Echo Lake - Zweimal heißt für immer - Maggie McGinnis - E-Book
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Echo Lake - Zweimal heißt für immer E-Book

Maggie McGinnis

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Beschreibung

Josie ist Expertin für gebrochene Herzen und Seelen in Not. Sie ist Therapeutin und kann jedem helfen - nur sich selbst nicht. Auch nach Jahren in der Ferne kommt sie nur ungern in ihren Heimatort Echo Lake zurück. Während die Besucher im Freizeitpark ihrer Familie unvergesslich schöne Stunden verleben, verbindet Josie mit ihm den Verlust eines geliebten Menschen. Für sie steht fest: Sie wird schnellstmöglich wieder abreisen. Doch dann trifft sie auf Ethan, ihre erste große Liebe. Den Mann, den sie einst zurückließ ...


Auftakt der neuen Liebesroman-Reihe aus Vermont - zum Wegträumen schön!

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Seitenzahl: 475

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

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EPILOG

Über das Buch

Josie ist Expertin für gebrochene Herzen und Seelen in Not. Sie ist Therapeutin und kann jedem helfen – nur sich selbst nicht. Auch nach Jahren in der Ferne kommt sie nur ungern in ihren Heimatort Echo Lake zurück. Während die Besucher im Freizeitpark ihrer Familie unvergesslich schöne Stunden verleben, verbindet Josie mit ihm den Verlust eines geliebten Menschen. Für sie steht fest: Sie wird schnellstmöglich wieder abreisen. Doch dann trifft sie auf Ethan, ihre erste große Liebe. Den Mann, den sie einst zurückließ … Auftakt der neuen Liebesroman-Reihe aus Vermont – zum Wegträumen schön!

Über die Autorin

Maggie McGinnis lebt mit ihren Kindern und Katzen in New England und hat sich in den USA als Autorin von romantischen Liebesromanen einen Namen gemacht. Mit Echo Lake – Zweimal heißt für immer führt sie uns ins wunderbare Vermont.

MAGGIE McGINNIS

Zweimalheißtfür immer

ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch vonAngela Koonen

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Digitale Neuausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Maggie McGinnisTitel der amerikanischen Originalausgabe:»Forever This Time«/01 Echo LakePublished by arrangement with St. Martin’s Press, LLC.All rights reserved.Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLCdurch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,30161 Hannover, vermittelt.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 und 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dorothee Cabras, GrevenbroichUmschlagmotive: © biletskiy / shutterstock.com; Joshua Resnick / shutterstock.comUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

E-Book-Produktion: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8852-7

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Joshua und Adriana,

1

»Dad?« Durch die piependen Geräte am Bett der Intensivstation hörte Josie kaum die eigene Stimme. Sie trat näher. »Oh Gott. Daddy?« Die Anrede klang fremd. Und diese reglose Gestalt unter der Bettdecke, das konnte doch nicht ihr Vater sein. Das konnte nicht der Mann sein, der fünfzig Kilometer in der Woche lief und jedem, der es hören wollte, seine einwandfreien Blutdruckwerte und den beeindruckenden BMI nannte.

Erschrocken blickte sie in sein Gesicht. Ihr Vater war bleich, seine Haut schlaff und knittrig trocken wie Reispapier. Nur die Tropfen, die sich im Beatmungsschlauch sammelten, zeigten, dass er noch atmete. Josie zitterten die Knie, und sie griff blind nach der Stange am Fußende des Bettes.

»Ma’am?« Der strenge Tonfall hinter ihr ließ sie zusammenfahren. »Hier sind nur die engsten Familienangehörigen zugelassen.«

Josie nickte, konnte sich jedoch nicht von dem Kranken abwenden, der nur entfernt wie ihr Dad aussah. »Ich gehöre zur Familie.« Auch dieses Wort kam ihr schwer über die Lippen, dabei hatte sie sich an »engsten« nicht einmal versucht. »Er erkennt mich nur nicht.«

Josie spürte eine Hand an ihrem Ellbogen und drehte sich langsam um. Sie blickte in das Gesicht einer rundlichen Krankenschwester, deren kecker blonder Pferdeschwanz sein Bestes tat, um über die Altersfältchen an den Augen hinwegzutäuschen.

»Verzeihung«, wisperte sie und erschrak, als plötzlich Blutdruckmanschetten summten und sich die Decke über Dads Beinen hob. »Ich bin … ich bin seine Tochter.«

»Seine Tochter?« Die Schwester schaute sie fragend an. »Du meine Güte, tut mir leid! Das wussten wir nicht.«

»Konnten Sie auch nicht, Schwester. Eigentlich … rechnet keiner mit mir«, bekannte Josie verlegen.

Die Krankenschwester kam um sie herum und gab ihr die Hand. »Lassen Sie das ›Schwester‹ gleich weg. Ich bin Gayle.«

»Josie.«

»Möchten Sie sich hinsetzen, solange ich nach ihm sehe?«

Josie betrachtete das stille Gesicht auf dem Kissen und war nicht imstande, den Mund zu öffnen und zu antworten. Ihre Füße waren wie festgeklebt, und der Stuhl neben ihr schien viel zu weit weg zu sein. Dies war der Mann, der sein halbes Leben damit verbracht hatte, im Weihnachtspark der Familie die Besucher als Santa Claus mit »Ho-ho-ho« zu begrüßen. Er und still? Undenkbar.

Sie blickte zu Gayle auf, die Daten von den Geräten ablas und in ihren Laptop eingab. »Es war eindeutig ein Schlaganfall?«

Gayle nickte und tippte sich an den Kopf. »Gehirnblutung rechts.« Sie klappte den Laptop zu und rückte am Kopfende des Bettes einige Schläuche zurecht, die ein Durcheinander bildeten. »Ich bin hier fast fertig. Ich kann Sie allein lassen, wenn Sie für ein paar Minuten bleiben möchten. Sprechen Sie mit ihm. Er kann Sie wahrscheinlich hören.«

Josie schüttelte den Kopf. Nein. Reden wollte sie jetzt ganz bestimmt nicht.

»Erzählen Sie ihm, was Sie heute gemacht haben, wie das Wetter ist, ganz egal was. Hauptsache, er hört Ihre Stimme.«

Josie seufzte. »Ehrlich gesagt, Gayle, ich fürchte, wenn er meine Stimme hört, bekommt er womöglich einen Herzinfarkt dazu.«

Ethan saß am Schreibtisch vor dem Computer und informierte sich über die Nachrichten des Tages. Nachdem er viermal dieselbe Schlagzeile gelesen hatte, klickte er das Fenster zu. Er versuchte, nicht auf den leeren Stuhl gegenüber zu starren, ertappte sich aber immer wieder dabei. Er konnte es nicht fassen, dass Andy im Krankenhaus lag. Wegen eines Schlaganfalls!

Und Josie war auf dem Weg hierher.

Er schob den Stuhl zurück und schaute über die Schulter aus dem Fenster. In Snowflake Village glitzerte und funkelte es an jedem Baum, jedem Karussell, jedem Weg. »Ho-Ho-Camp« hatte Josie es immer genannt. Ein Mekka der Realitätsflucht.

Zum tausendsten Mal in den letzten fünf Jahren fragte er sich, was sie wohl sagen würde, wenn sie ihn im Unternehmen ihrer Familie auf dem Sessel des Finanzchefs sitzen sähe, sein Schreibtisch Kopf an Kopf mit dem ihres Vaters. Ethan blickte auf sein rotes Poloshirt und das Schneeflockenlogo an der Brust. Das war weit entfernt von der blauen Ausgehuniform und den Rangabzeichen der Marine, die er inzwischen hätte tragen sollen, aber ein Rutlander Linebacker hatte diese Lebensplanung mit einem Tackle in der Endausscheidung vor elf Jahren zunichtegemacht.

Da sein rechtes Knie einen bleibenden Schaden zurückbehalten hatte, hatte er nun eine leitende Position in einem Freizeitpark inne, statt in Übersee bei einem Militäreinsatz zu sein. So hatte Ethan sich sein Leben absolut nicht vorgestellt. Er war jedoch dankbar gewesen, als Josies Vater ihm die Stelle des Finanzchefs angeboten hatte, nachdem endgültig klar war, dass Josie nicht zurückkommen und den Posten besetzen würde.

Jetzt aber war sie unterwegs nach Echo Lake. Es musste erst um Leben und Tod gehen, damit sie herkam … und nun war es so weit.

Geistesabwesend rieb er seinen linken Ringfinger und fluchte leise, als er es bemerkte.

Erschrocken fuhr er auf, weil jemand die Treppe heraufeilte. War sie etwa schon da? Er sah feuerrote Haare durch den Flur kommen und atmete auf. Nicht Josie, Gott sei Dank. Nur ihre alte beste Freundin.

