichst viel.« Sie hob die Augenbrauen. »Und ich habe dafür dreißig Tage Zeit. Tatsächlich nur noch achtundzwanzig. Es waren dreißig, als ich meine erste E-Mail schickte.«

Touché.

Josh wäre gern aufgestanden und fluchend auf und ab gegangen. Stattdessen beugte er sich vor, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und gab sich gelassen.

Mit leicht zittriger Stimme fuhr sie fort. »Ich muss Ihr Budget auf Kostenüberschreitungen prüfen und sehen, wo wir stutzen können, wissen Sie. Wir werden überall ein bisschen Überflüssiges wegschneiden.«

»Wir haben hier nichts Überflüssiges.«

»Jeder … hat das irgendwo.«

»Nicht hier, wir nicht.« Josh schüttelte den Kopf. »Woher kommt das auf einmal?«

Sie zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich weiß, das hört keiner gern, aber glauben Sie mir, für mich ist das auch unangenehm.« Ihr linkes Auge zuckte. Es verschaffte ihm ein kleines bisschen Befriedigung zu wissen, dass ihr dabei unbehaglich zumute war.

»Ms. Blair …«

»Delaney. Bitte.«

»Delaney, in dieser Abteilung herrscht die straffste Betriebsführung im ganzen Krankenhaus, und das werden Sie sicherlich wissen, da Sie ja die Zahlen den ganzen Tag vor Augen haben.«

Sie schlug das rechte über das linke Bein … und sein Blick huschte gegen seinen Willen zu ihren verdammten Schuhen hinunter. Wollte sie ihn quälen?

»Ich verstehe Ihre Verwirrung, aber ob Sie nun glauben – oder ob ich glaube –, es gebe hier nichts zu kürzen, tut nichts zur Sache. Ich muss in jedem Fall eine gründliche Überprüfung Ihrer Ausgaben vornehmen.«

»Andernfalls?«

»Was meinen Sie damit?«

»Entweder Sie überprüfen, oder es passiert was?«

Sie neigte den Kopf. »Es wäre in Ihrem eigenen Interesse zu kooperieren.«

»Sagt sie in düsterem, filmreifen Ton.«

Darauf senkte sie den Blick auf ihren linken Fuß. Josh fiel der Aufsatz über Körpersprache ein, den er mal gelesen hatte. Log der Täter, wenn er nach links unten blickte? Oder war es rechts oben? Er konnte sich nicht mehr erinnern.

Sie holte hörbar Luft und sah ihn wieder an. »Wir werden in allen Abteilungen kürzen, falls Sie das tröstet. Die Kinderstation ist nicht als Einzige betroffen.«

»Sie werden mir sicher verzeihen, wenn ich sage, dass mich das überhaupt nicht tröstet. Wir sind vielleicht nicht als Einzige betroffen, aber betroffen sind wir dennoch.«

»Und das tut mir wirklich leid. Aber das ist Haushaltsrealität.« Sie deutete mit den Händen zwei Waagschalen an. »Die Einnahmen müssen größer sein als die Ausgaben, und zurzeit ist das nicht der Fall.«

»Ich nehme an, das ist ein hehrer Grundsatz der Ökonomie?«, fragte er ironisch.

Sie zuckte mit den Schultern. »Es wäre einfacher, wenn Sie nicht …«

»Schwierig werden? Oder argwöhnisch?« Er hob die Augenbrauen.

»Aggressiv ist das Wort, das mir als Erstes einfiel.« Sie straffte die Schultern und sah ihn herausfordernd an.

Ein paar Augenblicke lang hielt er ihrem Blick stand, dann schüttelte er den Kopf und schnaubte leise. Scheiße. »Haben Sie schon eine Liste mit Kürzungsvorschlägen?«

Ihre Haltung entspannte sich kaum merklich, woraufhin er sich erneut schuldig fühlte. Sie tippte auf die Aktendeckel auf ihrem Schoß. »Ich habe mir einige erste Ideen notiert, ja.«

Seufzend lehnte er sich zurück, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. »Darf ich mal sehen?«

Sie schlug eine Mappe auf, nahm ein Blatt heraus und schob es ihm über den Schreibtisch zu. »Ich hatte nur Zeit für eine kurze Analyse, das ist also erst mal ein ganz grober Überblick, aber er zeigt Ihnen, was ich mir vorstelle.«

Josh nahm das Blatt und überflog die Liste. Sauber und akkurat, mit Säulen für Artikelnummern, laufende Ausgaben, offizielle Prognosen und Kosteneinsparungen. Er blickte auf den unteren Rand des Blatts und riss angesichts der Kürzungssumme die Augen auf. »Sie scherzen.«