Molly stürmte in sein Büro. »Du musst mich retten!« Sie warf sich in Andys Sessel. Ihre grünen Augen funkelten lebhaft, als sie über die Schulter zur Tür schaute. »Diese Blind Dates sind ein Desaster!«

Nach einem raschen Blick zum Flur sah Ethan sie an. Es amüsierte ihn bis heute, dass sie und Josie ihre ganze Kindheit über beste Freundinnen gewesen waren. Denn Molly war temperamentvoll und laut, Josie dagegen zurückhaltend und eher still.

»Hat ein Serienmörder es auf dich abgesehen? Oder ein Italiener?«

»B.« Sie fächelte sich mit einem Blatt Papier Luft zu. »Beim ›Frosty Freeze‹ habe ich ihn abgehängt, glaube ich.«

»Soll ich ihn über die Sicherheitskameras suchen?«

Sie richtete sich auf. »Würdest du das tun?«

»Nein, Mols. Deine Dating-Probleme musst du lösen, nicht ich.«

»Wenn du mich heiraten würdest, hätte ich keine Dating-Probleme mehr. Noch so ein blödes, widerliches arrangiertes Date, und ich zerre dich an den Haaren zum Standesamt, nur damit mir Mamma nicht weiter in den Ohren liegt.«

Er zog die Brauen hoch. »Das klingt nach Steinzeit, da verzichte ich lieber.«

»Mamma denkt, ich werde von heute auf morgen verblühen und eingehen, wenn ich nicht in Kürze einen Ehemann finde.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Lage schon so verzweifelt ist.« Ethan verkniff sich ein Schmunzeln.

»Ach, du hast ja keine Ahnung. Die Frau steigert sich da voll rein.«

»Was hat sie jetzt wieder angestellt?«

Molly seufzte. »Italian Love Match Punkt com.« Sie spuckte den Namen förmlich aus.

»Eine italienische Partnerbörse?«

»Am besten, du bringst mich gleich um.«

Er lachte. »Mir scheint, Mamma B. kann das besser.«

»Ich dachte, sie kann auf dem blöden Computer gerade mal die Waren fürs Restaurant bestellen. Stattdessen bestellt sie jetzt schon Männer für mich.«

»Tja, das kannst du einer Mom nun mal nicht übelnehmen.«

»Hör auf zu lachen.«

»Kann ich nicht, tut mir leid.« Er tat, als tippte er. »Italian Love Match Punkt com, sagst du? Mal sehen. Molly Bellini.«

Ein blau glitzernder Flipflop traf ihn am Kopf, ehe er sich ducken konnte. »Können wir nicht wenigstens so tun, als hätten wir geheiratet?«

»Nein. Kommt nicht infrage. Deine Familie ist komplett irre. Wir würden schreckliche Kinder haben.«

»Aber immerhin hätten wir welche! Ich glaube, Mamma kommt es weniger darauf an, dass ich heirate. Sie will bloß Enkelkinder.«

»Tut mir leid, Mols. Da kann ich dir nicht helfen. Es braucht einen Stärkeren als mich, um eine Bellini zu heiraten.«

»Du bist ein Spielverderber.« Sie sah auf die Uhr. »Haben wir nicht in der Junior High einen Pakt geschlossen, einander zu heiraten, wenn wir bis dreißig niemanden gefunden haben?«

»Nein. Und wir sind noch nicht dreißig.«

Molly stand auf, um aus dem Fenster zu spähen. »Na gut, genug von mir. Reden wir doch einmal über deine Dating-Probleme.«

»Bestimmt nicht.«

»Soll ich nicht endlich mal ein Profil für dich einstellen?« Sie zwinkerte ihm zu.

»Bitte sag mir, dass du das nicht getan hast.«

»Hab ich nicht.« Sie setzte sich wieder in Andys Sessel. »Also, was ist los? Du guckst plötzlich so ernst.« Sie kaute auf einem ihrer rosa Fingernägel, wie Josie es früher getan hatte, wenn sie nervös war. Komisch, wie viele solch kleiner Gewohnheiten die beiden voneinander übernommen hatten, ohne sich dessen bewusst zu sein.

»Andy hatte gestern einen Schlaganfall.«

»Äh … was? Andy? Santa?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein!«

Ethan nickte langsam. »Doch.«

»Wie schlimm ist es?«

»Das weiß man noch nicht.«

Molly kniff die Augen zu und rieb sich die Stirn. »Glaubst du, Josie weiß es? Sie hat zwar nichts mehr mit ihnen zu tun, aber …« Sie blickte auf. »Sollten wir versuchen, sie zu erreichen?«

»Sie weiß schon Bescheid. Diana hat offenbar heute früh mit ihr gesprochen.«

»Also … sie kommt her?«

»Ja.«

»Ach.« Nachdenklich schob Molly den nächsten Finger zwischen die Lippen. »Wow. Aber sie wird zum Krankenhaus fahren, oder? Nicht hierher. Sie wird den Park links liegen lassen, meinst du nicht?«

Ethan holte tief Luft und atmete ruhig aus. »Keine Ahnung.«

»Ja, wird sie. Sie kann ihn nicht ausstehen. ›Ho-ho-Camp‹, weißt du noch?«

»Ja.«

»Aber du siehst besorgt aus.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Diana sie im Mercy Hospital haben will. Kann mir nicht vorstellen, warum Josie einen Fuß in den Park setzen sollte.«

»Na ja … sie hasst Krankenhäuser. Und ihre Mutter.«

Ethan nickte. »Das ist es, was mir Angst macht.«

Molly stand auf und lief in dem kleinen Büro auf und ab. »Also, wie sieht dein Plan aus?«

»Konnte mir noch keinen zurechtlegen. Wir lassen es auf uns zukommen, denke ich.«

Molly zog die Brauen zusammen und trat ans Fenster, um auf den Platz am Eingang zu schauen. »Ich will dir nichts vorschreiben, aber wenn Josie Kendrew durch das Iglu-Tor da unten marschiert, solltest du einen konkreteren Plan haben als ›Wir lassen es auf uns zukommen‹. Du hast sie zehn Jahre nicht gesehen.«

»Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, Mols.«

»Wirst du ins Krankenhaus fahren, um sie zu sehen?« Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie gekränkt sie war.

Aber Ethan konnte es ihr anhören.

Er schüttelte den Kopf und dachte dabei an einen Karton, in dem ein ungetragener Smoking und zwei glänzende neue Eheringe lagen.

»Ich weiß es nicht, Molly. Ich weiß nicht, was ich tun werde.«

2

»Ho-ho-ho, einen wunderschönen Tag in unserem Park!« So begrüßte sie der große Plastikrentierkopf über dem Eingang. Josie zuckte erschrocken zusammen, als sie zwei Stunden später, nachdem sie aus dem Krankenhaus geflüchtet war, durch den Iglu-Bogen ins Snowflake Village ging. Das Gedudel der Weihnachtslieder aus den Lautsprechern nervte sie bereits, obwohl sie es zehn Jahre nicht mehr gehört hatte.

Im übrigen Amerika mochte Hochsommer sein, aber in dieser kleinen Ersatzrealität in Vermont war Weihnachten. Ständig. Alle dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.

»Schnauze, Rudolph«, brummte sie und versuchte, sich durch das Drehkreuz zu mogeln. Volle vierzig Minuten hatte sie auf dem Parkplatz im Auto gesessen und in der Augusthitze geschmort, bevor sie sich endlich hatte aufraffen können, durch den Iglu-Bogen zu gehen. Es zeichnete sich schon ab, dass dies der schlimmste Tag ihres Lebens werden würde. Da brauchte sie sich nicht auch noch von einem aufgeputschten Plastikrentier vorhalten lassen, wie gut gelaunt alle anderen Leute waren.

»Oh-oh, ist da jemand unleidlich?« Der Rentierkopf senkte sich und richtete seine Glasaugen überraschenderweise auf sie, gerade als sie herumfuhr.

Der Kopf hatte schon geredet, als sie noch ein Kind gewesen war, aber bisher war immer nur ein Tonband darin versteckt gewesen, keine Kamera mit Ohren. Na toll. Sie war noch nicht ganz im Park und hatte schon Rudolph beleidigt.

»Es tut mir leid.« Sie blickte ihn reumütig an. »Du solltest das gar nicht hören.«

»Ich soll vieles nicht hören. Also dann, einen wunderschönen Tag in unserem Park, ho-ho-ho!« Der ferngesteuerte Kopf neigte sich zu der Familie, die hinter Josie durch das Iglu-Tor kam.

Hatte er ihr gerade zugezwinkert?

Sie lief durch den Bogen, der die Besucher auf den großen Platz führte, und kramte in der Handtasche nach ihrer Sonnenbrille. Weil die Sonne schien, nicht etwa, um möglichst lange unerkannt zu bleiben, während sie noch um Fassung rang.

Josie war wie ferngesteuert vom Krankenhaus zum Park gefahren und wusste noch immer nicht so recht, warum sie hergekommen war. Die Psychologin in ihr erkannte ein tief sitzendes Bedürfnis, mit ihrem Vater, der ihr fremd geworden war, wieder in Verbindung zu kommen, weshalb sie zu dem Ort zurückkehrte, wo er immer … so lebendig erschienen war. Doch der wütende Teenager, der noch tief in ihr steckte, staunte ungläubig, weil sie ins Ho-Ho-Camp ging.

Schließlich war das der Ort, an dem man die Realität glücklich hinter sich ließ. Es war der Ort, an dem sie Hoffnung und Liebe gefunden hatte … um dann beides auf einen Schlag zu verlieren.

Zehn Jahre lang war sie nicht zurückgekehrt. Damals war sie froh gewesen, Echo Lake, dieses hoffnungslose Nest, im Rückspiegel kleiner werden zu sehen und nach Boston abzuhauen, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Aber jetzt? Jetzt lag ihr Dad, den sie zuletzt im Santa-Claus-Kostüm gesehen hatte, im Krankenhaus, und auf seiner Patientenkarte standen mehr Fragen als Antworten. Und ihre Mom, die während Josies Kindheit meist benebelt gewesen war, wartete in dem elenden Krankenhaus auf sie.

Anstatt sich der Situation dort zu stellen, war sie hier, wo sie jeden Moment einer muskulösen, hinreißenden, eins fünfundachtzig großen Erinnerung in die Arme laufen konnte.

Sie tat einen tiefen, zittrigen Atemzug und blickte sich um. Auch wenn sie sich während der gesamten Fahrt von Boston auf Echo Lake vorbereitet hatte, zweifelte sie doch sehr, ob sie klarkommen würde.

Ja, sie war inzwischen erwachsen. Und ja, es war ewig her. Also hatte sie wohl jede Menge Zeit gehabt, um sich gegen die Vergangenheit zu wappnen – besonders gegen den Mann, der damals die Hauptrolle gespielt hatte. Sie würde sicherlich imstande sein, ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen, ihm in die Augen zu blicken, ohne zu bedauern, dass sie ihn praktisch vor dem Altar hatte stehen lassen. Oder nicht?

Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht bekäme sie das hin, wenn der Mann nicht Ethan wäre, der mit seinem geheimnisvollen Lächeln und den graublauen Augen der halben Frauenwelt von Echo Lake den Kopf verdrehen konnte. Und wenn er nicht der Kerl wäre, der mit seinem Quarterback-Body und seinem charmanten Witz jede Frau in der Stadt hätte kriegen können, stattdessen aber ihr das Abschlussjahr mit Blumen und Briefchen und heißen Nächten am See versüßt hatte.

Ethan war ihr erster Mann gewesen … und sie hatte geglaubt, das mit ihm wäre für immer.

Sie schaute nach links zu den bunten Hütten neben dem Iglu-Tor. Die erste war das quietschrosa Bonbongeschäft, dann kam ein südseeblauer Andenkenladen mit einer Tür in allen Regenbogenfarben und dann ein sonnengelber Eissalon mit kleinen Verandatischen davor. Die Farben schrien praktisch: Ist das nicht der allerglücklichste Platz im Universum?

Seufzend rückte sie die Sonnenbrille zurecht und versuchte, das einfach zu überhören.

Der Wind wehte durch ihre Haare, als sie den Rand des Platzes erreichte. Ihr Blick blieb kurz bei den gepunkteten Schirmtischen vor dem Eissalon hängen und huschte dann unweigerlich zum Verwaltungsgebäude, das auch »Elfenzentrale« genannt wurde: einem weißen viktorianischen Bau mit rotvioletten Fensterläden. Ein Stück zurückgesetzt auf einer großzügigen Rasenfläche mit zwei großen Zuckerahornbäumen davor sah es sogar an diesem schon heißen Morgen kühl und einladend aus. Aber auf keinen Fall würde sie durch die Flügeltür gehen, solange sie das nicht musste. Da drinnen war wahrscheinlich Ethan, saß im zweiten Stock an seinem Schreibtisch – der ihrer hatte werden sollen, wenn es nach Dad gegangen wäre.

Josie zwang sich, zur anderen Seite des Platzes zu blicken, um sich von Ethan abzulenken. Dort, am Iglu, begann nach wie vor der Weidezaun; er verlief hinter dem Säulengang voller Spaziergänger, den Häuschen im Schneewittchen-Stil, in denen die Toiletten untergebracht waren, und endete an einer offenbar neuen Erste-Hilfe-Station mit einem roten Kreuz auf der Tür.

»Schönen Tag, Ma’am. Finden Sie sich zurecht, oder kann ich helfen?« Ein älterer Mann in einem grünen Kostüm berührte sie am Ellbogen, worauf Josie erschrocken herumfuhr. Gütiger Himmel! Sie hatte auch seit zehn Jahren keinen Elfen mehr gesehen.

»Suchen Sie Ihre Familie?«

Langsam schüttelte sie den Kopf, während sich ihre Brust schmerzhaft zusammenzog, aber sie überspielte das mit einem angestrengten Lächeln.

Er deutete auf ihre Füße. »Hoffe, Sie haben auch ein Paar bequeme Schuhe eingesteckt. Das ist ein großer Park.«

Josie schaute automatisch auf seine Füße, und er lächelte, als er ihrem Blick folgte.

»Ich weiß, was Sie denken, doch die Krallenzehen sind nicht so hinderlich, wie sie aussehen. Man lernt, damit zurechtzukommen.« Er zwinkerte. »Ho-ho-ho, einen wunderschönen Tag in unserem Park!«

Josie brachte noch ein verkniffenes Lächeln zustande und fragte sich, wie oft sie sich den Gruß noch anhören konnte, bevor ihr der Kopf platzte.

Sie schaute an sich hinunter. In dem Bleistiftrock und der ärmellosen Bluse sah sie aus wie eine Kontrolleurin von der Gewerbeaufsicht beim Überraschungsbesuch. Die Parkangestellten verbreiteten wahrscheinlich schon den Warncode über Funk, in der Überzeugung, sie werde gleich die Imbisshütten mit ihrem amtlichen Klemmbrett überfallen.

So viel zu ihrem Plan, nicht aufzufallen.

Nach einem weiteren zittrigen Atemzug ging sie rechter Hand weiter. Höchste Zeit, vom Sichtbereich der Elfenzentrale wegzukommen, denn sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie Ethan begegnete. Sie wusste nur eins: Sie war ganz und gar nicht bereit, das herauszufinden.

Hinter der ersten Wegbiegung schlugen ihr der Lärm der Achterbahn und der eklig süße Geruch von Zuckerwatte entgegen. Sie zog die Nase kraus. Die Achterbahn hatte sie bis zu ihrem neunten Geburtstag geliebt – bis dem Geburtstagskind nach etlichen Tüten rosa Schaumzucker und einer Achterbahnfahrt zu viel fürchterlich schlecht geworden war.

Der Weg führte um einen großen Felsen herum, den irgendwann einmal ein schmelzender Gletscher freigegeben hatte, und Josie gelangte auf eine Lichtung. Hier standen der Autoscooter »Rudolphs Razzamatazz« sowie eine Imbissbude und das Kinderkarussell mit Schaukeln in Form von Christbaumkugeln. Die Karussells waren noch dieselben wie früher, aber sie sahen frisch gestrichen aus und strahlten in der Sonne.

Als sie an eine Weggabelung gelangte, stockte ihr der Atem. Zu ihrer Rechten verliefen die Außenbahnen von zwei Fahrgeschäften, hinter denen man zu Bens Werkstatt gelangte. Zur Linken auf einem kleinen Hügel ragte das Riesenrad in die Höhe. Josie sah die Kabinen an den Baumwipfeln vorbeigleiten, und ihr Herz klopfte heftiger.

Schließlich riss sie sich von dem Anblick los und schluckte mühsam den dicken Kloß in ihrer Kehle hinunter. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, sie könnte durch den Park laufen und wäre unempfindlich gegen die Erinnerungen, die ihr an jeder Ecke einen Schlag versetzten?

Eine kleine mollige Elfe, die hundertzwanzig Jahre alt sein musste, schlenderte mit Besen und Schaufel an ihr vorbei. Einen Moment lang überlegte Josie, ob sie ihr nicht bekannt vorkam, aber das war nicht der Fall. Als ihr klar wurde, dass sie vielleicht durch den ganzen Park laufen konnte, ohne eine Menschenseele zu kennen, stellte sich Ernüchterung ein

Die Elfe fegte geschickt ein Bonbonpapier auf, dann lächelte sie Josie an. »Warum so ernst, Schätzchen? Es ist doch so ein schöner Tag, nicht wahr?«

Josie blickte zum Himmel hoch, der für diese Jahreszeit ungewöhnlich blau war. Die Wipfel der hohen Tannen rahmten ein paar Wattewölkchen ein, und die Zweige rauschten unter einem munteren Windstoß, der Josies sorgfältig geglättete Haare durcheinanderwehte. Es ging auf siebenundzwanzig Grad zu, aber die Luftfeuchtigkeit war praktisch gleich null. Es war also einer jener seltenen Tage, die man meist nur auf den Ansichtskarten im Souvenirladen bestaunen konnte.