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ich weiß nicht so recht, was Sie meinen.«

»Sie glauben wirklich, so viel Überflüssiges in meinem Budget gefunden zu haben?«

»Das ist nur eine vorläufige Einschätzung.«

»Klar. Das macht einen enormen Unterschied.«

»Wie gesagt, es –«

»Ich weiß.« Josh gab sich Mühe, seinen Ärger zurückzudrängen. »Es tut Ihnen leid.«

»Eigentlich nicht.«

Als er ihren unnachgiebigen Ton vernahm, blickte er überrascht auf. Vielleicht war sie doch nicht die zurückhaltende, süße Frau, die er auf den ersten Blick in ihr gesehen hatte?

»Es ist noch nichts beschlossen, und ich bitte Sie um Mitwirkung. Ob Sie der Bitte nachkommen oder nicht, ist Ihre Entscheidung.«

»Aber wenn ich nicht kooperiere, geben Sie diese Liste als Ihren Vorschlag weiter?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hätte wohl keine andere Wahl.«

»Ach, wirklich?« Er legte das Blatt hin und fühlte Ärger in sich aufsteigen. Wer war sie eigentlich, dass sie in ihrem engen Rock und der kaum vorhandenen Bluse bei ihm hereinstöckelte und ihm erzählte, wie sie sein Abteilungsbudget zu kürzen gedachte? Hatte sie überhaupt die nötige Kompetenz?

Sie beugte sich über ihre Tasche, um die Unterlagen wegzupacken, und richtete sich wieder auf. »Mir wurde diese Aufgabe zugewiesen. Ich habe mir das nicht selbst ausgedacht. Es wäre besser, wenn Sie kooperieren. Das ist alles. Wenn Sie sich meinen Vorschlag möglichst bald ansehen könnten und dann auf mich zukämen, wäre ich Ihnen dankbar.«

Ihr Ton war wieder sanft, hatte aber einen gewissen Beiklang, der ihm nahelegte, sich nicht mit ihr anzulegen. Das nötigte ihm Respekt ab.

Er seufzte. Gewöhnlich kamen einem die Leute von der Finanzabteilung mit einstudiertem Geschwafel über gesunde Unternehmensführung und Wachstum und Werte. Sie redeten leeres Zeug, bis einem der Kopf schwirrte. Die hochtrabenden Worte bemäntelten jedoch nur die Tatsache, dass sie einem die dringend benötigten Gelder wegnehmen und woanders verwenden würden, wo sie – zumindest seiner Meinung nach – eigentlich nicht gebraucht wurden.

Die Situation war jetzt nicht anders, bloß weil die Botschaft von einer Kollegin überbracht wurde, die er vielleicht gebeten hätte, mit ihm auszugehen, wenn sie nicht gerade versuchen würde, seine Abteilung bis an die Grenzen der Funktionstüchtigkeit zu beschneiden.

Er schob das Blatt Papier zu ihr zurück. »Die Auflistung mag vom sechsten Stock aus gesehen logisch erscheinen, aber die Realität sieht anders aus, Ms. Blair. Wenn Sie diese Posten aus dem Haushalt streichen, wird das katastrophale Konsequenzen haben.«

Er sah ihre Lippen schmal werden, aber sie schwieg.

»Sie müssen sich eine andere Abteilung für Ihren Kürzungssport aussuchen.«

»Das ist kein Sp…« Sie atmete tief durch und bemühte sich sichtlich um einen ruhigen Ton. »Vielleicht können wir die Liste einfach durchgehen, Posten für Posten, und Sie sagen mir, warum meine Ideen katastrophale Konsequenzen, wie Sie es nennen, zur Folge hätten.«

»Aber gern.« Er nahm das Blatt in die Hand. »Posten eins: Personal. Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Das Betreuungsverhältnis Pflegepersonal zu Patient ist enorm hoch. Das muss Ihnen doch klar sein.«

Er senkte das Blatt und sah sie an. »Sie wissen, dass hier Kinder behandelt werden?«

»Selbstverständlich.«

»Dann wissen Sie auch, dass das Verhältnis höher sein muss.«

»Auch das. Aber bei uns liegt es über dem Bundesdurchschnitt, also kann man theoretisch kürzen.«

Er legte das Blatt hin und musste an sich halten. Er hatte gute Lust, sie mit einem Tritt in den hübschen kleinen Hintern aus seinem Büro zu befördern, mit der Empfehlung, sich auf der Kinderstation nie wieder blicken zu lassen. Stattdessen holte er tief Luft und versuchte, sich der Realität zu stellen: Falls sie sein Pflegepersonal reduzierte, stünden sie vor einem ernsten Problem.