»Doch, doch«, sagte sie unverbindlich und atmete tief ein. Dabei fiel ihr auf, wie lange sie den frischen Tannenduft von Snowflake Village nicht mehr gerochen hatte.

Hatte sie ihn je vermisst?

Nein. Unmöglich.

»Na dann, einen wunderschönen Tag in unserem Park, Liebes, ho-ho-ho!« Die Elfe trottete weiter und fegte ein verirrtes Ahornblatt auf die Schaufel. So sauber, dass man vom Boden essen kann, mein Schatz. Dads Stimme klang Josie in den Ohren. So ist es in Snowflake Village.

Nach ein paar Schritten machte sie unter einer riesigen Kiefer halt, um sich die Bluse von der klebrigen Haut zu ziehen. Wenn es auch nicht feucht war, war es doch eine Weile her, seit sie einen Gebirgspfad mit hohen Absätzen erklommen hatte. Sie tastete in der Handtasche nach ihrer Wasserflasche, die sie stets bei sich trug, aber die hatte sie diesmal wohl im Jeep gelassen.

Als sie sich umsah, war sie von Neuem betroffen, weil sich fast nichts verändert hatte. Alles war frisch gestrichen, und die Angestellten trugen saubere rote Polohemden und Weihnachtsmützen und dazu ein Snowflake Village-Lächeln in Überbreite. Ho-ho-ho, einen wunderschönen Tag in unserem Park!, flöteten sie ständig, und Josie hätte sich am liebsten jedes Mal die Ohren zugehalten.

Aber die Ärmsten taten nur, wofür sie bezahlt wurden: Mütze aufsetzen, Lächeln anschalten und das Ganzjahresweihnachten lebendig werden lassen.

Wieder einmal hatte sie die Welt betreten, in der die Realität optional war – eine Welt, in der man für achtzehn Dollar seine Probleme mit Zuckerwatte und Schneeglanz überdecken konnte.

Zu dumm, dass die Jingle-Bell-Therapie nicht mehr wirkte, wenn sich bei Sonnenuntergang die Tore schlossen.

Und schade, dass sie auch nicht mehr wirkte, sobald man alt genug war, um echt von unecht zu unterscheiden.

Sie hörte Metall klirren und schaute den Hügel hinunter zur Werkstatt. Es klang, als arbeitete der alte Ben wie immer an seiner endlosen To-do-Liste. Was würde er sagen, wenn sie nach all der Zeit plötzlich auf der Matte stand?

Würde Ethan auf die Idee kommen, sie hier unten zu suchen, wenn ihm zu Ohren kam, dass sie durch den Park schlenderte? Sie bezweifelte es. Also konnte sie sich hier bestens verstecken, bis sie ihren Mut zusammengerafft hätte.

Josie bog vom Weg ab und ging um die Rückseite der Pinguin-Wasserbahn herum, auf der es von kreischenden Teens wimmelte. Sie hoffte, sich die Absätze nicht hoffnungslos zu ruinieren, während sie hinter einer Imbissbude bergab stöckelte, aber schließlich steuerte sie auf die offene Tür der Werkstatt zu.

»Na, wenn das nicht mein Trippelfüßchen ist!« Ben stand mit dem Rücken zu ihr, aber seine Stimme dröhnte aus der Werkstatt, als sie die Hand hob, um an den Türrahmen zu klopfen. »Komm rein, Mädchen!«

Josie fühlte ein Lachen hervorspritzen, und ihre Anspannung löste sich in Luft auf, sowie sie auf den Zementboden der Werkstatt und in Bens herzliche Umarmung trat. »Hallo, Ben! Woher wusstest du, dass ich es bin?«

»Hab zwei dünne Absätze den Hügel herunterklappern hören und dachte mir, du bist der einzige Mensch, der hier in Großstadtschühchen angestöckelt kommt und weiß, wo der alte Ben zu finden ist.«

Josie lächelte. »Das war leicht. Du arbeitest noch am selben Fleck.«

Die Werkstatt sah aus wie immer, unaufgeräumt und staubig, aber irgendwie anheimelnd. Es roch nach frischem Holz und Bens würzigem Aftershave, und Josie entspannte sich noch mehr.

»Wie geht’s deinem Dad?« Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu einem der Hocker an der Werkbank. »Kommst du gerade vom Krankenhaus?«

Josie nickte und versuchte, die Bilder von Schläuchen und piependen Geräten auszublenden. »Er ist … ich weiß nicht.«

»Harte Sache, das.« Ben nickte. »Es wird dich mächtig erschreckt haben, ihn so zu sehen.«

»Ich konnte nicht … konnte nicht da bleiben, Ben.« Sie hatte Mühe, ihre Stimme weiterhin fest klingen zu lassen. »Ich habe ihn ewig nicht gesehen und konnte nicht …«

Er legte einen Arm um sie und drückte sie. »Wirst du noch, meine Kleine, wirst du noch. Immer einen Schritt nach dem anderen. Und bis es so weit ist, kommst du zum alten Ben. Dann ist es hier auch nicht mehr so still.«

Josie lachte leise, da der Parklärm bis in die Werkstatt zu hören war. In Snowflake Village war es nie still.

»Hey! Möchtest du ein Trauben-Eis?« Er sprang auf und lief zu dem alten Kühlschrank in der Werkstattecke. »Ich hab eine ganz neue Schachtel!«

Josie war verblüfft. »Du hast hier noch immer Eis am Stiel?«

»Ja.« Er öffnete die Kühlschranktür. »Aber die Schachteln halten sich bei mir zu lange. Keiner hilft mir, sie aufzuessen. Willst du eins?«

»Und ob!« Josie lachte. »Hab seit … Ewigkeiten keins mehr gegessen.«

Er kam mit dem Eis zurück. »Und Ethan hast du wohl noch nicht gesehen?«

»Noch nicht.« Wieder spürte sie einen Kloß im Hals.

»Du sitzt doch nicht auf meinem Hocker und isst Eis, um ihm aus dem Weg zu gehen?« Er zog die Brauen hoch.

»Ganz bestimmt nicht.«

»Dann darfst du noch ein bisschen bleiben.« Er grinste sie an, dann kniff er ihr mit zwei Fingerknöcheln in die Nase, wie früher. »Es tut gut, dich mal wiederzusehen, meine Kleine. Ich denke, Ethan könnte mir sogar zustimmen, wenn er erst mal den Schock überwunden hat.«

Josie verschränkte die Arme. »Da denkst du wahrscheinlich zu milde, Ben.«

»Das wird schon gutgehen. Mach dir keine Sorgen. Ihr seid jetzt beide erwachsene Menschen. Dinge ändern sich.«

Sie schnaubte nervös und trat einen Kieselstein weg. »Hast du … ihm mal erzählt, was passiert ist, bevor ich gegangen bin?«

Zunächst schwieg Ben und spielte mit einem Schraubenzieher. »Das hat dich all die Jahre beschäftigt?«

Verlegen zuckte sie mit den Schultern und nickte zögernd.

»Nein. Ich habe über den Abend kein Wort verloren.« Er blickte sie an und betrachtete ihre Augen. »Aber er könnte mehr wissen, als du denkst, Liebes. Darauf würde ich mich an deiner Stelle gefasst machen.«

3

Am selben Nachmittag schob Ethan sich mit dem Stuhl vom Schreibtisch weg und rieb sich die Augen. Er hatte die Aufgaben, die sich auf seinem und Andys Schreibtisch stapelten, nach Priorität geordnet, aber vierzehn wetteiferten noch um den obersten Platz, und es war schon kurz vor Kassenschluss.

Als Josies Mutter am Morgen angerufen und ihm mitgeteilt hatte, Andy liege im Krankenhaus, hatte er ihr versichert, er könne allein die Stellung halten, bis sie mehr wüssten. Jetzt, nach nur einem Arbeitstag, zweifelte er daran. Sonst lief die Geschäftsführung wie geschmiert, aber nur, weil sie beide mehr als die üblichen vierzig Wochenstunden arbeiteten.

Ob Molly für ein paar Tage aushelfen könnte? Nein. Er verwarf den Gedanken beinahe sofort. Mit der Arbeit im elterlichen Restaurant und den Pflichten der Verwaltungsdirektorin im Avery-Haus hatte sie schon genug zu tun und fand kaum eine freie Minute. Dass sie ein Blind Date am Freitagmorgen zwischen zwei Termine gequetscht hatte, zeigte das deutlich.

Was Diana bei ihrem Anruf vorgeschlagen hatte, hing schon den ganzen Tag wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf. Josie kommt nach Hause, und du und ich wissen, wie sie über Krankenhäuser denkt. Vielleicht könnte sie im Büro einspringen? Damit wir wenigstens übers Wochenende kommen?

Ethan seufzte. Das Einzige, was Josie noch mehr verabscheute als Krankenhäuser, war der Park. Die Chancen waren also gering, dass sie zusagen würde, selbst wenn er mit dem Vorschlag einverstanden wäre.

Was nicht der Fall war.

Er schaute aus dem Fenster und sah Mitarbeiter säumige Besucher zum Ausgang geleiten, dann schüttelte er den Kopf, als er sich dabei ertappte, wie er nach Josie Ausschau hielt. Sie konnte unmöglich hier sein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie Snowflake Village noch einmal freiwillig betrat.

Sie hatte damals einen radikalen Schnitt gemacht, sich von allem getrennt, vom Park, von ihren Eltern und Molly … von ihm.

Er zog die unterste Schublade auf und nahm den Bilderrahmen mit den zwei Fotos heraus, der darin lag, seit er ihn damals von der Wand genommen hatte. Auf dem einen sah er Josie und sich sonnengebräunt und glücklich Arm in Arm am Seeufer. Josie hoffte wahrscheinlich, dass es das Foto daneben längst nicht mehr gab.

Auf diesem Bild trug sie ein enorm ausladendes Prinzessinnenkostüm und saß lachend in der Kesselpauke, weil sie gerade bei ihrer ersten Solonummer von der Parkbühne gestürzt war. Er würde nie vergessen, wie die anderen Schauspieler improvisiert hatten, um die Szene noch zu retten. Dabei hatten sie Josie aus der Pauke gehoben, als wäre ihr Sturz eine einstudierte Slapstick-Einlage gewesen.

Lächelnd strich er über das Foto. Josie würde ihn umbringen, wenn sie wüsste, dass er es aufgehoben hatte. Doch es erinnerte ihn an glücklichere Jahre, an glücklichere Sommer … an eine glücklichere Josie.

Seufzend stellte er seine Tasse in die Kapselmaschine auf dem Fensterbrett und zog aus dem Drehständer daneben eine Kapsel für den stärksten Kaffee. Es würde ein langer Abend werden.

Während der Kaffee brühte und tröpfelte, meinte Ethan, weibliche Absätze auf der Treppe zu hören.

Ach, verflucht.

Molly trug keine Schuhe, die so klangen.

Die Absätze näherten sich seinem Büro und wurden vor der offenen Tür langsamer. Er blickte gerade auf, als Josie die Hand hob, um anzuklopfen, und dankte Gott, weil er seine Tasse noch nicht aus der Maschine genommen hatte. Andernfalls hätte er sich jetzt mindestens die Finger verbrüht.

Obwohl Dianas Anruf erst ein paar Stunden zurücklag, hatte er geglaubt, für diesen Moment gewappnet zu sein. Aber jetzt wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte. Voll und ganz. Diese Frau spielte seit gut zehn Jahren die Hauptrolle in seinen Träumen, und nun, da sie vor ihm stand, sah er, dass die Achtzehnjährige von damals erwachsen geworden war. Sehr erwachsen.

Während sie ihre süßen Kurven früher noch in rosa- und pfirsichfarbene Baumwolle gehüllt hatte, hatte ihre Kleidung jetzt Großstadtchic. Sie sah aus wie ein Model, schlank und beeindruckend, von den hochhackigen Schuhen über den Rock und den breiten schwarzen Gürtel bis zur dunkelgrauen ärmellosen Bluse. Statt der Locken, die er tausendmal berührt hatte, trug sie ihr Haar jetzt glatt. Wahrscheinlich hielt sie das für modisch, aber er fand, sie könnte ein paar von Mamma Bellinis Burgern vertragen, um ein bisschen Fleisch auf die Rippen zu bekommen.

Verdammt. Sie benutzte noch das Apfelshampoo. Der Luftzug wehte einen Hauch herüber, und sofort war er wieder achtzehn und saß mit Josie im Arm auf einer Decke am See.

Ethan starrte sie an, und das Schweigen wurde allmählich unangenehm. Er sah in dieselben blaugrünen Augen, die er damals geliebt hatte, aber jetzt wirkten sie strahlender, betont durch einen Lidstrich und Wimperntusche. Ihre Nasenspitze hatte noch den frechen Aufwärtsschwung, und zu seinem Bedauern wollte er noch immer mit dem Zeigefinger daran entlangstreichen, damit sie seine Hand wegschlug.

»Josie.« Mehr bekam er nicht heraus.

Er sah sie mühsam schlucken.

»Ethan«, wisperte sie dann, die Hand noch zum Klopfen erhoben, als hätte sie sie vergessen.

Es tröstete ihn, dass sie in diesem Moment genauso aus dem Lot war wie er. Innerlich erlebte er gerade eine rasante Berg-und-Tal-Fahrt, aber er würde den Teufel tun und sich das anmerken lassen.

Langsam holte er Luft und musterte Josie, um ein bisschen Zeit zu schinden und dann hoffentlich mit normaler Stimme sprechen zu können. Was sollte er bloß sagen? Jeder Satz, den er in den letzten acht Stunden im Geiste ausprobiert hatte, war wie weggeblasen.

Schließlich rettete sie ihn, indem sie ihm zuvorkam. »Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Dann sind wir schon zwei.«

»Hat Mom erwähnt, dass sie mich gebeten hat, dieses Wochenende auszuhelfen? Hier? Im Park?« Ihre Stimme schwankte nervös, was ihn überraschte.

Diana hat sie schon gefragt? Er schüttelte den Kopf.

»Oh.« Ihr Blick huschte durch das Büro. »Äh … also … hat sie. Das … ist seltsam. Ich weiß. Das alles ist seltsam.« Ihr Versuch zu lächeln misslang kläglich. »Aber sie hat es getan.«

»Verstehe.« Auch wenn er sich dafür verabscheute, er genoss ihr Unbehagen. Irgendwo musste es doch ein bisschen Gerechtigkeit geben, oder?

»Also …« Sie wedelte vage mit der Hand. »Es tut mir leid. Das ist ein bisschen Twilight-Zone-mäßig. Du hast nicht mit mir gerechnet. Offensichtlich. Doch da bin ich, wie’s aussieht.«

»Da bist du.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, was entspannte Unbekümmertheit rüberbringen sollte. Ja, genau das. Er würde auf total lässig machen, ungerührt tun. Auf keinen Fall zeigen, wie es tatsächlich in ihm aussah. »Ist lange her.«

Langsam ließ Josie die Hand sinken. »Ich … äh, ich …« Sie zeigte auf Andys Stuhl. »Ist es okay, wenn ich mich einen Moment setze?«

Ethan machte eine einladende Geste. Klar. Setz dich. Komm ruhig in mein Büro geschlendert, nachdem du vor dem Altar davongelaufen bist und zehn Jahre lang nichts von dir hast hören lassen. Fühl dich wie zu Hause.

Er wartete, während sie Platz nahm, ihre Handtasche auf den Boden stellte und die hochhackigen Sandaletten zurechtrückte. Auch wenn sie äußerlich verändert war, war ihre Stimme noch dieselbe, die ihn jahrelang bis in seine Träume verfolgt hatte. Er wollte Josie immer weiter reden hören und hasste sich dafür.

»Wie geht es deinem Dad inzwischen?«

»Nicht gut. Es könnte … ziemlich schlimm werden.« Sie holte zitternd Luft und strich sich den Rock glatt.

»Wie sieht er aus?«

»Schrecklich.«

Ethan musterte sie, während sie sich erneut den Rock zurechtzog, ein dunkles Haar abzupfte, sich die Ferse rieb. War sie tatsächlich in der Klinik gewesen? Er konnte es kaum glauben.

»Ich bin ein Weilchen dageblieben, war aber noch nicht bereit zu dem Wiedersehen mit Mom. Darum bin ich wohl in den Park gegangen.« Sie deutete auf die zusammengerückten Schreibtische, an denen Ethan und Andy sich normalerweise gegenübersaßen, dann zum Fenster. »Ich bin ein bisschen herumgelaufen. Alles sieht noch aus wie früher.«

»Ja, so ist das hier. Aber das weißt du sicher noch.« Er gab sich wirklich Mühe, nicht verbittert zu klingen, doch es gelang ihm nicht ganz. Im Moment wollte er sie nur in die Arme schließen und ihren erschrockenen Gesichtsausdruck zum Verschwinden bringen, sie küssen und spüren, ob sie noch den Erdbeer-Lipgloss benutzte, und dann – ach zum Teufel, er wollte viel mehr tun, als sie nur zu küssen.