»Gestatten Sie mir eine Frage. Werden bei besagtem Bundesdurchschnitt auch die demografischen Zahlen berücksichtigt? Die Häufigkeit chronischer Erkrankungen? Der Bildungsstand der Einwohner? Die Anzahl der Pflegekinder im Umkreis von fünfzig Meilen?«

Delaney ließ sich mit der Antwort einen Moment Zeit, während sie ihre Unterlagen zusammenraffte. »Das werde ich prüfen.«

»Sie werden? Sie haben noch nicht?«

Hastig machte sie eine Notiz auf der Rückseite ihrer Liste. »Ich werde das recherchieren. Genau deshalb bin ich auf Ihre Mitarbeit angewiesen.«

»Heute habe wir eine Sozialarbeiterin auf der Station. Ich bin sicher, sie würde Ihnen zu derlei Informationen sehr gern verhelfen.«

»Prima.« Sie überflog ihre Aufstellung und hielt am unteren Blattrand mit dem Stift inne. »Wie viele Stunden arbeitet sie hier?«

Er kniff die Augen zusammen. »Oh nein, kommt nicht infrage. Die Sozialdienste werden nicht angerührt.«

»Ich sammle nur Informationen. Und bei allem Respekt, Dr. Mackenzie. Sie sind nicht befugt, mir zu sagen, was ich, äh, anrühren darf und was nicht.«

Er setzte zu einer Erwiderung an, besann sich aber eines Besseren. Es käme nichts Gutes dabei heraus, wenn er einfach ausspräche, was ihm gerade auf der Zunge lag.

Einen Ellbogen aufs Knie gestützt, neigte sie sich nach vorn, sodass ihr oberster Blusenknopf aus dem Knopfloch sprang. War das Absicht? »Wollen wir zu Punkt zwei kommen?«

Er lehnte sich zurück und musterte sie kritisch. »Was würde eigentlich passieren, wenn Sie dem Vorstand keine Kürzungen empfehlen? Wenn Sie nach dreißig Tagen zu dem Schluss gelangen, dass meine Abteilung schon auf Sparflamme läuft?«

»Nach achtundzwanzig. Und im Moment weiß ich das nicht.« Sie tippte auf die Liste. »Aber ich will es auch gar nicht herausfinden. Wir müssen es wenigstens versuchen.«

»Dann frage ich mal anders: Wenn Sie keine Möglichkeit finden, mein Budget beträchtlich zu kürzen, welche Folgen hätte das für Sie?«

Gespannt verfolgte er ihr bewegtes Mienenspiel. Schließlich klappte sie energisch ihr Notizbuch zu.

»Ich würde vielleicht meine Stelle verlieren, Dr. Mackenzie. Das wäre für mich die Folge.«

4

»Du hast gesagt, du musst kürzen oder du verlierst deinen Job?« Megans Augen wurden am Freitagmorgen groß wie Golfbälle. Sie schnitt ein Croissant durch und legte eine Hälfte auf Delaneys Schreibtisch.

Delaney schlug sich die Hände vors Gesicht. »Ich weiß! Er hat mich angeguckt, als wäre er richtig sauer, und da war klar, dass er auf keinen Fall kooperieren wird, und da habe ich einfach … oh Gott, ich weiß auch nicht. Es war total unprofessionell. Ich habe die Fassung verloren.«

»Wow. Gleich beim ersten Gespräch die Sympathie-Karte ausgespielt!«

»Kann ich den Oh-Gott-Satz noch mal bringen?«

Megan schüttelte den Kopf und biss in ihr Croissant. »Was willst du jetzt tun? Hast du ihm für seine Antwort auf deine Vorschläge eine Frist gesetzt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Darum nicht!« Delaney drückte die Fingerspitzen an die Augen. »Diese Hände, diese Brust, diese Augen – oh Gott, hast du seine Augen mal gesehen? –, die haben mich ganz durcheinandergebracht. Er sieht aus wie ein Calvin-Klein-Unterwäschemodel! Wieso habe ich das überhaupt nicht gewusst?«

Megan wackelte mit den Augenbrauen. »Ich sag ja, du musst ab und zu mal aus der Vorstandsetage raus.«

»Bei diesem Mann«, sie schüttelte den Kopf, »bei diesem Mann verwandle ich mich innerhalb von Sekunden von einer professionellen Finanzanalystin in eine schmachtende Vierzehnjährige, die in einen heißen Typen verknallt ist. Wie soll ich meinen Ruf noch retten? Wahrscheinlich hat er genau gesehen, dass ich bis an die Haarwurzeln rot wurde.«

»Männer sind gewöhnlich nicht so aufmerksam.«

»Aber diese Augen.« Delaney legte den Kopf in den Nacken und stellte sie sich vor. »Bin mir ziemlich sicher, dass ihnen nichts entgeht.«

Megan lachte. »Wow. Ich werde wohl darauf bestehen müssen, beim nächsten Gespräch das Protokoll zu führen. Ich habe noch nie erlebt, dass dich ein Mann in nur einer Stunde so verrückt gemacht hat.«

»Und ich muss heute wieder in den dritten Stock.«

»Ach, wirklich?« Megan lächelte süffisant.