Ihre Stimme brach in seine Gedanken ein. »Also … wie kann ich helfen? Bis Dad … wiederkommen kann?«

Nichts da! Auf keinen Fall würde er sich das antun. Auf keinen Fall würde sie ihm noch einmal zu nahe kommen. Er würde sie weder in sein Büro lassen noch in seine Gedanken.

Ethan räusperte sich. »Wir kommen zurecht. Du solltest bei deinen Eltern in der Klinik sein.«

»Mom dachte sich schon, dass du das sagen würdest.«

»Da hat sie richtig gedacht. Ich komme hier vorerst klar. Du musst bei deiner Familie bleiben.« Und ganz bestimmt nicht hier auf dem Stuhl deines Dads wie ein erwachsen gewordenes Hirngespinst meiner Fantasie.

Er nahm eine geschäftige Haltung an, als müsste er sich weiter um eine immens wichtige Sache kümmern. »Wir haben hier alles im Griff.«

Vielleicht wollte sie die Stapel von Arbeit auf den beiden Schreibtischen nicht bemerken, und auch nicht, dass er seinen zuversichtlichen Ton nur anschlug, um sie loszuwerden, bevor ihr Duft seine Gedanken in eine Richtung lenkte, die er nicht handhaben konnte.

Sie seufzte. »Im Krankenhaus kann ich nichts tun, außer herumzusitzen und auf neue Ergebnisse zu warten.«

»Tun das Angehörige denn nicht in solchen Situationen? Das macht es zwar nicht einfacher, aber es ist normal.«

Sie neigte den Kopf zur Seite und zog die Stirn kraus. »An meiner Familie ist nichts normal, das wissen wir beide, Ethan. Das hat sich sicher nicht geändert, seit ich gegangen bin.«

»Du wärst überrascht.«

Sie nickte, doch er sah, dass sie ihm nicht glaubte. Verständlicherweise, flüsterte seine mitfühlende Seite. Seine mitleidlose Seite jedoch verlangte lautstark, sie solle aus seinem Büro verschwinden. Sofort.

»Also, wie kann ich euch unter die Arme greifen?« Sie rieb sich die Fersen, die wahrscheinlich wund gescheuert waren, weil sie länger als zehn Minuten in diesen albernen Sandaletten durch den hügeligen Park gelaufen war. Die Josie, an die er sich erinnerte, hatte von April bis Oktober nur Flipflops getragen. Er fragte sich, wann sie die gegen solch unsinnige hochhackige Dinger getauscht hatte.

»Gar nicht. Ich versichere dir, wir haben hier alles unter Kontrolle. Du kannst Diana sagen, dass Ben und ich die Dinge geregelt bekommen.«

»Du kannst nicht ganz allein einen Vergnügungspark führen, oder?«

»Ehrlich, Josie, in der Zeit, die ich benötige, um dich einzuarbeiten, kann ich es auch gleich selbst erledigen.«

Er sah, wie sie die Lippen zusammenkniff und gedanklich eine Erwiderung formulierte, aber dann atmete sie bloß tief durch. Überraschenderweise war er ein wenig enttäuscht, weil sie sich so gut beherrschen konnte. Die Josie von früher hätte einen bissigen Kommentar abgelassen, doch die neue, offenbar erwachsene Josie straffte die Schultern und blickte aus dem Fenster.

»Es ist bestimmt schrecklich unangenehm, dass ich hier bin, und glaub mir, ich bin darüber so wenig glücklich wie du, aber es ist nun einmal so. Ich möchte lieber im Park aushelfen, als im Krankenhaus zu sitzen und den lieben Gott anzuflehen, zumal ich den vor langer Zeit aus den Augen verloren habe. Bitte gib mir eine Aufgabe, Ethan.«

Er lehnte sich zurück und musterte ihr Gesicht. »Josie, ich gebe mir wirklich Mühe, nett zu sein, weil ich weiß, dass Diana dich geschickt hat, doch bitte tu nicht so, als wäre es auch nur im Geringsten dein Wunsch, dich hier zu engagieren. Du kannst den Park nicht ausstehen, das wissen wir beide.«

»Das ist nicht …« Sie atmete noch einmal tief durch. »Ich habe Mom versprochen zu helfen. Sie darf sich jetzt nicht auch noch mit der Sorge um den Park stressen.«

Ethan sah ihr unverwandt in die Augen und musste ihr zugutehalten, dass sie seinem Blick offen und ehrlich begegnete. Dies war dieselbe Frau, die damals mitten in der Nacht abgehauen war und ihn sitzengelassen hatte. Dieselbe, die ihren Eltern eine rätselhafte Nachricht hinterlassen und seitdem keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt hatte. Doch da saß sie nun und redete, als hätten sie jeden zweiten Sonntag miteinander zu Abend gegessen, als machte sie sich Sorgen um die Gesundheit ihres Dads und die nervliche Anspannung ihrer Mom.

Blödsinn.

»Du kannst deiner Mom versichern, dass wir bestens klarkommen.« Er griff zur Maus und wandte sich dem Monitor zu. »Aber danke, dass du mal reingeschaut hast. War nett, dich zu sehen. Bitte richte Diana aus, dass ich morgen vorbeikomme, um mich nach Andy zu erkundigen.«

»Ethan, hör auf. Wir können …«

»Was können wir, Josie?« Er stemmte die Hände gegen die Schreibtischkante. »So tun, als wären wir Freunde? Als wärst du nur die Tochter des Chefs? Als wärst du nicht … ach, egal.«

Sie schüttelte unglücklich den Kopf.

Er holte tief Luft, um einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen. »Ich will nicht so tun als ob. Ich bedaure wirklich, was deinem Dad passiert ist. Das hat nichts mit ihm zu tun. Aber du hast vor langer Zeit unmissverständlich klargemacht, dass du mit diesem Leben nichts mehr zu schaffen haben willst. Nachdem wir dich zehn Jahre lang nicht gesehen haben, brauche ich wohl nicht zu glauben, da könnte sich etwas geändert haben, egal, was mit Andy passiert, und egal, ob es nur für das Wochenende ist. Ich bin jetzt hier der Finanzchef und vollkommen in der Lage, die Geschäfte zu führen, bis dein Dad wieder arbeitsfähig ist. Ich brauche deine Hilfe nicht.«

»Ich verstehe«, wisperte sie und nahm ihre Handtasche vom Boden.

Ethan griff wieder zur Maus und klickte wahllos auf Fenster, um die Stille zu überstehen, die das Büro einhüllte. Josie saß noch eine volle Minute in Andys Schreibtischsessel, dann stand sie auf, ging zur Tür und die Treppe hinunter. Erst nachdem die Haustür unten ins Schloss gefallen war, lehnte Ethan sich wieder zurück und ließ die Schultern sinken.

Vor zehn Jahren hatte er noch geglaubt, seine Zukunft sei ein Geschenkpäckchen mit Josie darin. Sie würden drei Kinder haben und eine Hütte am See oder würden eines Tages ein Haus am Sugar Maple Drive besitzen.

Er zog sich näher an den Schreibtisch und schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Die Josie, die soeben das Büro verlassen hatte, war nicht mehr das Mädchen von früher, sondern eine restlos erwachsene Frau. Sie war zwar zurückgekommen, aber nur vorübergehend, zu einem schuldbewussten Zwischenstopp. Vor zehn Jahren war sie gegangen, ohne sich noch mal umzudrehen, und sowie es ihrem Dad besserging, würde sie wieder ins Auto steigen und davonfahren.

Falls es ihm besserging.

Ja, sein verräterisches Herz, das sich gefreut hatte, sie in der Tür stehen zu sehen, sollte sich die Freude besser gleich wieder abgewöhnen. Vergangenes ließ sich nicht zurückholen, und eine Zukunft mit ihr war ausgeschlossen. Josie Kendrew hatte nur eines im Gepäck: Kummer für alle Beteiligten.

Und davon hatte er weiß Gott die Nase voll.

4

Josie setzte den Blinker und zischte Beschimpfungen gegen die Windschutzscheibe. »Verdammt, Ethan, warum konntest du nicht fett, kahl und hässlich sein?« Aber nein. Der Mann sah aus wie aus dem Jahrbuch der Raiders, abgesehen von ein paar kleinen Falten an der Stirn und in den Augenwinkeln.

Nach zehn Jahren war Ethan fast noch umwerfender als zur Highschool-Zeit. Wirklich unfair. Damals hatte sie jeden Zentimeter an ihm bewundert, und nachdem sie ihn jetzt gesehen hatte, sehnte sie sich danach, ihn zu berühren.

Sie hatte sich tatsächlich zusammenreißen müssen, sonst hätte sie mit den Fingern durch seine leicht zerzausten Haare gekämmt wie früher. Und genau wie früher fühlte sie sich restlos nackt, wenn er sie ansah, obwohl sie anständig gekleidet war.

Als sie an die große Kreuzung in der Stadtmitte gelangte, trat sie auf die Bremse und blinzelte heftig. Wohin wollte sie eigentlich? Sie war planlos drauflosgefahren, Hauptsache, möglichst weit weg, weg von Ethan.

Sie sollte wegen seiner kühlen Zurückweisung nicht gekränkt sein. Schließlich war sie diejenige, die gegangen war. Zu erkennen, dass der eisige Empfang ihre eigene Schuld war, machte den Schmerz jedoch noch schlimmer.

Der Fahrer hinter ihr hupte sie an. Erschrocken wischte sie sich über die Augen. Verfluchter Mist. Es war nicht ihre Art, Tränen zu vergießen oder etwas zu bereuen. Und schon gar nicht stand sie gedankenverloren an einem Stoppschild in einem Hinterwäldlerkaff und flennte wegen versäumter Chancen.

Sie trat aufs Gas, fuhr über die Kreuzung und in einen Teil der Innenstadt, in dem es aussah, als wäre die Zeit stehen geblieben. An der Ecke Main Street und Pine war jetzt anstelle des alten Milchgeschäfts eine Apotheke, aber ansonsten war alles wie früher. Auf der rechten Seite reihten sich die Backsteinhäuser, hinter denen der Abenaki floss, und die gleichen Häuser reihten sich auf der linken Seite aneinander.

Die Fassaden waren noch immer langweilig, an den Fensterrahmen blätterte noch immer die Farbe ab, und die Scheiben waren noch immer staubig. Selbst die Namen der Geschäfte hatten sich nicht geändert. Um neun Uhr morgens kamen die Touristen in die Stadt; um fünf Uhr fuhren sie wieder weg, da es in Echo Lake nur ein vernünftiges Hotel gab.

Josie seufzte. Wenn sie in zehn Jahren noch mal wiederkäme, würde sich genauso wenig geändert haben.

Als sie über die Tumblebrook Bridge fuhr, um die Innenstadt bergauf zu verlassen, klingelte ihr Handy. Es war ihre Mom, schon zum zweiten Mal an diesem Tag.

Zum zweiten Mal in zehn Jahren.

»Josie? Ich bin’s, Mom. Geht es dir gut?«

Josie schaute aus dem Fenster und hatte das starke Gefühl eines Déjà-vu. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll.«

»Ich weiß.« Mom klang ruhig und klar, und Josie zog misstrauisch die Brauen zusammen. »Ich bin jetzt ein Weilchen zu Hause, um ein paar Sachen zu holen und einen Happen zu essen. Hast du Hunger? Möchtest du vielleicht nach … herkommen?«

Ach du je! Abgesehen vom Krankenhaus und dem Park war ihr Elternhaus der letzte Ort, an dem sie sein wollte. Aber nachdem sie Ersteres heute schon überstanden hatte, würde sie Letzteres vielleicht auch noch hinbekommen.

»Ich würde dich gern sehen, Josie. Das ist alles. Und …« Sie stockte und schwieg einen Augenblick. »Das Hotel ist ausgebucht wegen Cara McAllisters Hochzeit. Du kannst gern bei uns übernachten … wenn du das möchtest.«

Josie holte tief Luft und atmete langsam aus. Im Haus ihrer Eltern übernachten? Konnte sie wirklich die unkrautüberwucherte Auffahrt entlangfahren, die quietschende Tür aufschließen und so tun, als wäre sie das erwachsene Kind bei einem ganz normalen Besuch bei ganz normalen Eltern?

Blieb ihr etwas anderes übrig? Das nächste annehmbare Hotel lag eine gute Autostunde entfernt, und sobald sie mit sich allein wäre, würde sie zusammenbrechen. Josie holte noch einmal tief Luft und setzte den Blinker. »Ich bin in fünf Minuten da.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, fasste sie sich an den Magen und versuchte, ihre Angst zurückzudrängen.

Fünf Minuten später bog sie in die Einfahrt ihrer Eltern ein und war verblüfft: Rings um den Briefkasten blühten Stiefmütterchen, unter dem Wohnzimmerfenster war die Hecke sauber geschnitten, die Auffahrt sah frisch gepflastert aus und das Dach wie neu.

Kein wucherndes Unkraut mehr, keine abplatzende Farbe an den Fensterläden. Weg war die schadhafte Holztür mit dem Löwenkopf-Türklopfer und dem unechten Messingknopf. Stattdessen ein neuer sonnengelber Anstrich, dunkelblaue Fensterläden und eine schicke niegelnagelneue Tür mit einem Sprossenfenster unter dem Türsturz.

Es war ein Haus, in dem sie als Kind gern gelebt, in das sie ihre Freundinnen gern zum Spielen eingeladen hätte.

Josie nahm ihren Koffer vom Rücksitz und hängte sich die Handtasche über die Schulter. Sie gab sich Mühe, nicht zu gaffen, während sie den Plattenweg entlangging. Auch die Haustreppe war neu gefliest. Entweder hatte ihre Mutter diverse Handwerker engagiert, oder ihr Dad war häufiger lange genug zu Hause gewesen, um mehr zu tun, als vor dem Fernseher ein Sandwich hinunterzuschlingen.

An der Tür zögerte Josie. Ja, das war ihr Elternhaus, aber sie konnte nicht einfach aufschließen und hineingehen, oder? Sie klingelte. Dabei straffte sie seufzend die Schultern. Ja, sie konnte das. Sie konnte für ein paar Tage mit ihrer Mutter zurechtkommen, egal, in welchem Zustand Mom tatsächlich war.

Sie musste.

Die Tür schwang auf, und Josies Mutter drückte das Fliegengitter auf. »Josie! Komm herein! Du musstest doch nicht klingeln!« Sie neigte den Kopf mit einer einladenden Geste zur Seite und setzte zu einer Umarmung an, ließ die Arme dann aber langsam sinken.

Josie starrte ihre Mutter an, die aussah wie ein Model aus dem L.L.Bean-Katalog: Jeans, ein kurzärmliges rosa Poloshirt, Ledersandaletten, rosa lackierte Fußnägel. Josie musterte sie von oben bis unten, bemerkte die frisch gewaschenen Haare, den klaren Teint, die lackierten Fingernägel, den Lippenstift.

Lippenstift!

»Komm, ich nehme ihn dir ab.« Mom nahm ihr den Koffer aus der Hand und rollte ihn beschwingt durch den kurzen Flur in die Küche. »Das Haus ist in der Zwischenzeit nicht größer geworden.« Sie lachte nervös.

»Ist Dad schon zu sich gekommen?«

»Eigentlich nicht, nein. Nein …« Mom holte zitternd Luft.

»Wie schlimm war der Schlaganfall? Weiß man es schon?«

»Komm, setz dich.« Mom stellte den Koffer neben die Speisekammertür und drehte sich zu Josie um. »Du hast einen anstrengenden Tag gehabt, bei der weiten Fahrt hierher. Kann ich dir etwas anbieten? Kaffee? Tee? Etwas Kaltes?«

»Nein, danke. Ich brauche nichts.« Offenbar war ihre Mutter noch nicht bereit, über Dad zu reden. Josie schaute durch die Küche und überlegte, wodurch sie so anders wirkte. Es waren noch dieselben alten Eichenschränke wie früher. Aber sie hatten neue Griffe bekommen. Auch die Arbeitsplatte war die alte. Trotzdem bot sich ein neues Erscheinungsbild, und sie konnte nicht sagen, wodurch.

Als ihr Blick auf die blanke Spüle fiel, wo ein Spültuch ordentlich über dem Wasserhahn hing, kam ihr die Erkenntnis. Die Küche war nicht nur aufgeräumt, sie war auch makellos sauber. Keine herumstehenden Konservendosen, kein schmutziges Geschirr im Waschbecken, kein überquellender Mülleimer.

»Hier sieht’s ja gut aus.« Sie zog sich den leichten Pulli aus, den sie während der Fahrt getragen hatte, und hängte ihn über eine Stuhllehne. »Anders.«

Mom lehnte sich an die Ablage neben der Spüle. »Na ja, es ist noch so ziemlich dieselbe alte Küche wie damals. Vielleicht ein bisschen sauberer.« Sie kicherte reumütig. »Meine hausfraulichen Fähigkeiten sind dieser Tage besser.«

Josie nickte, unsicher, was sie sagen sollte. Sie hörten beide das Unausgesprochene hinter Moms Satz.

»Also …« Mom drehte an ihrem Ehering, während sie überall hinsah, nur nicht zu Josie. »Hast du Hunger? Hast du zu Mittag gegessen?« Sie ging zum Kühlschrank. »Ich habe Bratenaufschnitt da. Ich könnte dir ein Sandwich machen. Mit Putenbraten. Von Zeb’s, du weißt schon, den, den du magst.« Sie zog am Kühlschrankgriff, dann blickte sie über die Schulter. »Oder den du zumindest mochtest. Ich weiß nicht, ob das noch so ist.«

Josie wappnete sich gegen den verbalen Angriff, der jetzt bestimmt von ihrer Mutter kommen würde. Bewusst öffnete sie die verspannten Fäuste.