»Ja. Du hast selbst darauf hingewiesen: Ich habe ihm noch keine Frist genannt.«

»Und das könntest du nicht zum Beispiel per E-Mail nachholen? Oder mit einem kurzen Anruf? Bei der Stationssekretärin?«

Delaney schüttelte den Kopf. »Er reagiert auf so etwas nicht. Und bei mir schon gar nicht. Ich bin die Tusse, die überall den Rotstift ansetzt, weißt du noch?«

»Richtig.« Megan nickte. »Dann fährst du wirklich besser noch mal runter.«

»Hör auf zu grinsen. Das ist nicht komisch.« Delaney zog die Brauen hoch und legte den Kopf schräg. »Wir stehen so dicht davor, eigene Mercy-Tassen zu kriegen.«

»Ich weiß. Völlig klar. Die Lage ist ernst. Ich versuche nur, die positiven Aspekte zu sehen. Und Dr. Hottie McHotterson ist definitiv ein positiver Aspekt.«

Drei Minuten nachdem Megan hinausgegangen war, um an ihren Schreibtisch zurückzukehren, steckte Kevin McConnell bei Delaney den Kopf zur Tür herein. Vor fünf Jahren war er mit ihr zusammen eingestellt worden, im Abstand von ein paar Monaten. Charakterlich lagen sie jedoch weit auseinander. Während Delaney entschlossen war, eines Tages aufgrund ihrer Befähigung zur Finanzdirektorin aufzusteigen, wollte Kevin sich den Posten mithilfe seiner Verbindungskontakte und seines unwiderstehlichen Lächelns unter den Nagel reißen.

Bislang war sie sich nicht sicher, wer von ihnen beiden das Rennen machen würde.

»Morgen, Delaney.«

Sie blickte nicht auf. »Kevin. Du bist früh dran.« Das heißt, annähernd pünktlich.

»Konnte heute Morgen nicht schwimmen, weil der Pool gereinigt wird. Da dachte ich, ich komme ein bisschen früher, damit ich mich dafür um vier zum Training wegschleichen kann.«

»Du bist nicht wirklich früh gekommen.« Sie blickte auf. »Sondern gerade mal pünktlich, und insofern bist du für deine Verhältnisse früh dran.«

Er grinste, und seine ebenmäßigen, strahlend weißen Zähne gaben ihm eine Aura der Unantastbarkeit. Jede Wette, dass er dieses Lächeln auch schon angewandt hatte, bevor er sich die Jacketkronen leisten konnte.

»Na, na. Es ist nicht nett, zickig zu Leuten zu sein, die neben der Arbeit noch ein Privatleben haben.«

Delaney maß ihn mit einem Blick, der schon ganz andere vernichtet hatte, aber Rasierwasserdunst und Haargel bildeten vermutlich eine undurchdringliche Schicht, denn er zeigte keine Reaktion.

»Kann ich etwas für dich tun?« Sie hielt den Bleistift schreibbereit über dem Kalkulationsbogen, an dem sie arbeitete.

»Du musst mir heute Vormittag noch mal bei den Kostenplänen helfen. Ich glaube, da stimmt was nicht mit der Datei, die du mir geschickt hast. Die blöden Tabellen funktionieren bei mir nicht.«

Oh doch, das tun sie. Sie hatte sie ihm in unberührtem Zustand geschickt, obwohl sie sehr versucht gewesen war, einen Fehler einzubauen, nur, um zu sehen, ob er das überhaupt bemerkte.

»Die haben bestens funktioniert, als ich sie verschickt habe.« Sie deutete auf ihren Laptop. »Ich benutze gerade selbst eine.«

»Vielleicht hast du da erst hinterher was ausgebügelt?«

»Ich will nicht respektlos sein, Kevin, aber wenn du im Finanzbüro arbeitest, musst du irgendwann mit Tabellenkalkulation klarkommen.«

»Vielleicht borge ich mir Megan für ein paar Stunden aus. Sie kann mir helfen, wenn du es nicht willst.«

»Tut mir leid, nein. Du hast sie diese Woche schon drei Mal ausgeborgt. Sie hat reichlich zu tun.«

Er zog ein klägliches Gesicht, mit dem er immer halb wie ein Bernhardinerwelpe und halb wie ein verletztes Seehundbaby aussah. Wirklich ergreifend. Aber Delaney war zum Glück immun dagegen.