Das Letzte, was sie wollte, war ein Sandwich mit Corned Beef aus dem fünfzig Jahre alten Feinkostladen in der Innenstadt, der fragwürdige Filetspitzen im Fass und gepökelte Schweinefüßen im Glas verkaufte. Aber Mom stand am Kühlschrank, offenbar ahnungslos, was sie mit ihrer Tochter nach all der Zeit anfangen sollte. Josie wollte die Situation nicht noch schwerer machen, als sie schon war.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ein Sandwich nehme ich gern, danke. Und vielleicht eine Cola, wenn du hast.«

Mom schien erleichtert zu sein, weil sie etwas tun konnte. Geschickt belegte sie zwei Sandwiches, legte Kartoffelchips und saure Gürkchen dazu und brachte alles an den Frühstückstisch in der Ecke. Josie betrachtete die grünen Platzdeckchen und die Rispenrosen in der Glasvase, als sie sich hinsetzte.

Frische Blumen in der Küche? In einer richtigen Vase?

»Danke. Sieht lecker aus.« Josie biss in ihr Sandwich in der Absicht, es irgendwie runterzuwürgen. Immerhin brauchte sie nicht zu reden, solange sie kaute – im Moment ein unschlagbarer Vorteil.

Sie schaute sich in der Küche um und nahm alles in sich auf: die weißen Keramikdosen, die immer an der Seite am Kühlschrank standen, die Kräutertöpfe auf der Fensterbank, die grüne Teekannenuhr über dem Fenster. Josie hörte den Sekundenzeiger ticken, so still war es.

Mom nahm ihr Sandwich in die Hand, dann legte sie es wieder hin und blickte mit einem unsteten Atemzug zur Uhr. »Wieso vergeht die Zeit immer so langsam, wenn man in Sorge ist?«

»Weil man in Sorge ist.« Josie wischte sich den Mund mit der Papierserviette ab, die ihre Mutter ihr neben den Teller gelegt hatte. »Wie geht es ihm wirklich?«

Mom schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Und wie auch? Die werfen mit bedeutungsvollen Wörtern nur so um sich … es kann alles Mögliche dabei herauskommen. Ich weiß es einfach nicht.« Sie blinzelte heftig und tupfte sich mit der Serviette die Augen.

»Wann fährst du wieder ins Krankenhaus?«

»Nach dem Essen. Ich wollte nur hier sein für den Fall, dass du nach Hause kommst.« Sie machte eine entschuldigende Geste, und ihre Hand zitterte dabei. »Ich denke, es ist wohl nicht mehr dein Zuhause, eigentlich. Ich meine, in deinen Augen nicht mehr.« Sie zupfte an ihren Haaren. »Ach Gott. Tut mir leid. Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich meine.«

In dem Moment klingelte das Telefon, und Mom sprang auf, um abzuheben. Nach einigen einsilbigen Antworten war das Gespräch zu Ende, und sie legte das Gerät auf die Station. »Das war Dads Krankenschwester.« Sie setzte sich auf ihren Stuhl. »Die Ärzte waren gerade bei ihm. Es sieht wohl ganz gut aus, aber wie es sich anhört, behalten sie ihn noch eine Weile auf der Intensivstation.«

»Was heißt ›ganz gut‹?«

»Zu diesem Zeitpunkt bedeutet das wohl nur, dass sich sein Zustand nicht verschlechtert.«

»Das tut mir leid.« Josie wusste nicht, was sie sagen sollte. Mom drehte wieder an ihrem Ehering. Es war ein sehr schmaler, denn Dad hatte ihn gekauft, als sie beide noch jung und arm gewesen waren. Sich hatten abstrampeln müssen, korrigierte sie sich im Stillen, bevor sie im Geiste hörte, wie Dad das immer gesagt hatte. Aber sie wusste nicht, ob Mom ihn ihretwegen trug oder wegen der Krankenschwestern oder weil die Ehe tatsächlich wieder gut lief.

»Soll ich … etwas für dich erledigen? Dir etwas einkaufen? Brauchst du was aus dem Supermarkt?« Josie suchte nach einer Möglichkeit, sich nützlich zu machen.

Mom lächelte traurig. »Seit ich bei Costco angemeldet bin und uns alles nach Hause geliefert wird, witzelt Dad ständig, dass wir nie wieder einkaufen müssen. Du solltest mal den Keller sehen.« Sie schaute ihre Tochter an und musterte sie ruhig, wie es schien. »Ich bin froh, dass du gekommen bist, Josie.«

Josie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Um acht Uhr an diesem Morgen hatte sie noch in ihrem Sprechzimmer gesessen, sich auf ihren ersten Patienten vorbereitet und sich auf die Freitagabend-Margaritas und einen Film mit ihrer Kollegin Kirsten gefreut.

Um neun Uhr warf sie Kleidungstücke in einen Koffer und suchte nach ihren Autoschlüsseln, während sie das Taxi rief, das sie zu ihrer Garage bringen sollte.

Um zehn Uhr hatte sie den Bostoner Stadtverkehr hinter sich gelassen und fuhr nach Nordwesten in Richtung Echo Lake, kaute sich die Fingernägel wund und versuchte zu begreifen, was auf sie zukommen könnte.

Sie holte tief Luft. »Danke, dass du mich angerufen hast.«

Das war das Mindeste, nicht wahr? Ihrer Mutter zu danken, weil sie ihr die Gelegenheit gab, Dad ein letztes Mal zu sehen, bevor er starb – falls es zum Äußersten kommen würde. Mit zitternden Händen legte sie ihr Sandwich hin und versuchte, ihre Angst mit einem Schluck Cola wegzuspülen.

Mom faltete ihre Serviette zusammen und legte sie auf ihr unberührtes Sandwich. Sie rückte sie sorgfältig zurecht, sodass die Kanten mit dem grünen Tellerrand abschlossen. Dann räusperte sie sich. »Das ist vielleicht nicht der passende Moment dafür, aber ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

Josie machte sich auf etwas gefasst – denn das war die vertraute Formulierung, die sie zehn Jahre lang nicht mehr gehört hatte, davor jedoch viel zu oft.

Sie war höchstens zwanzig Minuten hier, und da kam sie schon, eine Beleidigung aus dem Nichts, genau wie früher.

Aber diesmal würde sie von einer ihr fremden Frau ausgeteilt werden, die geschminkt und manikürt war.

5

»Ich mache mir Sorgen um den Park.«

Wie bitte? Josie schüttelte verwirrt den Kopf. Der Park hatte bei Mom immer allerhand Gefühle ausgelöst, doch Sorge niemals, nicht soweit Josie sich zurückerinnern konnte. Hass schon eher. Eifersucht ganz bestimmt. Aber Sorge? Nein.

»Wir werden in den nächsten Tagen schönes Wetter haben, und es ist das erste Augustwochenende. Du wirst dich sicher noch erinnern, was das für Snowflake Village bedeutet.«

Josie verzog das Gesicht. »Horden, Scharen, Gedränge.«

»Ganz genau.« Mom lachte leise, dann seufzte sie. »Und dein Vater wird nicht dort sein, um über sein kleines Reich zu wachen. Darum habe ich mich gefragt …« Sie zupfte an der Serviette herum. »Ich sagte das schon am Telefon, aber ich weiß nicht, wie du darüber denkst. Glaubst du, du könntest uns vielleicht aushelfen? Nur übers Wochenende?«

Josie schluckte schwer. Nein. »Ich war mir nicht sicher, ob du das wirklich ernst gemeint hast.«

»Ich weiß. Du warst lange nicht hier.« Mom zerknüllte die Serviette, um sie gleich darauf wieder glatt zu streichen. »Aber Jos, ich weiß doch, wie dir das Krankenhaus zu schaffen macht. Ich bin bestürzt, weil du tatsächlich reingegangen bist.«

»Ich auch.« Ihre Stimme klang viel zu hell und kläglich.

»Darum kann ich nicht von dir erwarten, dass du in dem schrecklichen Wartezimmer sitzt, um ab und zu für ein paar Minuten zu ihm zu dürfen.«

Ethans Bemerkung klang ihr in den Ohren. »Tun das Angehörige denn nicht in solchen Situationen? Stell dir nur mal vor, wenn … etwas passiert?«

»Er ist stabil. Es gibt keinen Grund anzunehmen, sein Zustand könnte sich verschlechtern.« Mom seufzte. »Es geht nur darum, wann er sich verbessert. Und das wird er tun, ob du nun in dem Wartezimmer sitzt oder nicht.«