»Ach komm, Delaney. Zeig es mir noch dieses eine Mal, und ich verspreche, ich werde dich nie wieder darum bitten.«

Sie starrte ihn an, und einen Moment lang tat er ihr fast leid. Verblüffend, dass dieser große Junge, der erst noch aus der Studentensprache herauswachsen musste, ihr größter Konkurrent um den Posten des Finanzdirektors sein würde, wenn Gregory in den Ruhestand ging … sofern sie dann noch im Mercy arbeiteten. Kevin war mit seinem Zahnpastalächeln und den Country-Club-Verbindungen weit gekommen, aber im Ernst, damit musste jetzt mal Schluss sein. Er war die Inkompetenz höchstpersönlich, in Gestalt einer hübschen Ken-Puppe.

»Wie kommst du mit deiner Haushaltsanalyse voran, Kev?« Delaney wusste, dass er gleich nach ihr in Gregorys Büro gerufen worden war, hatte aber noch nicht erfahren können, welche Abteilungen er für das massive Kürzungsprojekt an Land gezogen hatte.

»Ist ein Kinderspiel. Und du?«

Sie lächelte verärgert. War ja klar, dass er das behauptete. »Ein Klacks.«

»Na bestens.« Kevin klopfte an ihren Türrahmen. »Sag mir Bescheid, wann du dir die Formulare bei mir vornehmen willst.«

Delaneys Bleistiftspitze brach ab, während er den Flur hinunterging, und als sie hinsah, bemerkte sie, dass sie ein Loch ins Papier gebohrt hatte. Verflixt.

Sie musste dringend Dr. Mackenzie bewegen, mit ihr zusammenzuarbeiten, damit sie dem Vorstand einen überzeugenden Kürzungsplan präsentieren konnte. Andernfalls würde sie Kevin in das Eckbüro einziehen sehen … und selbst diejenige sein, die man mit einer Mercy-Tasse zum Ausgang eskortierte.

»Der kleinen Rechenkünstlerin kann ich gerne zeigen, was eine Schere ist. Sagen Sie ihr das.« Millie schimpfte im Personalraum, während sie am Freitagvormittag neuen Kaffee aufsetzte. »Was denkt Miss Schickimicki denn, was sie hier beschneiden kann? Will sie vielleicht noch die Klospülung drosseln? Hier gibt es nichts Verzichtbares mehr.«

»Ich weiß.« Josh lehnte sich an die Wand, das gestrige Gespräch noch vor Augen. Seit Delaney aus seinem Büro stolziert war und den leichten Vanilleduft zurückgelassen hatte, war es ihm nicht gelungen, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, obwohl er sich weidlich bemüht hatte.

»Also, Sie werden doch zu ihren Ideen nicht blauäugig Ja sagen, weil sie so hübsch ist, oder?«

»Millie, ich bitte Sie.«

»Nichts für ungut. Das ist schon Geringeren als Ihnen passiert.«

Ja, das wusste er. Auch ihm selbst war das vor noch nicht allzu langer Zeit passiert.

Sie zuckte mit den Schultern. »Könnte eine neue Taktik des sechsten Stocks sein, wissen Sie. Die schicken das heiße Mädel mit den unangenehmen Aufgaben nach unten, und wenn ihr Jungs endlich aufhört zu sabbern, hat sie das Budget längst zusammengestrichen.«

»Wow.« Josh lachte. »Haben Sie ein tieferliegendes Problem, über das wir mal sprechen sollten?«

»Nein. Ich nicht. Aber Sie!« Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. »Sie arbeiten an sechs von sieben Tagen unter Schlafmangel und hatten schon wie lange kein Date mehr?«

»Und darum bin ich zu sehr mit Sabbern beschäftigt, um zu bemerken, dass sie die Budgetschere ansetzt?«

»Seien Sie einfach auf der Hut, okay? Mehr sage ich gar nicht.«

Er nickte. »Verstehe. Ich verspreche, nichts zu unterschreiben, wenn ich nicht mindestens zwei Stunden geschlafen habe.«

Sie schlug ihn mit einem Aktendeckel. »Werden Sie nicht frech, junger Mann, sonst sage ich meinen Krankenschwestern, Sie suchen die Frau fürs Leben.«

»Nein, bitte nicht.« Lachend hob er die Hände und gab sich geschlagen.